Kapitel 4

Sie war vollbepackt mit Tüten und Geschenken, als sie eine Minute vor fünf in ihr Zimmer stürmte. »Ausgezeichnet!«, sagte sie, als sie die Tüten aufs Bett fallen ließ und den Fernseher einschaltete. Donald hatte an den Wochenenden normalerweise keinen Dienst, deshalb war sie entsetzlich neugierig, was er im Schilde führte. Sie hatte sich ein wenig beruhigt, weil sie auf den Straßen keine Spur von dem eigenartigen Mann, der gestern in ihr Leben getreten war, bemerkt hatte. Und sie war froh, dass er weg war. Jetzt konnte sie sich mit der Realität beschäftigen, in der geflügelte, menschenähnliche Wesen keinen Platz hatten. Sie lächelte bei diesem Gedanken.

Im Fernsehen lief der Vorspann der Nachrichten. Dann kam Donald ins Bild, und Emily entspannte sich sofort. Wie gut sie sein blondes Haar, seine regelmäßigen Gesichtszüge und das Blitzen in seinen blauen Augen kannte. Sie waren seit fünf Jahren zusammen und seit einem knappen Jahr verlobt, und sie hatten viel Schönes miteinander erlebt.

Im Fernsehen wirkte er unecht. Er war makellos gekleidet, seine Haare wurden von Spray an Ort und Stelle gehalten, und er war so unnahbar wie eine computergesteuerte Gestalt. Oft, wenn er seine alten, seit Wochen nicht gewaschenen Pullover trug und sich drei Tage nicht rasiert hatte, fragte sie: »Ist das wirklich Mr. News?« Sie neckte ihn manchmal mit dem Spitznamen, den die Redaktion ihm gegeben hatte. »Ist das der Mann, der aufgebaut wird, um der nächste Gouverneur zu werden?«

Sie liebte es, wenn er sie auf diese besondere Art angrinste und sie anwies, ihm ein Bier zu holen. »Ich glaube nicht, dass die First Lady Bier holt«, sagte sie bei diesen Gelegenheiten, und Donald stürzte sich auf sie und kitzelte sie. Oft führte dann eines zum anderen, und sie landeten im...

Emily hatte gar nicht bemerkt, dass sie fast die ganze dreißig Minuten dauernde Nachrichtensendung über geträumt hatte, aber mit einem Mal war sie hellwach, weil auf dem Bildschirm eine Videoaufnahme von ihr zu sehen war! Von ihr in ihrem beigen Abendkleid, wie sie auf das Podium ging, um den Preis für besondere Verdienste von der National Library Association entgegenzunehmen.

»Und jetzt küren wir unseren Engel der Woche«, sagte Donald. »Miss Emily Jane Todd wurde am gestrigen Abend für ihre selbstlosen Spenden an die benachteiligten Kinder in den Appalachen ausgezeichnet. Miss Todd erwirbt mit ihrem mageren Gehalt als Bibliothekarin einer Kleinstadt Kinderbücher und fährt an den Wochenenden in die Berge, um den Kindern die Bücher zu bringen. Diese Kinder haben kaum etwas zu essen und können sich erst recht  >keinen Festschmaus für den Geist< leisten, wie Miss Todd ihre Geschenke nennt.«

Donald lächelte in die Kamera und hob die kleine goldene Engelsstatue hoch, die der Sender jeden Samstag vergab. »Ein Versuch, die Quote an den Wochenenden in die Höhe zu treiben«, hatte Donald ihr erklärt, als der Sender diese Rubrik ins Leben gerufen hatte.

»Dieser Engel ist für Emily«, sagte er jetzt. »Und nun eine etwas weniger erbauliche, aber bestimmt ebenso unirdische Nachricht«, fuhr Donald noch immer lächelnd fort. »Wie uns soeben gemeldet wurde, ist dem FBI die Leiche eines der berüchtigtsten Mörder dieses Jahrhunderts abhanden gekommen.«

Emily wollte schon den Fernseher ausschalten, als neben Donald ein unscharfes Foto von Michael eingeblendet wurde. Ihr fuhr der Schreck in die Glieder. Sie sank auf die Bettkante und starrte gebannt auf den Bildschirm.

»Michael Chamberlain, ein mutmaßlicher Mörder mit Verbindung zum organisierten Verbrechen, wurde seit über zehn Jahren vom FBI gesucht, doch Chamberlain wurde nur selten in der Öffentlichkeit gesehen und nie gefasst. Soweit bekannt ist, ist dies das einzige existierende Foto von dem mutmaßlichen Mörder. Der Verdächtige war zu einer Vernehmung wegen einer Familienauseinandersetzung zur Polizeistation gebracht worden. Dort identifizierte ein zufällig anwesender FBI-Agent den Mann als einen der zehn meistgesuchten Verbrecher und gab die Anweisung, ihn im Revier festzuhalten, bis er vernommen werden könne. Angeblich hätte Chamberlain Angaben über den Verbleib sämtlicher Mordopfer machen können.«

Donald legte eine Kunstpause ein. Er hasste es, die Wochenendnachrichten zu verlesen, weil es seiner Ansicht nach mehr so was wie eine komödiantische Vorstellung war. Kein Mensch wollte schlechte Nachrichten am Wochenende hören, deshalb musste der Moderator am Samstag und Sonntag den Clown spielen, um die Zuschauerquote zu verbessern. Die letzte Meldung sollte immer etwas zu lachen bieten.

