NEUNTES KAPITEL
Elsa war nach einer Stunde wieder da und sagte aufgeräumt: »Es war wie erwartet. Vor Maritas Krankenzimmer hockt ein Mann in Zivil auf einem Stuhl und langweilt sich zu Tode. Ich habe ihn aus der Hüfte mit dem Superweitwinkel abgeschossen. Und was nun?«
»Denkpause«, sagte ich. »Ich meine nicht eine Pause, in der wir denken, sondern eine Pause, um das Hirn zu entspannen. Ruh dich aus, du hast es verdient.«
»Können wir nicht etwas Gutbürgerliches machen? Ein Eis essen gehen oder so was?«
»Laß mich noch ein Band diktieren und postfertig machen, dann können wir dergleichen Luxuriöses machen. Wie wäre es mit Eifelforelle statt Eis?«
»Du bist ein himmlischer Liebhaber. Wenn es wirklich eine Spionagegeschichte ist, haben wir keine Chance, jemals die Lösung zu finden, oder? Weil wir das, was in geheimen Akten steht, niemals erfahren.«
»Das ist auch nicht mein Thema. Thema ist die Spionagegeschichte nicht, auch nicht der dreifache Mord in einer Spionagegeschichte. Thema ist dreimal Mord, einmal Mordversuch und zweimal schwere Prügelei, wobei die ganze Eifel gezwungen wird, so zu tun, als wäre das alles nicht geschehen. Das ist eine sehr verdeckte, brutale Geschichte. Und diese Geschichte können wir teilweise schon schreiben.«
Sie überlegte und sagte dann: »Danke für die Aufklärung, Sir. Ich war ganz mutlos, als ich begriff, daß wir die Spionagegeschichte niemals klären werden. Weißt du, Baumeister, es ist eigentlich grotesk, wieviel Macht der Staat besitzt.«
»Es ist nicht der Staat, es sind Menschen, die das im Namen des Staates behaupten. Es gibt groteskere Beispiele. Die heilige Maria hat was mit dem heiligen Josef und bleibt dabei Jungfrau. Nach neun Monaten gebärt sie einen Jungen namens Jesus und bleibt Jungfrau. Das mußt du glauben. Glaubst du es nicht, bist du kein rechter Katholik. Das ist Macht, das ist Ausnutzung von Macht.«
»Du wirst ja richtig elegisch.«
»Jungfernhäutchen machen mich an und hin. Die Menschen fallen immer wieder auf alte Dinge rein und denken immer wieder alte Gedanken. Sie ducken sich, wenn jemand droht. Und wenn jemand wie Messner mit Gewalt winkt, ducken sie sich so tief, daß ihre eigene Meinung auf der Strecke bleibt.«
Sie starrte aus dem Fenster. »Die Menschen ducken sich und denken alte Dinge. Weißt du, ich habe mal sehr viel getrunken. Ich weiß nicht mehr genau, es war ein mieses Stück in meinem Leben. Zehn Jahre später, als ich nicht mehr trank, hat mir eine Tante erklärt, jemand, der zuviel trinkt, habe einen massiven Charakterfehler. Ich denke, daß die Tante zu denen gehört, die an Leute wie Messner glauben. Und sie gehört zu denen, die im Dritten Reich duldeten, daß sechs Millionen Juden umgebracht wurden. Und wahrscheinlich denkt sie, daß jemand, der Aids hat, auch einen ekelhaften Charakter haben muß. Jeder hat so eine Tante. Ich trau mich bloß nie, so etwas zu sagen, geschweige denn zu schreiben. Aber eigentlich müßte ich es tun.«
»Deine Elegien passen nicht. Wir müssen in unserem Fall einfache Denkmuster herausfinden, die dazu führen, daß jemand mit einer Schrotflinte drei Leute erschießt. Wir sollten ein bißchen Schach spielen.«
Ich nahm ein DIN-A4-Blatt und zeichnete einen Kasten. »Das ist der Jeep. Er steht auf einem Waldweg. Entfernung zum Depot ungefähr einhundertfünfzig Meter. Rechts eine Schonung mit Weißtannen, Birken, Erlen, links alter Buchenbestand. Geradeaus sieht man auf die Wiesen, über die der Schäfer Meier zog. Entfernung rund einhundert Meter. Wir haben drei Tote. Im Jeep der Lorenz Monning und die Susanne Kleiber. Wahrscheinlich außerhalb des Jeeps getötet und dann hineingesetzt. Zweihundert Meter weiter östlich dicht vor der Bundesstraße die Leiche der Marianne Rebeisen. Jetzt laß uns mit den Figuren spielen. Wahrscheinlich ist doch, daß der Monning und die Kleiber zusammen waren, daß die Rebeisen dazukam. Aber wieso ist das wahrscheinlich? Nehmen wir an, die drei waren ursprünglich zusammen. Also etwa hier neben dem Jeep. Kann es also sein, daß die Rebeisen erlebte, wie die Kleiber und der Monning erschossen wurden, daß sie in panischer Angst wegrannte und eingeholt wurde, um auch erschossen zu werden? Und warum rannte sie dann in Richtung Bundesstraße anstatt in Richtung Depot?«
»Es kann aber auch sein, daß ursprünglich die beiden Frauen zusammen waren. Daß Monning hinzukam. Daß eine der beiden Frauen Monning erschoß. Daß dann dieselbe Frau die andere Frau erschoß ... Baumeister, das macht keinen Sinn, das führt zu nichts. Wir wissen, daß Monning und die Kleiber denselben Beruf hatten, wir wissen auch, daß die Rebeisen eine Prostituierte war. Aber was wollte die da? Das macht mich ganz kribbelig.«
»Und noch etwas: Prostituierte sind clever, die bekommen keine Kinder. Und die Rebeisen war schwanger. Sie wollte also schwanger sein, sie wollte das Kind. Aber du merkst, wie gefährlich Denkspiele sind. Es hat keinen Sinn.«
Ich rief Alfred an, und er sagte, es gehe ihm besser. Dann beschwerte er sich lauthals, daß er zuwenig wisse, daß wir Geheimniskrämer seien, und ich versprach ihm, alles zu sagen, was wir wissen.
»Wann, glaubst du, sollen wir es machen? Wie sieht der Wetterbericht aus?«
»Das Fernsehen sagt was von Gewittern und Schwüle. Das heißt, wir machen es am besten morgens gegen drei Uhr. Da ist Ruhe.«
»Wir kommen um drei«, sagte ich.
