44

 

Das Knistern kam aus einem Lautsprecher in der linken oberen Ecke des Panikraumes. Selma, Martin und Bumann starrten wie gelähmt auf die schwarze Box. Sekunden tat sich nichts. Die lockere Körperhaltung hatte Bumann vor Schreck aufgegeben. Jetzt saß er, wie die anderen auch, angespannt wie ein Flitzebogen und lauschte in die Stille. Dann wieder das Knistern und diesmal erfolgte im direkten Anschluss eine Durchsage.

Die Stimme sprach dunkel und langsam, fast bedächtig. Bereits das erste Wort des Textes, den sie verlas, verursachte bei Martin augenblicklich eine Gänsehaut. Seine Gedanken fuhren Karussell. Wie konnte das sein? Selma warf ihm einen fassungslosen Blick zu. Nur Bumann wusste nicht, was hier gespielt wurde. Unbarmherzig verlas Eddie Kaltenbach die Todesanzeige von Anna Waller:

 

Auf einmal bist Du nicht mehr da,

und keiner kann´s verstehen.

Im Herzen bliebst Du uns ganz nah,

bei jedem Schritt, den wir nun gehen.

Nun Ruhe sanft und geh` in Frieden,

denk immer dran, dass wir Dich lieben.

 

In Liebe nehmen wir Abschied von

 

Anna Waller

*17.7.1975 +10.11.2007

 

In tiefer Trauer:

 

Martin Waller mit Paul

Anita und Rainer Thiesen

Monika Feist geb. Thiesen

Karl Waller

sowie alle Anverwandten

 

»Du hast dich gut versteckt, Waller. Dein Sohn heißt Paul, dein Vater Karl. Wenn du die nächste Todesanzeige nicht für die beiden aufgeben willst, solltest du aus deinem Versteck gekrochen kommen. Ansonsten nehme ich die erste Bahn ins Tal, fahre zu dir nach Hause und töte den Rest deiner Familie. Paul wird als Erster dran sein und dein Vater wird zuschauen. Es wird langsam und qualvoll geschehen. Nichts wird mich davon abhalten und du wirst die Schuld daran haben.«

Eddie machte eine kurze Pause vor seinem letzten Satz.

»Willst du, dass deine Familie für dich dafür bezahlt, dass du meine Frau getötet hast?«

Es knisterte noch einmal in der Lautsprecherbox, dann war es still.

Eddies Worte waren für Martin wie ein Dolch in den Rücken. Unerwartet, schmerzvoll und mit wahrscheinlich tödlichem Ausgang. Das Verlesen der Todesanzeige sorgte dafür, dass die Schubladen mit den schmerzvollen Erinnerungen an die ersten Tage nach Annas Tod mit einem lauten Krachen wieder aufsprangen. Martin fühlte jetzt, was er vor drei Jahren gefühlt hatte. Die gleiche Angst in der Brust, die Trauer, die Niedergeschlagenheit und die Verzweiflung. Das menschliche Gehirn konnte eine Höllenmaschine sein. Was würde er dafür geben, wenn er diese bittere Erfahrung ein für alle Mal löschen könnte. Doch jeder Mensch trägt seine Last, nur das Gewicht variiert und die Kraft des Einzelnen.

Wie durch einen Schleier nahm Martin wahr, dass Bumann von seinem Stuhl aufsprang und sich rückwärtsgehend, ohne ihn aus den Augen zu lassen, von ihm entfernte, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß. Er hat Angst vor mir, schoss es Martin durch den Kopf.

Dann war er wieder auf der Beerdigung. Sah, wie sie den Sarg nach unten ließen und er hatte wieder das Gefühl, er müsse hinterher springen und sich mit Anna begraben lassen. In seinen Träumen hatte er oft neben der Badewanne gestanden. Anna sah ihn mit vorwurfsvollen Augen an und schnitt sich dabei die Pulsadern auf. Er wollte sie davon abhalten, kam jedoch nicht von der Stelle.