»Obwohl Chamberlain in eine rund um die Uhr bewachte Einzelzelle gebracht wurde, während er auf die Ankunft der großen Jungs vom FBI warten musste«, fuhr Donald fort, »wurde er am Morgen tot aufgefunden. Er hatte mehrere Einschüsse in der Brust und einen im Kopf. Der Polizeiarzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.«

An dieser Stelle zog Donald die Papiere, die vor ihm lagen, zu Rate, dann schaute er wieder mit dem Anflug eines Lächelns in die Kamera. Emily kannte dieses Lächeln sehr gut: Er setzte es immer auf, wenn er meinte, sie habe etwas Dummes getan oder gesagt, aber sie aus Höflichkeit nicht daraufhinweisen wollte.

»Wie es scheint, ist dem FBI die Leiche des Verdächtigen abhanden gekommen«, sagte Donald. »Obwohl Chamberlain eindeutig tot war, hat er, wie es scheint, ein paar Kleider gestohlen und ist aus dem Polizeirevier marschiert. Jetzt wurde erneut ein Haftbefehl auf ihn ausgestellt und eine landesweite Fahndung in Gang gesetzt.«

Donalds Lächeln wurde breiter. »Sollten Sie, liebe Zuschauer, diesen Mann umherwandeln sehen, nehmen Sie bitte unverzüglich Kontakt zum FBI auf - oder vielleicht besser mit Ihrem örtlichen Leichenbestatter.«

Er faltete die Hände über den Papieren und strahlte in die Kamera. »Das waren die Nachrichten von heute, das Ende unserer Geschichten von Engeln und Zombies. Donald Stewart wünscht Ihnen alles Gute, wir sehen uns wieder am Montag.«

Emily war einen Moment wie erstarrt. Der Mann, den sie in der Nacht von Freitag angefahren hatte, mochte ein wenig seltsam sein, aber ein Mörder war er bestimmt nicht.

Plötzlich fielen ihr alle möglichen Dinge ein: Michaels Kopfschmerzen, seine Desorientiertheit und ... Sie richtete sich auf. Und seine Kreditkarten ...

Sie griff nach dem Telefonhörer, wählte die Nummer des Fernsehsenders und hoffte, dass sie Donald noch dort erwischte. Sie lauschte mit angehaltenem Atem auf das Klingeln am anderen Ende der Leitung, dann musste sie warten, bis die Telefonistin Donald ausfindig gemacht hatte.

Vielleicht weiß er etwas, überlegte Emily, denn Donald war nicht nur irgendein hübsches Fernsehgesicht -er war ein Top-Journalist und kannte eine Menge Leute und Geheimnisse. Emily, die in der Bibliothek Zugang zu Schriftstücken aus der ganzen Welt hatte, hatte ihm schon einige Male bei der Recherche von erstaunlichen Storys geholfen.

»Hey, Süße!«, rief Donald. »Hab' ich ein bisschen was gutgemacht? Du bist der hübscheste Engel ...»

»Donald«, fiel sie ihm ins Wort. »Meine Nase juckt.« Sein Lachen erstarb sofort. »Weshalb?«

»Wegen der letzten Meldung, die du gebracht hast -die von dem Mann, der in der Zelle getötet wurde. Da steckt mehr dahinter, oder?«

Donald senkte die Stimme, und Emily wusste, dass er sich vergewissert hatte, ob jemand mithörte. »Ich weiß es nicht. Man hat mir die Nachricht zum Lesen hereingereicht. Lass mich ein paar Anrufe machen. Bist du später in deinem Hotelzimmer? Ich rufe dich zurück.«

Emily bejahte seine Frage und legte auf.

Ihr »Unheil-Detektor« - so hatte ihr Vater ihre Nase genannt, weil das Jucken schon zwei Mal das Leben eines Familienmitglieds gerettet hatte. Wie damals, als sie sechs Jahre alt gewesen war und sie und ihr Bruder mit dem Vater Karussell fahren sollten. Emily hatte geschrien und behauptet, sie könnten nicht auf das Karussell steigen, weil ihre Nase jucke. Ihr Bruder wurde wütend, doch der Vater machte sich ein wenig lustig und erklärte sich einverstanden, zu warten und erst bei der nächsten Runde mitzufahren. Es gab keine nächste Runde - wenige Minuten später brach ein Zahnrad im Antrieb des Karussells. Die Passagiere wurden von ihren Sitzen geschleudert, vier Menschen kamen ums Leben, und einige wurden verletzt. Nach diesem Vorfall wurde die Familie hellhörig, wenn Emily sagte, ihr jucke die Nase.