»Was heißt das?« fragte Elsa.
Dann schellte es, und ich brüllte: »Reinkommen, Tür ist offen!«
Jemand öffnete die Tür sehr zögerlich, schlurfte langsam durch den Flur, als lauerten dort zahlreiche Feinde, und klopfte an die offenstehende Tür. Dann sagte er schüchtern: »Bin ich hier richtig bei Herrn Baumeister?« Er war ein kleiner, dürrer Mensch mit einer erstaunlich tiefen Stimme, schütterem, fast gelbem Haar über einem griesgrämigen Gesicht. Er trug einen dunkelblauen Anzug mit feinen hellen Streifen, als sei dies eine höchst feierliche Sache. Er konnte fünfzig Jahre alt sein, aber durchaus auch siebzig.
»Sie müssen der Kriminalrat Rodenstock sein«, sagte ich.
»Ganz recht«, nickte er und gab mir die Hand. »Herr Dr. Naumann war so freundlich, uns zusammenzubringen. Privat gewissermaßen.«
»Privat ist mir auch recht«, sagte ich. »Mein Kumpel Elsa. Möchten Sie etwas? Einen Kaffee vielleicht?«
»Ein Kaffee wäre sehr gut«, sagte er bescheiden. »Und vielleicht einen Kognak dazu? Bei nachdenklichen Gesprächen mag ich einen Kaffee, einen Kognak und einen Riegel bittere Schokolade. Es wird doch hoffentlich nachdenklich?«
Ich starrte das erstaunliche Wesen an. »Bei der Schokolade muß ich aber passen.«
Er lächelte und murmelte: »Macht nichts, ich habe immer eine Tafel im Auto und erlaube mir, die zu holen.«
Damit schlurfte er hinaus.
»Den gibt es gar nicht«, sagte Elsa entzückt.
»Phantastisch«, sagte ich. »Wir hatten schon mal Glück mit meinem Arzt. Aber vielleicht weiß er noch weniger als wir.«
Rodenstock kam zurück und übernahm sofort das Kommando. »Wenn Sie mir vielleicht einen Teller geben würden, gnädige Frau? Dann breche ich die Schokolade, und wir ersparen uns klebrige Finger.«
Elsa sagte nichts, Elsa konnte nichts sagen, Elsa verschwand, um das Tellerchen zu holen.
Rodenstock sagte nichts, Rodenstock hatte offenbar Zeit. Er zerbrach die Tafel Schokolade mit spitzen, kräftigen Fingern und schaute sich aufmerksam um. Er nahm dankbar das Tellerchen von Elsa entgegen und legte die Schokolade darauf. Dann griff er in die Innentasche seines Jacketts, holte ein Lederetui heraus, entnahm ihm eine beachtlich dicke Brasil, kramte umständlich nach einem kleinen Taschenmesser, spitzte den Mund, machte die Zigarre naß und schnitt sie so behutsam ab, als sei das eine lebensbestimmende Operation. Die Zigarre legte er auf den Aschenbecher, ohne sie anzuzünden.
Es war nahezu peinlich, aber Elsa und ich starrten ihn beide fasziniert und wortlos an. Er lächelte uns an, sagte nichts, schaute sich nur um.
»Der Kognak steht auf dem Küchenschrank, falls Alfred ihn nicht entdeckt hat«, sagte ich.
Er blinzelte. »Aha, Alfred Melzer«, sagte er dann und nickte gedankenschwer. »Ich habe davon erfahren.« Dann zog er ein Knie hoch, betrachtete gedankenverloren das Schnürband in seinem schwarzen glänzenden Halbschuh, zog es auf und verschnürte es neu – betulich und gewissenhaft, als sei es ein Kletterseil, an dem sein Leben hängen könnte.
Ich begriff plötzlich, daß dieser Mann jeden Verdächtigen im Verhör allein durch seine Rituale wahnsinnig machen mußte.
Elsa löste sich und ging den Kognak holen. Krümel schnürte herein und blinzelte Rodenstock an.
»Hallo, Dame«, sagte er.
»Sie ist tatsächlich ein Weibchen«, sagte ich.
»Man sieht es«, murmelte er. »Na, meine Kleine, bist du zufrieden mit deiner Herrschaft?«
Krümel kam zwischen seine Beine und ließ sich kraulen. Das sah nach Verrat aus.
Dann kam Bewegung in die Szene. Elsa brachte den Kaffee, goß ein und setzte sich, Rodenstock zündete seine Zigarre an. Ich goß ihm Kognak ein. Als die Zigarre brannte, deutete er auf die Schokolade und murmelte: »Bedienen Sie sich.« Er nahm ein Stückchen, lutschte darauf herum, trank einen Schluck Kaffee, wälzte den im Mund, dann eine Winzigkeit Kognak, dann ein langsamer Zug an der Zigarre. Und dann seufzte er. Wenn er jetzt den Rücken wohlig an der Sessellehne geschubbert hätte, um Ungeziefer zu entfernen, hätte ich es geglaubt.
»Ich nehme an«, sagte er, »daß Sie sehr viel wissen. Aber Sie werden nicht in der Lage sein, bestimmte lose Fäden miteinander zu verknüpfen. Machen Sie sich keine Vorwürfe, das kann ich auch nicht. Können wir uns austauschen?«
»Was haben Sie zu tauschen«, fragte ich.
»Einen Brief«, sagte er. »Einen Brief, den eine gewisse Marianne Rebeisen an den Vater ihres Kindes schrieb. Zwei Tage, bevor sie ermordet wurde.«
»Lieber Himmel!« hauchte Elsa.
