Kapitel 20
Zwei Tage, dachte Emily, als sie eine weitere Truhe auf dem Dachboden im Madison-Haus öffnete, seit zwei Tagen hatte ihr Michael keinerlei Beachtung geschenkt und sich nur mit dem Computer beschäftigt. Dass er lediglich genau das tat, was Emily von ihm verlangt hatte, machte die Sache nicht einfacher für sie. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass er ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, und es war ein wunderbares Gefühl, einen umwerfend gut aussehenden Mann an der Seite zu haben, der sich um sie sorgte und sich für alles, was sie betraf, interessierte.
Doch das schien der Vergangenheit anzugehören. Seit der Nacht, in der sie ihn gebeten hatte, ihr einen Mann zu beschaffen, verhielt er sich ihr gegenüber anders. Am Morgen war er, obwohl Emily heftige Einwände erhoben hatte, in die Stadt marschiert und eine Stunde später mit einem jungen Mann von der Telefongesellschaft in dessen Lieferwagen zurückgekommen. Hätte Emily nicht des öfteren mit eigenen Augen gesehen, wozu Michael imstande war, wäre sie sprachlos vor Staunen gewesen, als dieser junge Mann - natürlich ohne eine Rechnung dafür zu stellen - Leitungen vom nächsten Mast zum Haus führte und sowohl ein Telefon als auch elektrischen Strom in dem alten Gemäuer installierte. Michael konnte jetzt nicht nur das mit Akku betriebene Notebook, sondern auch ein Modem ans Netz anschließen und sich ins Internet einwählen, wenn er wollte.
Er hatte einige Tüten mit Lebensmitteln mitgebracht, aber als Emily anbot, das Frühstück auf dem uralten Herd in der Küche zuzubereiten, winkte Michael ab und meinte, er habe eine Menge Arbeit, die nicht warten könne. Sie bot ihm ihre Hilfe an, aber er erklärte, dass Alfred ihn in technischen Dingen berate, und fragte sie, wieso sie sich nicht irgendeine andere Beschäftigung suche. Er würde sie schon rufen, wenn er gefunden hatte, wonach er suchte.
Sie blinzelte ihn erstaunt an.
»Unter der dritten oder vierten Stufe im großen Treppenhaus ist ein Schlüsselbund versteckt. Mit diesen Schlüsseln kannst du jedes Schloss im Haus öffnen«, sagte Michael, ohne den Blick vom Computerbildschirm zu wenden. Sie wusste, dass er jemandem, den sie nicht sehen konnte, zuhörte, denn er flüsterte ab und zu »ja« oder »nein« sowie: »Das verstehe ich nicht«, während er etwas in den Computer eingab.
»Unter der dritten«, rief er Emily nach, als sie sich trollte. »Der Captain sagt, es ist die dritte Stufe. Und er gestattet dir, herumzustöbern, wo du willst, weil du hier nirgendwo Hinweise auf die wahren Begebenheiten finden kannst.«
Sie kam sich vor wie ein Kind, das zum Spielen in den Garten geschickt worden war. Sie machte sich auf die Suche nach den Schlüsseln und fand tatsächlich eine Stufe, von der sich ein Brett lösen ließ, wenn man wusste, wo man es anfassen musste.
»Das habe ich mir selbst ausgedacht«, hörte sie eine klare Stimme sagen.
»Ich bin gezwungen, mit Engeln zu reden«, erwiderte sie laut, »aber ich weigere mich, mit Gespenstern Konversation zu treiben. Geh und jag jemand Anderem einen Schreck ein.«
Emily war sicher, Gelächter zu hören, aber es wurde immer leiser - wahrscheinlich hatte Captain Madison, oder wer immer hier spukte, beschlossen, sie in Ruhe zu lassen. Sie schimpfte leise auf alle Männer, als sie sich auf den Weg zum Dachboden machte. Wenn sie sich in diesem Haus schon nach Herzenslust umsehen durfte, dann wollte sie als Erstes die Truhen und Vitrinen in Augenschein nehmen.
Mittlerweile hatte sie zwei ganze Tage auf dem Dachboden verbracht, und obwohl sie einige höchst interessante Dinge entdeckt hatte, wuchs ihr Ärger auf Michael. Wie konnte er sich so ohne weiteres von ihr abschotten? Sie waren beinahe jede Minute zusammen gewesen, seit sie ihn angefahren hatte, aber jetzt nahm ihn der Computer vollkommen in Beschlag, und er hatte keine Zeit mehr für sie. Er nahm seine Mahlzeiten nicht mehr mit ihr zusammen ein und schaute nicht einmal auf, wenn sie den Raum betrat.