Wieder hörte Martin den Monolog des Bestattungsunternehmers, der ihm erklärte, was zu tun sei, und der von ihm wissen wollte, welchen Text die Todesanzeige erhalten sollte, und wie die Inschrift auf dem Holzkreuz und später auf dem Grabstein lauten sollte. Er sah sich stundenlang regungslos neben Paul sitzen, nicht fähig aufzustehen oder zu sprechen. Das Gefühl, selbst nicht mehr weiter atmen zu wollen. Die Tage und Wochen, die wie in Nebel gehüllt waren. Schleierhaft und gedämpft war seine Wahrnehmung in jener Zeit. Die Welt drehte sich wie in Zeitlupe um ihn herum weiter. Er wusste, dass er gerade jetzt für Paul da sein musste, doch in den ersten Wochen danach, war er dazu nicht in der Lage gewesen. Sein Vater Karl hatte diesen Part so gut es ging übernommen. Auf der Suche nach Linderung hatte er mit dem Alkohol angefangen. Er wusste, dass es falsch war. Das Trinken bot nur für eine kurze Zeit Erleichterung und danach war es immer noch viel schlimmer. Aber er brauchte diese Auszeiten. In dieser Zeit erkannte er, dass er schwach war.

Ein Jahr später war er an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Er hatte auf dem Spielplatz, zu dem er mit Paul gegangen war, getrunken. Zur Tarnung hatte er eine Wodkaflasche in eine braune Saftflasche umgefüllt. Nachdem er sie ganz ausgetrunken hatte, war er auf der Bank eingeschlafen. Als er mitten in der Nacht erwachte, war Paul verschwunden. Er dachte an Entführung und all die Missbrauchsfälle an Kindern, die durch die Medien geisterten. Er war voll Panik nach Hause getorkelt. Sein Vater hatte die Polizei angerufen. Dort teilte man ihnen mit, dass ein Junge unweit des Spielplatzes allein aufgefunden wurde. Eine Familie habe das Kind zur Polizei und diese habe den Jungen dann für die Nacht in eine Einrichtung des Jugendamtes für obdachlose und gefährdete Jugendliche gebracht. Sie waren dorthin gefahren. Der Junge war Paul gewesen. Martin hatte in dieser Nacht auch zu Gott gebetet, dass Paul nichts geschehen war und er hatte Gott als Gegenleistung versprochen, mit dem Trinken aufzuhören und ein guter Vater zu sein. Er hatte das Versprechen eingelöst. Doch in diesem Moment hätte er nichts lieber gehabt, als eine Flasche Wodka.

»Martin, Martin!« Selma rüttelte an ihm. Ihre Stimme klang, als ob sie sehr weit entfernt wäre. Dennoch riss sie ihn aus den Bildern der Vergangenheit.

Leer und ausgelaugt sah er sie nun an. Er konnte nichts sagen.

»Warum glaubt dieser Eddie, dass Sie seine Frau getötet haben? Ist da was dran?« Das war Bumanns Stimme. Er stand noch immer mit dem Rücken an der Wand, ganz so, als ob alle Sicherheit, die dieser isolierte Raum geboten hatte, auf einen Schlag nun nicht mehr existierte.

Martin wusste selbst nicht, was er davon halten sollte. Offensichtlich hielt Eddie ihn für den Mörder seiner Frau und Bumann zog ernsthaft in Erwägung, dass etwas daran sein könnte. Aber er durfte das dem Mann von der Hotelrezeption nicht übel nehmen. Eugen Bumann kannte ihn erst wenige Stunden. Sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Wie sollte der Mann ihn da richtig einschätzen können?

»Nein, ich habe nichts damit zu tun«, sagte Martin und versuchte damit, die Panik in Bumanns Augen zu vertreiben.

Es gelang ihm nicht. Bumann blieb weiter auf Distanz.

»Du bist ein Idiot, Eugen«, sagte Selma Bumann zugewandt. Dann zu Martin. »Was machen wir denn jetzt?«

In ihrer zitternden Stimme lag ebenfalls Angst. Auch, wenn sie alles unternahm, um stark zu klingen.

»Und du setz dich wieder hin!«, blaffte sie Bumann missbilligend an. Zögerlich kam der ihrer Aufforderung nach.