Er sah sie freundlich-väterlich an. »Keine Sensation, gnädige Frau, nur Ermittlungsarbeit. Aber ich muß wohl erklären, wie die Dinge stehen, sonst verstehen Sie die Zusammenhänge nicht. Wir, also die Staatsanwaltschaft Trier, wurden aus den Ermittlungen ausgeschlossen. Die Begründung war einfach, es gehe um die Staatssicherheit, und da sei allein die Bundesanwaltschaft zuständig. Mein leitender Oberstaatsanwalt ist wegen der Tötung zweier Zivilisten nun durchaus anderer Meinung. Es wird ein Nachspiel geben. Dr. Naumann ist der Ansicht, ich könne mich Ihnen anvertrauen. Ist das so?«
»Ja, das ist so. Ich verpflichte mich, Ihnen das Manuskript zu zeigen, bevor ich es abliefere.«
Er schüttelte den Kopf. »Das ist durchaus nicht nötig, mein Sohn. Im allgemeinen sind meine Erfahrungen mit Ihrem Berufsstand nicht sehr gut, aber ich bin durchaus lernfähig. Zur Sache: Erwarten Sie von mir keine Wunder, aber immerhin habe ich den Brief und eine vage Vorstellung davon, wie die Tat verlaufen ist. Wären Sie also bereit, all Ihr Wissen an mich weiterzugeben?«
»O ja«, sagte Elsa begeistert.
»Vorab allerdings eine Korrektur«, sagte ich schnell, um nicht den Eindruck zu erwecken, wir hätten nur auf ihn gewartet. »Sie sagten eben, zwei Zivilistinnen seien getötet worden. Das ist falsch, vollkommen falsch. Die Susanne Kleiber nämlich arbeitete im Auftrag des MAD. Und wenn ich das richtig einschätze, so hat man der Mordkommission, als sie noch arbeitete, diese Tatsache verschwiegen. Ich weiß nicht, welche Funktion sie genau hatte, aber sie gehörte dieser Truppe an.«
»Ist das gesichert?« fragte er verstört.
»Aber ja«, strahlte Elsa.
Er nahm einen winzigen Schluck Kognak, sog bedächtig an der Zigarre, dann ein Stückchen Schokolade, darauf einen Schluck Kaffee. »Soso, sieh mal einer an«, sagte er tiefsinnig und starrte in eine unbekannte Ferne. »Nun gut«, sagte er dann rasch und lächelte etwas bitter. »Zur Sache, also zu dem Brief. Wenn Behörden einen Irrtum korrigieren, tun sie das gewöhnlich zu spät. Geheimdienste übrigens auch. Als die Mordkommission aus den Ermittlungen ... äh ... hinausgeworfen wurde, liefen die bereits und waren nicht mehr aufzuhalten. Als die dritte Leiche also gefunden wurde, waren unsere Ermittlungen gestoppt, aber sämtliche Informationsstränge liefen weiter. Natürlich haben wir uns, wie vermutlich auch Sie, die Frage gestellt, wieso eine Prostituierte aus Köln morgens um vier Uhr auf einem schmutzigen Waldweg in der Eifel vor einem Bundeswehrdepot erschossen wird. Nun, wie Sie sehen werden, hatte das seinen Grund. Sie gab zwei Tage vor ihrem Tod einer Kollegin einen Brief. Die Kollegin sollte diesen Brief in den Briefkasten werfen, vergaß das aber. Der Brief kam zu uns, Sie bekommen eine Kopie. Darf ich vorlesen?«
»Selbstverständlich, lesen Sie.«
Er setzte sehr umständlich seine Brille
auf und las vor:
»Mein Herz! Ich bin sehr glücklich. Ich war
heute noch einmal beim Arzt, und er hat die Schwangerschaft
bestätigt und gesagt, daß alles vollkommen in Ordnung ist. Ich bin
ein bißchen selig und freue mich darauf, daß wir nun bald einen
Teil unserer Träume in die Tat umsetzen können. Dein gefährliches
Leben wird damit zu Ende sein, und mein Leben, von dem ich geglaubt
habe, daß es sinnlos ist, bekommt einen Sinn. Ich sehe Dich bald,
und ich küsse Dich innig. In Liebe Deine Marianne.«
Er sah uns über den Rand seiner Brille an. »Wie Sie sehen, war diese Frau gebildet, wußte sich durchaus auszudrücken. Lyrisch, sehr lyrisch.«
»Darf ich den Brief fotografieren?« fragte Elsa erregt.
»Aber ja«, sagte er.
Elsa nahm den Brief und legte ihn auf den Schreibtisch unter eine Lampe.
»An wen war der Brief gerichtet?« fragte ich.
»An Lorenz Monning«, sagte er.
Elsa begann zu fotografieren, und das Klicken der Kamera kam mir sehr laut vor.
»Eindeutig an Monning?«
»Eindeutig«, sagte er und gab mir den Umschlag. »Wie Sie sehen, schrieb die Tote an das Bundeswehrdepot. Wir denken, daß Monning ein übler Typ war. Er hatte ja auch etwas mit der Marita Heims aus Blankenheim. Und er hatte wohl auch etwas mit der Serviererin Susanne Kleiber aus Hohbach ... Das heißt, wenn Sie sagen, daß auch die Kleiber beim MAD war ... Darf ich fragen, woher Sie diese Information haben?«
»Wir wissen es von der Marita Heims. Und die weiß es mit Bestimmtheit.«
»Die Heims haben wir nicht vernehmen dürfen. Soso, das ist ja erstaunlich, das zwingt zum Umdenken.«
»Wir haben daran gedacht, daß auch die Prostituierte irgendeinem Geheimdienst angehörte.«
»Möglich ist alles.«
»Vielleicht ein bißchen mehr als möglich«, sagte ich. »Der MAD wird durch einen Mann namens Messner vertreten, der auch Hartkopf heißt. Aber wahrscheinlich sind beide Namen falsch ...«
»Richtig«, sagte der erstaunliche Rodenstock. »Beide Namen sind genehmigte Legenden, also offizielle Decknamen mit jeweils komplettem Lebenslauf. Eigentlich heißt er Herrmann-Josef Schmitz, aber das hat er wahrscheinlich längst vergessen. Aber ich habe Sie unterbrochen.«
»Sehen Sie, nicht nur der MAD ist vertreten, sondern auch der Verfassungsschutz, obwohl wir keinen Vertreter dieser Organisation identifiziert haben. Der Verfassungsschutz hat, wie der MAD, seinen Sitz in Köln, und die Marianne Rebeisen kam aus Köln ...«
»Ach so«, murmelte er, »erstaunlich, dieser Gedankengang. Und sehr überzeugend. Aber dieser Brief an Monning legt rein private Motive offen ...«
»Ja, ich gebe zu, daß es so aussieht. Aber wie kommt der Monning an die Rebeisen?«