Als ihre Eltern Donald die Geschichte erzählten, hatte er nicht gelacht wie ihre früheren Freunde, sondern sie gebeten, ihm jedes Mal Bescheid zu sagen, wenn sie das Bedürfnis verspürte, sich zu kratzen. Drei Monate nach diesem Gespräch warnte sie ihn tatsächlich. Sie gingen zu einer Party, auf der man Emily einen Mann vorstellte, den alle für einen großartigen Typen hielten. Ihm gehörte der Fernsehsender, der Donald kurz zuvor als Anchorman für die Nachrichten eingestellt hatte, und Donald bewunderte diesen Mann. Aber Emily sagte, in seiner Anwesenheit würde ihre Nase jucken, und Donald stellte daraufhin einige Nachforschungen an und fand heraus, dass der Mann bis zum Hals in einem Grundstücksskandal steckte. Er wurde sechs Monate später verhaftet, doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich Donald bereits sauber aus der Affäre gezogen und sich einen anderen Sender gesucht. Am Tag der Verhaftung veröffentliche Donald die Story und kam allen anderen Nachrichtenmedien zuvor. Es war Donalds erste ganz große Story, und er erwarb sich damit den Ruf, ein hartgesottener, ernst zu nehmender Journalist und nicht nur ein Nachrichtensprecher zu sein.

Emilys Nerven waren zum Zerreißen gespannt, während sie auf den Rückruf wartete. Sie lief rastlos auf und ab. Als das Telefon klingelte, stürzte sie sich regelrecht darauf.

»Ich schulde dir Rosen.«

»Gelbe«, erwiderte sie prompt. »Jetzt sag schon, was hast du erfahren?«

»Möglicherweise haben sie den falschen Mann verhaftet. Sein Name ist zwar tatsächlich Michael Chamberlain, aber jetzt sind sie nicht mehr sicher, ob er ein Killer ist.«

»Wieso wurde er dann nicht aus der Haft entlassen?«

»Nachdem das FBI an die Presse weitergegeben hatte, dass sie endlich einen berüchtigten Mörder geschnappt haben? Wohl kaum. Sie hatten vor, ihn ins Gefängnis zu stecken, bis Gras über die Sache gewachsen wäre, und ihn dann freizulassen.«

»Und wer hat auf ihn geschossen?«

»Das kannst du dir aussuchen. Könnte jemand vom FBI gewesen sein, der die Panne vertuschen wollte. Oder vielleicht die Mafia, die den Burschen kaltmachen wollte, um von dem wahren Mörder abzulenken. Oder seine Frau.«

»Seine Frau?«

»Ja. Soweit ich gehört habe, war sie der Grund, warum er überhaupt aufs Revier gebracht wurde. Die Frau hat ihm einen Revolver an den Kopf gehalten und kreischend gedroht, ihn umzubringen. Ein Nachbar hat die Polizei gerufen.«

»Warum?«

»Was warum?«

Sie hörte ein Lachen in Donalds Stimme. »Warum wollte seine Frau ihn umbringen?«

»Ich bin kein Experte in Eheangelegenheiten, aber ich schätze, es ging um Untreue. Was meinst du?«

Emily war nicht in der Stimmung für eine scherzhafte Plauderei. »Willst du damit sagen, dass drei Personen diesen Mann, der wegen Mordes gesucht wurde oder auch nicht, töten wollten?«

»Na ja, wenn du das FBI, die Mafia, inklusive des wahren Killers, der sich gern ein wenig Freiraum verschaffen würde, und die wütende Ehefrau zusammenzählst, kommen wohl mehr als drei Personen heraus. Ich persönlich setze auf die Ehefrau. Sie wird ihn als erste finden. Wenn der arme Teufel noch am Leben ist, muss er nur irgendwo mit Kreditkarte zahlen, und er ist ein toter Mann. Jeder, der ein Modem hat, weiß sofort, wo er sich herumtreibt.«

»Und wenn der Mann unschuldig wäre, wie könnte er seinen Namen rein waschen?«

Donald schwieg einen Moment. »Emily, weißt du irgendetwas?«

»Was sollte ich schon wissen?« Ihr Lachen klang selbst in ihren eigenen Ohren falsch und aufgesetzt. »Wirklich, Donald«, setzte sie mit erhobener Stimme hinzu. »Wie kannst du nur so etwas fragen? Ich bin nur eine einfache Bibliothekarin, schon vergessen?«

>>Ja, und ich bleibe mein Leben lang ein kleiner Nachrichtensprecher. Emily, was, zur Hölle, steckt hinter deinen Fragen?«

Sie holte tief Luft. Sie hatte nicht vor, Donald zu belügen. »Ich glaube, ich habe diesen Mann heute gesehen. In einem Geschäft.« So viel konnte sie preisgeben, denn wenn Donald Recht hatte - und gewöhnlich hatte er recht-, würde bald alle Welt wissen, dass Michael Chamberlain in derselben entlegenen Stadt eingekauft hatte, in der sie ihr Wochenende verbrachte.