Am Abend zuvor hatte sie versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. »Hattest du Glück?«
»Kommt darauf an, was du Glück nennst«, sagte er, ohne den Blick vom Monitor zu wenden.
»Hast du etwas gefunden, von dem Böses ausgeht?«
»Eine Menge. Das ist das Problem. In diesem Computer ist nur Böses gespeichert. Jede dieser Storys handelt von schrecklichen Männern und Frauen, die furchtbare Dinge tun. Es ist nahezu unmöglich, herauszufinden, welche dieser Geschichten mit dir in Zusammenhang stehen, besonders weil du selbst all dies geschrieben hast. Das alles hat demnach mit dir zu tun.«
»Vielleicht kann ich dir helfen«, sagte sie mit mehr Eifer, als sie ihm zeigen wollte.
»Nein«, lehnte er rundweg ab. »Alfred und ich kommen bestens zurecht. Geh du lieber wieder auf den Dachboden. Der Captain sagt, da oben gäbe es einen Schatz, aber möglicherweise meint er damit nur etwas, was ihm persönlich viel bedeutet. Andererseits war er ein sehr reicher Mann...«
Wieder fühlte sich Emily ausgeschlossen wie ein lästiges Kind, das nichts von den Angelegenheiten der Erwachsenen verstand. »Hast du schon Männer für mich aufgetan?«, erkundigte sie sich spitz. »Ich bevorzuge den gut aussehenden und männlichen Typ. Vergiss nicht, ich wünsche mir ein halbes Dutzend Kinder.«
»Ich habe vor Tagen - na ja, vor Stunden - drei Männer für dich gefunden.«
»Oh«, flüsterte Emily niedergeschlagen.
Michael spähte kurz zu ihr hin. »Das wolltest du doch, oder nicht? Hast du dich vielleicht eines anderen besonnen?«
»Selbstverständlich nicht. Schließlich habe ich keine andere Wahl. Du wirst bald verschwinden, und Donald hast du verjagt, also muss ich wohl oder übel einen von diesen drei Männern nehmen.«
»Du könntest auch allein bleiben oder dir selbst einen Mann suchen und heiraten.«
»Nein, danke. Du hast mir drastisch vor Augen geführt, wie dumm ich mich dabei schon immer angestellt habe.« Sie blitzte ihn an. »Ich habe mir immer unpassende Männer ausgesucht. Sieh dir doch nur Donald und andere an, mit denen ich mich eingelassen habe.« Sie meinte ihn damit und machte so deutlich, dass er genauso schlecht für sie sei wie all die Kerle aus ihren früheren Leben.
Michael würdigte sie keines Blickes. »Aber mich hast du nicht ausgesucht, Emily. Ich habe dich gefunden. Jetzt lauf schon und such den Schatz. Der Captain sagt, es sind Rubine; seine Frau liebte Rubine.«
Emily überlegte, ob sie sich auf die Matratze hocken und nicht von der Stelle rühren sollte, nur um ihm zu zeigen, dass sie ihm keinen Gehorsam schuldete, aber schließlich gewann ihre Neugier auf diese Rubine doch die Oberhand. Als sie wieder einmal die Treppe hinaufstieg, war sie ganz sicher, ein Lachen zu hören. Offenbar amüsierte sich der Captain darüber, dass ihr die funkelnden Steine wichtiger waren als Rache. »Deine Frau hat vielleicht Selbstmord begangen, nur um von dir wegzukommen«, flüsterte sie gehässig, hätte sich aber am liebsten gleich auf die Zunge gebissen, als sie fühlte, wie der Geist verschwand. Sie spürte nur noch Leere um sich herum.