»Monning war oft in Köln und Bonn. Was haben Sie zum Tatverlauf herausgefunden?«
»Eigentlich nichts. Wir wissen, daß es einen Zeugen gibt, den Schäfer Meier. Aber der wurde zum Schweigen verdonnert, wie alle anderen auch.«
»Wir haben ihn vernomm... äh, gefragt. Zugegeben, ein etwas delikater Vorgang. Meier sagt folgendes aus: Er ist um zehn Uhr aus seinem Karren herausgekommen. Es regnete in Strömen, die Herde war in einem engen Pferch, die Hunde lagen ruhig unter dem Karren. Zunächst zog dann der in aller Munde befindliche Laster aus Dresden vorbei, zugegeben auf einer Straße, die für ihn gesperrt war. Nach Angaben Meiers hielt der Laster nicht an, sondern fuhr durch ...«
»Einwand, Euer Ehren«, murmelte Elsa. »Wieso ist Meier aus dem Schäferkarren gekommen, wenn alles in Ordnung war?«
»Sehr gründlich«, murmelte er. »Ganz einfach: Er hatte ein paar hochtragende Mutterschafe in der Herde, und er ist ja ein bißchen wie der Papa, nicht wahr? Er war vom Tatort etwa einhundert Meter weg. Er ging in den Pferch, suchte die Mutterschafe heraus und betastete ihre Bäuche. Dann kam der Jeep in den Waldweg gefahren. Er hatte abgeblendete Lichter. Die Lichter gehen aus, drei Personen steigen aus. Meier ist nicht sicher, wer sie waren. Er erkannte nur einen: Lorenz Monning. Der hatte nämlich keine Regenpelerine an wie die anderen beiden, und Meier kennt ihn persönlich gut. Dann gibt es einen oder mehrere scharfe Knallgeräusche. Die Lichter des Jeeps gehen an, er setzt zurück, wendet und verschwindet wieder. Meier denkt sich dabei nichts, denn es können auch Auspuffgeräusche gewesen sein. Dann allerdings passiert Seltsames.« Er nippte an dem Kaffee, streifte die Asche seiner Zigarre ab, nahm ein Stückchen Schokolade, eine Winzigkeit Kognak, strahlte uns an, nuschelte: »Ein Genuß!«, trank Kaffee.
»Das Seltsamste war, daß der Jeep nach etwa zehn Minuten erneut kam, an derselben Stelle hielt. Der Schäfer Meier war nicht allzu konzentriert, denn eines seiner Mutterschafe bekam nun ein Junges. Er sah, wie die Person, die rechts vom Fahrer saß, ausstieg und nach links in den Wald rannte. Die Person, die am Steuer gesessen hatte, rannte mit einem Knüppel in der Hand hinter ihr her. Die beiden kamen übrigens nie wieder. Erst jetzt kam dem Schäfer die Idee, da sei etwas faul. Er rannte zu dem Jeep und fand zwei Leichen. Er rannte aber nicht hinter den beiden Figuren her ...«
»Hörte er denn nicht den Schuß?« fragte ich.
»Nein, eben nicht. Aber wir wissen, daß bei besonderen Windrichtungen Schußgeräusche buchstäblich verschluckt werden. Meier findet also die Leichen und rennt zum Depot und meldet das.«
»Einspruch. Ungereimtheit«, sagte Elsa scharf. »Meier sagt also den Leuten von der Bundeswehr, er habe zwei Figuren weglaufen sehen, als der Jeep das zweite Mal kam. Wieso haben die nicht in dieser Richtung gesucht? Sie hätten die tote Marianne Rebeisen sofort gefunden.«
»Richtig«, sagte er bedächtig. »Aber vom ersten Anruf nach Bonn an durfte niemand mehr suchen und ermitteln, bis diese Geheimdienstexperten kamen. Irgendwie ist das untergegangen. Übrigens ist etwas sehr kurios: Auf dem Lenkrad fand man keine Fingerabdrücke, aber die Schleifspuren, mit denen Abdrücke abgewischt worden waren. Dasselbe übrigens an der Waffe bei der Leiche der Rebeisen.«
»Und die Tatwaffe?«
»In diesem Punkt folgen wir den Ermittlungen der Bundesanwaltschaft in vollem Umfang. Wir haben natürlich nur gerüchteweise davon gehört, aber die Tatwaffe gehörte Monning. Er nahm sie einmal ins Depot mit, um sie seinen Kameraden zu zeigen.«
»Die Tatwaffe war nicht Monnings Gewehr«, sagte ich. »Monnings Schrotflinte lag bei Marita Heims auf dem Dachboden. Nicht gebraucht und von uns fotografiert.«
»Heiliger Strohsack!« sagte er hastig und fuchtelte wild mit der Zigarre. »Haben Sie es nicht sichergestellt?«
Ich grinste. »Das kann ich nicht, ich bin kein Staatsanwalt. Es ist wohl noch immer auf dem Dachboden. Wenn Sie es wollen ...«
»Wenn Sie mir das besorgen, spreche ich Sie heilig«, sagte er begeistert und sog an seinem Glimmstengel.
»Ich werde das Ding holen«, sagte Elsa ruhig. »Und zwar jetzt. Wenn Marita im Krankenhaus redet, weil sie reden muß, ist es weg.«
»Tu das«, sagte ich.
»Bringen Sie es hierher«, murmelte Rodenstock. »Wenn Sie es haben, rufen Sie mich an, Tag und Nacht. Ich muß jetzt denken gehen. Es war mir ein Vergnügen.«
»Moment, Moment«, sagte ich. »Sie wirken wie ein skurriler, netter Opa, und das wissen Sie auch. Sie sollten aber nicht versuchen, etwas zu verbergen und ...«
»Ich verberge nichts«, sagte er schnell und böse.
»Doch, doch, die Spionagegeschichte, diesen Laster aus Dresden, der in Hohbach Station machte und nach der Tat spurlos verschwand. Sie wissen schon ...«
Er stand auf und murmelte: »Junger Mann, nun behalten Sie die Nerven. Durch die Eifel kurven dauernd LKWs aus der DDR, und vornehmlich meine Kollegen von den Geheimdiensten reden dauernd von Spionage, das ist schon krankhaft. Könnte es nicht sein, daß dieses Gerede etwas verbergen soll? Das wahre Motiv zum Beispiel?«
»Wie denn, verdammt noch mal? Marita Heims sagt klar aus, daß Lorenz Monning am Sonntag vor seinem Tod zum Depot gerufen wurde. Und zwar mit dem Ziel, genau diesen DDR-Laster anzugucken, zu überprüfen, was auch immer.«
Er warf die Arme heftig nach vorn, setzte sich wieder, rief wieder seinen Strohsack an und murmelte: »Wir konnten nicht genau vernehmen, wir mußten alles schnell und nebenbei machen. Ist das sicher?«
»Todsicher«, sagte Elsa.
