Die erste Nacht
Die Lider öffneten sich einen Spalt breit. Zwischen den Wimperreihen kamen zwei müde Augen zum Vorschein. Milia ließ sich zurück in den Schlaf fallen, setzte ihren Traum fort. Eine kleine weiße Kerze. Ihr schwaches Licht flackert im Nebel. Die Kerze in der Hand, geht Mansûr dem Taxi voran. Der Wind peitscht seinen langen Mantel. Das Gesicht ist nicht zu erkennen. Unwillkürlich griff Milia nach dem Glas Wasser, das sie vor dem Schlafengehen gewöhnlich auf den Nachttisch stellte. Doch da war kein Wasser. Sie hatte schrecklichen Durst, spürte eine rissige Trockenheit an Zunge und Gaumen. Der linke Oberarm, eingeklemmt zwischen Kopf und Kissen, war eingeschlafen. Wie von Ameisen befallen, kribbelte er bis hinauf in den Hals. Sie befreite ihren Arm, wälzte sich auf den Rücken, griff instinktiv nach dem Glas Wasser. Doch da war kein Tisch. Erschrocken schoss sie hoch, saß kurz aufrecht und ließ sich langsam zurücksinken, bis sie mit dem Nacken am Kopfteil des Bettes anstieß. Das Bett war aus Holz. Aber wo war die Wand? Die weiße Wand, an die sie sonst den Kopf lehnte, sodass ihr die abplatzende Farbe ins Haar bröselte? Milia kreuzte die Arme vor der Brust, merkte, dass ihr Oberkörper nackt war. Angst befiel sie, Kälte kroch ihr in die Beine. Um das Zittern zu bändigen, legte sie die rechte Hand auf die Schenkel. Die Schenkel waren ebenfalls nackt. Sie ließ die Hand aufwärts wandern, ertastete am Schoß kaltes, geronnenes Blut.
»Die Ehe«, murmelte sie in sich hinein und schloss die Augen.
Wie der schwarze Schatten eines Schattens schwebt Milia die Szene von Dahr al-Baidar vor. Im schwarzen Hochzeitsanzug, darüber einen langen olivgrünen Mantel, in der Hand eine kleine Kerze, geht Mansûr Haurâni dem Taxi voran. Sie, im weißen Brautkleid, sitzt auf der Rückbank, umhüllt von Dunkelheit, in ihrem Blickfeld die glänzende weiß-schuppige Glatze des Chauffeurs. Sobald sie Nazareth in Galiläa erreicht hätten, würde sie Mansûr etwas offenbaren. Ihm offenbaren, dass sich ein gewisses Bild von ihm in ihr Gedächtnis gegraben habe. Das Bild von ihm als einem schwarzen, unsicher durch eisige Kälte wankenden Gespenst, gefolgt von einem Auto, dessen Scheinwerfer den dichten Gebirgsnebel von Dahr al-Baidar nicht zu durchdringen vermochten.
Am Samstag, dem 12. Januar 1946 um 15 Uhr gaben sich Mansûr und Milia in der Erzengel-Michael-Kirche mit dem Segen von Pater Bûlus Sâba das Jawort. Im Anschluss an die Zeremonie trat das Brautpaar ins Freie, nahm, umringt von Milias Familie, vor der Kirche die Glückwünsche entgegen. Milia konnte vor Tränen nur schwer die Gratulanten erkennen. Die Tränen liefen nicht, sondern sprangen ihr wie zum Flug ansetzend aus den Augen und landeten kurz darauf auf den weißen Wangen. Mansûr lächelte breit, sodass zwischen seinen schmalen Lippen die kleinen weißen Zähne zum Vorschein kamen. Darauf, dass seine Braut weinte, machte ihn erst die Äußerung ihrer Mutter aufmerksam.
»Nicht doch, Milia!«, sagte sie. »Schließlich ist das eine Hochzeit und keine Beerdigung!«
Als alle Gäste, jeder mit einer Silberdose voll Süßigkeiten, gegangen waren und auf dem Kirchplatz nur noch die engere Verwandtschaft stand, drückte die Mutter ihre Tochter fest an sich. Von einem Weinkrampf geschüttelt, lagen sich die beiden in den Armen.
»Ach Kind, du brichst mir noch das Herz«, schluchzte die Mutter und schob Milia von sich. »Das Weinen überlass uns. Du musst dich freuen!«
Tränen würgend lächelte Milia. Die Mutter gewann die Beherrschung zurück und beglückwünschte das Brautpaar, um das sich die Brüder der Braut drängten, mit einem Jubeltriller. Milia schaute Mûsa an, bemerkte, dass sich seine Pupillen verengten, und witterte Gefahr. Unwillkürlich hob sie die Hand, wie um Mansûrs Gesicht vor den Blicken ihres jüngsten Bruders zu schützen.
Milia öffnete die Augen. Sie sah nichts. Nur Dunkelheit. Jenen rätselhaften Traum wollte sie unbedingt fortsetzen. Denn trotz aller Angst, die sie spürte, verlieh er ihr ein Gefühl der Geborgenheit. Endlich waren die nächtlichen Visionen wieder da. Endlich träumte sie wieder. Milia sah sich selbst im Traum. Ein kleines Mädchen, sieben Jahre alt, dunkelhäutig, mit kurzen schwarzen Locken. Um sie herum Menschen. Rastlos rennt sie zwischen ihnen umher. Sie sieht alles. Und wenn sie morgens, aus dem Schlaf erwacht, von ihren nächtlichen Erlebnissen erzählte, erntete sie von allen erstaunt beklommene Blicke. Denn wie Prophezeiungen bewahrheiteten sich stets ihre Träume. Hier in diesem fremden Bett dagegen, umgeben von Dunkelheit, so dicht, dass sie auf die Augen drückte, erschien sie sich im Traum als erwachsene Frau. Vierundzwanzig Jahre alt. Nackt in einem Bett, das nicht das ihre war. Der Kopf auf einem Kissen ruhend, das nicht das ihre war.
Milia öffnete die Augen, wollte den Traum ordnen, sank erneut in den Schlaf. Doch sie sah nichts. Nur zwei ins Dunkel starrende Augen.
Sie riss die Augen auf, sah ihre eigenen Augen, brach in Panik aus.
Sich an den Paternosterbaum lehnend, bewundert er ihre Schönheit. Ihre Augäpfel, sagt er, seien nicht reinweiß, sondern hätten einen Anflug von Zartblau, einen Hauch von Himmel. Von ihrer weißen Haut, ihren honigfarbenen Augen, ihrem langen Hals und dem kastanienbraunen, über die Schultern wallenden Haar hingerissen, sei er, so seine Worte, aus der Ferne angereist, um sie zu heiraten. Denn er liebe sie.
Wo hat er all das gesagt?
Weshalb folgte ihr dieser Traum aus dem Schlaf in den Wachzustand? Weshalb sah sie nichts als zwei ins Dunkel starrende Augen?
Milia wollte aufstehen und sich ein Glas Wasser holen. Dann aber sah sie sich im Spiegel ihrer Augen. Nackt und weiß. Unwillkürlich schloss sie die Augen. Sie will den Mann, der mit abgewandtem Gesicht neben ihr schläft, in den Wagen zurückrufen. Denn sie hat Angst um ihn. Die Augen geschlossen, sieht sie sich selbst. Sie gleitet aus, fällt taumelnd in den weißen Nebel. Ihr Durst ist verflogen, kaum dass sie die Frau sieht. Nackt liegt sie da. Sie blickt auf eine beschlagene Windschutzscheibe. Vor dem Auto ein Mann im schwarzen Anzug, darüber ein olivgrüner Mantel. In der Hand eine flackernde Kerze, geht er voran, wie um eine Bresche in den Nebel zu schlagen.
Stille. Eine nackte Frau. Ein Auto. Im Schritttempo fährt es durch den Nebel. Der Fahrer reckt den Kopf über dem Steuer vor, versucht durch die weißfleckig beschlagene Scheibe die Straße zu erkennen. Vor dem Wagen ein Mann. In der Hand eine weiße Kerze, eingeschlossen von dichtem weißem Nebel.
Die Kerze erlischt. So zumindest kommt es Milia vor. Der Mann hält unvermittelt an, bleibt mitten auf der Straße stehen. Er öffnet den Mantel, wohl um die Kerze, geschützt dicht am Körper, anzuzünden. Er beugt sich vor. Sein Rücken ist gekrümmt, der Mantel vom Wind gebläht. So steht er reglos. Der Fahrer atmet hörbar, immer lauter, keucht. Er kurbelt das Fenster herunter, streckt den Kopf hinaus und ruft. Was, ist nicht zu verstehen.
Milia friert. Ein stechender Schmerz fährt ihr in den Bauch. Sie will sich wärmen, schlingt den braunen Mantel fest um den Körper, presst die Arme an die Brust. Ihre Zähne klappern. Umhüllt von Mantel und Dunkelheit verharrt sie. Die Kerze ist überflüssig, denkt sie. Sie überlegt, ob sie aus dem Auto steigen und dem Mann sagen soll, dass die Kerze wohl kaum etwas bewirken wird. Schließlich kommen nicht einmal die Scheinwerfer gegen den Nebel an. Er soll wieder ins Auto steigen, will sie ihm sagen. Aber sie traut sich nicht hinaus. Denn sie ist nackt, und sie friert.
Wer hat das Bett ins Auto gestellt? Wieso war sie nackt?
Zum Schlafen trug sie doch immer ein knöchellanges blaues Nachthemd und darunter einen BH. Seit sie einmal den Hängebusen ihrer Großmutter gesehen hatte, verzichtete sie niemals mehr auf einen BH. Um nicht irgendwann auch so auszusehen, schlief sie sogar damit. Jetzt aber trug sie weder Nachthemd noch BH.
Den Oberkörper ans Steuer gepresst und die Augen an die Windschutzscheibe geheftet, atmet der Fahrer zunehmend lauter. Milia fürchtet sich. Der Mann draußen im Nebel scheint sich immer weiter zu entfernen. Scheint abzuheben. Scheint, vom windgeblähten, flatternden Mantel getragen, das Tal zu überfliegen.
Milia sah sich im Traum. Eine strahlend weiße Erscheinung. Weshalb sie im Traum plötzlich weiß war, konnte sie sich nicht erklären. Der Körper, in den sie tagsüber schlüpfte, war nicht der ihre. Vielmehr spiegelte er das, was die anderen sehen wollten. Ihre Mutter wünschte sich eine weißhäutige, mollige Tochter. Also nahm Milia ihr zuliebe am Tag eine weiße, mollige Gestalt an. Nachts dagegen gehörte ihr Körper ihr. Im Traum war sie immer sieben Jahre alt, brünett, schlank und hatte riesig große, fast das ganze Gesicht einnehmende Augen, gekrönt von langen, schmalen Brauen. Außerdem hatte sie schwarze Locken und eine zierliche, wie mit feinem Pinselstrich gezeichnete Nase. Sie trug Shorts und an den Füßen keine Schuhe. Die Augen waren keineswegs honigfarben, wie die Menschen am Tag zu sehen meinten, sondern grün, umgeben von Weiß mit einem kaum wahrnehmbaren Stich ins Hellblaue.
Milia liebte die Nacht. Liebte es, durch die Gefilde der Nacht zu streichen. Mit weit geöffneten Augen im Bett liegend, gab sie sich der Nacht hin. Wenn die Dunkelheit am dichtesten war, schloss sie die Augen und tauchte in die Welt der Träume. Am Morgen wieder erwacht, wischte sie die Träume nicht fort. Nein, sie ließ die Spuren verlaufener Tinte ihre Augen umspielen, um jederzeit wieder in jene andere Welt hineinfallen zu können. Sie brauchte nur die Augen zu schließen, dann verblassten im Nu Stimmen und Licht, und sie konnte ungehindert entschweben. Dorthin, wo sie alles sah. Wo sie Geheimnisse enthüllte.
Milia hat keinem Menschen je verraten, dass sie ihre Träume der Dunkelheit anvertraute. Dass sie ein tiefes Loch in die Dunkelheit gegraben hatte, in dem sie all ihre Träume aufbewahrte. Und dass sie bei Bedarf jenen geheimen Ort aufsuchte und diejenigen Traumsequenzen, nach denen ihr der Sinn stand, zutage förderte, um sie erneut zu träumen.
Dieser eine Traum jedoch entsprang dem Nichts. In der Traumgrube gab es solch eine Milia nicht. Die Nacht-Milia war eine andere als die Tag-Milia. Wie kam es also, dass die Bilder des Tages sich in den Traum eingeschlichen hatten? Lag es daran, dass sie geheiratet hatte? Wirkte sich die Ehe etwa so aus?
Milia fühlt sich dem Ersticken nahe. Sie zittert vor Kälte. Die Nacht wird zum Brunnen. Sie kauert auf dem Grund des Brunnens. Der Fahrer atmet immer lauter. Sein Atem streift ihren Hals. Er keucht wie schmerzgequält. Sie will ihn fragen, was mit ihm sei. Aber sie hat keine Stimme mehr. Sie will den Kopf vom Kissen heben. Aber der Kopf ist entsetzlich schwer. Unvermittelt steigt der Fahrer aus dem Wagen. Dann ist er verschwunden. Mansûr ist auch verschwunden. Nackt und alleingelassen liegt die Frau im Bett. Um sie herum Nebel und rieselnder Schnee. Sie will den linken Fuß heben. Aber er ist vor Kälte starr. Sie spürt, dass sie aus dem Bett fällt. Ein heftiger Schmerz dringt in ihren Schoß. Ein Messer sticht auf sie ein. Blut. Sie schreit. Will schreien, dass der Fahrer sie vergewaltigt. Aber sie hat keine Stimme mehr. Ihr Mund ist voll Watte.
Allein in Dunkelheit und Kälte. Milia will die Augen öffnen und aus dem Traum heraustreten. In dem Moment sieht sie ein weißes Gesicht mit weißen Flügeln. Sie greift mit der rechten Hand danach, Federn bleiben an ihren Fingern haften. Sie schreit um Hilfe. Er hört sie nicht. Sie möchte nach Hause, sie hat genug von der Ehe, will sie sagen. Aber sie sagt es nicht. Das geflügelte Gesicht kreist über dem Auto, über dem Tal, über den beiden Männern. Es weht davon, verliert Federn. Weiße Federn schweben wie Schneeflocken im schwachen Scheinwerferlicht zu Boden.