»Ruf die Polizei!«, drängte Donald. »Emily, kein Mensch weiß sicher, ob dieser Mann nicht doch ein Mörder ist. Er ist ein zweifelhaftes Subjekt, ein Lügner, zumindest ist er ein Betrüger und Täuschungskünstler. Er könnte genauso gut ein kaltblütiger Mörder sein. Emily, hörst du mir zu?«

»Ja«, sagte sie, aber sie war mit den Gedanken ganz woanders. Michael hatte schon vor Stunden mit seiner Kreditkarte bezahlt.

»Ich will, dass du die Polizei anrufst«, wiederholte Donald bestimmt. »Sofort. Hast du mich verstanden? Vergeude keine Zeit, indem du zur Polizei gehst, ruf sie an. Und danach musst du aus dieser Stadt verschwinden. Und zwar so schnell wie möglich. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Ja, glasklar. Aber, Donald, was geschieht mit diesem Mann?«

»Er ist tot, Emily. Eine wandelnde Leiche. Wer auch immer versucht hat, ihn in dieser Zelle umzubringen, er wird zurückkommen und seinen Job zu Ende führen. Das heißt, falls ihm nicht jemand zuvorkommt. Guter Gott, Emmie, ich will, dass du unverzüglich die Stadt verlässt. Wenn dieser Mann wirklich dort ist, wird das in ein paar Minuten allgemein bekannt sein, und es könnte zu einem Blutbad kommen.« Er hielt plötzlich inne, dann sagte er in einem völlig veränderten Tonfall. »Ich muss jetzt auflegen.«

»Du hast vor, das FBI anzurufen, stimmt’s?«, rief sie verzweifelt.

»Wenn er unschuldig ist, kann ihm das FBI unter Umständen das Leben retten.«

»Sie werden niemals rechtzeitig hier eintreffen.«

»Emily!«, warnte Donald sie grollend.

»Okay, ich reise ab. Ich habe ohnehin schon meine Sachen gepackt. Ich rufe dich an, wenn ich angekommen ...«

Er schnitt ihr das Wort ab: »Em! Was ist mit dem Mann, den du angefahren hast?«

»Ach, der«, erwiderte sie so leichthin, wie es ihr möglich war. »Es geht ihm gut; keine Verletzungen. Er ist nach Hause zu seiner Familie gefahren, als er merkte, dass ich keine Reichtümer besitze.«

Donald sagte eine ganze Weile gar nichts. »Sobald du wieder hier bist, müssen wir uns ausführlich unterhalten.«

»Oh«, machte sie und schluckte. »Gut. Ich ...« Sie senkte die Stimme und versuchte, verführerisch zu klingen. »Ich werde dabei dein Geschenk tragen.« Wenn sie ihn an das Seidenneglige erinnerte, konnte sie ihn vielleicht ablenken von ...

»Einen Teufel wirst du tun! Ich stecke dich in einen Pappkarton, während ich mit dir rede. Aber danach können wir zum gemütlichen Teil übergehen.«

Sie sah auf die Uhr. »Ich denke, ich mach mich lieber auf den Weg. Und vergiss die gelben Rosen nicht.« Sie bemühte sich um einen heiteren Tonfall.

»Bestimmt nicht. Du bekommst eine ganze Menge davon. Ruf mich an, sobald du zu Hause bist.«

»Ja, klar, um mit deinem Anrufbeantworter zu plaudern.«

»Er liebt dich fast so sehr wie ich.«

»Das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit. Tschüs.«

Emily stand auf und betrachtete unschlüssig ihren Koffer. Sie sollte auf Donald hören und abreisen. Ja, das wäre das Vernünftigste. Doch schon in der nächsten Sekunde lag ihre Hand auf der Türklinke, und ihr Koffer stand noch immer an Ort und Stelle. Sie musste Michael suchen und ihn warnen!

Sie bekam keine Gelegenheit, ihr Vorhaben auszuführen. Die Tür flog auf und wäre um ein Haar gegen ihr Gesicht geprallt. Vor ihr stand Michael, und man musste kein Hellseher sein, um zu bemerken, dass er aufgebracht und wütend war.

Er sah von ihr zum Koffer und wieder zurück. »Sie hatten vor, mich im Stich zu lassen, hab’ ich recht?«, fragte er atemlos.

