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»Ich habe einen Zettel in Zurbriggens Folterkammer mit dem Hinweis auf seinen Computer zurückgelassen. Danach bin ich wieder nach oben, habe den USB-Stick in Zurbriggens PC gesteckt, die Beweisdateien ans BKA geschickt und den Reim als Bildschirmschoner angelegt. Danach habe ich die Standuhr in der Eingangshalle aufgezogen. Als ich an der Empfangstheke vorbeikam, sah ich ein rotes Lämpchen auf der Telefonanlage leuchten. Das warst du in deinem Zimmer, so um Viertel nach zwei. Ich ging noch einmal in Rita Mattfelds Wohnung, schrieb eine Antwort auf deine inzwischen eingegangene E-Mail mit einem Link auf die Berichterstattung über die Kaltenbach Morde. Dann hinterließ ich in Mattfelds Notebook noch eine Mail mit einem Reim, die ich absichtlich nicht abschickte. Danach ging ich noch einmal in den Keller und habe im Anschlussraum dafür gesorgt, dass niemand mehr telefonieren kann. Ich legte mich ins Bett und wartete ab, was geschah. Wie erwartet, haben die E-Mails an dich und der Gongschlag der Standuhr die Ereignisse ins Rollen gebracht. Alles andere weißt du.«
Martin spürte, dass seine Kräfte sich plötzlich, nahezu sprunghaft, dem Ende zu neigten. Es war wie der Akku eines Laptops, der noch eine Stunde Restlaufzeit aufwies, um schon ein paar Minuten später, den Geist aufzugeben. Die Schmerzen waren einfach zu stark. In seinem Kopf pochte es, als ob jemand darin mit einem Hammer auf einen Eisenamboss schlug. Ihm war schwindlig und andauernd verengte sich sein Gesichtsfeld. Lange würde er das nicht mehr aushalten.
Er sah, wie Selma nach links schaute. Ihr Gesicht gab keine Emotionen Preis. Er folgte ihrem Blick und sah die Bahn den Berg hinauf kriechen. Ein paar Sekunden lang verfolgten beide, wie der Zug zweihundert Meter entfernt von ihnen an der Station vorbei fuhr und schließlich an der Endstation hielt. Martin glaubte plötzlich, neben den anderen Menschen, die in den Abteilen saßen oder standen, um die Aussicht nach der anderen Seite zu genießen, seinen Vater und ... nein, das konnte nicht sein, Paul darin zu sehen. Dann war das Sichtfeld wieder versperrt.
Es mussten die Schmerzen sein. Sie hatten ihm ein Trugbild in sein Gehirn projiziert wie eine Fata Morgana in der Wüste. Mein Gott, dachte er im nächsten Augenblick. Wenn Selma ihn töten will, dann muss sie es jetzt tun, jetzt, wo die Leute kommen. Er zwang sich, gelassen zu bleiben, und weiter Fragen zu stellen, als ob nichts geschehen wäre.
»Warum hast du mir das alles erzählt, wenn du mich doch gleich umbringen wirst?« Seine Worte kamen langsam und abgehackt. Er war kaum noch in der Lage mit seiner Zunge die Worte zu formen.
Sie schaute auf die Uhr an ihrem Handgelenk und zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.
»Die Bahn ist spät dran. Wahrscheinlich hat die Lawine dafür gesorgt, dass ein Streckenabschnitt verschüttet wurde. Das erklärt aber nicht, warum der Helikopter vorhin beim Hotel gelandet ist«, sagte Selma mehr zu sich selbst.
Sie ging zurück auf die Plattform der Seilbahnstation und schaute vorsichtig hinauf zum Hotel. Es stand friedlich inmitten der Berge und es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass hinter diesen Mauern in der vergangenen Nacht so grauenvolle Dinge geschehen waren. Die Menschen stiegen gerade aus dem Zug und von oben sah sie einen einzelnen Mann wie einen schwarzen Strich im weißen Schnee, auf die Menge zu rennen.
Der Wind war fast vollständig abgeklungen. Die wenigen weißen Wolken am Himmel zogen träge voran und würden bald ganz verschwunden sein. Ein herrlicher Tag, um einen unversperrten Blick auf das Matterhorn zu erhaschen.
Sie wandte sich um und ging zurück zu Martin.
»Der Helikopter eben hat tatsächlich jemanden oben abgesetzt. Derjenige ist fündig geworden und teilt es gerade den Neuankömmlingen mit. Den Teil habe ich übrigens nicht im Voraus geplant. Aber es schadet auch nichts mehr«, sagte sie.