Sie wolle die Flitterwochen nicht in Schtûra verbringen, sagte sie. In Dahr al-Baidar schneie es. Und es sei eiskalt. Der Aufenthalt im Hotel Masâbki sei völlig unnötig. Und die Flitterwochen auch, sagte sie. »Lass uns zwei Tage bei meiner Familie in Beirut bleiben und dann nach Nazareth fahren.«
»Es ist tiefster Winter«, sagte ihre Mutter. »Im Winter verbringt dort kein Mensch seine Flitterwochen. Kommt doch im Sommer wieder, dann könnt ihr dort eure Flitterwochen verbringen.«
Die Nonne Mîlâna riet, bei dieser Kälte besser nicht nach Schtûra zu fahren. »Es ist zwar nicht gefährlich. Aber ein derart unsinniges Abenteuer sollte man lieber aufschieben.«
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!«, entschied Mansûr. Er bestand auf der Fahrt nach Schtûra. »Seine Flitterwochen muss man einfach im Masâbki-Hotel verbringen!«
Mûsa runzelte die Stirn.
»Dein Mann will unbedingt nach Schtûra fahren. Dann soll er es auch. Also tu ihm den Gefallen und lass dich drauf ein. Wird schon gut gehen.«
Der amerikanische Wagen fuhr vor. Milia im langen Brautkleid nahm neben Mansûr auf der Rückbank Platz. Jubeltriller gellten. Milia konnte nur mit Mühe ihre Mutter verstehen, die ihr durch das Fenster noch schnell ein paar Abschiedsworte und gute Ratschläge von Frau zu Frau ins Ohr flüsterte. Mûsa trat ans Auto und warf dem Brautpaar zwei Mäntel zu. Seinen olivgrünen und den braunen der Mutter. Sekundenlang schaute er Milia in die Augen und wandte sich dann Mansûr zu.
»Meinen Glückwunsch, Bräutigam!«, sagte er knapp und ging.
Das Auto fuhr los. Drinnen herrschte vollkommene Stille. Zu hören war nur der Beiruter Regen, der wie in Strippen fiel und prasselnd auf den Wagen trommelte. Milia schloss die Augen, öffnete sie, als Mansûr sie auf den Hals küsste.
»Nicht jetzt, später!«, wehrte sie ab, schob ihn von sich und sank wieder in den Schlaf. Das Auto schlängelte sich auf der kurvenreichen Straße die Berge hinauf. Den Kopf an die Wagentür gelehnt, schlief Milia. Sie öffnete die Augen, geweckt von Mansûrs Stimme. Er hieß den Fahrer weiterfahren. Das Auto stand still. Mitten in dichtem weißem Nebel. Milia schloss die Augen. Mansûrs Stimme aber war unangenehm laut, sodass sie zwangsläufig die Augen wieder öffnete.
Er könne nicht weiterfahren, weil er die Straße nicht sehe, widersprach der Fahrer.
Mansûr öffnete die Tür, sprang auf die Straße. Zwei Schritte, und er stand vor dem Wagen. Er drehte sich um und gab dem Fahrer per Handzeichen zu verstehen, dass er ihm folgen solle. Schlitternd bewegte sich Mansûr vorwärts. Das Auto rührte sich nicht von der Stelle. Mansûr machte kehrt, nahm Mûsas olivgrünen Mantel vom Rücksitz, zog ihn über. Er gehe jetzt voraus, sagte er und wies den Fahrer an, hinter ihm herzufahren.
Mansûr sei verschwunden, glaubte Milia. Sekundenlang hatte sie ihn nicht sehen können. Eisiger Wind schlug ihr ins Gesicht. Schneeflocken drängten sich im dichten Nebel. Milia hatte ihren Mann verloren. Kurz darauf tauchte er wieder vor der Windschutzscheibe auf. Er sah aus wie ein Gespenst, das den Wind zu erklimmen versucht.
»Tut mir leid, Verehrteste«, sagte der Fahrer. »Aber der Bräutigam ist übergeschnappt. Was soll ich machen?«
Vor Kälte und Angst schlotternd, schwieg Milia.
»Nun sagen Sie schon! Was soll ich machen?«, wiederholte er seine Frage.
»Fahren Sie ihm hinterher«, sagte Milia mit erstickter Stimme.
»Die Braut ist auch übergeschnappt! Himmel Herrgott, in was für einen Schlamassel bin ich geraten!«, schimpfte der Fahrer und trat aufs Gaspedal, worauf der Wagen ins Rutschen geriet.
Milia sah Mansûr. Die erloschene Kerze in der linken Hand, ging er voran. Das Gesicht dicht an der Windschutzscheibe, folgte der Fahrer dem windgeblähten olivgrünen Mantel im Schritttempo.
Er drehte den Kopf nach hinten. Milia sah zwei tiefschwarze Pupillen. Wie erloschene Kohlen sahen sie aus. Die Augen bohrten sich in sie hinein. Der Fahrer krächzte. Das Krächzen jagte ihr einen Schreck ein. Er solle nach vorne schauen und das Steuer richtig festhalten, forderte sie ihn auf. Denn die Reifen hatten keinen Halt, glitten über das Eis. Er aber wandte den Blick nicht von ihr. Ließ den Wagen langsam weiterrutschen, murmelte in einem fort unverständliches Zeug in sich hinein.
»Was sagen Sie da?«, fuhr ihn Milia an.
»Wer verbringt seine Flitterwochen mitten im Winter in Schtûra! Ihr Mann ist nicht mehr ganz bei Trost!«, sagte er.
Milia starrte in die Dunkelheit vor sich, merkte plötzlich, dass die vermeintlichen Pupillen zwei Dellen im haarlosen, von übelriechenden Fettflecken übersäten Hinterkopf des Fahrers waren. Die Schamröte von ihren Wangen verflog. Kälte kroch ihr wieder in die Knochen. Ihre Zähne klapperten. Sie presste die Lippen aufeinander, schloss die Augen, zusammengekauert am äußersten Ende der Rückbank.
Was der Fahrer alles gesagt hatte, wusste Milia nicht. Eines aber wusste sie genau: Er hatte viel geredet, viel geschimpft. Außerdem hatte er, um etwas zu sehen, wiederholt die Autotür geöffnet. Der rieselnde Schnee klang wie Geflüster. Eiskalter Wind schlug ihr ins Gesicht.
Milia wollte aus dem Traum erwachen. Wollte mit dem Mann sprechen, der in einem anderen Traum ihr Ehemann war. Sie öffnete die Augen, rieb sich die Wangen, fand sich im Auto wieder. Mansûr saß nicht neben ihr. Er war draußen, in weiter Ferne, lief durch den Sturm. Der Fahrer dagegen saß vor ihr, starrte sie aus seinen Pupillen an.
»Schlafen Sie um Himmels willen nicht ein! Bitte!«, sagte der Fahrer.
Milia sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sah zwei rote Pupillen in seinem Hinterkopf. Die Pupillen bewegten sich. Vor Schreck entfuhr ihr ein Schrei.
»Heilige Jungfrau! Heilige Mutter des Lichts! Heilige Mutter Gottes, erlöse deine Diener!«, rief sie und sank wieder in den Schlaf.
Milia entging, was in dem Augenblick geschah. Sie hörte den Fahrer nicht. Hörte nicht, wie er »ein Wunder« rief. Sie sah auch nicht, dass Mansûr anhielt und am Straßenrand auf das Auto wartete.
Kaum hatte Milia »Heilige Jungfrau« gerufen, klarte es auf. Licht brach durch den Nebel, und es hörte auf zu schneien. Der Fahrer hielt an, um Mansûr aufzunehmen, und drehte sich nach Milia um. Er wollte das Gesicht der Frau sehen, die mit ihrem Aufschrei das Wunder bewirkt hatte. Milia aber schlief. Träume umspielten ihre geschlossenen Augen. Ein Wunder sei geschehen, verkündete der Fahrer. Milia räkelte sich, rieb die Augen, lächelte. In dem Augenblick öffnete Mansûr die Tür und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.
»Was für eine eisige Kälte!«, kommentierte er.
»Wie soll ich nach Beirut zurückkommen?«, fragte der Fahrer, während er das Auto talwärts in die Bekaa-Ebene rollen ließ.
»Neblig ist es offensichtlich nur oben auf dem Bergkamm«, stellte Mansûr fest. »Wir haben es überstanden.«
»Und wo soll ich schlafen?«, fragte der Fahrer.
»Ich dachte, ich würde weggefegt werden. Ich bin regelrecht geflogen!«, berichtete Mansûr und drehte sich nach Milia um. Sie kauerte bibbernd auf der Rückbank, gehüllt in den braunen Mantel, der mitbebte.
»Die Braut«, sagte der Fahrer.
»Was ist mit der Braut?«, fragte Mansûr.
»Sie hat ›Heilige Jungfrau‹ gerufen. Da verschwand augenblicklich der Nebel, und es hörte auf zu schneien. Die Braut hat ein Wunder vollbracht«, sagte der Fahrer.
»Milia«, sagte Mansûr und musste niesen. Immer wieder. Am ganzen Leib zitternd und zähneklappernd, gab er seltsame Töne von sich, wie tiefe Seufzer.
»Reiben Sie sich die Hände!«, riet der Fahrer.
Mansûr schien gegen eine Ohnmacht anzukämpfen.
»Halb so schlimm«, sagte der Fahrer. »Da müssen Sie jetzt durch. Schließlich wollten Sie weiterfahren. Also beherrschen Sie sich!«
Mansûr versuchte sich zu beherrschen. Seine Kräfte aber ließen ihn im Stich. Brust, Arme und Beine schlotterten in einem fort. Er hatte das Gefühl zu ersticken.
»Kümmern Sie sich doch endlich um Ihren Mann«, fuhr der Fahrer Milia an. »Er ist ganz blau im Gesicht und bekommt kein Wort mehr heraus.«
Milia setzte sich auf.
»Entspanne dich, Liebling«, sagte sie, Mansûr über das Haar streichend. »Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir im Hotel im Warmen.«
Allmählich legte sich das Zittern, der Atem beruhigte sich.
»Keine Sorge, Milia«, sagte er nach einer Weile. »Ich bin zäh. Mir geht es wieder besser.«
Kaum ausgesprochen, erfasste ihn ein Niesanfall. Er bat um ein Taschentuch. Der Fahrer bot ihm seines an. Er wies es zurück. Da reichte ihm Milia ihres. Reichte ihm das weiße Taschentuch mit Spitze, das sie von ihrer Großmutter geerbt und all die Jahre, unangetastet im Schrank, für die Hochzeit aufbewahrt hatte. Mansûr nahm das Taschentuch. Den Kopf leicht vorgebeugt, schnäuzte er die Nase, räusperte sich und spuckte.
Wie sie das Hotel erreichten, wusste Milia nicht mehr. Sie erinnerte sich nur noch an Nebel, Sturm und Schnee auf dem Bergkamm von Dahr al-Baidar. Erinnerte sich, dass Mansûr ausgestiegen, vor dem Wagen hergegangen, im Nebel verschwunden war. Erinnerte sich, dass der Fahrer ihrem Mann am Eingang des Bergdorfes Saufar wegen der Witterungsverhältnisse die Weiterfahrt nach Schtûra auszureden versuchte. Dass Mansûr sich von seinem Vorhaben nicht abbringen ließ. Dass der Fahrer sie darauf um Beistand bat, ja beschwor. Dass sie etwas sagen wollte, sich Mansûrs missbilligender Blick aber in ihre Lippen bohrte und sie außer Gefecht setzte. Sie sah, wie sein dichter schwarzer Schnurrbart zuckte, stellte sich Mansûr mit rotem Tarbûsch1 auf dem Kopf vor, und Liebe zu ihm übermannte sie.
Im Auto, während draußen der Sturm tobte und drinnen der Fahrer flehend auf Umkehr drängte, überkam Milia die Liebe, auf die sie lange gewartet hatte. Sie purzelte ihr sozusagen ins Herz. Milia spürte einen Schmerz zwischen den Rippen. Es war, als sei ihr Herz plötzlich gefallen. Sie erschrak, wollte schluchzen, traute sich aber nicht. Sie hielt den Atem an. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. Das sei die Liebe, dachte sie. Anfangs hatte sie keine Gefühle für ihn. Zufällig hatte sie ihn gesehen. Er stand im Garten der Nachbarn. Sie hatte aus dem Fenster geschaut und ihn zufällig entdeckt. Reglos stand er unter der Palme, schaute sie an, versuchte, ihren Lippen ein Lächeln zu entlocken. Immer lächelte er. Den Blick wandte er erst ab, wenn sie sich, die Wangen vor Scham gerötet, zurückzog.
»Was will dieser Fremde?«, fragte ihre Mutter.
Milia wusste nichts über ihn. Sich in ihn zu verlieben lag ihr völlig fern. Denn sein Haar glänzte wie geölt. An den Schläfen war er weiß, was in ihren Augen darauf deutete, dass er uralt war. Milia sah in ihm daher nicht den ersehnten Prinzen, sondern einen Vater. Einen Vater auf der Suche nach seiner verlorenen Tochter. Dennoch nahm sie seinen Antrag an, verriet aber keinem Menschen je ihre Beweggründe.
Mansûr sei ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Deshalb habe sie eingewilligt, sagte sie zu Mûsa.
Sie habe das Warten satt und wolle endlich heiraten, sagte sie zu ihrer Mutter.
Sie wolle der erdrückenden Atmosphäre entfliehen, die zu Hause herrschte, seit Salîm nach Aleppo gezogen war und die Mutter nur noch krank war, sagte sie zu Schwester Mîlâna.
Er sei alt, bemerkte sie, als sie sich das erste Mal mit ihm unterhielt.
»Ich?«
Sie zeigte auf die weißen Koteletten.
»Die ersten grauen Haare hatte ich schon mit zwanzig. Graue Haare machen einen zum Löwen. Im Tierreich werden nämlich nur Löwen grau. Ich bin siebenunddreißig und werde vor meinem vierzigsten Lebensjahr heiraten. Das erste Prophetenalter ist an mir vorbeigezogen, ohne dass ich geheiratet habe. Das zweite dagegen werde ich nicht verstreichen lassen. Sonst ist es endgültig vorbei.«
Milia verstand nicht, was er meinte, und lächelte. Er fasste sich ein Herz und gestand ihr seine Liebe.