Emily wich zurück. »Wie sind Sie hier hereingekommen? Die Tür war abgeschlossen.«

»Türen zu öffnen scheint eine meiner besonderen Fähigkeiten zu sein«, entgegnete er abfällig, als er auf sie zuging. »Es ist schlimm genug, dass Sie mich nicht erkennen, sich nicht an mich erinnern, aber jetzt wollten Sie mich auch noch meinem Schicksal überlassen.«

»Sie sind irre, wissen Sie das?« Ihr Rücken stieß an den Schrank, und Michael kam unaufhaltsam näher. »Nur zu Ihrer Information, ich wollte mich gerade auf die Suche nach Ihnen machen und Sie warnen.«

Gerade als er ihr so nahe war, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte, wandte er sich ab. »Ich habe diesen Körper gesehen, in eurem ...«

»Fernsehen.«

»Ja. Jemand will mich umbringen.«

»Nein, sie haben Sie umgebracht«, korrigierte sie ihn und konnte selbst nicht fassen, was sie da sagte. »Aber Sie sind unschuldig. Ich habe mit Donald über Sie gesprochen und ...«

»Sie haben was getan? Sie haben jemandem von mir erzählt?«

»Nur Donald. Hören Sie, ich kann Ihnen eine Karte zeichnen und Ihnen den Weg zu einer verlassenen Hütte in den Bergen beschreiben. Ich gebe Ihnen sogar meinen Wagen, und Sie haben Geld und können sich Lebensmittelvorräte kaufen. Verstecken Sie sich in der Hütte.«

»Was meinen Sie, wie lange eure Polizei brauchen würde, bis sie herausfindet, dass Sie mit mir zusammen waren? Zehn Minuten? Fünfzehn?«

Er strich sich mit der Hand über das Gesicht, als er versuchte, sich zu beruhigen. »Emily, ich weiß nicht, welche Aufgabe ich hier auf Erden erfüllen soll, aber sie hat irgendetwas mit Ihnen zu tun, und ich habe alle Zeit, die ich erübrigen konnte, darauf verwendet, Sie zu umwerben ...«

»Mich zu umwerben? So nennen Sie das? Sie haben mir gedroht, mich wegen Trunkenheit am Steuer anzuzeigen, wenn ich nicht...»

Sie brach ab, weil Michael sie packte und ihr die Hand auf den Mund presste. Emily versuchte sich zu wehren und zu schreien, aber er hielt sie zu fest. Eine Sekunde später klopfte jemand an die Tür. Emily wand sich, um Michael zu entkommen - ohne Erfolg.

»Miss Todd«, ertönte eine Männerstimme auf dem Flur.

Michael zerrte Emily zum Fenster, als wollte er sie dazu bringen hinauszuklettern, aber sie klammerte sich an den Rahmen.

»Sie glauben, dass Sie einem der zehn am meisten gesuchten Verbrecher geholfen haben«, flüsterte Michael ihr ins Ohr. »Was meinen Sie, was sie mit Ihnen tun werden?«

Emily dachte nach. Weder sie noch Donald konnten die öffentliche Aufmerksamkeit brauchen, die es erregen würde, wenn sie in der Gesellschaft dieses Mannes aufgefunden wurde. Michael nahm die Hand von ihrem Mund und schob das Fenster ein Stück weiter auf.

»Aber ich habe gar nichts getan«, raunte sie und bemühte sich, ihn zurück zur Tür zu stoßen.

»Genau wie Michael Chamberlain«, sagte er nah an ihrem linken Ohr.

Emily zögerte nur eine Sekunde, ehe sie aus dem Fenster auf den kleinen Balkon davor kletterte. Michael blieb dicht hinter ihr.

»Und jetzt?«, fragte sie. Sie drückte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. »Breiten Sie Ihre Flügel aus, und schweben wir auf die Erde?«

»Ich wünschte, ich hätte sie mitgebracht«, entgegnete Michael ernst, obwohl sie eigentlich einen Witz hatte machen wollen. Er besah sich die Hauswand genauer. »Keine Flügel, aber wir können es trotzdem schaffen«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf die Regenrinne.

»Wenn Sie glauben, ich ...«

Michael hob sie kurzerhand auf das Balkongeländer und betrachtete die Regenrinne. »Stellen Sie Ihren Fuß dort drauf und halten Sie sich an diesem Sims fest.«

»Und dann?«

Er sah sie mit blitzenden Augen an. »Dann beten Sie ganz intensiv.«

»Ich hasse Engel-Witze«, keuchte sie, während sie den Fuß ausstreckte. Von dem Balkon nach unten zu kommen war leichter, als es zunächst ausgesehen hatte -dem fantasievollen Zimmermann, der das Haus gebaut und mit vielen Vorsprüngen und Balken versehen hatte, sei’s gedankt.

Trotzdem zitterte Emily wie Espenlaub, als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, und sie musste sich auf einen Baumstumpf setzen, bis sie nicht mehr das Gefühl hatte, dass ihre Knie aus Pudding bestanden.

»Fangen Sie auf«, hörte sie und schaute gerade noch rechtzeitig nach oben, um den beiden Wäschesäcken auszuweichen, die auf sie zuflogen. »Ich konnte den Koffer nicht mitnehmen, deshalb habe ich Ihre Sachen in die Säcke gestopft.«

Sie öffnete einen und entdeckte ihre Kleider und Toilettensachen. Für einen mutmaßlichen Mörder war Michael ausgesprochen umsichtig.

»Gehen wir«, sagte er, dann nahm er ihre Hand und lief zum Parkplatz.