»Dann muß ich anfangen, alles neu zu bedenken«, murmelte er. Er verabschiedete sich freundlich und sehr höflich, und er nickte ernst, als ich ihm »Gute Rache!« wünschte.
Ich begleitete ihn zu seinem Auto und stellte eine letzte Frage: »Lorenz Monning hat die Wohnung der Marita Heims ungefähr um halb neun Uhr abends am Sonntag verlassen, Ziel war das Depot. Haben Sie rekonstruieren können, was er zwischen halb neun und dem Todeszeitpunkt vor Mitternacht getan hat?«
Er starrte auf einen Grasfleck zwischen uralten Pflastersteinen. »Junger Freund, wissen Sie, was es heißt, aus einer Morduntersuchung hinausgeschmissen zu werden? Wir haben zwar bestimmte Fragen gehabt, haben sie aber so stellen müssen, als interessiere uns die Antwort eigentlich gar nicht. Wir dachten, Monning schlief mit der Kleiber, wir dachten, daß plötzlich die Rebeisen auftaucht, wir dachten, wir dachten. Und jetzt ist alles falsch, alles Käse. Grau, Freund, ist alle Theorie, sehr grau.« Er starrte irgendwohin, er seufzte, er sagte: »Wir sehen uns. Ich werde nachdenken. Und seien Sie vorsichtig bei Ihren Recherchen. Die Stimmung im Depot ist kriegerisch.«
»Messner hat die aufgehetzt«, sagte ich.
»Tja, Messner«, sagte er. »Wir sagen immer: Geheimdienstler sind Leute, die es nicht ganz schaffen, Kriminalist zu werden.« Er lächelte um Verzeihung bittend.
»Eine Sekunde noch«, sagte ich. »Wahrscheinlich haben Sie es gehört: Die Marita Heims ist verunglückt.«
»Ja, ja«, er kicherte hoch und beglückt, »und das Autowrack wurde geklaut. Man stelle sich das vor!«
»Richtig«, murmelte ich. »Ich habe hier in der Garage einen Behälter für Bremsflüssigkeit. Aus einem Mercedes, wie die Heims ihn fuhr.« Ich drehte mich herum, holte den Plastikbehälter, der auf der Mülltonne lag, und reichte ihm den beiläufig an. »Wenn Sie sich den mal anschauen würden, bitte sehr. Es könnte ja die Möglichkeit von Fingerabdrücken bestehen, nicht wahr?«
Er hatte große, kugelrunde Augen, und er kicherte wieder unnatürlich hoch. »Mann«, prustete er, »das hältste im Kopf nicht aus, wenn du einen hast. Sie sind mir unheimlich.« Er barg das kostbare Gut auf seinem Schoß, strahlte mich an, schüttelte den Kopf und fuhr davon.
Ich diktierte die Unterhaltung mit Rodenstock auf ein Band, verpackte das Material und fuhr es zum Briefkasten. Als ich auf den Hof zurückkehrte, war der Chef am Telefon und sagte euphorisch: »Ihre ersten Ergebnisse sind wirklich gut. Wann werden Sie fertig sein?«
»Ich weiß es nicht, ich melde mich.«
Wenig später kam Elsa und trug das Gewehr wie eine Trophäe im Arm. »Hier ist unsere Bezahlung für viele Mühe. Es war ganz einfach, ich habe dem Mädchen gesagt, ich hätte was vergessen, und hab so lange auf dem Boden herumgewühlt, bis ich es fand. Und jetzt?«
»Jetzt wird zwei Stunden vorgeschlafen, wir haben Nachtarbeit vor uns. Mir gefällt nicht, daß Monning ein Kind mit einer Prostituierten hatte.«
»Er hatte es ja noch nicht«, warnte sie sanft.
»Ich weiß, aber irgend etwas stimmt da nicht. Wieso spart er dann mit der Marita so einen Haufen Geld?«
»Weil es ganz ungefährlich war, weil Marita ihm keine Fesseln anlegte, denke ich. Er konnte seinen Anteil nehmen und gehen. Und wahrscheinlich wollte er das auch.«
»Kann Marita sich dermaßen in dem Mann geirrt haben?«
»Aber ja, das kann jeder Frau passieren und jedem Mann. Darf ich bei dir schlafen?«
»Ich wollte dich gerade darum bitten.«
Der Wecker rasselte um halb drei, und ich war schon rasiert, ehe ich richtig wach war. Wir trabten auf Alfreds Hof unter einem sehr hellen Himmel, an dem schneeweiße Wolken im Licht eines halben Mondes segelten.
Alfred hatte im Schein der Bogenlampen den Unimog vor den Tieflader gespannt, auf dem das Wrack lag. Er war schweigsam.
»Fotografier das alles noch einmal«, sagte ich zu Elsa. »Samt Alfred und mir. Die Großwildjäger mit der erlegten Beute.«
»So'n Scheiß!« murmelte Alfred.
»Laß sie doch«, sagte ich. »Ist ja auch was für das Familienalbum.«
»Ich bin nicht rasiert.«
»Was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Die Milchration«, sagte er wütend. »Erst sollen wir Kühe abschaffen. Dann sollen wir Kühe anschaffen, größere Ställe, mehr Milch. Dann sollen wir wieder abschaffen, dann schaffen wir ab. Und dann kriegst du erzählt, deine Milch wäre zu fett, also zu gut. Und dann kriegst du dafür, daß du gut warst, zwölf Prozent abgezogen. Es ist zum Kotzen.«
»Lacht doch mal«, sagte Elsa.
»Lach doch selbst«, sagte Alfred.