»Lieben Sie mich auch?«, fragte er.
»Ich kenne Sie doch gar nicht! Wie soll ich Sie da lieben?«
»Ich liebe Sie, obwohl ich Sie nicht kenne«, sagte er. »Ich spüre Sie in meinem Inneren. Spüren Sie mich auch?«
Milia nickte. Nicht, um zu bejahen, sondern weil sie es nicht wusste. Mansûr deutete die Geste als ein Ja.
»Es bestehen also Chancen?«, fragte er.
Sie ließ den Blick in die Ferne schweifen und schloss die Augen.
Was es mit den beiden Prophetenaltern auf sich hatte, verstand Milia erst im Masâbki-Hotel in Schtûra.
In der zweiten Nacht nach der Hochzeit näherte er sich ihr.
»Nein. Ich bin müde«, wehrte sie ab, drehte sich um und schlief ein.
Als sie tief und gleichmäßig atmend schlummerte, schlich er sich von hinten an sie heran, streichelte sie, drehte sie auf den Rücken und nahm sie. Milia bemerkte an sich und auf dem Laken feuchte Flecken. Ein Schauder befiel sie. Sie wollte ins Bad gehen, hatte keine Kraft in den Beinen, schloss die Augen und versuchte wieder einzuschlafen.
»Wach auf! Wach auf! Du kannst doch jetzt nicht schlafen!«
Milia riss die Augen auf, hob den Kopf, lehnte ihn an das Kopfteil des Bettes, sah Mansûr. Sein Oberkörper war nackt. Er hatte eine Zigarette im Mund und ein Leuchten in den Augen.
»Du bist so schön! Schau dich im Spiegel an. Durch die Liebe wird eine Frau noch viel schöner!«
Milia schloss die Augen, hörte ihm zu. Er sprach von seinen verschiedenen Lebensaltern. Das Jesus-Alter sei an ihm vorbeigezogen. Das Muhammad-Alter jedoch werde er auf keinen Fall verpassen.
Milia verstand nicht. Trotzdem fragte sie nicht nach. Sie spürte ein Brennen im Unterleib, wollte trinken, schämte sich aber wegen der Flecken am Nachthemd aufzustehen.
»Jesus wurde mit dreiunddreißig ans Kreuz geschlagen. Muhammad trat mit vierzig als Prophet in Erscheinung. Ein Mann muss in einem dieser beiden Lebensalter zum Mann werden. Andernfalls ist es endgültig aus. Die erste Gelegenheit habe ich verpasst. Bei der zweiten bin ich dir begegnet.«
»Der Fahrer hatte Recht«, flüsterte sie. »Du bist wirklich verrückt.«
Die Liebe brach im Auto über sie herein. Milia schloss die Augen, suchte nach dem Tarbûsch ihres Onkels, um ihn Mansûr aufzusetzen, und fand ihn. In ihrer Traumgrube.
Sie sieht Mansûr. Am Körper das weiße Seidengewand von Onkel Mitri, auf dem Kopf, etwas nach vorn gekippt, einen Tarbûsch. In der Hand ein dünnes Bambusrohr, folgt er ihr auf Schritt und Tritt. Das Rohr berührt ihre dunklen, nackten Füße. Sie soll gefälligst ihr Brot essen, brüllt der Mann im Gewand. Milia, in Shorts, hüpft, um sich vor den Rohrschlägen zu retten, von einem Bein aufs andere. Ihre Füße brennen wie Feuer. Das Rohr lässt ab von ihr. Sie hockt sich auf den Boden und macht sich über die aufgerollte mit Labna2 und Olivenöl bestrichene Fladenhälfte her. Der Geschmack von weißen Zwiebeln und grüner Minze breitet sich auf ihrer Zunge aus. Sie isst und isst. Der Fladen nimmt kein Ende. Milia dreht sich zu ihrem Onkel hin und lädt ihn ein mitzuessen. Er kommt, verschlingt das Brot mit einem Bissen. Milia reißt ihm das Rohr aus der Hand, rennt davon. Er rennt ihr hinterher. Sie kommt in einen üppig wuchernden grünen Garten, springt über Wasserpfützen. Seine Stimme gellt hinter ihr her. Sie soll stehen bleiben und ihm das Rohr zurückgeben, donnert die Stimme. Milia fällt hin. Hechelnd liegt der Onkel auf ihr. Sie öffnet die Augen. Onkel Mitri war nicht mehr da, der Tarbûsch auch nicht. Sie saß im Taxi umschlossen von dichtem Nebel.
Der Onkel war verschwunden, hatte aber einiges zurückgelassen. Ein Lächeln auf den Lippen der Frau. Einen roten, schräg nach vorn gekippten Tarbûsch auf dem Kopf des Mannes, den Milia zu lieben beschloss. Eine liegende Frau auf der Rückbank des Taxis. Milia gab sich ihr hin, tauchte in einen dunklen Traum, aus dem sie erst vor dem Masâbki-Hotel erwachte.
Dass Mansûr vor Kälte blau im Gesicht war, dass Bläue sich in seinen dunklen Teint gemischt hatte, merkte Milia erst kurz vor Mitternacht im Hotel.
Jemand rüttelte an ihrem Arm.
»Komm, wir sind da«, hörte sie Mansûrs Stimme.
»Was? Wo?«, fragte sie wie besinnungslos.
Dann aber fiel ihr wieder ein, dass sie eine Braut in den Flitterwochen war. Die Autotür öffnete sich. Mansûr stand draußen mit dem Koffer, wartete auf sie. Er zeigte auf die Hoteltür. Sie stieg aus. An seiner Seite gehend, schaute sie zurück. Ihr Blick fiel auf die Glatze des Fahrers. Er hatte die Stirn auf das Steuer gelegt, die Hände rechts und links neben dem Kopf wirkten schlaff. Er schien zu schlafen.
»Und der Fahrer?«, fragte sie.
»Mal sehen«, antwortete Mansûr.
Er führte sie an eine große Holztür, klopfte, klopfte lange. Endlich wurde geöffnet. Der Hotelbesitzer trug einen weißen Pyjama und darüber einen braunen Überwurf. Georges Masâbki schaute sie mit kleinen Augen an. Ungläubig. Er konnte kaum fassen, dass dieses merkwürdige Paar noch zu so später Stunde hereinplatze.
»Sie sind also das Brautpaar«, bemerkte er, von einem Hustenanfall erfasst, sodass er sich den braunen Ärmel vor den Mund hielt und der Satz halb erstickt herauskam.
Mansûr nickte und schaute zurück nach dem Taxi.
»Herzlich willkommen. Schön, dass Sie wohlbehalten angekommen sind. Ich dachte, Sie kämen wegen des Kälteeinbruchs gar nicht mehr. Aber bitte. Treten Sie doch ein. Das Zimmer ist gleich für Sie bereit«, sagte er und ließ sie im Eingang stehen.
»Wadî’a! Wadî’a!«, rief er. »Das Brautpaar ist da.«
»Was für eine Nacht!«, murmelte er, sich vor dem Ofen die Hände reibend. »Wadî’a! Wo bleibst du? Heize den Ofen im Brautzimmer an und komm! Wissen Sie, mein Herr…«, sagte er und drehte sich Mansûr zu.
Mansûr war verschwunden. Milia stand allein da im braunen Mantel, unter dem das weiße Brautkleid herausschaute. Ihre großen Augen wirkten müde, und die Wangen hatten sich schon ein wenig gerötet.
»Wie heißen Sie, verehrte Braut?«
Milia schaute nach rechts, als suche sie die Person, die der Hotelbesitzer ansprach. Mit der Hand auf sich zeigend, fragte sie, ob er vielleicht sie meine.
»Ja, wen denn sonst! Sie sind doch die Braut, oder etwa nicht!«, sagte Georges Masâbki und musste so heftig husten, dass er sich krümmte.
Er nahm Platz und bot der Braut den Sessel neben sich an. Milia rührte sich nicht von der Stelle, wartete im Stehen auf Mansûr. Sie wusste nicht, warum. Aber plötzlich schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass Mansûr sich womöglich gerade davonschleiche. Sie sah ihn. Sah, wie er zum Taxi zurückging, einstieg und den Fahrer anwies, nach Beirut zu fahren.
»Und was mache ich?«, murmelte Milia in sich hinein.
»Nun setzen Sie sich doch her«, wiederholte Georges Masâbki. »Gleich kommt Wadî’a, und dann können Sie mit Ihrem Mann ins Zimmer.«
Milia legte die Hände auf die Augen. Sie hörte Mansûr. Er sprach mit dem Hotelbesitzer. Bat um ein zweites Zimmer.
Sie waren zu viert in der großen Hotelhalle. Am Eingang ein kleiner schwarzer Tisch, dahinter das Bord mit den Zimmerschlüsseln. Milia fiel auf, dass kein Schlüssel fehlte. Das Hotel ist bestimmt leer, dachte sie. Drei Sessel mit rotem Samtbezug im Halbkreis um einen eisernen Ofen. Auf dem Boden ein Perserteppich, bestickt mit Tiermotiven, die vorherrschende Farbe rot. An der Wand Bilder, aufs Geratewohl angeordnet. Die drei Ankömmlinge standen in der Halle. Herr Masâbki saß nach wie vor. Noch einmal rief er nach Wadî’a, stieg dann die Steintreppe zu den Gästezimmern im oberen Stockwerk hinauf.
Die Ofenwärme drang den drei Gästen, die immer noch stehend auf Wadî’a warteten, wohlig in den Körper. Mansûr trat an eines der Bilder an der Wand heran.
»Komm, schau dir das an«, rief er seine Frau. »Guck, Faisal. Das ist König Faisal I.«3
Ohne Hast folgte Milia der Aufforderung. Ein vergoldeter Rahmen. Darin ein Foto von Männern mit Tarbûsch auf dem Kopf. In ihrer Mitte ein kleiner, hagerer Mann. Das Gesicht länglich, blass. Er blickt in die Ferne, ohne aber etwas zu sehen, wie es schien.
»Das ist Faisal«, erklärte Mansûr, auf den hageren Mann zeigend.
»Hat er etwa auch seine Flitterwochen in Schtûra verbracht?«, spottete der Fahrer.
»Was wissen denn Sie schon!«, entgegnete Mansûr. »Wir werden unseren Sohn Faisal nennen«, bestimmte er, Milia in die Augen schauend. »Und, was denkst du?«
Milia gab keine Antwort. Sie ging davon aus, dass Mansûr den Erstgeborenen nach seinem Vater Schukri nennen würde.
»Was weiß ich«, sagte sie schließlich.
»Und was denken Sie?«, fragte Mansûr den Fahrer, der Hände reibend am Ofen stand.
»Verflixte Kälte! Na ja, Sie haben’s jedenfalls gut, Herr Bräutigam«, kommentierte er und steckte, wie um die Wärme zu speichern, die Hände in die Hosentaschen, während er Milia fixierte.
Milia stand neben Mansûr vor dem Foto, auf dem jener syrische König abgelichtet war, der von der französischen Armee aus Damaskus vertrieben wurde und von den Engländern ein neues Königreich im Irak bekam.
»Ihr Gatte hat es gut, verehrte Braut!«, wiederholte er und warf sich in den nächsten Sessel.
Der Hotelbesitzer erschien. Mit ihm zwei kleine Frauen. Die eine hellhäutig, halb blind, in den Sechzigern. Die andere brünett und um die dreißig. Dennoch glichen sie sich wie Zwillinge.
»Wadî’a, führe das Brautpaar zu Zimmer 10«, befahl Georges Masâbki.
Beide Frauen setzten sich in Bewegung. Synchron, wie eine Person, gingen sie auf den Fahrer zu.
»Kommen Sie, Herr Bräutigam!«, sagte Wadî’a I.
»Wer von Ihnen ist denn eigentlich der Bräutigam?«, fragte Wadî’a II irritiert, die Brauen runzelnd.
»Der da«, bestimmte Wadî’a I, auf den Fahrer zeigend, der im Sessel fast eingeschlafen war.
»Ich, ich bin der Bräutigam«, stellte Mansûr klar.
»Verzeihung, mein Herr. Ich dachte, er sei der Bräutigam. Es ist nämlich so, dass die hässlichsten alten Glatzköpfe immer die schönsten Bräute aufs Hochzeitszimmer führen. Die armen Frauen!«
»Halt den Mund, Wadî’a«, befahl der Hotelbesitzer gähnend.
»Nein, er hier ist der Bräutigam. Ich hab’s gewusst«, sagte die brünette Ausgabe, Wadî’a II, und packte Mansûr am Arm, um ihn ins Zimmer zu führen.
»Und was ist mit mir?«, meldete sich der Fahrer.
»Wieso? Wer sind Sie?«, fragte Wadî’a I.
»Ich bin Hanna Aramân.«
»Schön. Aber wer sind Sie?«
»Er ist der Chauffeur, der uns hergefahren hat. Und er braucht eine Bleibe«, erklärte Mansûr.
Wadî’a I sah Wadî’a II, dann Georges Masâbki an.
»Zimmer 6. Heizt den Ofen in Zimmer 6«, murmelte der Hotelbesitzer und wünschte dem Brautpaar eine angenehme Nacht.
Er beugte sich über den Ofen, schaltete ihn aus und verschwand in seinem Zimmer am Ende der Hotelhalle. Die drei Gäste folgten den beiden Wadî’as die lange Treppe hinauf zu den Zimmern, die einander gegenüberlagen.
Wadî’a II schloss eines der beiden Zimmer für das Brautpaar auf. Wadî’a I blieb tuschelnd mit dem Fahrer vor Zimmer 6 stehen.
Milia trat ein. Ein großes Zimmer. Darin ein breites Bett. An der gegenüberliegenden Wand ein Spiegel. In der Mitte des Raumes ein quadratischer Tisch mit orangefarbenem Tischtuch. Darauf eine Flasche Champagner, zwei Fladen Brot und ein Teller mit weißem Käse in mundgerechten Würfeln. Links vom Bett das Bad. Neben dem Tisch ein geheizter Ofen. Mansûr schloss die Tür. Milia hörte trotzdem den Fahrer und Wadî’a I auf dem Flur tuscheln und lachen.
