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Nachtschwärmer
Die Nacht war schon weit vorangeschritten, als
Adam sich in einem Viertel wiederfand, in dem auch zu dieser
Uhrzeit noch reges Treiben herrschte. Bars, Lokale und Theater
lockten mit bunten Lichtern und Stimmengewirr die Nachtschwärmer,
und auch er konnte sich diesem Sog nicht entziehen. Literaturcafés
konkurrierten mit Tanzlokalen, aus Kellern tönte Musik, Automobile
polterten über die Pflastersteine. Die Atmosphäre war berauschend,
die Garderoben der Damen waren hinreißend. Es wurde in
verschiedenen Sprachen geflirtet, geschimpft und auch so manche
intellektuelle Diskussion geführt. Die Straßen waren voller Leben -
und genau das zog Adam fast gegen seinen Willen an. Einzutauchen in
dieses pulsierende Leben war eine Versuchung, auch wenn es ihm vor
Augen führte, dass er abseits dieser Melange aus Künstlern,
Freudenmädchen und von Abenteuerlust heimgesuchten Bürgerlichen
stand.
Seit er den Hinterhof in Belleville, ohne sich
einmal umzudrehen, verlassen hatte, ließ er sich treiben. Die Suche
nach einer Unterkunft hatte er aufgegeben, genau wie er sich
weigerte, seine ramponierte Kleidung zu richten. Seine nicht müde
werdenden Beine trugen ihn immer weiter voran. Die Leute wichen ihm
aus, manche drehten sogar den Kopf nach ihm um, aber das kümmerte
ihn nicht. Er befand sich in einem Zustand vollkommenen
Desinteresses, denn das, was er wahrnahm, war nicht real.
Alles um ihn herum war eine einzige Lüge.
Davon war er überzeugt, seitdem seine Wunde sich
von selbst verschlossen hatte, seinen Händen eine unnatürliche
Kraft innewohnte und eine Stimme in seinem Inneren ihn zu überreden
versuchte, ein Blutbad anzurichten. Dabei konnte er nicht einmal
sagen, was ihn mehr verstörte: die Abweichungen seines Körpers von
der Norm oder der Eindringling mit seinen Einflüsterungen. »Das ist
doch völlig gleichgültig«, raunte er sich selbst zu.
Allem Anschein nach war er ein Geisteskranker, dem
es gelungen war, seiner Obhut zu entkommen, und der nun ohne eine
Erinnerung durch eine Stadt lief, die ihm fremd und vertraut
zugleich war.Vielleicht war er ein Schizophrener, der verletzt
umherirrte, während er in seinem Wahn glaubte, unversehrt aus dem
Kampf hervorgegangen zu sein. Es konnte durchaus sein, dass ihm das
Blut unvermindert aus seiner eingeschlagenen Nase lief, während er
nur getrocknete Spuren und nicht einmal eine Schwellung ertasten
konnte. Wer konnte schon sagen, ob der Kampf in Belleville
überhaupt stattgefunden hatte?
Unvermittelt blieb Adam stehen, schlug die Hände
vors Gesicht und stieß ein bitteres Lachen aus. Er sollte zusehen,
dass ihn irgendjemand in die Nervenheilanstalt brachte, in die er
zweifellos gehörte.
Reiß dich zusammen, fauchte die Stimme ihn
an. Du erregst auch so schon viel zu viel
Aufmerksamkeit.
»Der Gedanke an eine Nervenheilanstalt gefällt dir
wohl nicht«, stellte Adam fest. Mittlerweile machte es ihm nichts
mehr aus, lautstark mit einer nicht vorhandenen Person zu sprechen.
Schließlich war er verrückt, warum sollte er das verbergen?
»Wundert mich nicht. Sicherlich haben sie dort Mittel, dich zum
Schweigen zu bringen. Meinetwegen können mir die Irrenärzte ruhig
den Schädel aufstemmen, um dich aus meinem Kopf zu kratzen.
Hauptsache, ich werde dich samt deiner Teufelskunst los.«
Das wäre gewiss eine interessante Erfahrung mit
der Nervenheilanstalt, aber ich befürchte, ich habe andere Pläne
mit dir.
Adam ersparte sich eine Entgegnung und sah sich
stattdessen auf der belebten Straße um. Um diese Zeit waren jede
Menge Betrunkene und Tunichtgute unterwegs. Die wenigen Passanten,
die einen halbwegs anständigen Eindruck machten, wechselten die
Straßenseite, bevor Adam sich dazu entschließen konnte, sie
anzusprechen. Bei dem ganzen Rummel, der hier herrschte, musste es
doch irgendwo in der Nähe eine Gendarmerie geben. Dort würde er
einfach hineinmarschieren und seine Geschichte erzählen.
Während er diesen Entschluss fasste, trieb der
Nachtwind ihm einen Geruch zu, der ihm wie Muskat in der Nase
prickelte. Adam schauderte vor Erstaunen. Irgendwo in diesem
Straßengeflecht war jemand unterwegs, der den gleichen Geruch trug,
den er an dem Einstecktuch und auch an sich selbst bemerkt
hatte.Allerdings mit einer anderen Note, die verriet, dass es sich
keineswegs um den Besitzer des Tuches handeln konnte.
