Epilog

Michael stand vor dem Erzengel Michael. Die Pracht des mächtigen Engels war beängstigend. Er war ein Krieger, ein Engel, der über alle Kriege der Geschichte gewacht hatte, und seine gebieterische Erscheinung flößte dem Namensvetter Angst ein.

»Ich habe dich zur Erde geschickt, damit du eine Aufgabe erfüllst», sagte der Erzengel und bedachte Michael mit einem strengen Blick.

Michael hatte sich immer danach gesehnt, einmal das Gesicht dieses prachtvollen Engels zu sehen, aber jetzt, da er zitternd vor ihm stand, bereute er, dass er jemals den Wunsch verspürt hatte. »Und ich habe versagt«, flüsterte Michael. »Ich gestehe meine Fehler ein und bitte um Vergebung.“

Der Erzengel wandte sich an seinen Freund Gabriel, einen viele tausend Jahre alten Engel. Gabriel hatte einst über die Erde geherrscht, aber schon vor langer Zeit den jüngeren Michael mit dieser Pflicht betraut. »Du bist bereits bestraft worden, du kannst gehen.«

Michael rührte sich nicht von der Stelle.

»Was ist noch?« Die dunklen Augenbrauen der Erzengels zogen sich zu einer Linie zusammen.

»Ich möchte mit ihr Zusammensein«, sagte Michael mutig, aber seine Stimme bebte.

»Du wirst in den nächsten hundert Jahren über sie ...«

»Nein!«, protestierte Michael heftiger als beabsichtigt. Ruhiger fuhr er fort: »Ich möchte in diesem Leben und jetzt mit ihr zusammen sein. Auf Erden. Als Mensch.«

Der Erzengel musterte seinen Untergebenen mit einem so durchdringenden Blick, dass Michael das Gefühl hatte, seine Seele stünde in Flammen. »Aber ihr menschlicher Körper ist gestorben«, gab der Erzengel zu bedenken.

Michael schluckte schwer. »Er kann wieder zum Leben erweckt werden.«

»Nur Gott kann ein solches Wunder tun«, sagte der Erzengel sanft, während er Michael neugierig taxierte.

»Dann werde ich ihn darum bitten«, erklärte Michael entschlossen.

»Aber es müssen plausible Gründe für eine Auferweckung vorliegen«, schaltete sich Gabriel ein.

Michael nahm all seinen Mut zusammen. »Ich würde alles geben, um ihrem Körper das Leben zurückzugeben und bei ihr zu sein.«

Im Himmel machte man nicht so viele Worte wie auf Erden, da die Erzengel die Seelen ihrer Untergebenen mühelos durchschauten. »Weißt du, was du da vorschlägst?«

»Ja, ich weiß es«, entgegnete Michael, und mit einem Mal schwand seine Angst. »Ja, ich weiß es ganz genau.«

»Du willst also für sie alles aufgeben - kein Engel mehr sein. Du würdest um ihretwillen den Himmel verlassen?«

»Ja«, beteuerte Michael, ohne zu zögern. »Sie hat ihr Leben für mich gegeben, und ich gebe alles, was ich habe, für sie.«

Erzengel Michael winkte ab. »Aber sie wird in ein besseres Leben eintreten. Sie hat diesmal, auch wenn sie nur kurz auf Erden war, viel Gutes bewirkt, deshalb wird sie es im nächsten Leben besser haben.«

»Ich möchte sie durch dieses Leben begleiten und durch alle zukünftigen. Ich verzichte dafür auf meinen Platz im Himmel«, sagte Michael und unterdrückte ein neuerliches Zittern.

Erzengel Michael betrachtete ihn lange. »Wenn du diesen Schritt wagst, wirst du die Qualen und Leiden der Sterblichen auf dich nehmen. Du wirst Schmerzen und Trauer erfahren, Krankheit und ...»

»Und Liebe empfinden«, fiel ihm Michael ins Wort. »Ich liebe sie. Ich habe sie immer geliebt, darüber bin ich mir jetzt im Klaren. Ich tauge nicht viel als Schutzengel. Ich habe Emily zu viel meiner Zeit gewidmet und nicht mehr genügend für meine anderen Schützlinge übrig gehabt. Und ich habe den Lauf der Dinge manipuliert - das ist unzulässig. Ich habe sogar Emilys Leben beeinflusst, weil ich es nicht ertragen konnte, sie an der Seite eines Mannes zu sehen. Ich bin kein guter Schutzengel, weil ich mich in irdische Angelegenheiten aktiv eingemischt habe. Und ich liebe sie auf die Art eines Sterblichen. An meiner Liebe für sie ist nichts Hehres.«