Sobald sie ihren Wagen erreichten, geriet Emily in Panik, weil sie ihre Handtasche nicht bei sich hatte.

»Ich finde sie«, sagte Michael und durchwühlte erst den einen, dann den anderen Wäschesack.

Emily war so verärgert, weil er wieder einmal ihre Gedanken erraten hatte, dass sie nicht einmal dagegen protestierte, wie er ihre Sachen behandelte. Sie wartete, bis er ihr die Autoschlüssel in die Hand drückte und sie sich in den Wagen setzen konnte. »Wohin?", fragte sie ungehalten, sobald er eingestiegen war. Ihr Knöchel schmerzte, und sie hatte drei blutige Kratzer an der Hand, weil sie bei der Kletterpartie mit einem Dornenbusch in Berührung gekommen war. Außerdem war sie müde und hatte entsetzliche Angst.

»Es wird alles gut«, beschwichtigte Michael sie und streckte die Hand nach ihrer aus, aber sie zuckte zurück.

»Klar, ganz bestimmt«, sagte sie, als sie den Wagen zurücksetzte. »Ich werde eingesperrt, weil ich einen Flüchtigen versteckt und seine Flucht begünstigt habe, aber ansonsten wird alles prima.«

Sie sah ihn nicht an, als sie am Eingang des Hotels vorbeirollte, und machte sich auch nicht die Mühe, danach zu fragen, in welche Richtung sie fahren sollte. Er hätte ohnehin nur wieder mit dem Engel-Unsinn angefangen und ihr erzählt, dass er gewöhnlich nur in Richtung Norden oder Süden reiste.

Emily bog nach Osten - ihre Heimatstadt lag im Westen - auf eine kleine Landstraße ab. Sie wünschte sich so sehr, dass sie am Montag oder zumindest wie geplant am Dienstag wieder in der Bibliothek sitzen könnte. Michael rührte sich nicht und sagte kein Wort. Aber sie war sich seiner Nähe nur allzu bewusst.

Emilys Gedanken arbeiteten fieberhaft - sie musste eine Möglichkeit finden, ihn loszuwerden. Waren das FBI-Agenten im Hotel gewesen? Oder der Zimmerservice? Hatte sie irgendetwas bestellt? Vielleicht hatte Donald jemandem telefonisch Bescheid gesagt. Jedenfalls hätte der Mann, der vor ihrer Tür gestanden hatte, ihr Retter sein können, nicht ihr Feind, wie ihr der Mann neben ihr glauben machen wollte. Vielleicht ...

»Halten Sie an«, sagte Michael leise.

Sie warf ihm einen Blick zu. Er hatte die Stirn gerunzelt, und obwohl es ziemlich dunkel war, sah sie, dass er zutiefst beunruhigt war. Vor ihnen waren Lichter zu sehen, die den Parkplatz eines schrecklich heruntergekommenen Motels mit Café nur dürftig beleuchteten. Vielleicht wollte er dort etwas zu essen besorgen.

>>Nein. Gleich hier«, sagte er vehement. »Lassen Sie mich hier aussteigen.«

»Aber ...«

»Augenblicklich!«, rief er, und Emily trat hart auf die Bremse und hielt am Straßenrand, dann sah sie wortlos zu, wie Michael ausstieg. »Sie sind frei, Emily«, sagte er. »Sie können fahren, wohin Sie wollen. Erzählen Sie allen, die danach fragen, dass ich Sie gekidnappt und gezwungen habe, mich aus der Stadt zu bringen. Sagen Sie, ich hätte Sie mit einer Waffe bedroht. Ihr Sterblichen liebt Waffen. Leben Sie wohl, Emily«, sagte er und schlug die Tür zu.

Emily verschwendete keine einzige Sekunde. Grenzenlose Erleichterung durchströmte sie, als sie Gas gab. Aber sie machte den Fehler, in den Rückspiegel zu schauen. Michael stand verloren am Straßenrand und sah ihr nach. Er war mutterseelenallein auf dieser Welt. Wie lange würde es dauern, bis ihn das FBI aufgespürt hatte? Oder kam ihm die Mafia zuerst auf die Spur?

Er wandte sich ab und trottete langsam in die entgegengesetzte Richtung davon.

Emily verfluchte sich selbst, als sie auf dem Parkplatz des Motels umdrehte. »Verdammt, verdammt, verdammt“, schimpfte sie vor sich hin. Einen Fußabtreter, so hatte Irene sie einmal bezeichnet. Und Donald lachte über ihre Vorliebe für »streunende Katzen« und meinte damit die orientierungslosen Menschen, mit denen sie sich immer wieder einließ.

Emily ließ den Wagen langsam zurückrollen, aber von Michael war keine Spur mehr zu sehen. War er in den Wald gegangen, der die Straße säumte?

Sie fuhr etwa anderthalb Meilen, dann kehrte sie um und spähte noch angestrengter in die Dunkelheit. Wenn sie nicht aufgepasst hätte wie ein Luchs, wäre ihr die in sich zusammengesunkene Gestalt nicht aufgefallen. Er lag nicht weit von der Stelle entfernt, an der sie ihn abgesetzt hatte.