Martin zuckte resignierend mit den Schultern. Was blieb denn jetzt noch übrig? Er musste sich dem Irren stellen und versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass er nichts mit dem Tod von dessen Frau zu tun hatte. Ein aussichtsloses Unterfangen. Er fühlte sich schon bei dem Gedanken daran, mehr tot, als lebendig. Seine Kopfschmerzen waren jetzt zudem völlig aus dem Ruder gelaufen. Ein dünner Schweißfilm lag auf seinem Gesicht. Er fühlte sich fiebrig und um seinen Hals, schien sich eine Schlinge zu legen, die ihm nach und nach die Luft abschnürte. Wieder wanderten die graugetünchten Betonwände des Raumes bedrohlich auf ihn zu. Doch diesmal gelang es ihm, sie auf Abstand zu halten. Es wird tatsächlich besser mit dieser bescheuerten Platzangst, dachte er. Ich bekomme sie in den Griff. Dann wurde ihm klar warum. Es gab keinen Grund mehr für sein Gehirn, ihm in einem geschlossen Raum vorzugaukeln, dass er darin ersticken könnte oder nie wieder heraus käme. Denn er hatte sich soeben mit der Tatsache abgefunden, dass er in dieser Nacht sterben würde. Der geschlossene Raum war zur Nebensache geworden. Die Konfrontation mit dem Psychopathen Kaltenbach war unausweichlich. Der Wahnsinnige da draußen, würde seinen Sohn und seinen Vater töten würde, wenn er in diesem Raum blieb.

Er brauchte jetzt etwas zu trinken. Egal was, Hauptsache hochprozentig. Er sprang auf und ging zur Tür. Wenn er sich Eddie schon ausliefern musste, könnte er es genauso gut nach einer Flasche Wodka tun. Eine Hand hielt ihn zurück. Es war Selmas. Sie blickte ihm fest in die Augen.

»Tu jetzt nichts Unüberlegtes! Es geht um euren Sohn.«

Ihre Stimme war so eindringlich wie ein Pfeil, der punktgenau sein Ziel durchbohrt. In Martins Fall war das Ziel sein Herz gewesen. Es trieb ihm die Tränen in die Augen. Selma hatte euren Sohn gesagt. Damit meinte sie Anna und ihn. Er war allein mit der Verantwortung für Paul auf dieser Welt übrig geblieben und jetzt ging es um das Leben ihres Sohnes. Und wie würde der fühlen, wenn plötzlich auch sein Vater nicht mehr da wäre. Was, wenn es Eddie völlig egal war, ob er sich opferte, was wenn er Paul dennoch aufsuchen und quälen würde? Es gab keine Garantien. Eddie Kaltenbach war geistesgestört. Selma hatte Recht. Er durfte keinen Schnellschuss machen. Er musste bei klarem Verstand bleiben und überlegen. Er musste kämpfen und nicht aus Selbstmitleid vorschnell aufgeben. Er schloss für einen Moment die Augen, um die Tränen niederzukämpfen und nickte Selma zu.

»O.k.«, sagte er. »Ich bin wieder o.k.«

Sie quittierte es mir einem Seufzer der Erleichterung und ließ seine Hand los.

»Warum lässt du ihn nicht einfach gehen, wenn er unbedingt raus will«, geiferte Bumann.

Martin ging hinüber zum Waschbecken, füllte sich ein Glas mit Wasser und trank es in einem Zug aus. Das tat er dreimal hintereinander. Danach hatte er zumindest das Gefühl, wieder etwas klarer denken zu können.

Eine Lösung, wie er aus der Zwickmühle herauskommen sollte, fiel ihm dennoch nicht ein. Er konnte nicht riskieren, dass Paul oder Karl, seinem Vater etwas geschah, also würde er dem Psychopathen gegenübertreten müssen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war Eddie davon überzeugt, in ihm den Mörder seiner Frau gefunden zu haben. Wie kam er darauf? Dann fiel Martin eine mögliche Antwort auf diese Frage ein, wenngleich er wenig Hoffnung hatte, dass es ihm etwas nützen würde. Vielleicht würde Eddie ihn einfach erschießen, sobald er die Gelegenheit dazu bekam. Unruhig wie ein hungriger Tiger schlich Martin in dem kleinen Raum auf und ab, während er laut nachdachte:

»Jemand muss Eddie Kaltenbach die Todesanzeige meiner Frau gegeben haben. Angenommen er hat seine eigene Frau nicht getötet, sondern jemand anderes und dieser jemand lässt es so aussehen, als ob ich es gewesen wäre, indem er die Todesanzeige meiner Frau neben die Leiche von Eddies Frau legt.«

»Dann hätte Eddie allen Grund hinter dir her zu sein«, sagte Selma.