Was dann in dem Zimmer geschah, wusste Milia später nicht mehr genau. Sie erinnerte sich noch, dass Mansûr den Mantel auszog und hinter die Tür hängte. Dass er an den Tisch ging, die Flasche nahm, den Korken knallen ließ, weiß sprudelnden Schaum in zwei Gläser füllte, ihr eines reichte und das andere in die Luft hob.
»Zum Wohl, meine liebe Braut!«
Milia nippte an dem Glas, schluckte perlende Bläschen von der Oberfläche, spürte eine leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie stellte das Glas auf den Tisch und bat um eine Tasse heißen Tee. Mansûr schien sie nicht gehört zu haben. Denn er schob sich ein Stück Käse in den Mund und hielt ihr eines hin. Sie habe keinen Hunger, sagte sie und schob seine Hand von sich. Er aß den Happen selbst, trank sein Glas in einem Zug aus, schenkte sich Champagner nach. Seltsame Schatten zeigten sich in seinen Augen. Milia lächelte, denn sie musste an die Worte ihrer Mutter denken. Männer würden in der Hochzeitsnacht, so hatte sie gesagt, von einem gewissen Schwachsinn befallen.
Mansûr nahm sie bei der Hand, führte sie ans Bett. Die Kehle war ihr wie ausgetrocknet. Das war der große Moment. Sie musste jetzt tapfer sein.
Sie setzten sich auf die Bettkante. Mansûr kam mit den Lippen an ihren Hals, küsste ihn. Ein leichter Schauer durchrieselte Milias Körper. Sie wollte sich hinlegen, ließ sich ein wenig zurücksinken, sah sich. Sie sah sich schwebend, von ihm getragen. Jetzt würde er sie auf seine Arme heben und mit ihr durch die Luft fliegen, sie dann wieder auf das Bett legen und nehmen.
Milia lehnte sich zurück, wartete. Er ließ von ihrem Hals ab und fing an zu zittern. Sie wollte ihn an sich drücken, wollte ihm die Sache erleichtern. Er aber sprang unvermittelt auf und begann sich auszuziehen. Mit allem hatte Milia gerechnet. Nur nicht damit, dass sich der Bräutigam mitten im Zimmer hinstellt und die Kleider fallen lässt. Das Gesicht dabei wie zu einer Maske erstarrt. Schultern und Brust von einem dichten schwarzen Haarteppich bewuchert.
Gleich stürzt er sich auf mich, gleich entjungfert er mich, dachte Milia. Ein seltsames Gefühl erfasste sie. Ihr war, als stünde sie auf einem hohen Balkon, in dem Wissen, dass sie jeden Moment in die Tiefe gestoßen würde. Schicksalsergeben auf den Stoß wartend, schloss sie die Augen und malte sich den Fall ins Nichts aus. Stellte sich die Hände vor, die sie auf das Bett stoßen, ihr das Kleid vom Leib reißen, die Unterwäsche zerfetzen würden.
Milia wartete lange. Müdigkeit beschlich sie. Gestützt auf den rechten Ellenbogen, fiel sie in einen leichten, immer wieder unterbrochenen Schlaf. Der Nebel von unterwegs quoll aus ihren Augen. Sie schrak hoch, riss die Augen auf. Sie sah Mansûr, der kurz zuvor noch nackt im Zimmer gestanden hatte, nicht mehr. Er war verschwunden. Seine Kleidung aber war noch da. Sie lag zerknittert auf dem Boden. Bei dem Anblick musste Milia an das seltsame Schauspiel denken. Mansûr im Kampf mit seinen Sachen. Die Schuhe feststeckend im Hosenbein. Das Hemd um den Hals geschlungen. Die Strümpfe an den Füßen klebend. Der buschige schwarze Schnurrbart zitternd. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Das Lächeln des Wartens. Milia hörte ein Wimmern. Bemerkte, dass das Wimmern aus dem Bad kam. Das Wimmern wurde lauter, mischte sich mit anderen Geräuschen. Mit Röcheln und Würgen. Statt ins Bad zu gehen und nach ihrem Mann zu sehen, ließ sich Milia wieder auf das Bett sinken und deckte sich zu, ohne das Kleid auszuziehen.
»Was für Flitterwochen!«, sagte sie so laut, dass Mansûr sie hätte hören müssen.
Sie bekam keine Antwort. Angst stieg in ihr auf. Sie sah sein Bild vor Augen. Er, auf dem Gipfel des Dahr al-Baidar. Nebel verschluckt ihn. Bibbernd rennt er zum Auto, gibt seltsame Laute von sich, eine Mischung aus Bellen und Wimmern. Er reißt die Wagentür auf, steigt ein. Zitternd und seufzend sitzt er auf dem Beifahrersitz. Milia stand auf, trat an den Ofen. Das Feuer war fast erloschen. Sie legte ein paar Scheite Holz nach und wartete, bis sie brannten. Dann ging sie zum Bad, rief ihren Mann durch die geschlossene Tür, bekam keine Antwort. Sie klopfte an, pochte. Ein leises Wimmern wie aus weiter Ferne drang zu ihr. Ihr war warm, heiß. Sie hatte den dringenden Wunsch, das Kleid auszuziehen, ging an den Koffer, holte ihr langes blaues Nachthemd heraus, zog es über. Sie hörte Mansûr rufen, eilte zum Bad.
»Mach auf, Mansûr! Ich bin es, Milia!«
Seine Stimme wurde schwächer, flüsterte nur noch.
Hatte er »Milia« oder »Mutter« gerufen?
»Mach auf, bitte!«
»Nicht so laut. Der Fahrer hört dich noch!«, krächzte er heiser.
»Soll ich einen Arzt holen?«
»Beruhige dich! Bitte! Beruhige dich!«
Dann verstummte er. Alles, was er noch von sich gab, war ein eigenartiges Keuchen. Milia dachte, er würde sterben. Sie brach zusammen. Auf Knien am Boden, sich an die Klinke klammernd, als würde sie sich daran hochziehen, hämmerte sie an die Tür. Sie hörte, wie Mansûr tonlos nach seiner Mutter rief. Hörte, wie er sich röchelnd erbrach. Er solle endlich öffnen, flehte sie. Eine halbe Ewigkeit verharrte sie kniend. Sie fühlte sich einsam, schwach, ohnmächtig.
»Ich gehe jetzt hinunter und frage den Hotelbesitzer, wo der nächste Arzt ist.«
»Nicht so laut! Der Fahrer soll nichts hören. Sonst macht er sich noch lustig über uns! Bleib im Zimmer. Mit mir ist alles in Ordnung. Geh schon ins Bett. Ich komme gleich nach!« Mansûrs Stimme hallte dumpf wie aus einem tiefen Brunnen.
Milia konnte sich an nichts mehr erinnern. Nicht, wie sie aufgestanden war. Nicht, wie sie den Weg ins Bett gefunden und sich zugedeckt hatte. Nicht, wie sie eingeschlafen war.
Wieso war sie jetzt nackt?
Was hatte das Schaudern zu bedeuten?
Milia wollte die Augen öffnen. Denn sie spürte den Tod, der immer als ein endlos langer Traum eintrifft.
»Der Tod ist ein Traum«, hatte sie damals ihrem kleinen Bruder Mûsa erklärt. »Komm und schau, wie Oma träumt.«
Die Großmutter lag auf ihrem Bett in weißen Tüchern. Um sie herum saßen Frauen, leise schluchzend. Keine traute sich, laut um die alte Dame zu weinen. Denn Malika Schalhûb verabscheute es, wenn jemand einen Toten beklagte.
»Die Verstorbenen sind nicht tot! Also hört gefälligst auf zu weinen!«, hatte Malika die Trauernden zurechtgewiesen, als ihre Tochter Salma starb.
Es war kaum dunkel geworden, da gellten Schreie durch die Nacht. Nakhla, Salmas Vater, schrie, brüllte wie ein abgestochener Stier. Nakhla sei, so hieß es, zwei Wochen nach dem Tod der Tochter dem Tränenstau erlegen, weil seine Frau ihm das Weinen verboten hatte.
Milia erzählte ihrem Bruder Mûsa nicht, dass sie Salma im Traum gesehen hatte. Denn Mûsa war drei Jahre alt und hätte es nicht verstanden.
In jener Nacht wurde Milia vom Weinen ihrer Mutter aus dem Schlaf gerissen. Sie ließ sich zurück in den Traum fallen, um ihre Tante zu retten. Salma, gerade zwanzig geworden, weigert sich, die Augen zu öffnen, schlummert einfach tief und fest weiter. Ein rätselhafter Traum. Was er zu bedeuten hatte, begriff Milia erst Jahre später. Erst, als sie ihre Regel bekam und träumte, dass sie fliege.
Milia erzählte ihrer Großmutter von dem Traum. Zu dem Zeitpunkt war alles schon längst geschehen. Die Tränen unterdrückend, forderte Malika Schalhûb ihre Enkelin auf, den Traum allen mitzuteilen. Von da an begann Milia offen über die rätselhaften Dinge zu sprechen, die sie nachts sah. Mit roten Wangen und wegen der vielen Zahnlücken lispelnd, schilderte sie ihre Vision. Sie habe Salma gesehen, berichtete sie. Salma, im Garten, fällt in das Wasserbecken. Um sie herum lauter kleine rote Fische. Mit Händen und Füßen rudernd, versucht sie sich an der Oberfläche zu halten. Milia wirft ihr ein Seil zu. Salma greift danach, will sich daran herausziehen. Da entgleitet Milia das Seil. Salma liegt ausgestreckt im Gras. Milia beugt sich über sie, will sie wecken, hört die Großmutter rufen: »Nicht! Nicht wecken! Lass sie träumen!«
Milia schrak aus dem Schlaf, zitternd. Kaum war sie wieder eingeschlafen, hörte sie die Mutter kreischen. Verstört stand sie auf und wusste, dass Salma gestorben war.
Milia hatte nicht die Wahrheit gesagt, sondern gelogen. Sie traute sich nicht, den ganzen Traum zu erzählen. Fürchtete sich zu sagen, dass sie in Salmas Traum geschlüpft war. Dass sie Salmas Traum geträumt hatte. Keiner hätte ihr das geglaubt. Keiner hätte es für möglich gehalten, dass ein Mensch sich in den Traum eines anderen einschleicht. Nicht einmal sie selbst konnte es fassen. Was es heißt, in den Traum eines anderen Eingang zu finden, verstand sie erst im Angesicht des Todes. Erst als sie starb und das Ungesehene zu sehen bekam. Und dieses Geheimnis gab sie nur einem einzigen Menschen weiter. Dem Kind, das ihrem Bauch entschlüpft war.
Milia legt sich neben ihre Tante ins Gras. Salmas Augen sind geschlossen und von weißem Dunst bedeckt. Milia sieht sich in den Dunst eintauchen. Sieht Salma über einem Abgrund schweben. Sie hört das Herz der schwebenden Frau schlagen. Nimmt Beklommenheit in ihren Augen wahr. Salma trägt ein Brautkleid, ein langer weißer Schleier flattert hinter ihr durch die Luft. Der Schleier fällt in das Wasserbecken. Es fängt an zu regnen. Wie in Bindfäden regnet es. Milia versucht der Frau zu folgen, schafft es nicht. Sie rennt, stolpert über ihre Füße, stürzt. Ihr rechtes Knie ist aufgeschlagen, blutet. Milia schaut hoch. Salma entfernt sich. Immer mehr, bis sie nur noch ein weißer Punkt ist. In den Traum mischt sich ein Weinen. Milia öffnete die Augen und sah ihre Mutter. Saada saß schluchzend in der Ecke des Zimmers. Auf der Stelle erkannte Milia, dass der Tod eingetreten war. Erkannte, dass er – wie sie von ihrer Großmutter wusste – ein langer Schlaf war. Erkannte, dass sie in den Traum des Todes zu schlüpfen vermochte und seinen wässerigen Geschmack gekostet hatte. Da war sie sieben Jahre alt.
Salma starb nicht unerwartet. Während sie, auf Ibrâhîm Hanânîjja wartend, der als reicher Mann aus Brasilien heimkehren wollte, sämtliche Brautwerber zurückwies, erkrankte sie an der damals in Beirut grassierenden Seuche. Gelbfieber. Allen war klar, dass sie sterben würde. Malika kaufte ihr ein weißes Brautkleid für den Sarg. So viel jedenfalls schnappte Milia aus den Erzählungen ihrer Mutter auf, die im Übrigen etwas Geld für das Kleid beisteuerte. Die Ereignisse überlagerten sich in Milias Bewusstsein. Diffuse Worte und Szenen schwirrten in ihrem Gedächtnis. Salmas Hochzeit nahe, hatte sie ihre Mutter einmal sagen hören. Dann war da das Bild von der Großmutter, wie sie eines Morgens zu Besuch kam und die verlorene Jugend ihrer Tochter beklagte. Was das alles zu bedeuten hatte, begriff Milia aber erst, als sie das Geschehen im Traum sah. Wie von selbst sprudelte ihr da die Geschichte durch die lückenhafte Reihe der Milchzähne aus ihrem Mund. Bis ins Kleinste beschrieb sie der Großmutter, was außer ihr kein anderer Mensch je gesehen hatte, und fürchtete im selben Augenblick ihre Reaktion.
»Nicht doch, mein Kind! Die Träume der Toten können nur die Toten selber sehen«, sagte die Großmutter, zeichnete der Enkelin ein Kreuz auf die Stirn und ersuchte Gott um Schutz. »Möge dich das griechische Kreuz behüten, mein Kind.«
Im Traum sah sie auch ihn.
Sie habe, so berichtete Milia ihrer Mutter und Großmutter, Ibrâhîm Hanânîjja gesehen. Er habe Salma die letzte Ehre erwiesen. Ein kleiner, pummeliger Mann in langem grünem Mantel und braun-weißen Schuhen. Den Kopf gesenkt, als sei sein kurzer Hals zu schwach für ein solches Gewicht, habe er den Sarg haltlos taumelnd auf den Friedhof begleitet. Er sei allein gewesen, sagte Milia. Sie habe ihn angesprochen. Nein, er habe sie angesprochen. Er habe sich an sie gewandt und ihr gesagt, dass keiner ihn erkannt habe. Denn er habe sich in Brasilien sehr verändert.
»Ich war nicht immer so klein. Aber ich habe zugenommen. Und füllige Menschen wirken klein. Vielleicht hat mich deshalb niemand erkannt.«
Er lächelte. Gelbe Zähne kamen zum Vorschein.
»Bist du Salma?«, fragte er.