Ohne sich dessen bewusst zu sein, verfiel Adam in
einen leichten Lauf und folgte der Schleppe, die sich wie eine
flüchtige Spur durch ein ganzes Labyrinth von Fährten zog. Wenn er
nicht aufpasste, würde er sie verlieren … schneller, er musste sich
beeilen.
Abrupt blieb Adam stehen.
Das war nicht sein Entschluss gewesen, den Quell
dieses Geruchs zu jagen. Allerdings hatte ihm auch die Stimme
nichts zugeraunt. Es war eine Art Instinkt, die ihn dazu
veranlasste, von einer ähnlichen Eindringlichkeit wie ein
Abwehrreflex oder sogar wie das Bedürfnis, nach Luft zu
schnappen.
Das wird ja immer verrückter, dachte Adam.
Frustriert schlug er auf eine Häuserwand ein. Der raue Mauerstein
biss in seine Handkante, doch der Schmerz verebbte sogleich. Adam
stieß einen Wutschrei aus und schlug erneut und mit bedeutend
mehr Kraft zu. Er würde so lange zuschlagen, bis der Schmerz, der
ihm zustand, sich nicht länger fortstahl. Das würde er sich nicht
nehmen lassen, von niemandem! Selbst wenn er dafür die ganze
Häuserfront einreißen müsste.
Doch so weit kam Adam nicht, denn ein
unvermittelter Schlag in den Rücken stoppte seine Rage. Er wurde
gekonnt herumgeschleudert und gegen die Wand gepresst, das Ende
eines Schlagstocks direkt unter seinem Kinn. Adam lächelte, als er
seinen Angreifer erkannte. Nun, zumindest konnte er sich nun die
Suche nach einer Gendarmerie sparen. Dieser uniformierte Herr, der
ihn von oben bis unten musterte, konnte ihm sicherlich
weiterhelfen.
Sag ihm, dass du dich jetzt beherrschen wirst.
Oder verpass ihm einen ordentlichen Tritt und sieh zu, dass du
fortkommst.
»Freut mich, Sie zu sehen«, brachte Adam wegen des
Schlagstocks nur abgehackt hervor. »Mehr, als Sie für möglich
halten.«
»Ist das so?« Der Gendarm, ein fülliger Mann,
dessen Gesicht von unzähligen Nachtschichten gezeichnet war, machte
eher einen gelangweilten als einen gereizten Eindruck. »Das Chat
Noir scheint im Augenblick auch wirklich nur Irre anzuziehen. Was
haben Sie getrunken oder geraucht, Monsieur, dass Sie derartig auf
diese arme Wand einprügeln?«
»Ich wünschte, ich könnte es sagen, aber leider
habe ich nicht die geringste Ahnung.« Adam begann trotz des
Schlagstocks, der an Ort und Stelle blieb, zu lachen. »Ich habe
nicht die geringste Ahnung, was mit mir los ist. Seit ich in dieser
Gasse zu mir gekommen bin …«
»Sie sind also überfallen worden. Nun, das erklärt
zumindest Ihren ramponierten Aufzug.« Der Gendarm nickte, als könne
er sich nun alles selbst erklären. Ein übermütiger Reisender, der
zum ersten Mal Absinth oder auch sonst irgendein Teufelszeug
probiert und anschließend im berauschten Zustand die Bekanntschaft
mit einigen Gaunern dieses Viertels gemacht hatte. Nicht der Erste
und auch bestimmt nicht der Letzte, der in dieser Nacht eine solche
Erfahrung machte.Vermutlich würde er dieses Erlebnis aus seinem
Reisebericht über die Stadt der Liebe aussparen, wenn er mit
Freunden am heimischen Kamin beisammensaß. »Wo ist denn Ihre
Unterkunft? Falls sie nicht weit von hier liegt …«
»Sie verstehen das falsch«, unterbrach Adam ihn
harsch, als er begriff, worauf der Gendarm hinauswollte. Der wollte
ihn schleunigst loswerden, anstatt ihn auf die Gendarmerie zu
bringen, wo er ihm vermutlich nur Arbeit machte.
Bevor er den Gendarmen allerdings davon überzeugen
konnte, dass man ihn auf keinen Fall länger allein durch die
Straßen von Paris irren lassen durfte, wurde ihm schlagartig übel.
Sein Magen drehte sich um, dass er gequält aufstöhnte, während
seine Beine ihm, zum ersten Mal seit den durchwanderten Stunden,
den Dienst zu versagen drohten. Er sank ein Stück in sich zusammen,
woraufhin der Gendarm einen Schritt zurücktrat, als befürchte er,
jeden Augenblick Adams Mageninhalt ausweichen zu müssen.
»Merde«, schimpfte der Gendarm und benutzte
den Schlagstock nun nicht länger, um Adam in Schach, sondern um ihn
auf den Beinen zu halten.