»Das schon, aber ich glaube nicht mehr, dass er derjenige ist, der die Fäden in der Hand hält.«

»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Bumann.

»Ich frage mich die ganze Zeit, wie die E-Mails an mich und die kindlichen Reime da rein passen. Eddie war noch nicht im Hotel, als die erste E-Mail an mich geschickt wurde. Wenn er tatsächlich Amok gelaufen ist und seine eigene Frau getötet hat, oder deren Mörder sucht, warum taucht er dann hier im Hotel auf und macht sich die Mühe, sich Reime auszudenken, oder Marianne Seewalds Tod so zu arrangieren, dass es wie Selbstmord aussieht. Söder hingegen schießt er einfach über den Haufen. Außerdem ist Eddie nach dem Inhalt der ersten E-Mail auch ein potentieller Todeskandidat.«

Selma blickte ihn nachdenklich an und nickte.

»Wenn du richtig liegst, würde das bedeuten, dass ein ominöser Unbekannter im Hintergrund agiert und Eddie als ausführendes Werkzeug benutzt, ohne dass der etwas davon weiß.«

Bumann pfiff durch die Zähne.

»Das ist so verrückt, dass ich es nicht glauben kann. Dafür gibt es auch gar keine Beweise. Die Polizei wird das genauso sehen. Und außerdem, wenn an dieser These was dran wäre und Eddie nicht der Haupttäter, sondern nur ein weiteres Opfer auf einer Todesliste wäre, wer sollte dann am Ende Eddie ausschalten?«

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Dann hatte Martin die Antwort.

»Sie haben es selbst gesagt.«

Bumann blickte Martin an, als habe der jetzt vollständig den Verstand verloren.

»Ich verstehe nicht«, sagte er nur.

»Die Polizei wird Eddie erledigen. Für die ist er jetzt schon der Mörder seines Bruders und seiner Frau. Er ist auch der perfekte Kandidat für die Taten, die heute hier geschehen sind. Ein außer Kontrolle geratener Psychopath wäre der perfekte Sündenbock.«

»Fehlt noch das Motiv«, sagte Bumann.

»Aber das liegt doch auf der Hand«, sagte Martin. Es geht um Rache. Anscheinend haben die jetzigen Opfer dem Schreiber der E-Mails etwas so Schlimmes angetan, dass nur der Tod in dessen Augen eine gerechte Strafe ist. Allerdings frage ich mich dann, warum Eddie auf mich gehetzt wurde und warum die E-Mails unter dem Namen meiner Frau geschrieben wurden?«

Bedrücktes Schweigen setzte ein. Martin schaute Selma nachdrücklich an. Sie war Annas beste und am Schluss einzige Freundin gewesen. Wenn sie Hinweise darauf hatte, dass Anna möglicherweise noch lebte, dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für sie gekommen, damit herauszurücken. Aber Selma blieb stumm und hielt seinem Blick stand. In ihren Augen glaubte er, dieselben Fragen zu sehen, wie sie auch in seinem Hirn herumgeisterten.

»Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mit Eddie zu reden und zu hoffen, ihn davon überzeugen zu können, dass er vielleicht die ganze Zeit nur benutzt wurde«, sagte Martin.

»Vergiss es«, sagte Selma. »Der Kerl hat Zurbriggen und Meier getötet, weil sie ihm im Weg standen. Er ist ein kaltblütiger Killer. Dem ist völlig egal, was du ihm erzählst. Am Ende wird er dich doch umbringen. Allein schon deshalb, weil es ihm Spaß macht. Das kannst du nicht riskieren.«

Wieder herrschte Schweigen. Martin hatte sich die ganze Zeit insgeheim gefragt, woher er die Kraft nahm, gegen all die Widrigkeiten anzukämpfen. Er hatte die ganze Zeit gedacht, dass allein Paul ihm die Energie und den Mut dazu gab. Nun wurde ihm bewusst, dass es noch etwas anderes war. Es war die Hoffnung, dass Anna noch leben könnte, die ihn kämpfen ließ. Und das gefiel ihm nicht. Denn wie tief würde er fallen, wenn sich diese Hoffnung am Ende in Nichts auflöste. Er musste sich selbst davor schützen. Anna ist tot, dachte er. Aber es war schon zu spät. Sein Gehirn wollte diesen Gedanken schon nicht mehr akzeptieren. Schließlich hellte sich Selmas Gesicht ein wenig auf.