Sie hielt knapp vor ihm an, dann sprang sie aus dem Auto und lief zu ihm. »Michael«, sagte sie, aber er antwortete nicht. Sie beugte sich über ihn und berührte sein Gesicht. Als er immer noch nicht reagierte, legte sie beide Hände an seinen Kopf und rief lauter: »Michael!«

Sie sah sein Lächeln im Schein der Rücklichter. »Emily, ich wusste, dass Sie zurückkommen. Sie haben ein sehr großes Herz - das größte von der ganzen Welt.« Er hielt die Augen geschlossen und machte keine Anstalten aufzustehen.

»Was ist mit Ihnen?«, wollte sie wissen, Sie versuchte, mit ihrem Zorn die Angst zu unterdrücken. Wovor sie Angst hatte, wusste sie selbst nicht. Dieser Mann war der reinste Quälgeist.

»Mein Kopf tut weh«, flüsterte er. »Ich hasse sterbliche Körper. O nein, Sie mögen dieses Wort nicht. Menschliche Körper. Ist das besser?«

Emily tastete seinen Kopf ab, als könnte sie die Ursache seines Schmerzes fühlen. Sie hatte Aspirin in ihrer Handtasche, aber sie brauchte Wasser und ...

ln diesem Augenblick ertastete sie etwas Rundes, Hartes unter Michaels Kopfhaut. War er hingefallen, nachdem sie ihn am Straßenrand hatte stehen lassen? Aber sie fühlte nichts Feuchtes, also blutete er nicht.

»Ich muss Sie zu einem Arzt bringen«, sagte sie, als sie ihm aufzuhelfen versuchte.

»Sie werden mich töten«, sagte er lächelnd. »Zum zweiten Mal.«

Er hatte recht. Donald hatte auch gesagt, der gesuchte Mann sei eine wandelnde Leiche.

Sie schob einen Arm unter seine Schultern und forderte ihn auf mitzuarbeiten, weil sie ihn allein nicht in den Wagen bugsieren konnte. Er tat sein Bestes, aber Emily merkte, dass er unter großen Schmerzen litt und sich kaum noch bewegen konnte.

Als er auf dem Beifahrersitz saß, dachte sie nur noch daran, ihn an einen sicheren Ort zu bringen. Vielleicht könnte sie Donald anrufen, um... um sich anzuhören, dass sie, so schnell sie konnte, nach Hause kommen sollte.

Sie fuhr auf den Parkplatz des Motels und parkte an einer Stelle, an der man den Wagen vom Gebäude aus nicht sehen konnte. Das Motel war innen noch schmuddeliger, als es von außen aussah, und der Portier, der vor dem Fernseher hockte, machte den Eindruck, als hätte er seit vielen Tagen kein Badezimmer mehr von innen gesehen.

»Ich möchte ein Doppelzimmer, bitte«, sagte Emily, und der Mann starrte sie einen Moment wortlos an. Er musterte sie von oben bis unten, bis sie das Gefühl hatte, vollkommen fehl am Platze zu sein.

»Hier übernachten nur Leute, die sich nichts Besseres leisten können, Kids von der Highschool und ...« Er grinste spöttisch. »Und Ladies wie Sie, die etwas Vorhaben, was sie nicht tun sollten, und zwar mit jemandem, der eigentlich nicht zu ihnen gehört.«

Emily war nicht danach zumute, mit dem Kerl eine Diskussion anzufangen, und sie wollte erst recht keine Erklärungen abgeben. Was hätte sie auch sagen sollen? Dass er Recht hatte? »Wie viel, damit Sie den Mund halten?«, fragte sie erschöpft.

»Fünfzig Mäuse.«

Emily bezahlte ohne ein weiteres Wort, nahm den Zimmerschlüssel an sich und ging. Minuten später hatte sie Michael in das hässliche Zimmer gebracht und ihm geholfen, sich auf das nicht gerade saubere Doppelbett zu legen. Soweit sie es beurteilen konnte, war Michael noch immer einer Ohnmacht nahe, aber als sie sich aufrichtete, hielt er sie am Handgelenk fest. »Sie müssen sie herausholen«, hauchte er.

»Was?«

»Die Kugel. Sie müssen diese Kugel aus meinem Kopf holen.«

Emily starrte ihn fassungslos an. »Sie haben zu viel Cowboyfilme gesehen«, sagte sie. »Ich bringe Sie zu einem Arzt und ...»

»Nein!«, protestierte er lautstark und hob den Kopf, ließ ihn aber gleich wieder auf das Kissen sinken. »Bitte, Emily. Denken Sie an all die Dinge, die ich für Sie getan habe.«

»Sie - für mich?«, versetzte sie entrüstet. »Was sollte das sein? Dass Sie mich gezwungen haben, an einer Dachrinne aus meinem Hotelzimmer zu klettern? Dass ich Ihretwegen ganz oben auf der Fahndungsliste der Polizei und des FBI stehe? Oder ...«

»Als Sie in den Teich fielen, habe ich Ihre Mutter gerufen“, sagte er leise.