Er fuhr sehr geschickt über Nebenstraßen und näherte sich der Unfallstelle über einen asphaltierten Wirtschaftsweg. »Und wo legen wir den Blechhaufen hin?«
»An den Straßenrand«, entschied ich. »Genau an die Stelle, wo sie von der Straße abgekommen ist. Wir sichern das durch Warndreiecke.«
»Und was ist, wenn Bullen kommen?«
»Betriebsunfall. Dann hilft nur noch beten.«
Es machte einen Höllenlärm, als er das Wrack vom Tieflader zog. Er nahm die Mütze ab und kratzte sich. »Ist schon verrückt, das Ganze«, sagte er.
»Paß auf«, sagte ich zu Elsa. »Du baust die Kamera da oben hinter den Büschen auf. Du stellst sie auf das Stativ und hältst einfach drauf. Und du selbst läßt dich nicht sehen. Wenn alles gelaufen ist, ziehst du ab und besorgst dir ein Taxi. Jeden belichteten Film versteckst du so, daß ich ihn finden kann, wenn sie dich festnehmen. Also am besten ... Warte mal, da ist links von dem Gebüsch ein alter Baumstamm. Verbuddel die Filme da, solange du weiter fotografierst. O.k.?«
»Schon gut«, sagte sie und machte sich auf den Weg. Wir markierten das Wrack straßauf, straßab mit einem Warndreieck und zogen unseres Weges.
Unterwegs berichtete ich Alfred alles, was er noch nicht wußte, und auf halbem Weg fing es an zu regnen. Alfred fluchte und sagte, jetzt sei es aus mit dem Heumachen. »Nichts klappt mehr beim Bauern, nicht mal das Wetter.«
Wir trennten uns, und auch ich war muffig, obwohl die Geschichte Konturen bekam und wir schon erstaunlich viel wußten. Ich schlenderte durch das schlafende Dorf und fragte mich, ob meine Nachbarn etwas gegen mich haben würden, weil die Bundeswehr in meiner Geschichte nicht gut aussehen würde.
Wie üblich stand meine Garage offen, und ich achtete überhaupt nicht darauf.
Als er aus dem Dunkel leise sagte: »Guten Morgen, Sie Schwein«, zuckte ich nicht einmal zusammen.
Ich kann bis heute nicht erklären, warum ich freundlich »Ja, bitte« fragend in das Dunkel ging. Ich habe nicht den Hauch einer Entschuldigung, es sei denn den fraglichen Satz, daß mein Beruf zur Neugier verpflichtet. Ich kann nicht einmal behaupten, nicht begriffen zu haben, daß er mich Schwein nannte.
Ich sagte zum zweitenmal »Ja, bitte?«, als ich neben meinem Wagen stand.
Dann sagte ich jovial: »Sieh an, der Angehörige unserer Streitkräfte Norbert Lenz. Was machen Sie hier am frühen Morgen?« Nichts kann meine Friedfertigkeit besser beweisen als die Tatsache, daß ich noch immer nichts roch. Ich rieche Gefahr grundsätzlich nicht. Meine Augen hatten sich an das Dunkel gewöhnt. Er stand da vor mir, groß und massiv und jung. Er trug etwas, was wohl Kampfanzug genannt wird, und seine furchtbar klobigen hohen Stiefel deuteten an, daß er sie auch gebrauchen wollte. Er starrte mich nur an.
Er war nicht allein. Hinter ihm hatten sich zwei weitere junge Krieger aufgebaut. Ihre Augen waren sehr groß vor Erregung.
»Sie sind ein Schwein«, sagte er leise.
»Können Sie mir das erklären?«
»Kann ich. Sie sollten sich da raushalten. Sie haben neulich gesagt, Sie hätten nicht fotografiert. Glaube ich nicht. Sie schnüffeln weiter rum. Sie waren bei Marita Heims, sie waren bei Schäfer Meier, und Sie hatten Besuch von einem Herrn der Mordkommission, obwohl die sich auch raushalten soll. Sie machen dauernd weiter, Sie schnüffeln. Und Sie verarschen Hauptmann Hartkopf.«
»Sieh an, nun isser auch noch Hauptmann. Bei mir nennt er sich immer Dr. Messner. Aber seien Sie beruhigt. Nach meinen Feststellungen trägt er den schönen Namen Schmitz.«
»Was soll das alles? Hartkopf ist ein Klassemann, Baumeister. Hartkopf ist ein echter Kamerad, Hartkopf hat uns zu einer echten Truppe zusammengeschmiedet. Gegen uns sind Sie schmierig.«
Dann traf er mich über dem linken Auge, und ich konnte nichts mehr sehen, weil da sofort Blut war. Seltsamerweise fühlte sich das kühl an. Heiß rinnendes Blut gibt es wahrscheinlich nur in südlichen Ländern.
Ich stolperte nach rechts und wollte irgend etwas sagen, um ihn zu besänftigen. Aber dann trat er mir gegen den rechten Oberschenkel, und ich knickte ein und mußte meine Brille festhalten. Ich sah immer noch nichts – oder nur schemenhaft.
»In den Eingang«, sagte er scharf.
Ich brabbelte irgend etwas, weil ich dachte, er meine mich. Aber er meinte seine beiden Freunde, die an mir vorbei in das Tor der Garage glitten.
»Hör zu, Baumeister, du wirst dich da raushalten, hörst du? Wir sind ein echter Kumpelverein, und wir mischen dich jedesmal auf, wenn du wieder schnüffelst. Und du wirst nichts tun, daß wir Hartkopf verlieren, hörst du? Wir...«
Er traf mich mit dem Stiefel irgendwo an der linken Hüfte, aber es schmerzte nicht sonderlich, unterbrach nicht einmal meine Gedanken. Dann schlug er wieder mit den bloßen Fäusten, und die Wunde hinter dem Ohr riß auf. Das tat sehr weh, und ich bekam keine Luft.
»Hartkopf hat uns gezeigt, was Kampf ist, und du wirst deine Schnauze halten. Du hältst dich da raus, Opa, ist das klar? Die Bundeswehr hat nämlich was gegen Schweine wie dich.«
»Ja, ja«, sagte ich, aber ich glaube, ich brachte keinen Ton heraus. Ich drehte mich mit dem Rücken in das Dunkel der Garage und hatte ihn jetzt in der Einfahrt seitlich vor mir. Und seltsamerweise wußte ich plötzlich, was ich wollte.
Da hing eine Egge, jeweils zweiunddreißig Eisenzähne auf vier Feldern. Alfred hatte gesagt: »Altes Modell. Wird nicht mehr gebaut.« Und wir hatten sie an die Wand gehängt.