»Salma ist tot, und ich habe damit nichts zu tun.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er. »Aber du bist Salma, nicht wahr?«
Sie wollte antworten. Aber die Zunge verfing sich in der Zahnlücke. Sie merkte, dass sie keine vollständigen Worte, sondern nur unverständliches Gemurmel von sich gab, und brach in Tränen aus.
So vieles hatte sie zu sagen. Weshalb er nicht vor Salmas Tod aus Brasilien gekommen sei, wollte sie fragen. Ob er es wie alle Libanesen, die in jenes ferne Land ausgewandert sind, zu Reichtum gebracht habe, wollte sie wissen. Dass Salma seinetwegen gestorben sei, wollte sie ihm sagen. Aber sie brachte keinen Satz zustande. Die Worte zerfielen, bevor sie formuliert waren. Sie hatte das Gefühl zu ersticken.
Ibrâhîms Bild blieb ihr im Gedächtnis haften. Sie sah in ihm ihren ersten Mann. Hatte das Gefühl, ihn zu lieben. Erkannte an den Tränen in seinen Augen, dass er alles verloren hatte, als er, heimgekehrt, erfuhr, dass die Frau, wegen der er gekommen war, im Sterben lag.
So hätte sie Mansûr die Sache geschildert, vorausgesetzt, sie hätte gesprochen. Mansûr dagegen redete unentwegt und ließ das vielsagende Schweigen, das sich in ihrem weißen Gesicht verbarg, nicht zu Worte kommen. Und als er endlich zuzuhören bereit war, konnte sie nicht sprechen. Schmerzgequält schrie sie, rief nach ihrer Mutter, flehte, dass sie doch kommen und sie aus dem langen Traum erlösen möge.
Als sie ihrer Mutter und Großmutter von der Begegnung mit Ibrâhîm Hanânîjja erzählte, erntete sie nur Ärger.
»Halt den Mund, Kind! Lass uns mit deinen ständigen Träumen in Frieden!«
»Ibrâhîm Hanânîjja war in Beirut? So ein verdammter Mistkerl!«, schimpfte die Großmutter. »Treibt sich hier im Land herum und lässt sich nicht blicken! Wartet so lange, bis das Mädchen tot ist, und bequemt sich dann erst her!«, klagte Malika ihrer Tochter und wischte sich die Tränen.
»Aber Mutter? Du nimmst doch nicht etwa Milias Träume ernst! Das ist doch der reinste Quatsch!«
»Nein, es stimmt alles!«, widersprach Malika. »Ibrâhîm ist inzwischen wirklich klein und rund. Er spricht so leise, dass man ihn kaum verstehen kann. Wieso hat er sie nicht vor ihrem Tod noch einmal besucht? Das ist nicht anständig!«
»In dieser Familie sind alle übergeschnappt«, kommentierte Saada.
»Die Einzige, die hier übergeschnappt ist, bist du!«, setzte Malika entgegen. »Milia hat ihn gesehen und ich auch.«
»Wie willst du ihn gesehen haben, Mutter? Er ist doch in Brasilien. Sein Bruder ist vorbeigekommen und hat gesagt, dass Ibrâhîm zutiefst bestürzt ist, aber nicht in den Libanon kommen kann.«
»Nein, nein! Er war hier und hat Salma nicht besucht. Er hat ihr und mir das Herz gebrochen!«
Er fürchte sich vor dem Tod, habe er ihr offenbart und sie gefragt, ob sie nicht Salma sei, erzählte Milia.
Sie sei Milia, habe sie geantwortet.
Er habe sich nicht getraut, seine Verlobte auf dem Sterbebett zu besuchen, habe er unter Tränen gesagt.
»Hör auf damit, Kind!«, befahl Saada.
Milia sah ihre Mutter beklommen an und trat stumm aus dem Zimmer in den Garten. Sie schloss den Schlauch an den Hahn über dem Bassin an, drehte das Wasser auf, goss die Bäume.
Mûsa war sieben Jahre alt, als er Hand in Hand mit seiner Schwester vor dem Bett der toten Großmutter stand. Er verstand nicht, was Tod heißt. Verstand nicht, was es heißt, dass seine Großmutter im Traum reiste. Er hörte das Schluchzen der Frauen, die sich um das Bett der weißen, mit weißem Laken bedeckten Frau versammelt hatten. Ihm quoll eine wasserartige Flüssigkeit aus den Augen, verfing sich in den Wimpern. Er weinte, schluchzte nicht, sondern stand nur still da und wartete. Wartete darauf, dass Milia ihm mit den Fingerspitzen die Wimpern trocknen, sich herunterbeugen und ihm auf jedes Auge einen Kuss drücken würde. Das tat Milia immer, wenn sie merkte, dass er sich fürchtete. Die zarte Berührung half ihm auf der Stelle, zu sich selbst zu finden und die Angst abzustreifen, die ihn nachts befiel. Angst vor den Wesen und Bäumen der Nacht, von denen ihm Milia erzählt hatte. Nach Sonnenuntergang, so ihre Worte, entfalteten sich die Bäume der Nacht. Und dann nisteten sich in ihrem Geäst die Träume ein. Mûsa fürchtete sich vor Nacht und Nestern. Deshalb schlich er, wann immer er im Dunkeln erwachte, auf nackten Füßen zu Milia hinüber. Ohne die Augen zu öffnen, rutschte sie ein wenig beiseite, damit er Platz hatte. Sobald er lag, strich sie ihm mit den Fingerspitzen über die Wimpern und drückte ihm auf jedes Auge einen Kuss. Im Nu fiel er in einen tiefen Schlaf.
Mûsa war zwanzig, als er Milia jene Neuigkeit mitteilte. Sie saß auf der Bettkante, vorgebeugt, und flickte einen Strumpf. Er kam herein. Mit Tränen in den Wimpern stand er vor ihr. Dann sprach er es aus. Mansûr Haurâni habe um ihre Hand angehalten. Wortlos legte sie den Strumpf samt Stopfpilz auf das Bett und stand auf. Sie hob die Hand, strich ihm mit den Fingern über die Lider, drückte auf jedes Auge einen Kuss, schmeckte Tränen. Wie ein kleiner Junge stand er da. Die Augen bange, die Unterlippe zitternd.
»Ich bin mit allem einverstanden, was du möchtest«, sagte sie, während sie seine Augen küsste.
»Du willst es doch, oder?«, fragte sie.
Wieder ein erwachsener Mann, aufrecht und groß, schaute er sie an.
»Ja«, entgegnete er, die Stirn in Falten.
»Wie du willst«, sagte sie.
Mûsa hielt sich zurück. Fragte nicht nach der Art ihrer Beziehung zu Mansûr. Verriet nicht, dass Mansûr, als er um ihre Hand anhielt, alles offengelegt hatte. Offengelegt hatte, dass Milia ihm ihre Liebe gestanden und den Antrag angenommen hatte. Mûsa sprach auch mit keinem Wort an, dass er sich hintergangen fühlte.
»Also liebst du ihn?«, fragte er knapp.
Sie sah ihn an, als verstünde sie die Frage nicht.
»Ich bin einverstanden, weil er dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist«, sagte sie lächelnd. »Weißt du, es ist, als sei er du.«
»Ich?«, wehrte er ab.
»Du bist der Attraktivere. Aber er sieht dir unglaublich ähnlich. Er könnte dein Bruder sein.«
Mûsa, das Gesicht ernst verbissen, murmelte etwas über die Treulosigkeit von Frauen.
»Was sagst du?«, hakte Milia nach. »Ich habe dich nicht verstanden.«
»Meinen Glückwunsch, liebe Schwester!«
An jenem Tag verspürte Milia den Drang, die Welt neu zu entdecken. Ihr war, als sei sie eben erst geboren worden. Oder als habe sie zwischen dem Augenblick, in dem sie ihm, weil er wie ein kleiner Junge wirkte, über die Wimpern strich, und dem Augenblick, in dem er wieder als Erwachsener mit den ersten grauen Haaren auf dem Kopf vor ihr stand, ihr gesamtes Leben wie im Traum durchlaufen. Milia legte die Hände auf die Augen, streckte dann die Arme vor, um die Worte, die Mûsas Mund entsprangen, aufzufangen.
»Nach der Hochzeit ziehst du gleich nach Nazareth«, bestimmte er.
»Wie du willst«, fügte sich Milia, den Kopf gesenkt, den Blick auf den schwarz geblümten Fliesenboden geheftet.
»Der Fotograf kommt morgen«, sagte er. »Du sollst immer bei uns sein. Deshalb werde ich dein Foto hier aufhängen.«
Einmal an der weißgetünchten Wand im Lîwân4 angebracht, wurde das Foto nicht mehr entfernt. Auch Jahre später, als Mûsa das Haus von der Mutter erbte, ließ er es hängen, so als sei es mit der Wand verwachsen. Ein großformatiges Porträt im schwarzen Holzrahmen. Zu sehen war Milias Gesicht auf einem Schwanenhals thronend, von langem Haar gesäumt. Honigfarbene Mandelaugen, eine zierliche Nase, volle Lippen, markante Wangenknochen und schmale, zusammengewachsene Brauen. Aufgenommen von dem Fotografen Scharîf Fâkhûri aus der Stadt Sahle in der Bekaa-Ebene. Er hatte den Kopf in einen mit schwarzem Stoff bedeckten Holzkasten gesteckt und, um den schönsten Augenblick einzufangen, Milia volle zwei Stunden vor einer weißen Wand posieren lassen. Auf dem Foto schien Milia just der Wand entstiegen. Weiß die Haut, weich die Gesichtszüge, strahlend die Augen.
Das Foto habe etwas Seltsames an sich, fand Mûsa. Es war schwarz-weiß. Die Pupillen jedoch hoben sich ab. Sie hatten einen gewissen Grünstich.
Drei Tage vor der Hochzeit brachte Mûsa das Foto heim. Er schlug einen Nagel in die Wand, hängte es auf, trat drei Schritte zurück und rief Milia. Kurz darauf erschien sie.
»Schau!«, sagte er überwältigt.
»Danke, danke. Es ist sehr schön«, erwiderte sie.
»Schau, die Augen! Siehst du die Farbe? In dem Schwarz schimmert ein grünes Licht. Siehst du das?«
Milia war wie vom Donner gerührt. Ihr kamen die Tränen. Die Tränen verwischten das Bild bis zur Unkenntlichkeit. Angst stieg in ihr auf. Sie glaubte, ihr Schutzengel habe sie verlassen. Wie hatte der Fotograf das bewerkstelligt? Wie hatte er das Geheimnis ihrer Augen einfangen können? In Wirklichkeit waren ihre Augen nicht grün. Grün waren sie nur in ihren Träumen. Dort, wo sie in die Gestalt eines kleinen Mädchens mit dunklem Teint und kurzen schwarzen Locken schlüpfte. Wie war der Fotograf hinter ihr Geheimnis gekommen? Hatten ihre Augen sie verraten? Träumte sie deshalb nicht mehr? Hatte sie deshalb beim Einschlafen das Gefühl, in ein tiefes, dunkles Loch zu stürzen?
Seit sie in die Ehe eingewilligt hatte, fürchtete sich Milia vor dem Schlaf. Sie traute sich im Bett nicht mehr, die Augen zu schließen, sondern hielt sie weit geöffnet. Kaum machten sich die ersten Anzeichen von Müdigkeit kribbelnd in den Zehen bemerkbar, bäumte sie sich auf, um den Schlaf abzuschütteln. Der Schlaf aber ließ sich nicht vertreiben. Unerbittlich schlich er um sie herum, übermannte sie von hinten und zog sie hinab ins Finstere. Nacht für Nacht das gleiche Schauspiel. Sobald es dunkel wurde, begann sie am ganzen Körper zu zittern. Als hätte man ihr einen heftigen Hieb versetzt, schlotterten ihr als Erstes die Beine, sodass sie das Gefühl hatte, den Halt zu verlieren und jeden Moment zusammenzubrechen. Dann griff das Zittern auf die Schultern über. Milia versuchte sich zu beruhigen, stellte sich eine entspannende Geschichte vor, um einschlafen zu können. Die Geschichte aber entglitt ihr, und sofort brach tiefe Dunkelheit über sie herein.
Milia war die Höhle, in der sie ihre Träume aufbewahrte, abhanden gekommen. Die Ursache dafür erkannte sie erst, als das Geheimnis ihrer Augen von dem Foto enthüllt wurde.
Mûsa war irritiert. Er konnte sich nicht erklären, weshalb Milia so ablehnend auf das Foto reagierte.
»Komm, stell dich davor und schau es dir genau an«, forderte er sie auf. »Fast wie dein Spiegelbild!«
Milia folgte der Bitte. Wieder sah sie es. Aus dem Schwarz schimmerte es grünlich. Wortlos drehte sie sich um und verließ den Raum. Mûsa dagegen blieb vor dem Foto stehen. Ihm war, als spreche es zu ihm. Versöhnt hatte er nun das Gefühl, Milia ziehen lassen zu können. Denn sie würde jetzt mit ihrem Mansûr nicht in Nazareth verschwinden, sondern durch das Foto stets anwesend sein, was seinen Trennungsschmerz lindern würde.
Mûsa drehte sich um. Milia aber war nicht da. Also trat er hinaus in den Garten. Von einem Weinkrampf geschüttelt, saß sie auf der Holzschaukel, die an dem mächtigen Feigenbaum angebracht war. Er ließ sie dort. Ging wieder ins Haus und setzte sich auf das Sofa vor dem Bild.
Von alldem hat sie Mansûr nichts verraten. Nicht, dass sie auf der Schaukel bittere Tränen geweint hat. Nicht, dass ihr die Tränen auf die Lippen liefen und in den Mund sickerten. Nicht, dass sie dabei eine wichtige Entdeckung machte. Die Entdeckung, dass Tränen anders schmecken, als man ihnen nachsagt. Dass sie nicht, wie es allgemein heißt, bitter sind, sondern salzig. Milia schluckte salzige Tränen. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Ein Geschmack, der aus einem ungeträumten Traum stammte. Bitterkeit, so stellte sie sich vor, sei grün. So grün wie das Augenpaar, das von der Bildfläche ihrer Träume verschwunden war.