»Ah, dann«, sagte der Erzengel, ohne den Blick von Michael zu wenden. »Aber eines solltest du wissen: Wenn du diesen Entschluss einmal gefasst hast, gibt es kein Zurück. Dann ist der Himmel für dich verloren.«

Für einen Moment geriet Michael ins Schwanken, doch dann lächelte er. »Ich werde nicht zurückwollen. Ich liebe Emily seit Jahrhunderten, und es ist unwahrscheinlich, dass ich meinen Entschluss bereuen werde.«

»Du wirst dich nicht mehr daran erinnern, jemals ein Engel gewesen zu sein, und du wirst das Schicksal aller Sterblichen teilen.«

»Ich nehme auf mich, was immer mir beschieden sein wird. Kann ihr Körper zu neuem Leben erweckt werden?«

»Wenn dein Entschluss feststeht und du es dir nicht noch einmal überlegen willst...«

»Nein, ich bin ganz sicher«, erklärte Michael wahrheitsgemäß.

»Dann sei es«, sagte Erzengel Michael. Und es war vollbracht.

Es ist vollbracht.«

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Emily. Sie hielt ihren acht Wochen alten Sohn auf dem Schoß, während sie ihre Bluse zuknöpfte. »Kein Umschreiben und Korrigieren mehr?«, neckte sie ihn.

»Nein. Komm, gib mir den Kleinen, dann kannst du dich umziehen«, sagte Michael und streckte die Arme aus. »Umziehen?«

»Ja, ich führe euch beide zur Feier des Tages zum Essen aus. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man ein Buch zu Ende geschrieben hat.«

»Unsere Autobiografie«, sagte er und küsste das Baby, ehe er es an seine Schulter legte.

»Deine«, meinte Emily lächelnd, dann ging sie durch das alte Haus zur Treppe. Sie dachte an die letzten zwei Jahre und an die erste Begegnung mit Michael. Sie hatte ihn beinahe mit dem Auto überfahren, nach dem Unfall hatte er an Amnesie gelitten, und sie hatten gemeinsam versucht herauszufinden, wer er war. Während sie ihre Nachforschungen betrieben hatten, war ihnen das FBI auf den Fersen gewesen, weil Michael irrtümlich als berüchtigter Verbrecher galt. Und sie mussten erkennen, dass es jemanden gab, der ihr nach dem Leben trachtete.

Emily blieb auf dem Treppenabsatz stehen und betrachtete den dunklen Schopf ihres Mannes und das Baby, das er sanft wiegte.

Damals hatte Michael sie aus den Fängen dieser gefährlichen Männer gerettet. Er war mit dem Motorrad herangebraust, hatte sie auf den Sozius genommen und war davongefahren. Der Wagen mit den drei Männern und der Frau war ihnen gefolgt und in einer Kurve ins Schleudern geraten. Das Auto war in einen Abgrund gestürzt, und alle vier Insassen waren sofort tot. Später kam ans Licht, dass Donald, Emilys früherer Verlobter, an dem Mordkomplott beteiligt gewesen war. Er verlor seinen Job als Nachrichtensprecher, wohnte jetzt in einer kleinen Stadt, deren Namen kaum jemand kannte, und verlas angeblich die Wettervorhersage im Lokalsender.

Emily hatte den Nachweis geführt, dass sie mit Rachel Simmons verwandt war und Anspruch auf das Madison-Haus als ihr rechtmäßiges Erbe erhoben. Sie und Michael hatten geheiratet. Einen Teil von dem ererbten Vermögen hatten sie für die Renovierung des alten Hauses verwendet, und jetzt war es das wunderschöne Heim, das sie sich gewünscht hatten und mit Kindern füllen wollten.

Eigenartig, dass sich alles nach einem so ungünstigen Anfang doch noch zum Besten gefügt hatte, dachte sie. Manchmal machte sie sich bewusst, dass sie vermutlich alle beide nicht mehr am Leben wären, wenn ihnen damals die Flucht auf dem Motorrad nicht gelungen wäre.

»Aber wir sind diesen Männern entkommen«, murmelte sie, »dem Himmel sei Dank dafür.« Sie schaute auf das große Bleiglasfenster neben der Treppe. Das Original war vor Jahren kaputtgegangen, und als sie ein neues Fenster hatte einsetzen lassen wollen, hatte Michael dafür eine Darstellung des Erzengels Michael vorgeschlagen.

»Hast du eine Abbildung von ihm, die du dem Glaskünstler als Vorlage geben kannst?«

»Nein, aber seltsamerweise habe ich eine ziemlich genaue Vorstellung, wie er aussieht.«

Jetzt blickte von dem großen Fenster ein außergewöhnlich stattlicher Mann in schwarzer Rüstung auf alle hernieder, die die Treppe benutzten. Emily lächelte jedes Mal, wenn sie daran vorbeiging.