»Vielleicht gibt es doch noch einen Ausweg.«

Martin drehte ihr gespannt den Kopf zu.

»Die Draisine im Schuppen neben der Bahnstation. Falls sie noch dort steht, könnten wir versuchen, damit ins Tal zu fahren und die Polizei verständigen, bevor der erste Zug am Morgen hier oben ankommt, und Eddie die Chance bekommt zu fliehen.«

Bumann blies geräuschvoll die Luft aus.

»Ohne mich«, sagte er. »Ich bin hier sicher. Warum sollte ich das aufgeben? Von mir will der Irre schließlich nichts.«

Selma funkelte ihn mit giftigen Augen an.

»Aber es könnte klappen«, sagte sie. »Die Draisine stand auf einem Nebengleis in einem kleinen Schuppen. Man müsste nur die Bremsklötze wegziehen und schon wäre sie fahrbereit.«

»Vorausgesetzt sie ist überhaupt noch da und fährt nach all den Jahren noch einwandfrei. Und vorausgesetzt wir kämen ungeschoren an Kaltenbach vorbei nach draußen. Tut mir leid, aber das sind mir eindeutig zu viele Fragezeichen«, brummte Bumann.

Martin dachte kurz nach. Er hatte nichts zu verlieren. Würde er sich Eddie ohne Gegenwehr stellen, dann war das gleichbedeutend damit, Paul als Vollwaisen zurückzulassen. Würde er hier bleiben und abwarten, würde Eddie mit der ersten Bahn verschwinden und nicht eher ruhen, bis Paul und Karl tot waren. Die Draisine bot eine Chance, wenn auch nur eine kleine, sein Leben und das von Paul und Karl zu retten. Er musste es versuchen. Unterdessen redete Selma enthusiastisch weiter.

»Wir könnten über das eingeworfene Fenster in der ersten Etage nach draußen gelangen. Eddie wird vermutlich im zentralen Eingangsbereich auf dich warten. Die Chancen stehen also gut, dass wir es schaffen können.«

»Dass ich es schaffen kann«, sagte Martin.

Selma stand auf. Sie stemmte die Hände in die Hüften und sah Martin entrüstet an.

»Ich und Bumann kommen mit. Die Draisine wird mit einem Wipphandhebel betrieben. Allein ist das erste gerade Stück nur sehr schwer zu schaffen. Jedenfalls wirst du langsam sein. Wenn Eddie dich in dieser Phase sieht - und das kann er, wenn er nur zum Fenster hinaus schaut - wird er dich zu Fuß einholen können. Wenn du später nur noch bergab fährst, wird das Bremsen für einen allein mit der Zeit zu schwer.«

Martin stand jetzt ebenfalls auf.

»Eddie geht es nur um mich. Ich will dich und Herrn Bumann keiner Gefahr aussetzen, indem ihr euch in meiner Nähe aufhaltet.«

»Das ist doch Blödsinn«, sagte Selma.

»Nein, ist es nicht«, schaltete sich Bumann ein. »Eddie hat den Koch auf dem Gewissen, einen herzensguten Menschen. Er hat ihm die Gurgel zugedreht. Nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Ich will nicht, dass es mir genauso geht. Ich bleibe hier.«

Selma sah Bumann verächtlich an.

»Du bist so ein Feigling.«

»Lieber feige, als tot«, konterte der.

»Ich versuche es allein mit der Draisine, oder gar nicht«, sagte Martin und sah Selma dabei entschlossen an. Sie konnte seinem Blick diesmal nicht standhalten. Als sich Tränen in ihren Augen bildeten, wandte sie sich ab, setzte sich aufs Bett und starrte den Boden an.