Hinter ihnen hielt eine Kutsche an. Adam bemühte
sich verzweifelt, seinen krampfenden Magen unter Kontrolle zu
bringen, als er plötzlich nichts anderes als Muskatduft wahrnahm,
gemischt mit Papier, Sauberkeit und einem teuren Rotwein. Obwohl
ihm wegen der Übelkeit der kalte Schweiß ausbrach, bestand seine
ganze Welt nur noch aus diesem Geruch. Zugleich empfand er eine
fast kindliche Freude darüber, dass seine Jagd doch noch
erfolgreich gewesen war. Er hatte die Quelle des Duftes erreicht,
wenn auch auf einem etwas krummen Weg.
»Mein Guter, habe ich Sie endlich gefunden!«,
ertönte eine angenehme, geradezu singende Stimme.
Neben dem Gendarmen tauchte eine schmale Gestalt
auf, ein älterer Herr in einem überaus eleganten Gehrock. Das
schlohweiße Haar war ein wenig zu lang im Nacken, und trotz des
modischen Schnurrbarts wohnte seinem Gesicht etwas Knabenhaftes
inne. Er täuschte vor, Adam die Schulter zu tätscheln, berührte ihn
in Wirklichkeit jedoch nicht. »Mein Gott, Sie sehen ja wirklich
scheußlich aus. Das kommt davon, wenn man versucht, mit dem Kopf
voran durch die Tür zu rennen, anstatt sie einfach zu öffnen. Was
sind Sie nur für ein ausgemachter Trunkenbold!«
»Sie kennen den Monsieur und wissen, was ihm
zugestoßen ist?«
»Natürlich kenne ich diesen Monsieur, schließlich
ist er mein Neffe - wenn auch nur zweiten Grades. Er ist zur
Eröffnung der Weltausstellung angereist.Wir haben uns mit einer
Gesellschaft eine Vorstellung im Chat Noir angesehen und
anschließend noch die eine oder andere Bar aufgesucht. Mein junger
Verwandter hat die Wirkung, die unserem berühmten grünlichen
Getränk zu eigen ist, unterschätzt und ist geradewegs gegen eine
Tür gelaufen. Eigentlich wollte er nur etwas frische Luft schnappen
… Nun habe ich ihn ja wiedergefunden.«
Adam legte sich eine Hand über seine zitternden
Lippen. Konnte es wirklich sein, dass er sich letzte Nacht
betrunken und den Kopf gestoßen hatte? War alles, was er seitdem
erlebt hatte, eine vorübergehende Verwirrung, bis sein Gehirn
abschwoll? Hoffnung keimte in ihm. Deshalb die Übelkeit und die
quälende Stimme. Und deshalb war er auch ausgerechnet in dieses
Viertel gelaufen, all die vielen Kilometer, weil er hier schon
einmal gewesen war. Als könne sich ein Teil von ihm doch an die
Geschehnisse vor dem Morgen in der Gasse erinnern. Der Herr … sein
Onkel musste ihn also schon seit dem
letzten Abend vermissen. Obwohl es eben so geklungen hatte, als
habe alles heute Nacht stattgefunden.
Also beschloss Adam, nach der einzigen Sache zu
fragen, die er mit Bestimmtheit wusste: »Wie lautet mein Name?«
Seine Stimme war so rau, dass er seine Worte selbst kaum
verstand.
Auf dem Gesicht des eleganten Herrn zuckte es, dann
wandte er sich mit einem einnehmenden Lächeln dem Gendarmen zu. »Es
wird wohl das Beste sein, wenn ich ihn jetzt in meine Kutsche
bugsiere, bevor auf offener Straße noch ein Unglück passiert. Diese
fahle Gesichtsfarbe verspricht nichts Gutes.«
Obwohl der Gendarm den Schlagstock senkte,
woraufhin Adam noch ein Stück tiefer zusammensackte, trat er nicht
beiseite. »Es klang so, als sei der Monsieur überfallen worden«,
gab er zu bedenken.
Der Herr, den jener rätselhafte Muskatduft umgab,
musterte Adam angestrengt durch seine Brillengläser, dann
schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er entschieden. »Er sieht
genau so aus, wie er uns verlassen hat. Nur, dass das Blut
mittlerweile getrocknet ist. Sein besudeltes Plastron und der
Zylinder sind in der Bar zurückgeblieben. Die Nase sieht sogar
erstaunlich gut aus. Nach dem Knall, den es beim Zusammenstoß
gegeben hat, dachte ich eigentlich, sie wäre Mus. Mehr Glück als
Verstand, wie man so sagt. Oh, ich befürchte, er bricht gleich
zusammen.«
Mit einer erstaunlichen Gewandtheit packte der Herr
Adam unter der Achsel und führte ihn zu dem Coupé. Als es Adam
nicht gelingen wollte, den Tritt zu nehmen, verstärkte sich der
Griff und hievte ihn hinauf. Das kann nicht sein, schoss es Adam
durch den Kopf. Dieser zierliche Bursche kann unmöglich über eine
solche Kraft verfügen. Er wollte die Kutsche bereits wieder
verlassen und seinen Begleiter genauer in Augenschein nehmen, als
ihm die Beine endgültig den Dienst versagten.
Nun gib endlich Ruhe!, herrschte ihn die
Stimme an.
Dann wurde alles schwarz.