»Ich danke dir«, flüsterte sie, ohne zu wissen, warum.

Emily ging ins Schlafzimmer und öffnete die Tür zu ihrem begehbaren Kleiderschrank. »Also, Captain, was soll ich anziehen?«, fragte sie das Gespenst, das, wie sich die Leute erzählten, angeblich seit vielen Jahren in dem Haus spukte. Weder sie noch Michael hatten jemals einen Hinweis auf Geistererscheinungen in diesem Gemäuer entdeckt.

Sie betrachtete ihren Bauch, der noch immer nicht so flach war wie vor der Schwangerschaft, und schnitt eine Grimasse. »Komm schon, Captain, hab Erbarmen. Welches Kleid würdest du einer molligen jungen Mutter empfehlen, die auf ihren Mann verführerisch wirken will? Ich brauche Hilfe

Das war als Scherz gemeint, aber im nächsten Moment hörte sie ein Geräusch über dem Schrank. »O nein, nicht schon wieder Siebenschläfer!«, rief sie und schaute zur Decke. Sie schaltete das Licht an und sah, wie sich die Decke in der Kammer senkte. Termiten?, überlegte sie, als sich ein Balken löste. Sie duckte sich, um nicht getroffen zu werden, und hielt die Arme über den Kopf. Plötzlich berührte sie etwas Glattes, Kaltes.

Als sich der Staub gelegt hatte, sah Emily, dass sie eine Smaragdkette in der Hand hielt und sich Juwelen, die aus einem Piratenschatz hätten stammen können, über sie ergossen hatten.

»Lieber Himmel«, flüsterte sie und starrte die funkelnde Juwelen fassungslos an.

»Was war das?«, brüllte Michael, als er mit dem Baby im Arm die Treppe heraufstürmte. »Bist du in Ordnung? Es hat geklungen, als wäre die Decke eingestürzt.«

Emily drehte sich langsam zu ihm um und hielt den Schmuck hoch. »Ich glaube, wir haben den Schmuck meiner Urgroßmutter gefunden«, sagte sie.

»Ich will verdammt sein«, sagte Michael und hob ein mit gelben Diamanten besetztes Armband vom Boden auf. »Danke, alter Mann«, sagte er und schaute in eine Ecke der Kammer. Sie beide hätten schwören können, Gelächter zu hören.

»Los, raus hier«, sagte Michael. Er nahm Emilys Hand, und sie rannten lachend die Treppe hinunter.

Gabriel sah zu Erzengel Michael auf und fragte: »Warum hast du ihn seinerzeit wirklich auf die Erde geschickt?«

»Weil er Emily seit Jahrhunderten liebt. So etwas kommt hin und wieder vor, aber in diesem Fall hat Michael ungünstigen Einfluss auf sie ausgeübt. Emily hat ein sehr gutes Herz, geriet aber immer an verdorbene Männer. Michael konnte nicht mehr mit ansehen, dass sie von diesen Männern schlecht behandelt wurde, deshalb hat er in ihren letzten beiden Leben eine Heirat verhindert.«

»Ist das nicht im Grunde eine gute Tat?« Gabriel zwinkerte Michael zu. Er kannte die Antwort natürlich, aber es amüsierte ihn immer wieder, wenn Michael, der glorreiche Soldat, mit anderen Dingen als mit Krieg und Frieden beschäftigt war.

»Doch, eigentlich schon. Aber Michael hat Emily aus Eifersucht als alte Junfer sterben lassen. Sie hatte keine Kinder und fiel im Alter ihren Verwandten zur Last. Beide Male starb sie einsam, aber ihr war etwas anderes vorherbestimmt.«

»Also hast du ihn auf die Erde geschickt, damit er sich entscheidet, ob er mit der Frau leben oder weiterhin ein Engel sein will.«

»Richtig.«

»Und hat er den Entschluss gefasst, den du dir erhofft hast?«

»O ja. Er hat mir eine große Freude bereitet. Die beiden sind gute Menschen, und sie werden gute Kinder bekommen. Von ihnen wird viel Liebe und Warmherzigkeit ausgehen. Die Erde kann Liebe und Güte gebrauchen.«

»Dann wird unser junger Freund also nicht degradiert?«

Erzengel Michael erfasste mit einem Blick, dass Gabriel ihn neckte, und lächelte. Egal, wie sehr Gabriel ihn auch herausforderte, Michael versuchte niemals, ihm Angst zu machen, denn Gabriel und Gott kannten sein gutes, sanftes Herz. »Eher nicht«, murmelte Michael und wandte sich wieder den Geschehnissen im Mittleren Osten zu. »Eher nicht.«