Emily zuckte zurück - diese Geschichte hatte in ihrer Familie große Aufregung verursacht. Obwohl man es ihr ausdrücklich verboten hatte, war Emily zum Teich gegangen, um Kaulquappen zu fangen, und ins Wasser gefallen. Innerhalb weniger Sekunden war ihre Mutter zur Stelle gewesen, um sie herauszufischen. Später hatte ihre Mutter geschworen, dass ihr »jemand« befohlen habe, sofort nach ihrer Tochter zu sehen.

»Wer sind Sie?«, flüsterte Emily und wich noch ein Stück zurück.

»Im Moment bin ich ein Mensch und brauche Ihre Hilfe. Bitte, Emily, ich glaube nicht, dass dieser Körper diese Schmerzen noch länger aushält. Ich möchte nicht zurückberufen werden, ehe ich das getan habe, wofür man mich hergeschickt hat.«

»Ich ... ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kenne mich in medizinischen Dingen nicht aus.«

»Dieses Ding, das Sie für Ihre Augenbrauen benutzen ...«, sagte er mit schwacher Stimme. Er hatte die Augen geschlossen.

»Eine Pinzette. Aber damit kann ich nicht so etwas Großes wie dieses ... dieses Ding in Ihrem Kopf herausziehen.« Sie setzte sich neben ihn aufs Bett und strich ihm das Haar aus dem Gesicht. »Ich würde Ihnen gern helfen, aber nur ein Arzt kann das tun, worum Sie bitten. Man kann nicht einfach eine Zange in die Hand nehmen und eine Kugel aus dem Kopf eines Menschen ziehen. Die Wunde wird bluten und sich infizieren ...« Sie lächelte ihn an, obwohl er die Augen nach wie vor geschlossen hatte und sie nicht sehen konnte. »Die Gehirnflüssigkeit würde aus dem Loch sickern. Ich muss Sie sofort zu einem Arzt schaffen - über das FBI können wir uns später Gedanken machen.«

»Ja, eine Zange«, sagte er. »Ja. Sie haben eine in Ihrem Auto. Holen Sie sie und ziehen Sie das Ding aus meinem Kopf.«

Emily richtete sich auf. Es gab kein Telefon im Zimmer, und ein Krankenwagen würde länger brauchen, bis er das Motel gefunden hatte, als sie, wenn sie in die Stadt zurückfuhr und Michael in die Klinik brachte.

Michael fasste nach ihrer Hand. »Sie müssen es tun, Emily. Sie müssen das Ding entfernen. Mich zu einem Arzt zu bringen würde den sicheren Tod für mich bedeuten.«

Wieder überkam sie diese seltsame Ruhe und dieses Gefühl, das sie immer spürte, wenn er sie berührte. Wie in Trance erhob sie sich, nahm ihren Autoschlüssel und ging hinaus, um das Werkzeug, das sie im Kofferraum hatte, zu holen. Als sie wieder im Zimmer war, nahm sie die Flachzange aus der Tasche.

Sie fühlte sich, als befände sie sich außerhalb ihres Körpers. Sie ging zum Bett, setzte sich so, dass sie sich an das Kopfteil lehnen konnte, und hob Michaels Kopf auf ihren Schoß. Außer der trüben Nachttischlampe gab es kein Licht im Zimmer, aber sie konnte ohnehin nicht viel sehen, weil es ihr nicht gelang, den Blick auf einen Punkt zu konzentrieren. Ihr war bewusst, dass sie das, was sie vorhatte, niemals tun würde, wenn sie nicht in diesem tranceähnlichen Zustand wäre. Wie, um alles in der Welt, sollte sie, eine Bibliothekarin, eine Kugel aus dem Kopf eines Menschen operieren?

Sie tastete mit den Fingerspitzen nach der Stelle, fand sie, setzte die Zange an und zog. Beim ersten Mal rutschte sie ab, deshalb drückte sie beim zweiten Mal die Zange mit aller Gewalt zu und zerrte erneut. Ihr war, als hätte sie plötzlich die Kraft von einem Dutzend Männern, während sie die Kugel entfernte.

Sie spürte, wie Michaels Körper schlaff wurde, und wusste, dass er das Bewusstsein verloren hatte. Sie weigerte sich, sich vorzustellen, welche Schmerzen sie ihm gerade bereitet hatte.

Im Grunde erwartete Emily einen Strom von Blut, gleichzeitig wusste sie, dass es kein Blut geben würde. Und sie war froh darüber, weil sie nicht wusste, ob sie noch genügend Energie gehabt hätte, um nach den Ereignissen der letzten beiden Tage noch einen Schock zu überwinden.

Sie lehnte den Kopf an das wacklige Bettgestell - Michaels Kopf lag noch auf ihrem Schoß - und schlief mit der Zange in der Hand ein.