»Pass auf dich auf«, flüsterte sie, als Martin vorsichtig die Tür des Panikraumes öffnete und hinaus in den Kleiderschrank schlüpfte. Bumann schloss die Tür hinter ihm und ließ die Sicherungsbolzen einrasten, ohne auch nur eine Sekunde zu warten.

Martin hielt den Atem an, bevor er die Tür des Kleiderschrankes von innen einen Spalt weit öffnete. Es war mucksmäuschenstill. Eddie konnte auch im Wohnzimmer auf dem Sessel sitzen und einfach ruhig sein. Er hätte es nicht bemerkt, aber wenigstens gab es keine Geräusche, die darauf hindeuteten, dass der Irre es sich ausgerechnet hier gemütlich gemacht hatte, um auf ihn zu warten. Martin stieg aus dem Schrank und sah sich dessen Inhalt genauer an. Auf der linken Seite befand sich eine elegante Garderobe, wie man sie zu festlichen Anlässen trug. Auf der rechten Seite entdeckte er, wonach er gesucht hatte. Die Frau war zwar gut zwanzig Zentimeter kleiner als er, aber die gelbe Skijacke, fiel groß aus. Sie würde aufgrund ihrer Farbe die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, aber das war besser, als nur mit einem T-Shirt durch die Kälte zu laufen. Während er sich in die Jacke hineinzwängte, wurde ihm eine Tatsache bewusst, die er bis jetzt erfolgreich verdrängt hatte. Er musste raus. Raus in den Schnee. Er spürte, wie er eine Gänsehaut bekam und sich die feinen Haare auf seinen Unterarmen aufstellten. Selma und Bumann hatten keine Ahnung, was das für ihn bedeutete. Zu seinen Kopfschmerzen gesellte sich jetzt noch eine leichte Übelkeit. Aber das war egal. Es gab kein Zurück mehr. Es lag nicht mehr in seiner freien Entscheidung, ob er sich seiner Angst stellen würde oder nicht. Er musste es tun, wenn er Paul retten wollte.

Martin dachte kurz an die Zeiten, in denen er noch als Strafverteidiger gearbeitet hatte. Als es ihm und Anna noch gut ging, als er noch funktioniert hatte und den Belastungen des Alltags spielend standgehalten hatte. Von diesem starken Menschen war nichts mehr übrig geblieben. Seitdem er seine Karriere als Anwalt in den Müll geworfen hatte, hatte er dieses ruhige, voll konzentrierte Gefühl, das er vor Gericht hatte, nicht mehr gespürt und mit Annas Tod hatte er vergessen, wie es sich angefühlt hatte, ohne Angst zu leben.

Er ging zur Tür des Schlafzimmers, durchquerte das Wohnzimmer und schlich durch die Diele und die offene Wohnungstür in den Hotelflur. Als er an Zurbriggens Wohnungstür vorbeikam, musste er unweigerlich an dessen geköpften Körper in der Folterkammer im Keller und den Kopf, der aus der Kühltasche gekullert war, denken. Es machte ihm noch einmal deutlich, mit wem er es zu tun hatte. Eddie war ein Monster. Er tötete Menschen und ging dabei mit ihnen um, wie ein Metzger.

Martin ging die Treppe hinunter in den zweiten Stock. Die Treppenstufen waren zwar mit Teppichboden überzogen, um die Schritte abzudämpfen, aber die Stufen selbst waren aus Holz und einige knarrten, als Martin darauf trat. Jedes Mal zuckte er zusammen, aber es ließ sich einfach nicht vermeiden.

Er hoffte, dass Selma Recht behielt und Eddie in der Eingangshalle auf ihn wartete. Das wäre logisch. Wenn ich will, dass jemand zu mir kommt, warte ich an einem zentralen Ort, dachte Martin.

Er hielt den Atem an, als er die Tür zum Flur im zweiten Stock öffnete. Auch hier sah es gut aus. Er bog nach links ab und war nach zwanzig Metern an der Tür zum Treppenhaus. Wieder nahm er all seinen Mut zusammen und öffnete langsam die Tür. Bevor er weiterging, horchte er aufmerksam in die Stille. Da war etwas. Er hielt den Atem an und hörte noch konzentrierter. Leise, aber es waren Schritte. Sie wurden lauter. Dann bestand kein Zweifel mehr, jemand war von unten über das Treppenhaus auf dem Weg nach oben.