»Großartig«, brummte sie. »Ich habe ein Gespenst und einen Engel beleidigt. Wer ist der nächste? Vielleicht sollte Gott mich ganz dem Bösen überlassen. Mit etwas Glück gelingt es mir, diesen bösen Geist so wütend zu machen, dass er sich in die Schmollecke zurückzieht und nie wieder ein Wort mit irgendjemandem spricht.«
Sie schleppte sich auf den Dachboden, durchwühlte Truhen und sah sich die Bücher genauer an. Die Rubine fand sie nicht, dafür einige prachtvolle Möbelstücke, wertvolle Bücher und ein wunderschönes Porzellanservice. Am Nachmittag hockte sie sich auf eine der Truhen und sah sich um. Eines musste sie dem Captain lassen -sein Geist war offenbar sehr stark, sonst wäre es ihm nicht gelungen, in all diesen Jahren Plünderer und Räuber von dem Haus fern zu halten. Emily kannte einige Antiquitätenhändler, die eine Menge dafür gegeben hätten, das zu sehen, was sie jetzt vor sich hatte - unter diesen Sachen waren einige wirkliche Schätze, das war ihr bewusst.
»Ich frage mich, wie viel das alles wert ist«, sagte sie laut, aber statt einen weiteren Gedanken an Geld zu verschwenden, stellte sie sich vor, wie hübsch der Ohrensessel mit den geschnitzten Adlerköpfen an den Armlehnen unten im Wohnzimmer aussehen würde. In einer Truhe befanden sich nur Vorhänge, und Emily fragte sich, ob man sie reinigen, gegebenenfalls flicken und wieder aufhängen könnte. Die roten würden großartig ins Esszimmer passen. Sie sah den Raum vor sich, wenn er zur Weihnachtszeit mit roten Kerzen geschmückt und der Tisch mit dem schönen Service und dem Silberbesteck gedeckt war, das sie gefunden hatte. Und ...
Mit einem Mal war ihr, als würde das ganze Haus vibrieren. Im ersten Moment dachte sie an ein Erdbeben, aber die Gegenstände schwankten nicht. Die Schwingungen bewegten nur die Luft, als wäre sie elektrisch aufgeladen.
»Engel und Gespenster«, sagte sie und wusste, dass Michael endlich auf das gestoßen war, wonach er seit Tagen suchte. Ohne sich den Staub aus den Kleidern zu klopfen, stürmte sie zur Treppe, wo Michael sie bereits erwartete. »Ich hab’s gefunden«, rief er und hielt das Notebook hoch, sodass sie den Bildschirm sehen konnte. »Es war nicht in den Textdateien, sondern bei den Fotos. Ich wusste gar nicht, dass man auch Bilder in diesen Dingern speichern kann. Ich hatte keine Ahnung ...«
Er brach ab und schaute sich auf dem Dachboden um. Alle Truhen, Schränke und Kisten waren offen und der Inhalt war überall verstreut.
»Der Captain hat mir berichtet, dass du alles gründlich durchstöberst, aber...«
Emily kniff die Augen zusammen. »Würdest du mir jetzt dieses Foto zeigen und aufhören, Bemerkungen über Dinge zu machen, die dich nichts angehen?«
»Willst du wissen, wo die Rubine sind?«
Emily hatte am liebsten »ja!«, geschrien, aber sie hielt ihr Temperament im Zaum. Michael hatte sie seit Tagen nicht beachtet, und er verdiente es, kühl abgefertigt zu werden. »Wenn der Captain mich zu dem Versteck führen will, dann kann er das tun, aber er kann es auch sein lassen, den ich müsste die Rubine ohnehin der Stadtverwaltung übergeben, weil dieses Haus der Stadt gehört.«
»Ah ja, natürlich«, sagte Michael. »Und es würde dir gar keinen Spaß machen, sie zu finden, hab’ ich recht?«
»Könntest du bitte davon Abstand nehmen, dich über mich lustig zu machen, und mir lieber erzählen, was du gefunden hast?«
Er reichte ihr das Notebook. »Einer der hier abgebildeten Männer ist für die Mordanschläge auf dich verantwortlich. Wer sind sie, und was haben sie mit dir zu tun? Womit hast du einen von ihnen verärgert?«
Emily bedachte Michael mit einem funkelnden Blick, dann sah sie sich das Foto an. Drei Männer in Anglerkleidung lachten in die Kamera und hielten vier Fische hoch, die kaum größer waren als Goldfische.
»Ich habe diese Typen noch nie im Leben gesehen. Woher stammt dieses Foto?«
»Es war da drin gespeichert«, sagte Michael, als hätte sie gerade die dümmste Frage der Welt gestellt.