Sie beugte sich über Eddie Kaltenbach und nahm ihm das Telefonkabel ab, das er noch um seine Hände gewickelt hatte. Nachher, wenn sie Martin damit erdrosselt hatte, würde sie es wieder um Eddies Hände schlingen, damit es so aussah, als hätte dieser es getan.
Martin war sein Leben inzwischen egal. Aber was war mit Paul? War er vielleicht eben doch in der Bahn gewesen und stand jetzt da oben und suchte nach seinem Vater. Der Gedanke war unerträglicher, als die Schmerzen und gab ihm doch auf wundersame Weise Kraft. Wie sollte Paul ohne Eltern klarkommen? Er startete einen letzten verzweifelten Versuch.
Er dachte merkwürdigerweise an die Rocky-Filme. Dies war die letzte Runde und wie in den Filmen, gab es kein Unentschieden. Leider war seine Gegnerin noch nicht einmal angeschlagen, während er bereits vollends in den Seilen hing. Es gab nur noch eine Hoffnung, und die war fast so klein wie die Wahrscheinlichkeit, im Lotto zu gewinnen.
Ein Lucky Punch in der letzten Runde. Doch er hatte keine Ahnung, wie er das bewerkstelligen sollte. Dann fiel ihm etwas ein.
»Du sagst, meine Frau, Anna war deine beste Freundin, stimmt das?«
Selma sah ihn einen Moment lang an. Dann zuckte sie mit den Achseln und nickte.
»Ja, das sagte ich bereits. Anna und ich teilten unser Leid. Das schweißt zusammen. Außenstehende können da nicht mitreden.«
»Was war mit ihr los? Woher kam ihr Leid? Warum ist sie zu einem Therapeuten gegangen und hat mir nichts davon gesagt? Ich dachte, das geht vorbei. Sie war in der Gewalt eines Verbrechers und hatte Angst. Da war es normal, dass sie Angstzustände hatte. Aber es ging nicht vorbei. Es wurde immer schlimmer. Warum ist sie ihre Niedergeschlagenheit nicht mehr los geworden?«
Selma schloss die Augen. Ihre Schultern sackten zusammen. Es war, als hätte er mit seinen Worten alte Gespenster wieder aufleben lassen. Sie wirkte jetzt zum ersten Mal zerbrechlich.
»Ich habe den Tod Rita Mattfelds arrangiert wie den Tod deiner Frau. Es war eine Hommage. Ich habe dir E-Mails unter dem Namen deiner Frau geschrieben, auch das sollte dich darauf bringen, dass es da noch etwas gibt. Etwas Unausgesprochenes. Ein Geheimnis, das Anna mit ins Grab genommen hat. Sie bat mich zumindest, es dir nie zu sagen, und ich habe ihr geschworen, es nicht zu tun. Als ich ihr beim Sterben beistand, beendete ich damit ihr Leiden und dein Leiden begann.«
Martin wurde noch übler. Er begann, zu würgen, und zu husten.
»Ich frage mich nur, wie du deiner besten Freundin das antun kannst?«
»Was antun?«
»Wenn du mich umbringst, hat ihr Sohn, dann hat Paul niemanden mehr. Das hätte sie nicht gewollt.«
Selma schien darüber amüsiert zu sein. Sie schmunzelte. Irgendwie nahmen ihre Gesichtszüge einen friedlichen Ausdruck an.
»Ich werde keine neue Therapie mehr anfangen. Es ist so ähnlich wie bei den Verbrechern in den Filmen, am Ende sagen sie immer, ich gehe nicht wieder zurück in den Knast, lieber sterbe ich. Das hier ist so ähnlich. Ich dachte, mir würde es besser gehen, wenn ich die Übeltäter ausradieren würde. Aber es ist nicht so. Panikattacken, Angstzustände, Schlaf- und Essstörungen. Ein nicht Betroffener kann da nicht mitreden.«
»Selma, was willst du mir damit sagen«, drang Martin weiter in sie. Sie hatte auf seine letzten Fragen gar nicht geantwortet.
Sie schaute ihn entgeistert an. Merkte erst jetzt, dass sie einen Monolog mit sich selbst geführt hatte. Einen kurzen Moment schwieg sie. Dann schaute sie ihn hellwach und neugierig an, so als ob gerade ein neuer Plan in ihr gewachsen wäre.