Auf einem weißen Eisenbett, das einst an der Wand stand, an die Mûsa das Foto hängte, war Milia auf die Welt gekommen. Am Montag, dem 2. Juli 1923, mittags um zwölf Uhr. Es war heiß und schwül an dem Tag. Die Beiruter Sonne bleiern. Wie Feuer brannte sie auf den Asphalt. Die Hebamme hatte sämtliche Fenster im Lîwân mit gelben Laken verhängt, die jeden Moment durch die gleißenden Strahlen in Flammen aufzugehen und das Zimmer in einen einzigen Glutball zu verwandeln drohten. Saada lag von Wehen gepeinigt auf dem Bett. Nadra Sallûm, klein und gedrungen, mit dunklem Teint, das Gesicht rund, wie immer eine brennende Zigarette im Mundwinkel, spottete über die Gebärende. Saada, quer auf dem Bett, wand sich in Schmerzen, wimmernd. Ihr lief der Schweiß in Strömen, das weiße Hemd war von nassen, im gleißenden Licht scheinbar gelblichen Flecken übersät.
»Beruhige dich, Verehrteste!«, sagte Nadra, die Arme gekreuzt und ungeduldig auf der Zigarette kauend. »Was soll dieses Gejammer? Schließlich ist das nicht deine erste Geburt!«
Saada entband zum sechsten Mal. Nur drei von den bereits Geborenen hatten überlebt. Salîm, der erste. Nikola, der vierte. Und Abdallah, der fünfte. Zwei Jungen waren gestorben: Der zweite, der namenlos blieb und immer nur als »der blaue Junge« bezeichnet wurde. Denn er kam von der Nabelschnur erwürgt und blau angelaufen auf die Welt. Gestorben war außerdem die Nummer drei. Sein Name war Nasîb. Eine Woche nach seiner Geburt an Gelbsucht erkrankt, ging er als »der gelbe Nasîb« in die Familiengeschichte ein.
Schwierigkeiten hatten Saada nur die ersten beiden Entbindungen bereitet. Danach ging alles problemlos. Fast wie von selbst plumpsten die Babys aus ihr heraus. Jedes Mal der gleiche Ablauf. Sobald die Wehen einsetzten, bat Nadra sie auf den Gebärstuhl. Und kurz darauf, umnebelt von dem heißen Wasserdampf, der aus dem bereitgestellten Topf aufstieg, spürte Saada, wie das Kind in ihrem Bauch abwärts rutschte. Ein Schwindel erfasste sie. Sie gab nach, glitt mit. Nadra fing das Kind auf, hielt es an den Beinen hoch und gab ihm einen Klaps auf den Po, damit es schrie. Dann folgte der obligatorische Blick auf den Unterleib. Sie sah den Penis und stieß einen ausgiebigen Freudentriller aus. Und sofort wusste Jûsuf, dass die Familie einen neuen männlichen Nachkommen hatte.
An jenem Julitag herrschten bereits am Morgen 34 °C. Saada, Gesicht und Hände gelb, lag, von Schmerzen gequält, brüllend im Bett, glaubte, einen Jungen zur Welt zu bringen, den sie Mûsa nennen wollte. Wie immer, wenn die Fruchtblase platzte und die Wehen einsetzten, machte sich Jûsuf eiligst auf den Weg zu Nadra in der Abu-Arbîd-Straße.
Die Hebamme hatte ihn stets freundlich empfangen und ihm jedes Mal am Gesicht angesehen, dass ein Junge unterwegs war. Wann immer er sie aufsuchte, vernebelten dichte Rauchwolken das Haus. Denn, wie man an dem Husten und dem Lärm im Hintergrund erkannte, war Herr Kamîl anwesend und widmete sich mit seinen Freunden Wasserpfeife rauchend dem Kartenspiel. Jûsuf trat ein, nahm den Gebärstuhl, der hinter der Haustür stand, und hastete heim, gefolgt von Nadra mit Zigarette im Mund.
An jenem brütend heißen Julitag aber war alles anders. Die Tür öffnete sich. Drinnen weder Rauch noch Schischa-Geblubber. Karten gespielt wurde auch nicht. Herr Kamîl war außer Haus. Und Nadra bereitete in der Küche das Mittagessen zu. Jûsuf wollte den Stuhl holen, fand ihn aber nicht vor. Wie versteinert stand er da, wusste nicht, was er tun sollte.
»Der Stuhl ist kaputt«, erklärte Nadra. »Also machen wir es von nun an auf die europäische Art. Los geht’s, komm! Nun komm schon«, sagte sie und zupfte ihn am Ärmel.
Was es mit der europäischen Art auf sich habe, fragte er nicht. Wortlos folgte er ihr die lange Treppe hinauf, die von der Abu-Arbîd-Straße zur Tawîl-Gasse führte, in der sein Haus stand.
»Leg dich aufs Bett, Saada«, befahl Nadra.
»Nein, nicht längs«, korrigierte die Hebamme, »sondern quer. Leg dich quer aufs Bett und stell die Beine auf! Schließlich muss ich ja irgendwie da herankommen!«
Schwerfällig wälzte sich Saada in die richtige Lage.
»Wo«, setzte sie zu einer Frage an und verstummte unvermittelt, von Schmerzen geschüttelt.
»Es gibt keinen Stuhl«, sagte Nadra. »Heute bringen wir die Sache auf die moderne Art über die Bühne. So, und jetzt stell die Beine auf und press!«
Saada brach in Tränen aus.
Nadra reinigte sich die Hände mit Wasser und Seife, trat an Saada heran und redete ihr gut zu.
Saada aber hörte nichts. Denn sie rang. Rang mit den Schmerzen und rang nach Atem. Sobald sie presste, staute sich die Luft in ihrer Lunge, und sie riss, gierig nach Sauerstoff schnappend, den Mund auf und hechelte.
»Ruhig, Saada, ruhig«, beschwichtigte Nadra, ihr mit einem Handtuch den Schweiß von Stirn und Hals tupfend.
Das Kind aber weigerte sich beharrlich, die Reise hinaus in die Welt anzutreten. Nadra kniete sich vor die Gebärende und tastete mit beiden Händen nach dem kleinen Kopf, der sich, bereit für die Niederkunft, in die richtige Position gedreht hatte. Sie versuchte den Kopf zu fassen, vergeblich.
»Pressen! Nun press!«
»Luft, Luft, ich ersticke!«, japste Saada bebend und verfiel in heftiges Zittern, sodass ihre Zähne klapperten.
»Hilfe, ich sterbe!«
»Keine Sorge, dir passiert nichts!«, schrie Nadra.
Saada schloss die Augen, ergab sich dem Zittern. Sie hörte nichts mehr. Es dröhnte entsetzlich in ihren Ohren. Die Hebamme eilte hinaus, holte eine Schüssel mit kaltem Wasser und legte Saada Kompressen auf die Stirn. Das Zittern ließ nach, und bald konnte Saada wieder atmen.
»So, jetzt versuchen wir es noch einmal«, sagte Nadra. »Wenn die nächste Wehe kommt, musst du pressen. Noch einmal kräftig pressen, und dann hast du es hoffentlich überstanden.«
Wieder kniete sich Nadra vor Saada, schweißgebadet, das kurze blaue Kleid triefend nass. Auch sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr war zum Schimpfen zumute. Verflixte Kinderkriegerei!, hätte sie am liebsten geflucht. Aber sie beherrschte sich.
»Pressen, Saada!«, feuerte sie die Gebärende an. »Press! Kräftig! Noch kräftiger! Nun press doch schon!«
Saada gab ihr Bestes. Doch schlagartig erschlafften ihre Muskeln. Völlig erschöpft zitterte sie wieder am ganzen Leib. Ratlos richtete sich die Hebamme auf. Sie war mit ihrer Weisheit am Ende, wusste nicht, was sie tun sollte, stand einfach nur wartend da. Dann beobachtete sie etwas Seltsames. Sie sah, wie Saada die Sinne schwanden und wie sie grün anlief. Ein eigenartiges Grün breitete sich über Wangen und Augen aus. Kurz darauf waren Gesicht, Hände, Beine und Füße von grünen Flecken übersät. Solche körperlichen Verfärbungen hatte Nadra in all den Jahren als Hebamme noch nicht erlebt und führte sie instinktiv auf die gelben Laken vor den Fenstern zurück. Das Gelb speie Feuer, war ihr erster Gedanke, als Jûsuf auf ihre Bitte die beiden Fenster mit Blick zum Garten der Rahhâls verhängt hatte.
»Diese Farbe! Nimm andere Laken!«, hatte sie gebeten.
Jûsuf aber rührte sich nicht von der Stelle.
»Andere haben wir nicht«, sagte er knapp.
»So, und jetzt raus hier! Raus!«, befahl sie.
»Der reinste Backofen ist das hier!«, beschwerte sie sich, als sie Schwester Milânâ zur Tür begleitete.
»Nimm gefälligst die Zigarette aus dem Mund«, wies die Nonne sie im Gehen zurecht, die Arme erhoben, wie um aller Welt zu bedeuten, dass sie dem Kind auf die Welt verholfen hatte.
Wie ein alles verschlingendes Feuer hatte sich das Gelb ausgebreitet. Dann folgte jenes Grün. Ein helles Grün, das, nach und nach dunkler werdend, die Hände und Füße der Gebärenden fleckig überzog. Entkräftet lag Saada da, weinend. Nur noch ein winselnder Haufen Elend. In die Tränen mischte sich der Schweiß, der ihr von der Stirn rann. Nadra tupfte Saada mit einem Handtuch Schweiß und Tränen vom Gesicht und konnte kaum glauben, was sich vor ihren Augen abspielte. Der Schweiß färbte das kleine weiße Handtuch gelb.
Nadra wurde unruhig.
»Ich weiß nicht mehr weiter, Schwester! Was soll ich machen?«
Ohne jede Hast machte sich die Nonne ein Bild von dem Geschehen. Dann teilte sie entschlossen Befehle aus, und im Nu war alles vorbei.
Das Grün, dass schimmelartig alles bedeckte, hatte Nadra völlig aus der Fassung gebracht, ja handlungsunfähig gemacht. Sie wollte nur noch eines: die Tür aufreißen und aus der Hölle flüchten.
»Saadas Farbe hat mir solch einen Schrecken eingejagt«, erzählte sie später einmal der kleinen Milia, »dass ich drauf und dran war, wegzulaufen und dich im Bauch deiner Mutter zu lassen.«
»Wäre ich dann jetzt noch in Mamas Bauch?«, fragte das Mädchen.
»Nein, nein, so meine ich das nicht. Das war nur so dahingesagt.«
Milia nickte, als hätte sie verstanden. In Wirklichkeit aber hatte sie nicht verstanden. Jahre später, von ihrem Liebsten aus unerfindlichen Gründen verlassen, erkannte sie, dass Worte nichtssagend sind. Sie begriff, dass Menschen reden, um die Leere zu überbrücken, die zwischen ihnen und den anderen liegt, und um das eigene Innere mit dem Klang der Sprache zu füllen.
Milia hat ihre Geburt bruchstückhaft im Traum gesehen. Diese Bilder aber wollte sie auf keinen Fall in die Traumgrube verbannen. Sie sah das Gelb. Sah, wie es sich ausbreitete, schrak hoch. Sie riss die Augen auf. Ein Schrei entfuhr ihr. Unwillkürlich stand sie auf und legte sich neben Mûsa ins Bett.
Nadra öffnete die Zimmertür. Staub wirbelte auf. Ein großer schlanker Mann trat von außen an die Schwelle.
»Und? Erzähl!«, flüsterte er aufgeregt.
»Saada geht es nicht gut. Sie braucht einen Arzt. Lauf zu Dr. Karîm Naqfûr. Er soll kommen. Sofort!«
»Was ist los?«, fragte Jûsuf.
Nadra legte ihm die Hand auf den Mund. Er schmeckte eine Mischung aus Blut, Schweiß und Kot. Von Übelkeit und Schwindel erfasst, lehnte er sich an die Tür.
»Steh nicht herum wie ein Idiot!«, schrie ihn Nadra an. »Nun mach schon! Geh!«
Jûsuf rannte los. Am Haus des Arztes angelangt, klopfte er an. Keiner öffnete. Er war ratlos. Noch immer haftete ihm der Blutgeschmack an den Lippen. Wieder wurde ihm schwindlig. Ein Gefühl der Ohnmacht befiel ihn. Er fühlte sich niedergeschlagen, hilflos, ausgeliefert. Seine Beine trugen ihn nicht mehr. Er ließ sich auf die Stufe vor dem Haus sinken und wartete auf den Arzt. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass seine Frau sterben würde, wenn er nichts unternähme. Also raffte er sich auf und rannte durch die gleißende Sonne zum Sankt-Michael-Kloster. Weshalb er ausgerechnet das Kloster aufsuchte, verstand er selbst nicht. Denn Hadscha5 Mîlâna war ihm ein rotes Tuch. Ebenso der Zauber, mit dem sie Saada in ihren Bann zog. Unzählige Male hatte er die Nonne verflucht und seiner Frau angedroht, für immer zu verschwinden, wenn sie sich ihm weiterhin verweigerte.
»Hadscha Mîlâna«, so begründete Saada ihr Nein, »hat gesagt, dass es in der Fastenzeit Sünde ist.«
Deshalb musste er 50 Tage, also das Ende der 40-tägigen Fastenzeit und die Auferstehung des Herrn Jesus Christus abwarten, um sich ihr nähern zu dürfen. Am Ostermorgen schließlich nahm er sie. Doch sie fühlte sich für ihn an wie ein dürrer Stock. Nicht die geringste Freude hatte er an der Sache. Das lustvolle Sprudeln, das er sonst immer verspürte, wenn er mit ihr schlief, blieb aus. Er ergoss sich. Sein Durst aber war nicht gestillt. Das Gefühl von ungestilltem Durst begleitete ihn seither, zeitlebens. Mit Saadas Eintritt in die Welt jener seltsamen Nonne war sein Sexualleben ein für alle Mal zerstört. Kaum näherte er sich ihr, schlug ihm aus ihren Augen die Scham entgegen. Wollte er sie küssen, dann drehte sie den Kopf weg. Und ihre Brüste durfte er schon gar nicht berühren. Wenn sie es überhaupt zuließ, musste er das Ganze möglichst ohne Umschweife erledigen. Eindringen, schnell fertig werden und wieder herausziehen. Dann huschte sie unverzüglich ins Bad und wusch sich, wie um die Spuren der Sünde restlos zu beseitigen.