»Wer hat es gespeichert und warum?«
Michael lauschte einen Moment, dann erklärte er, Donald habe alle Fotos selbst eingegeben.
»Eingescannt«, korrigierte Emily ihn automatisch. »Dies ist also nur eines von vielen Fotos?«
»Ja. Es gibt etwa fünfzig. Nein, Alfred sagt, es sind genau einundsiebzig, und nur wenige sind beschriftet, deshalb weiß er nicht, wer diese Leute sind.«
»Donald weiß es bestimmt.«
»Sollen wir ihn anrufen und fragen?«, schlug Michael mit einem Lächeln vor.
»Möglicherweise ist er ein bisschen ... verärgert, weil wir uns seinen Computer ausgeborgt haben.« Emily erwiderte das Lächeln. Sobald sich ihre Blicke trafen, wandte sich Michael ab.
Emily holte tief Luft. Auf keinen Fall würde sie ihn nach dem Grund für sein distanziertes Verhalten fragen -sie wollte gar nicht wissen, was mit ihm los war oder -noch schlimmer - was sie falsch gemacht hatte. Sollte er doch schmollen, solange er wollte. Und je früher sie herausfanden, warum er hier auf Erden war, um so früher konnte er sich wieder auf und davon machen, während sie zur Normalität zurückkehren würde.
»Sie sehen nett aus, diese Männer«, sagte sie und studierte das Foto eingehend. »Ob sie wohl verheiratet sind?«
»Einer von ihnen versucht, dich umzubringen, aber die anderen beiden sind vielleicht noch zu haben. Wir müssen lediglich in Erfahrung bringen, wer welche Absichten verfolgt.«
»Ich habe eine Idee. Warum arrangierst du nicht ein Treffen mit allen Dreien. Derjenige, in den ich mich unsterblich verliebe, ist ganz bestimmt der Mörder.«
Das brachte Michael zum Lachen, und trotz seiner Entschlossenheit wurde er ein wenig zugänglicher. »Gut, aber das erfordert einige Vorbereitungen. Morgen Abend gibt es eine große Party in der Stadt. Dort ist jemand, den du kennen lernen sollst - es ist bereits alles geregelt. Jetzt muss ich nur noch in Erfahrung bringen, wo sich diese drei Männer aufhalten, dann kann ich sie dazu bringen, ebenfalls zu dieser Party zu gehen. Sobald ich ihnen gegenüberstehe, weiß ich, welcher von ihnen es auf dein Leben abgesehen hat.«
»Und kannst du auch herausfinden, warum er mich töten will?«
»Ich kann ihn dazu bewegen, es uns zu sagen.«
»Und was dann? Wie willst du ihn von dem Mord abbringen? Kannst du ihn ausschalten, ehe er mir etwas antut? Wie wär’s mit einer kleinen Herzattacke?«
Michael sah sie entgeistert an. »Gott entscheidet über Leben und Tod. Engel sind nicht zu solchen Dingen befugt«, gab er streng zurück, als hätte sie seinen Ehrencodex verletzt.
»Was kannst du tun, wenn du weißt, wer mir nach dem Leben trachtet - ich möchte das wirklich gern wissen.«
Michael machte einen verstörten Eindruck. Offensichtlich hatte er sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht. »Ich weiß es nicht. Wenn ich ihn kenne, kann ich Verbindung zu seinem Schutzengel aufnehmen und mir Klarheit über vieles verschaffen. Gibt es abgesehen von Donald noch jemanden, der uns sagen könnte, wer diese Männer sind?«
»Woher soll ich das wissen? Ich bin ja nicht einmal gescheit genug, um Captain Madisons Geheimnis zu erfahren - wie kommst du darauf, dass ein Schwachkopf wie ich wissen könnte, welche Leute diese drei Angler kennen?«
»Emily!«, brauste Michael auf. »Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt für diese Spielchen. Die Sache ist ernst. Einer dieser Männer will dich ermorden, und wir müssen ihn daran hindern. Ich bin überzeugt, dass du weißt, wer uns helfen kann. Ich muss diese Männer zu der Party locken und dich heraussäubern ...«
»Irene«, fiel ihm Emily ins Wort. »Und was soll das überhaupt heißen - du musst mich >heraussäubern<?«
Michael sah sie an, als läge das auf der Hand und bedürfe keiner weiteren Erklärung. »Ruf Irene an und sag ihr, dass wir kommen, dann ...«
»Herausputzen! Das hast du gemeint, stimmt’s?« Michael hatte einmal eine Fernsehsendung gesehen, in der Frauen verschönert wurden und die Zuschauer sie vor und nach der Verwandlung sehen konnten. Damals hatte er sich empört, dass die Menschen nur auf Äußerlichkeiten achteten und die Seelen dieser Frauen nicht erkannten. Aber er schien seine Ansichten darüber geändert zu haben. Jetzt wusste Emily, was sie von seinen Schwärmereien über ihre Schönheit zu halten hatte.