»Ich stelle mir gerade eine interessante Frage«, sagte sie. »Was wäre Anna lieber gewesen, dass ich dich töte, oder dass ich dich am Leben lasse, aber dafür, das ihr gegebene Versprechen breche und dir doch ihr Geheimnis verrate. Sag du es mir.«
Martin war überrascht und gleichzeitig entsetzt über den Wahnsinn, von dem ihr Gerede zeugte.
»Wir haben uns geliebt und ich bin Pauls Vater. Er braucht mich. Sie hätte mir lieber ihr Geheimnis verraten, als dass ich sterbe, denn sie hätte gewollt, dass ich für Paul da sein kann. Schlimmer als der Tod, kann kein Geheimnis sein.«
Selma beugte sich dicht vor ihn. Er konnte ihren Atem riechen.
»Da bin ich mir eben nicht so sicher. Doch wenn ich es recht bedenke, dann ist dieses Ende doch viel mehr in meinem Sinn. Jetzt da ich merke, dass auch die Rache mir keine Linderung brachte.«
Martin verstand nichts von dem, was sie sagte. Sie redete in Rätseln, aber er spürte, dass er jetzt eine reelle Chance hatte. Dennoch verursachte alles an Selma ein Grauen in ihm, die Art wie sie redete, langsam fast benommen, wie unter Drogen stehend.
Dann öffnete sich ihr Mund und jetzt war sich Martin nicht mehr sicher, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
»Es hat mit dem Prozess zu tun, wie alles, was sich seit gestern Nacht hier abgespielt hat«, begann sie. »Udo Kaltenbach ist in euer Haus eingedrungen und hat Annas Leben bedroht. Er hat dich angerufen, als du auf dem Weg zum Gericht warst. Er sagte, er würde Anna töten, wenn du deine belastende Aussage gegen Eddie Kaltenbach nicht widerrufst.«
Martin sah sie mit zusammengekniffenen Lippen an. Und irgendwie wusste er schon, bevor sie es sagte, was kommen würde.
»Udo hat sie nicht nur bedroht. Er hat Anna vergewaltigt.«
»Nein«, schrie Martin, »Du lügst.« Tränen rannen ihm über die Wangen. Jetzt hatte er das Gefühl, verrückt zu werden. Doch es sollte noch schlimmer kommen und er wusste es.
»Paul ist nicht dein Sohn. Er ist der Sprössling des Vergewaltigers und Eddie, die Bestie, ist sein Onkel.«
Jetzt wollte Martin schreien, so laut er konnte. Doch es kam nur ein trockenes Krächzen. Der Schmerz in seinem Herzen raubte ihm fast den Verstand. Er verstand nun plötzlich alles. Selma machte unter dessen ungerührt weiter.
»Anna hat es nicht ertragen. Sie hatte in Pauls Gesicht nicht ihres oder deines gesehen, sondern das ihres Vergewaltigers. Und je älter der Junge wurde, desto mehr ähnelte er diesem Monster. Deshalb wurde sie depressiv und deshalb hat sie sich umgebracht. Die Ähnlichkeit mit Udo Kaltenbach war nicht von der Hand zu weisen. Doch Väter von Kuckuckskindern sehen so etwas nie.«
Martin weinte jetzt hemmungslos. Paul war nicht sein Sohn. Anna hatte ihm nie von der Vergewaltigung erzählt, weil sie Angst hatte, Martin würde sich von ihr und Paul abwenden. Als sie sich umbrachte, konnte sie sicher sein, dass Martin niemals an seiner Vaterschaft zweifeln würde. Nur Selma wusste noch davon, und warum hätte ihre beste Freundin Martin davon erzählen sollen. Nur war Selma, was Anna nicht wusste, auch diejenige, die Martin hasste.
»Jetzt bist du derjenige, der mit der Wahrheit leben muss. Das ist eine viel größere Strafe, als der schnelle Tod. Ich denke, diese Erlösung hat Gott mir zugedacht, das war Gottes wahrer Plan, als er mich beauftragte, Rache zu nehmen, erst jetzt habe ich das verstanden.«
Sie hob die Waffe und drückte den Lauf seitlich unter das rechte Ohr. Sie sah Martin noch einmal fest in die Augen, so als ob sie ihre Entscheidung noch einmal überdenken würde. Dann drückte sie unvermittelt ab. Der Schuss war ohrenbetäubend laut. Die großkalibrige Waffe ließ nur noch Fragmente ihres Schädels zurück.