»Die Nonne ist an allem schuld. Sie ist keine Heilige. Nein, das ist ein Teufel!«, schimpfte er jedes Mal nach solch einem hölzernen Geschlechtsakt mit schmerzendem Glied. »Ich hasse sie. Sie soll mir nicht noch einmal unter die Augen kommen. Hörst du, Saada! Diese Mîlâna hat hier im Haus nichts verloren!«
Saada aber stellte sich taub. Tagaus, tagein ging sie ins Kloster. Hin und wieder brachte sie die Nonne sogar mit nach Hause, sie sollte die Kinder mit heiligem Öl salben und für Jûsuf beten. Darum beten, dass Gott ihm seinen Hass auf die Nonne vergeben möge.
Und nun fand sich Jûsuf aus irgendwelchen, ihm unerklärlichen Gründen, vor dem großen Eisentor in der Klostermauer wieder.
»Hadscha Mîlâna! Bitte! Aufmachen!«, hörte er sich rufen, mit der Faust an das Tor donnernd.
Die Nonne öffnete und trat heraus.
»Saada und ihre Tochter«, sagte sie. »Nichts wie hin! Komm!«
Vor Staunen brachte Jûsuf kein Wort heraus. Er zeuge ausschließlich Jungen, wollte er sagen, fügte sich aber stumm. Die Sonne brannte auf den Sandweg, der vom Michael-Kloster zu ihm nach Hause führte. Die Luft roch nach trocken rissiger Erde. Jûsuf keuchte. In Strömen lief ihm der Schweiß den Rücken hinab, seine Kleider klebten am Körper. Die hünenhafte Nonne mit breiten Hüften und gewaltigem Gesäß in der schwarzen Kutte eilte voraus. Jûsuf hinterher, Schritt um Schritt in ihrem monströsen Schatten, der wankend über den Sandweg huschte, sich an die Felsen schmiegend krümmte und wand, bergauf am Garten der Schabbûcs entlang und abwärts durch den Olivenhain schwebte. Jûsuf brannte der Atem in der Brust.
Er spürte den Tod, stand entsetzliche Ängste um Saada aus. Von nun an würde er sich bedingungslos ihrem Willen unterordnen, dachte er bei sich. Er würde sogar auf den Beischlaf verzichten, wenn sie nur am Leben bliebe.
Wie besessen von der Furcht vor dem Tod murmelte er das Gebet, das Saada tagtäglich sprach: »Warum, o Herr, sind es so viele geworden, die mich in Bedrängnis bringen! Viele haben sich gegen mich erhoben. Viele sagen, meine Seele fände keine Rettung in Gott. Aber du, Herr, du bist mein Beistand, mein Helfer, mein Stolz…«
»Was sagst du da?«, fragte die Nonne.
»Nichts, nichts«, sagte Jûsuf im Schatten des monströsen, der Sonne trotzenden Körpers. Mit ihrer breiten Stirn, den buschigen Brauen über vortretenden, halb geschlossenen Augen und dem dunklen, leicht olivenfarbenen Teint sah die Nonne für ihn aus wie ein alter Mann. Unterstrichen wurde dieser Eindruck durch die riesige Nase mit drei borstigen Haaren, die hahnenkammartig aus dem Gesicht stach, vor allem aber durch den Schnurrbart, der, wie mit Kopierstift gezeichnet, fein und lilafarben über den schmalen Lippen thronte.
»Diese Nonne ist keine Frau, sondern ein Mann in Frauenkleidung!«, hatte Jûsuf oft zu Saada gesagt.
Er hasse sie, hatte er außerdem gesagt. Im Übrigen entspreche ihr äußeres Erscheinungsbild nicht dem einer Heiligen. Heilige, egal ob Männer oder Frauen, seien in der Regel dünn. Denn ihr Körper schrumpfe, damit die Seele erstrahlen könne. Bei dieser Frau dagegen sei es anders. Ihr Körper erdrücke die zarte Seele. Deshalb wirke sie wie ein Mann mit Frauenstimme.
All diese Gedanken hatte ihm die brütende Julihitze aus dem Gedächtnis gewischt. Er dachte an nichts als den Tod. Im Gefolge der voluminösen Gestalt fühlte er sich wie ein Kind im Schatten seiner Mutter.
An der Haustür angekommen, drehte sich die Nonne um und machte ihm mit den Brauen ein Zeichen, dass er vorangehen solle. Jûsuf sprang die fünf Steinstufen hinauf, rannte durch den Garten, öffnete die Haustür und winkte die Nonne herein. Kaum hatte Schwester Mîlâna das gelbe Zimmer betreten, breitete sich ihr Schatten aus. Nadra setzte wie immer, wenn sich ihr die Gelegenheit bot, zu einer Schimpftirade an.
»Wo ist der Arzt? Wo bleibt dieser Huren…«, fluchte sie, kam aber nicht weiter. Vielleicht, weil die Worte im Schwarz der Nonnenkutte erstarben, noch ehe sie in den Raum geschleudert wurden.
Wie weggewischt war das Gelb auf einmal. Es war, als sei die Sonne erloschen. Vom strahlenden Schwarz der Nonnenkutte berührt, entkrampfte sich Saada augenblicklich.
»Sehen Sie, Schwester! Die Farbe! Sie ist ganz grün. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wir müssen einen Arzt holen!«
»Wozu einen Arzt?«
»Aber das Grün!«
»Was für ein Grün? Da ist kein Grün!«
Das Grün war von Saadas Körper gewichen. Stattdessen zeigte sich ein bläulicher Schimmer auf ihrer Haut, der aber schnell verflog.
»Sie ist weder grün noch blau«, stellte die Nonne fest. »Sie war einfach nur erschöpft, und jetzt ist alles wieder in Ordnung.«
Saada beruhigte sich. Das Zittern ließ nach. Dann brach sie in Tränen aus. Sie weinte, wie Jûsuf es nie zuvor erlebt hatte. Unaufhaltsam rannen ihr die Tränen, liefen die Wangen hinab, tropften auf Nachthemd und entblößten Unterleib. Jûsuf starrte auf jene Stelle, die er bisher nur als dunklen Fleck wahrgenommen hatte, nach dem er tastete, wenn er das göttliche Geschenk der Lust genießen wollte.
»Raus hier, Mann!«, bohrte sich ihm Nadras Stimme ins Ohr.
»Er soll hierbleiben!«, widersprach die Nonne mit dünner, näselnder Stimme. »Es soll ruhig mitbekommen, wie seine Frau leidet.«
Jûsuf war schon im Begriff zu gehen, als die Nonne ihn zurückhielt.
»Hiergeblieben!«, bestimmte sie. »Und Nadra, du machst dich bereit, das Kind aufzufangen. So, dann mal los, Saada, mein liebes Kind! Kräftig gepresst, und dann hast du es überstanden.«
»Pressen«, wiederholte Nadra leise, auf dem Boden vor Saadas Schenkeln kniend, die Hände vorgestreckt.
Plötzlich kehrte im Raum Stille ein. Als hätte sich Saada in den Schlaf fallen lassen, entspannte sich ihr schweißgebadetes Gesicht. Schlagartig war sie wieder weiß wie eh und je. Ein samtiges, unmerklich leuchtendes Milchweiß. Dieses Weiß würde Milia erben, es sollte ihre Schönheit ausmachen. Jene Schönheit, die Mansûr verzauberte und aus Galiläa nach Beirut lockte. Nur, um ihr strahlendes Weiß mit den Augen zu verschlingen.
Die Handflächen leicht gerundet, fing Nadra das Neugeborene auf und drückte es unwillkürlich an die Brust. Vor lauter Aufregung und Freude vergaß sie, was sie hätte tun müssen.
»Hoch mit dem Kind! Schnell!«, schrie die Nonne.
Schwerfällig richtete sich die Hebamme auf, durchtrennte die Nabelschnur, hielt das Baby an den Unterschenkeln in die Höhe. Und noch bevor sie ihm einen Klaps auf den Hintern gab, stieß sie einen Freudentriller aus.
»Babys weinen, sobald sie auf die Welt kommen. Du aber warst ganz ruhig«, erzählte Saada ihrer Tochter. »Nadra hat vergessen, dir einen Klaps auf den Hintern zu geben. Deshalb hat dich Schwester Mîlâna geschnappt. Und in den Armen einer Heiligen weint niemand!«
Jûsuf sah das anders.
»Was du immer erzählst, Saada! Die Nonne hat ihr so heftig auf den Hintern gehauen, dass sie gar nicht mehr aufgehört hat zu plärren. Aber in Anwesenheit der Nonne bekommst du offensichtlich nichts mit! Wie hypnotisiert bist du dann.«
»Herzlichen Glückwunsch! Milia ist da!«, sagte die Nonne und wies Nadra an, das Mädchen mit Wasser und Salz zu waschen.
»Wieso Salz?«, fragte Nadra. »Mit Salz waschen wir niemanden.«
»Wasser und Salz«, bestimmte die Nonne, wandte sich Jûsuf zu und bat ihn, eine Flasche Olivenöl zu holen.
Nadra wusch Milia mit Wasser und Salz. Anschließend rieb Schwester Mîlâna die Kleine mit Öl ein, wickelte sie in ein weißes Tuch und hob sie über dem Bett in die Luft, wie um sie an die weiße Kalkwand zu hängen.
»Herzlichen Glückwunsch! Milia ist da! Gott behüte sie. Möge Gott sie wachsen und gedeihen lassen und alles Böse von ihr fernhalten«, sagte Schwester Mîlâna, legte das Mädchen auf die Brust seiner Mutter und ging.
Jûsuf rannte hinterher und küsste der Nonne dankend die Hände. Den Geschmack von Salz und Öl an den Lippen, beugte er sich über Saada und küsste sie auf die Stirn.
»Milia ist da!«, sagte Saada, den Blick auf die weiße Kalkwand gerichtet. Sie sah dort ein Bild hängen, genau an der Stelle, an die Schwester Mîlâna das Kind gehoben hatte.
»Milia? Was ist das für ein Name? Ich will sie Helene nennen«, sagte Jûsuf.
»Sie heißt Milia! Mit diesem Namen ist sie auf die Welt gekommen. Du hast doch gehört, wie die Nonne den Namen ausgesprochen hat! Also Schluss jetzt!«, beendete Saada die Diskussion.
Vierundzwanzig Jahre später sollte Saada staunend vor dem Bild stehen, das Mûsa im Lîwân exakt dort an die Wand hängte, wo Schwester Mîlâna die mit Salzwasser gewaschene und mit Öl balsamierte Milia gehalten hatte. Dasselbe Bild habe sie dort unmittelbar nach Milias Geburt gesehen, erzählte sie ihrem Sohn, der sie nur entgeistert ansah und streng die Stirn runzelte, damit sie schwieg.
Diese Offenbarung äußerte Saada erst, als ihr von ihrer Tochter schon ein Jahr lang nichts anderes mehr als das Bild geblieben war.
»Als die Nonne sie hochhielt, wurde Milia zum Bild. Ja, genau dieses Bild habe ich gesehen. Kurz nach ihrer Geburt. Und drunter stand der Satz ›sondern sie schläft‹. Genau der gleiche Satz, der jetzt dort geschrieben steht. Lebensecht und zum Greifen nah habe ich alles gesehen. Aber ich habe es nicht verstanden. Herrgott, wieso nicht? In Schwarz war es geschrieben. Und die Nonne hat den Satz unter dem Bild vorgelesen.«
Einmal im Lîwân angebracht, blieb das Bild unangetastet hängen. Entfernt wurde es erst, als Mûsa das Haus niederreißen ließ, um an seiner Stelle ein neues zu bauen. Das alte Haus trug Milia im Geiste mit nach Galiläa. Immer begleitete es sie. Im Wachzustand und im Schlaf. Der Geruch hafte ihr deutlich in der Nase, sagte sie zu Mansûr. Jeden Morgen rieche sie es. Das alte Haus, bestehend aus zwei Gebäudeteilen, war auf einem Sandhügel mit Ausblick auf einen Abhang unterhalb des Erzengel-Michael-Klosters. Drumherum im Garten standen Paternosterbäume, deren duftend grünes Laub Mücken und anderes Ungeziefer fernhielt.
Das Haus war ursprünglich kleiner. Als Jûsufs Vater, Salîm Schâhîn, es kaufte, bestand es aus einem geräumigen dâr6, nebst einem durch Bogengang und Glasfenster abgetrennten Lîwân. Hinzu kamen eine kleine, dunkle Küche und ein Bad am Ende des Flurs, der von der Küche in den Garten führte. Im Garten stand ein gewaltiger, dreistämmiger Feigenbaum, an den Mûsa und Milia eine Schaukel mit Holzsitz hängten, um in den Himmel abzuheben.
Erweitert wurde das Haus, als Jûsuf heiratete. Auf Saadas Drängen sah sich der Jungvermählte gezwungen, ein Schlafzimmer, ein Esszimmer und ein Bad anzubauen. Aus Beton hochgezogen, wirkten die neuen Räumlichkeiten wie ein separater, willkürlich an das ältere Gebäude aus gelbem Sandstein gesetzter Komplex. Die Decke des älteren und gleichzeitig größeren Teils bestand aus Holz, gedeckt mit Erde und einer dünnen Schicht weißem Kalk. Der neue Teil hatte ein Betondach. In dem alten Haus herrschte im Sommer eine luftige Kühle und im Winter eine angenehme Wärme. Im anderen dagegen war es sommers heiß und winters kalt. Die vier Jungen schliefen in dem Betonhaus. Milia wohnte im Lîwân, anfangs zusammen mit den Eltern, später, nach dem Tod des Vaters, nur noch mit der Mutter. Diese Aufteilung der Familie erfolgte nach dem Tod der Großmutter. Davor hatte Großmutter Hasîba den Lîwân gemeinsam mit den Kindern bewohnt. Als sie starb, beschloss Saada die Karten neu zu mischen. Sie wies den Jungen das Betonzimmer zu und zog mit ihrem Mann in den großzügigen Lîwân. Milia ging leer aus. Deshalb bot ihr Saada einen Schlafplatz im elterlichen Zimmer an. Mûsa aber bestand darauf, dass Milia entweder neben ihm oder auf der kleinen Couch im Jungenzimmer übernachtete. Sie selbst richtete sich am liebsten auf dem Esszimmerboden eine Matratze her. Tatsache war, dass sie nirgends ihren Platz hatte. Hin- und hergerissen zwischen Sofa im Jungenzimmer und Eisenbett im Lîwân, zog sie nachts heimatlos mit ihren Träumen umher. Gelöst wurde das Problem letztendlich erst mit dem Tod ihres Vaters. Denn da bekam sie sein Bett.