»Gehen wir zum Telefon«, forderte sie kurzangebunden. »Emily, ich wollte damit nicht sagen, dass du nicht ...« Er beendete den Satz nicht. Er straffte die Schultern und drehte sich zur Treppe um. »Ruf sie lieber gleich an. Wir haben noch eine Menge zu erledigen.«
Emily folgte ihm und hoffte, dass er jeden ihrer Gedanken lesen konnte.
Emily erreichte Irene im Büro.
»Emily!«, rief Irene erstaunt, nachdem sie sich gemeldet hatte. »Wo steckst du? Weißt du, dass das FBI in meiner Wohnung war und bei mir nach dir gesucht hat? Und dieser Egomane, den du heiraten wolltest, hat mich drei Mal angerufen. Was, um alles in der Welt, hast du angestellt?«
»Du würdest mir kein Wort glauben, wenn ich es dir erzählte. Hör mal, ich brauche deine Hilfe.«
»Du kannst jederzeit auf mich zählen, Liebes. Ich bin ja so froh, dass du dich aus den Fängen von Mr. News befreit hast. Ich tue alles, was du willst. John könnte auch helfen, ich bringe ihn schon dazu.«
John war Irenes Boss und ergebener Liebhaber.
»Weißt du etwas von einer großen Party, die in der nächsten Zeit in der Stadt steigt? Ich meine keine private Feier, sondern ein gesellschaftliches Ereignis.«
»Du meinst den Ragtime-Ball?«
»Ja,' vermutlich. Kannst du mir eine Einladung verschaffen? Das heißt - ich brauche zwei Einladungen.«
»Machst du Witze? Ich selbst bin auch nicht eingeladen. Da werden nur ganz hohe Tiere eingelassen. Seit wann bist du auf so was aus? Ich hätte nie gedacht, dass du davon träumst, auf Tuchfühlung mit den Reichen und Schönen der Gesellschaft zu gehen.«
»Davon träume ich auch gar nicht. Ich muss nur unbedingt ein paar Männer kennen lernen.«
Irene schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Emily, damit hast du mir den Tag gerettet. Endlich packst du die Sache richtig an.«
»Das ist es nicht - es ist wichtig für mich, ein paar bestimmte Leute zu treffen, ich bin nicht auf Männerfang aus. Außerdem möchte ich dich um einen großen Gefallen bitten. Würdest du dir ein Foto von drei Männern ansehen und mir sagen, ob du sie kennst? Ich muss unbedingt in Erfahrung bringen, wer sie sind. Ich kann dir das Foto per E-Mail schicken.«
»Gut. Ich tue mein Bestes. Wenn sie von hier sind, kenne ich sie bestimmt, ansonsten frage ich mm. Schick mir das Foto, ich rufe dich zurück, sobald ich Näheres weiß. Gib mir deine Nummer.«
Michael legte die Hand auf Emilys Arm und schüttelte den Kopf. Aber sie hätte ohnehin nicht verraten, wo sie zu erreichen war. Sie wusste nicht einmal, ob dieses illegale Telefon überhaupt eine Nummer hatte.
»Ich schicke das Foto ab und melde mich später wieder bei dir.«
»Sehr klug, Liebes. Könnte durchaus sein, dass das FBI mein Telefon angezapft hat. Aber hier im Büro sorgt John schon dafür, dass seine Telefonate von niemandem mitgehört werden können. Trotzdem solltest du keiner Menschenseele sagen, wo du steckst, bis alles geklärt ist. Ach, was ist übrigens aus dem Burschen geworden, den du angeblich bei dir aufgenommen hast und der ein Killer sein soll?«
»Ach«, gab Emily leichthin zurück, »der ist längst weg. Ich habe ihn vor Tagen zum letzten Mal gesehen.«
»Gut. Alles klar«, sagte Irene und legte auf.