Jetzt stand dieser junge Mann genau vor dem Ding, und ich duckte mich schnell. Er machte das, was ich erwartete. Er nahm hastig beide Hände hoch und trat einen schnellen geduckten Schritt zurück. Er kam mit der Schulter unter die erste Eisenzahnreihe, zuckte mit dem ganzen Gewicht hoch, und die Egge kam von der Wand. Sie fiel auf ihn herunter, schwer und mit kreischendem Scheppern. Norbert Lenz fiel mit einem Schrei vornüber, und die Egge klebte an ihm wie eine riesige Distel.
»O Scheiße!« hauchte einer seiner beiden Freunde atemlos.
»Sie sollten einen Sanitäter holen oder so was«, sagte ich keuchend. »Es ist Krieg, Freunde.«
Sie standen da und sagten nichts, sie hatten ihren Anführer verloren.
Ich holte eine Taschenlampe aus dem Wagen und wischte mir mit einem Papiertuch das Blut aus dem Gesicht. Ich leuchtete auf Lenz nieder. Er lag vollkommen still und blutete stark aus Wunden am Hinterkopf und auf der ganzen Schulter.
»Nehmt die Egge runter«, sagte ich. »Dalli. Und tragt ihn schnell rein.« Ich ging auf den Hof und sah meine Nachbarin in der Tür stehen und neugierig herblicken.
»Morgen, Frau Bietig. Wir hatten einen Unfall. Könnten Sie Dr. Naumann anrufen? Er soll dringend kommen.«
»Mach ich doch, Siggi«, rief sie und verschwand.
»Vorsichtig, stoßt nicht an. Zweite Tür links. Legt ihn auf das Sofa.«
»Aber das mit dem Arzt geht doch nicht. Das ist Bundeswehrsache.« Der junge Mann war leichenblaß.
»Ja, ja, ihr Arschlöcher. Und wenn er krepiert, ist die Beerdigung auch Bundeswehrsache, oder?«
Er zuckte zurück, stieß mit den Kniekehlen gegen einen Sessel und setzte sich. Er sagte matt: »Sie bluten doch selbst wie ein Schwein.«
»Scheiß drauf«, sagte ich. »Helfen Sie mir, dem das Hemd auszuziehen.«
Er stand wieder auf, aber seine Hände zitterten so, daß er nicht zugreifen konnte. »Geht nicht«, hauchte er.
Ein Auto kam auf den Hof, und ich sagte: »Das ist der Arzt.«
Aber es war Elsa. Sie sagte im Flur: »Ich habe mir ein Taxi genommen. Alles klar. Baumeister? Wo bist du denn?«
»Na hier«, sagte ich. Ich kriegte das Koppelschloß von Lenz nicht auf und sah sie an und sagte: »Er hat sich verletzt, aber Naumann ist schon unterwegs.«
Sie ließ die Tasche mit den Kameras fallen und sagte erstickt: »Nein! Wer hat das gemacht?«
»Eine Egge. In der Garage.«
»Nein, ich meine dein Gesicht.«
»Na, der hier. Ist bewußtlos oder so. Sie haben in der Garage auf mich gelauert. Lenz hier bekam eine Egge auf den Kopf. Die Egge, mein Partner.«
»Das ist ja rohes Fleisch, das über deinem Auge. Und hinter dem Ohr ... und, oh, mein Lieber!«
»Das ist nur ein bißchen geplatzt«, sagte ich. »Schon gut, ich habe nicht mal Kopfschmerzen. Hilf mir doch mal mit diesem blöden Gürtel. Wir müssen dem Jungen diese modische Bluse ausziehen und das Hemd.«
»Herrje!« sagte sie, und dann erst sah sie die beiden taubstummen Soldaten hinter sich. »Ist das die Sanitätskompanie?« Dann begann sie zu weinen, und ich sagte hastig: »Werd bloß nicht ohnmächtig. Wir haben nur ein Sofa.«
Es gab eine Reihe solcher flapsiger Bemerkungen von meiner Seite, bis Naumann den Flur entlangkam und fragte: »Was hat er jetzt wieder angestellt?«
»Mit mir ist nichts Besonderes, aber der hier hat eine Egge auf Kopf und Schultern gekriegt.«
Naumann hatte die beiden Soldaten in ihren Sesseln bemerkt und sagte nichts mehr, murmelte nur: »Laß mich mal!« Er drehte Lenz sehr energisch hin und her, dann auf den Bauch und sagte scharf: »Los, ihr beiden, bewegt euch, die Klamotten müssen runter. Dalli, dalli!«
Lenz sah nicht gut aus, und irgendwann hatte ich es satt, ihn anzustarren. Zuweilen habe ich mich ohnehin im Verdacht, mit dem Anblick von Blut nicht männlichkernig verfahren zu können. Ich verschwand still in die Küche und hockte mich an den Tisch. Mir war schlecht.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Naumann hinüberkam und sagte: »Elsa redet dauernd von rohem Fleisch und kann Sie nicht ansehen. Was ist denn mit Ihnen? Prügel gekriegt?« Er grinste und murmelte etwas von Nähen. Also nähte er meine Augenbraue und die alte Wunde hinter dem Ohr, die jetzt wieder neu war. Er hielt meinen lädierten Schenkel für wert, einen anständigen Druckverband zu bekommen.
»Was war denn?«
»Sie haben mir in der Garage aufgelauert.«
»Von Messner geschickt?«
»Das weiß ich nicht. Ich möchte, verdammt noch mal, wissen, wie es diesem Messner gelingt, diese Truppe dermaßen anzuheizen, daß sie wie die Teufel sind, brutal und ohne jede Idee von Freundlichkeit.«
»Dann sollten Sie mal an Goebbels oder an seinen Meister denken. Die haben es nahtlos geschafft, aus Biedermännern menschliche Schweine zu zimmern – nur durch Reden. Seien Sie doch nicht so naiv, Baumeister.«
»Scheiß drauf. Die reden ja doch nicht. Lassen wir sie laufen.«
»Sind Sie verrückt?« Er steckte seine Utensilien in die Tasche zurück, winkte mir zu und ging hinüber in das Wohnzimmer. Er sagte großartig: »Herr Baumeister sieht zunächst von einer Anzeige ab. Ich hole jetzt einen Bundeswehrsani. Lenz muß ins Krankenhaus.«
Elsa saß hinter meinem Schreibtisch, rauchte abwesend eine Zigarette und sah mich so an, als hätte sie mich eben erst kennengelernt.