Emily schickte das Foto ab, wartete einige Zeit, dann rief sie Irene wieder an.
»Eine Nummer kleiner hast du’s wohl nicht, Emily? Worauf hast du dich eingelassen?«, fragte Irene.
»Kennst du sie?«
»Ich kann gar nicht fassen, dass du nicht weißt, wer das ist. Aber ich muss zugeben, dass es nicht viele Aufnahmen von den Dreien gibt. Ich vermute, sie haben Angst, dass jemand ihre Fotos für Woodoo-Zaubereien verwenden könnte. Glaub mir, es gibt einige Leute, die mit Freuden ein paar spitze Nadeln in diese Herren stechen würden.«
»Irene!«
»Schon gut. Der Linke ist Charles Wentworth. Ihm gehören die meisten Banken in diesem Staat. Der Mann in der Mitte ist Statler Mortman - ein Landbesitzer. Ich spreche nicht von ein paar Grundstücken, sondern von Ländereien, die so groß sind wie ein Bundesstaat. Und der Kerl rechts bekommt Geld von Wentworth und Land von Mortman und baut im großen Stil. Seine Projekte sind hässlich, und manche Gebäude sind sogar schon eingestürzt. Emily, die Zeitungen würden eine Menge für dieses Foto bezahlen. Woher hast du es?«
»Von Donald.«
»Liebe Güte, dann hast du also sein Notebook gestohlen? Donald hat das überall verbreitet, aber kein Mensch nimmt ihm das ab. Schließlich hat er vor ein paar Tagen behauptet, du seist tot. Seine Glaubwürdigkeit schwindet von Minute zu Minute. Ein Fernsehsender hat sogar jedes Wort seiner Berichte öffentlich in Zweifel gezogen. Man nimmt an, dass Chamberlains Frau in deinem Wagen gesessen hat, als die Bombe losging, wusstest du das?«
»Wirklich? Und wie kommen sie darauf?«
»Keine Ahnung. Ich nehme an, die Autopsie hat das ergeben.«
»War denn noch so viel von ihr übrig, dass sie eine Autopsie machen konnten?«
»Oh, bleib dran, John meldet sich gerade über die Sprechanlage.«
Während Emily wartete, sah sie sich das Foto auf dem Computerschirm noch einmal an. Sie hatte viele Storys für Donald verfasst, aber nie eine über so reiche und mächtige Männer.
Irene meldete sich wieder. »Emily, Liebste, du wirst nicht glauben, was gerade passiert ist«, sagte Irene im Flüsterton. »John hat mir eröffnet, dass er und seine Frau nicht zum Ragtime-Ball gehen können, und er hat mir ihre Einladungen überlassen.«
Emily warf einen Seitenblick auf Michael - das hatte er arrangiert.
»John sagt, er ist heilfroh, nicht hingehen zu müssen. Seine Frau drängt darauf, stattdessen einen Besuch bei Verwandten zu machen.«
»Irene, kann ich die Einladungen haben?«
»Natürlich. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass John sie mir nie gegeben hätte, wenn du sie nicht brauchen würdest. Eigenartig - was bringt mich nur auf so einen Gedanken?«
»Keine Ahnung. Da ist noch etwas, Irene. Ich komme mit einem Freund in die Stadt, und wir brauchen einen Platz zum Übernachten.«
Irene zögerte. »Handelt es sich um einen Mann - etwa eins achtzig, dunkles, gelocktes Haar?«
»Hm. Es kommt noch schlimmer. Ich muss mich sozusagen einer Verschönerungskur unterziehen und aussehen, als wäre ich nicht mehr ich selbst, verstehst du?«
»Das dürfte nicht allzu schwierig sein. Für dich ist es ja schon eine Sensation, wenn du Lippenstift aufträgst. Wer ist der Mann, den du dir angeln willst?“
»Die Wahrheit ist, dass mein Schutzengel auf die Erde gekommen ist. Er hat mir den perfekten Mann versprochen und behauptet, ich würde ihn auf dem Ragtime-Ball treffen. Du verstehst sicher, dass ich bei diesem denkwürdigen Ereignis so gut wie möglich aussehen will. Ich brauche einen Friseur und Make-up.«
»Schutzengel, wie? Menschenskind, Emily, wenn du dich zu hoch hinaufwagst, läufst du Gefahr, tief zu fallen.«
»Ja, aber ich bin schon ziemlich oft und meistens sehr hart gefallen.«
»Das ist besser, als gar nichts zu wagen«, meinte Irene. »Liebes, ich erwarte dich und deinen Begleiter heute Abend oder morgen früh bei mir. Und ich vereinbare alle Termine für dich. Du wirst morgen ziemlich beschäftigt sein. Der Ball findet nämlich morgen Abend schon statt. Du machst keine halben Sachen, stimmt’s?«
»Kann ich mir derzeit nicht leisten«, gab Emily zurück, ehe sie sich verabschiedete und auflegte. Im nächsten Moment rief sie: »O nein, ich habe vergessen, mit Irene über ein geeignetes Kleid zu sprechen. Von Irene kann ich mir nichts leihen. Sie ist einen Kopf größer als ich.«
»Darum kümmere ich mich«, sagte Michael, ohne sie anzusehen. »Wie heißt noch mal dieses Geschäft, in dem du so gern einkaufen würdest?
Emily hatte nicht vor, ihm zu zeigen, dass sie sehr wohl wusste, worauf er anspielte. »Ich habe keinen blassen Schimmer, was du meinst.«
Er zog eine Augenbraue hoch.
»Neiman Marcus in Dallas, Texas«, sagte sie missmutig.
Michael verzog die Lippen zu einem kleinen Lächeln. »Du weißt immer, was ich will«, sagte er leise. »Ob ich einen Körper habe oder nicht - du verstehst mich.«
Emily hätte ihm gern klargemacht, dass sie ihn keineswegs verstand und seit zwei Tagen überhaupt nicht mehr wusste, was er wollte, aber sie schwieg. Stattdessen murmelte sie etwas davon, dass sie wieder hinaufgehen würde, und als Michael keine Einwände erhob, machte sie sich auf den Weg zum Dachboden.
Michael sah ihr wehmütig nach. Es kostete ihn große Mühe, ihr nicht zu folgen. »Ich bin es ihr schuldig«, beschwor er sich selbst und dachte an ihre einsamen Lebenszeiten und das Unglück, das er ihr beschert hatte. »Ich mache denselben Fehler nicht noch einmal.«
Mit Alfreds Hilfe machte er die Telefonnummer des Geschäfts in Dallas ausfindig und rief dort an.
Eine halbe Stunde später legte er auf und lächelte zufrieden. Die Verkäuferin war sehr zuvorkommend gewesen und hatte ihm ein Kleid empföhlen, für das jede Frau »einen Mord begehen« würde. »Das hoffe ich nicht«, sagte er, und die Frau lachte und eröffnete ihm, dass das Kleid, das sie im Sinn hatte, etwas über zehntausend Dollar kostete. Alfred machte sich am Computer zu schaffen, und dann, im nächsten Augenblick, erschien eine Kreditkartennummer und eine Adresse auf dem Monitor. Michael las der Verkäuferin die Angaben vor. Er fragte Alfred nicht ausdrücklich danach, aber er wusste, dass irgendein steinreicher Mann im nächsten Monat ein sündhaft teures Kleid, die passenden Schuhe und einen Mantel bezahlen würde, ohne jemals zu erfahren, dass seine Frau diese Sachen gar nicht gekauft hatte.
Nachdem das Problem mit dem Kleid gelöst war, widmete sich Michael wieder dem Computer. Vielleicht stieß er auf etwas, was ihm verriet, weshalb das Leben seiner Emily in Gefahr war. Nein, sie ist nicht meine Emily, korrigierte er sich in Gedanken. Bald würde sie zu einem anderen Mann gehören, einem Mann, der, wie man ihm versichert hatte, fürsorglich, umgänglich, intelligent und geistreich war.
Michael wollte gar nicht mehr daran denken, in welch glühenden Farben der Engel die Vorzüge seines Schützlings geschildert hatte.
»Alfred«, sagte Michael, »sag dem Captain, dass ich die Rubine seiner Frau brauche.« Er horchte einen Moment. »Ja, alles - Armband, Ohrringe und Collier ... Nein, er bekommt sie nicht zurück. Ich möchte sie Emily ganz überlassen.<<
Er widmete sich wieder dem Computer und versuchte, sich ganz auf seine Arbeit zu konzentrieren.