Ich sprach mit Naumann über Erdkröten, hier über eine spezifisch dicke grünlichbraune, die angeblich ihre Kinder monatelang auf dem Rücken spazierenträgt. Wir sprachen auch über die Möglichkeit, Feuersalamander von Zoos zu beziehen und wieder an Mutter Natur zu gewöhnen.
Die ganze Zeit über, in der wir auf das Sanitätsauto warteten, sagten die beiden Soldaten kein Wort, starrten auf den Teppich und zündeten eine Zigarette an der vorhergehenden an. Lenz schlief, weil Naumann ihm eine Spritze gegeben hatte.
Naumann, das war sehr deutlich, wurde immer nervöser, zupfte sich am Hemdkragen, sah auf die Uhr, stopfte sich eine Pfeife, vergaß sie anzustecken.
Dann platzte er. Er drehte sich zu den beiden Soldaten herum und fauchte: »Also ich mache diesen Unsinn nicht länger mit. Sie kommen mit Ihrem Kameraden Lenz hierher. Lenz versucht, Herrn Baumeister zu verprügeln. Das mißlingt. Und Sie haben die ungeheure Frechheit, sich hierherzusetzen und einfach den Mund zu halten, als ginge Sie das alles nichts an. Sie sind einfach brutal, und wenn es schiefgeht, halten Sie die Schnauze. Können Sie mir endlich einmal sagen, was da denn für eine Spionagegeschichte laufen soll?«
Der kleinere, bleichere sagte mit schnellem Blick auf seinen Kumpel: »Hauptmann Hartkopf hat uns dringend geraten, vor Zivilisten nichts auszusagen.«
Naumann stand auf und ging zwischen Tür und Kamin hin und her. »Hören Sie zu. Hier werden Zivilisten am laufenden Band von Soldaten verprügelt. Ich sehe das, ich muß die Patienten versorgen. Und kein Mensch weiß, warum das alles geschieht. Machen Sie das Maul auf, was ist mit Spionage?«
»Es geht wirklich um Spionage«, sagte der Bleiche. Er hatte Angst, und er zitterte. »DDR-Leute spionieren die Depots aus, und sie kriegen hier Hilfe von irgendwelchen Agenten. Der DDR-Laster war hier, um Verbindungen aufzunehmen und Nachrichten abzuliefern. Und dann muß es Zoff gegeben haben, irgendwie. Wir wissen noch nicht, wie. Jedenfalls haben die unsere Leute abgeknallt, oder es war anders ...« Er merkte, daß er etwas sagte, was er nicht sagen durfte, und er versiegte wie ein Wassertropfen auf einem heißen Stein.
»Das ist alles geheim.«
Sein Kumpel war ein sehr bleicher Weißhaariger. Er sagte quälend langsam: »Mehr wissen wir auch nicht, ehrlich. Wirklich ehrlich.«
»Lieber Himmel, also war Monning eventuell ein Spion aus dem Osten?«
Er hielt den Kopf gesenkt, starrte irgendwohin auf die Dielenbretter, hob dann das Gesicht und fragte ruppig: »Warum nicht?«
Sie atmeten beide aus, hatten genug gearbeitet, waren offensichtlich erleichtert und sanken erneut in dumpfes Brüten.
Diesmal platzte ich, diesmal hatte ich eine Idee, steuerte mein Platzen, dosierte es. »Ich denke, Doktor Naumann, ich zeige Lenz und die beiden an.«
Naumann sah mich an, kniff die Augen zusammen und sagte dann: »Sie wissen, ich kann Sie nicht davon abhalten. Vielleicht ist es unvermeidlich.«
»Das ist es.«
»Was schreiben wir denn in der Anzeige?« fragte Elsa mit leicht belustigter Stimme.
»Na, Mordversuch natürlich«, sagte ich. »Was sonst?«
Dann war es sehr still. Ich stand auf und ignorierte die Soldaten vollkommen. »Wir wissen, was geschah. Sie versuchten, Marita Heims auszuschalten, sie stachen den Flüssigkeitsbehälter an. Elsa, stell ihre Personalien fest.«
»Geben Sie mir bitte Ihre Ausweise und Dienstausweise!« bat Elsa sanft.
Ich stopfte mir eine Pfeife, ich nahm die Punto d'oro, die so arrogant wirkt.
»Wir waren das nicht«, sagte der Bleiche. »Wir waren das – Ehrenwort – nicht.«
»Mitwisserschaft reicht auch«, sagte Elsa.
Der Weißblonde murmelte: »Das hat Lenz gemacht. Aber allein.«
»Weil Hauptmann Hartkopf das wollte«, sagte ich.
»Nee«, sagte der Weißblonde. »Hartkopf macht so was nicht. Hauptmann Hartkopf sagt niemals so was. Auf so was kommen wir selber, weil: Wir werden richtig trainiert, damit wir beim Denken auf so was selber kommen.«
»O Gott«, murmelte Elsa. »Warum diese Frau?«
»Sie sollte ja nicht tot sein«, flüsterte der Bleiche, »sie sollte nur nicht mehr reden können.«
Auf dem Hof war ein wischendes blaues Licht. Sie fuhren mit Lenz davon. Naumann schüttelte schweigend den Kopf und verschwand. Elsa sagte: »Das ist ja ein Irrenhaus hier!«
»Was war los? Haben sie das Wrack entdeckt, konntest du fotografieren?«
»Es lag keine halbe Stunde da, dann kam ein Streifenwagen, dann der zweite, dann der dritte. Und dann kam Messner persönlich, dann andere Zivilisten, die ich nicht kenne. Im wesentlichen war es eine Versammlung von Männern, die kopfschüttelnd um ein kaputtes Auto herumliefen. Dann kam ein großer LKW der Bundeswehr mit einem Kran drauf und holte das Wrack ab. Sie haben die Straße die ganze Zeit über abgesperrt, und ich habe alles und jeden fotografiert, wie auf dem Schießstand.«
»Du bist ein As, vielen Dank.«
»Und du bist ein ganz verrückter, blöder Kerl, und ich habe so Angst um dich.«