Als Jûsuf starb, war Milia neun Jahre alt. Nikola und Abdallah übernahmen das Geschäft. Salîm, der älteste Sohn, studierte zu der Zeit Jura an der französischen Saint-Joseph-Universität. Und Mûsa, der Jüngste, besuchte die Sankt-Elias-Batîna-Schule.
Drei Tage nach dem Tod ihres Vaters hatte Milia einen Traum. Beim Anblick des leblos aufgebahrten Vaters verstummt sie. Wortlos lauscht sie dem Klagen und den rätselhaften Äußerungen der Frauen.
»Seine Geliebte ist da!«, ruft eine.
Sie steht inmitten einer Gruppe schwarzgekleideter Frauen, die sich, weiße Tücher schwenkend, um den Leichnam im Lîwân scharen. Mit der »Geliebten« ist sie gemeint. Das weiß sie auf Anhieb. Was eine »Geliebte« aber zu tun hat, wenn ihr Liebster stirbt, das weiß sie nicht. Ihre Knöchel knicken um, sie fällt hin, liegt am Boden. Immer wieder ist ihr dieser Traum erschienen. Zwei Knöchel knicken um, ein Mädchen bricht zusammen. Eine Nonne kommt hinzu und hängt die Kleine an die Wand. Milia sieht sich selbst. In ein weißes Tuch gewickelt, von zwei Händen in die Höhe gehalten. Dann fällt sie.
Milia schafft es nicht, sich ihrem Vater zu nähern und seine geschlossenen Augen zu betrachten. Sie schafft es nicht, weil sie zusammenbricht und sich ein Brandgeschmack in ihr ausbreitet. Der gleiche Geschmack taucht später wieder auf, als sie sich im Bett an der Seite eines Mannes wiederfindet. Sieht, wie sie an den Schlafenden heranrückt, um seinen zitternden Körper zuzudecken, ihm über die Schulter zu streichen und mit sanften Worten gut zuzureden. Doch sie fällt. Sie öffnet die Augen, will den Traum fortwischen, sieht plötzlich, wie sich durch die Spalten zwischen den gelben Fenstervorhängen Licht in den Raum schiebt. Sie schaut nach rechts. Mansûr lag auf dem Rücken. Den Mund weit geöffnet, schnarchte er. Beruhigt lächelte sie und schlief wieder ein.
Am nächsten Morgen stand Milia auf, zog sich an und setzte sich auf den Bettrand. Während sie wartete, betrachtete sie ihren Mann. Mansûr hatte sich halbkreisartig eingerollt. Die Beine angezogen und die linke Hand unter dem Kopf, atmete er ruhig und stieß von Zeit zu Zeit einen Seufzer aus den Tiefen des Schlafes aus. Er hatte etwas Kindliches. Milia beugte sich über ihn, wich aber wieder zurück und lief hinaus in den kleinen Hotelgarten.
»Du wolltest mich küssen«, sagte Mansûr.
»Nein, ich wollte dich zudecken.«
»Warum darf ich dich nicht berühren?«
»Nimm die Hand weg. Ich will schlafen.«
»Und ich will mit dir schlafen.«
»Du sollst so etwas nicht sagen! Lass das! Ich bin müde.«
Mansûr verstand an Milia eines nicht. Ein Schauspiel, das sich Abend für Abend wiederholte. Kaum bettete sie den Kopf auf das Kissen, schlief sie ein. Deshalb gewöhnte er sich an, seine Bedürfnisse zu befriedigen, während sie schlief. Sobald sich jener entspannt selige Ausdruck auf ihrem Gesicht zeigte und sie tief und gleichmäßig atmete, wusste er, dass seine Zeit gekommen war. Er schmiegte sich an sie, erkundete mit den Händen ihren Körper, legte sich auf sie und vollzog die Ehe. Ihrem leicht geöffneten Mund entwich ein Stöhnen. Die Augen aber blieben geschlossen. Sie schien zu träumen, in ferne Sphären entrückt zu sein. In ihren Quell eingetaucht, hatte Mansûr das Gefühl, schwerelos durch den Traum zu schweben.
»Gestern habe ich mit dir geschlafen«, sagte er.
»Was?«
»Erinnerst du dich denn nicht?«
»Red doch nicht so!«
Im Begriff zur Arbeit zu gehen, stand Mansûr auf der Türschwelle. In der Hand seinen süßen Mokka. Er trank einen letzten Schluck, trat an den Tisch und stellte die Tasse ab.
»Was hast du geträumt?« fragte er, Milia zärtlich in die honigbraunen, lichtbeschienenen Augen schauend. »Leg dich heute tagsüber ein wenig hin und träume den Traum noch einmal. Ich möchte, dass du gut ausgeruht bist, wenn ich abends heimkomme. Träume den Traum noch einmal. Dann klappt es heute Nacht auch wieder.«
Mansûr glaubte, Milia sei wegen der Ereignisse in Palästina verängstigt, obgleich Nazareth von den Unruhen und anhaltenden Aufständen gegen die britische Mandatsmacht und die jüdische Einwanderung nicht betroffen war. Nach der politischen Lage erkundigte sich Milia nie. Und obwohl Mansûr politisch durchaus interessiert war, mit seinen Freunden im Café oft diskutierte und ernsthaft um die Zukunft Palästinas besorgt war, sprach er mit Milia nur gelegentlich und dann auch eher beiläufig über dieses Thema. Dennoch wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass Milia kaum Anteil nahm und die Zeichen verkannte, weil sie mit ihrer Schwangerschaft und dem neuen Leben in Nazareth beschäftigt war. Allnächtlich sah sie einen Traum. Den Traum, der sie bewogen hatte, Mansûr zu heiraten und hierherzuziehen. Das Gefühl, dass in der Stadt, in der Jesus Christus vor 1900 Jahren gelebt hatte, alles wankte, machte ihr bewusst, dass nichts von Dauer war. So zog sie sich in den Schlaf und in eine von den Mauern der Nacht umringte Welt zurück.
»Mache ich!«, erwiderte Milia lächelnd auf Mansûrs Aufforderung, den Traum erneut zu träumen.
»Auch wenn du mir den Traum nie erzählt hast, mag ich ihn, weil du letzte Nacht nett zu mir warst. Wie Zucker bist du mir auf der Zunge zergangen«, schwärmte er.
Milia wusste von nichts. Das zumindest behauptete sie. Nacht für Nacht träumte sie und vergegenwärtigte sich im Spiegel der Dunkelheit das eigene Bild. Ein siebenjähriges Mädchen mit kurzem schwarzen Haar und großen grünen Augen. In dem Gefühl, der Zauber der Nacht reiche in den Tag hinein, setzte sie auch nach dem Erwachen den Traum fort und vermischte Traum- und Tagwelt. Das beunruhigte Mansûr sehr. Doch dann klärte ihn der Priester der Nazarener Nôtre-Dame-de-l’Effroi-Gemeinde, ein Syrer namens Mîkhâîl Muawwad, auf. Milias Visionen seien keinesfalls besorgniserregend, sondern auf die Schwangerschaft zurückzuführen. Sobald Milia ihr erstes Kind zur Welt gebracht hätte, so versicherte er, würde sie auch wieder aus der Nachtwelt herausfinden.
Milia trat aus dem Hotel hinaus in Garten und Sonne. Der Schnee hatte etwas von weißen Inseln zwischen den grauen Bäumen. Eine kühle Brise wehte. Beharrlich kämpften sich die Sonnenstrahlen durch die Wolken am Himmel. Mit Licht und Luft spülte Milia den Traum fort. Während sie durch den Garten spazierte, spürte sie, wie sich ihr Becken rundete. Alles an ihr war auf einmal rund und heiß. Sie setzte sich auf den Rand des kleinen Bassins, tauchte die rechte Hand ins kalte Wasser. Augenblicklich war die Hitze in ihren Fingern erloschen. Ein eisiger Schauder kribbelte ihr den Arm hinauf in die Schulter und in die Brüste. Unvermittelt kündigte sich schmerzhaft die Milch an. Milia sah Milch aus ihren Brüsten quellen, sich Tropfen um Tropfen zu Fäden verbinden. Tränen schossen ihr aus den Augen, rannen auf den üppigen Busen und verschmolzen mit der Milch.
Als Milia vier Jahre alt war, stellte die Familie eine Haushalthilfe ein. Hanna aber blieb nur kurz. Denn Schwester Mîlâna nahm sich der kranken Saada an, heilte sie, indem sie ihr ein mit heiligem Öl getränktes Stück Watte gab und drei volle Tage und Nächte an ihrer Seite im Lîwân wachte. Saada sei wieder gesund, hieß es. Aber das war sie nicht.
»Sie ist ein anderer Mensch geworden«, erklärte Jûsuf der Nonne und erntete damit nur tadelnde Blicke und ein unmutiges Räuspern.
»Schäm dich, Jûsuf!«, wies sie ihn zurecht.
Plötzlich erwachende Scham stieg in Jûsuf auf und schwebte wie ein Glorienschein über seinem grauhaarigen Kopf, sichtbar für all seine Kinder. Zeitlebens verfolgte ihn die Gloriole und verflog erst mit seinem Tod. Als er aufgebahrt dalag und die Söhne sich über ihn beugten und ihm einen Kuss auf die Stirn gaben, sah Milia, wie sich der Lichtkranz auflöste. Friedlich schlafend trat er die letzte Reise an – zu seinem Kollegen.
»Er ist dein Kollege, Herr Jesus Christus!«, rief Saada schluchzend, als man den Toten in den Sarg bettete.
»Schäm dich, so etwas zu sagen!«, schimpfte die Nonne.
»Aber er ist ein Schreiner, und Jesus war auch Schreiner«, rechtfertigte sich Saada.
»So etwas sagt man nicht! Jesus liebte Fisch und war Fischer«, sagte die Nonne streng.
»Aber er war auch Schreiner«, widersprach Saada. »Gott vergebe dir, Jûsuf! Wie konntest du mir das antun und mich verlassen! Grüße meinen Vater von mir.«
Den letzten Traum ihres Vaters hat Milia nicht gesehen. Dass er ihr im Traum erschienen sei, war erfunden. Mit Schreinerwerkzeug in der Hand, so erzählte sie allen, sei er Seite an Seite mit einem gutaussehenden, vollbärtigen Mann in eine schwarze, den Tag verdunkelnde Wolke geschritten. Sie sei an ihn herangetreten, wollte ihn küssen, brach aber zusammen und wurde von der Nonne aus dem Zimmer getragen.
»Du solltest dich schämen!«, wies die Nonne Jûsuf zurecht und gab Saadas Genesung bekannt.
Keiner wusste, was Saada für eine seltsame Krankheit hatte. Kaum setzte sie morgens einen Fuß auf den Boden, wurde ihr schwindlig, sodass sie gleich wieder ins Bett zurücksank. Dann rief sie ein leidendes »aua!«, und sofort stand einer ihrer Söhne bereit und half ihr auf die Beine. Sich an der Wand entlanghangelnd, wankte sie in die Küche. Endlich dort angekommen, bekam sie Gleichgewichtsstörungen und erbrach sich.
Aus diesem Grund wurde Hanna ins Haus geholt. Doch sie blieb nicht lange. Denn Saada erholte sich dank Schwester Mîlânas Wundertaten bald wieder. Und damit war Hannas Anwesenheit überflüssig. In Wirklichkeit aber war Saada noch immer krank. Zwar kam sie wieder eigenständig aus dem Bett. Den Haushalt aber schaffte sie nicht mehr. Deshalb übernahm Milia diese Aufgabe. Sie erledigte alles. Kochen, Wäschewaschen, Putzen.
Die Krankheit, so erzählte sich die Familie, sei nach Jûsufs Tod aufgetaucht beziehungsweise durch diesen ausgelöst worden. Als Jûsuf starb, war Milia neun Jahre alt. Und vier Jahre war sie alt, als Hanna zu ihnen kam. Wie dem auch sei. Jedenfalls erfinden Familien ihre Geschichte und glauben daran. Eines zumindest steht fest. Zur Chefin des Hauses wurde Milia erst, als ihr Vater nicht mehr lebte. Lange Jahre war sie davon überzeugt, dass ihre Mutter durch Jûsufs Tod erkrankte. Doch nun meldete sich unverhofft Hanna aus den Rissen der Erinnerung zurück. Allein im Hotelgarten auf dem Beckenrand in der Sonne sitzend, die Hand ins Wasser getaucht, um die glühenden Finger zu kühlen, kam ihr plötzlich Hanna in den Sinn. Milia sah alles wieder deutlich vor sich. Sah, wie Hanna unter dem Olivenbaum gesessen hatte und weinend ihre entblößten Brüste knetete, sodass Milch herausquoll und ins Gras tropfte. Hanna war klein und rundlich, sie hatte ein helles, breites Gesicht, eingesunkene Augen unter buschigen Brauen und wulstige Lippen. Sie hatte die Brüste gerade zurück in das weite schwarze Kleid gesteckt, als sie Milia entdeckte, die in einiger Entfernung dastand, sichtlich verstört. Hanna hatte die Vierjährige zu sich gewunken, worauf diese stolpernd näher kam.
Sie vermisse ihren kleinen Sohn, hatte Hanna schluchzend gesagt.
Milia hatte nichts von Hannas zusammenhanglosen Satzfetzen verstanden. Unwillkürlich hatte sie die Flucht ergriffen, auf dem Weg ins Haus gespürt, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Und nun, die Hand im Wasser, auf den Lippen ein scheues Lächeln, versuchte sie die Erinnerung an jene Frau aus dem Dorf Dschâdsch bei Byblos zu rekonstruieren. Hanna hatte so manches erzählt. Von einem Kind, das drei Tage nach der Geburt starb. Von einem Ehemann, der aus dem Dorf verschwand. Von zwei Brüsten voll Milch.
»Mein Busen tut weh«, hallte Hannas heiser dumpfe, wie aus unergründlicher Tiefe dröhnende Stimme in Milias Ohren nach. »Möchtest du die Milch probieren?«
Nein, so war es nicht gewesen.
Hatte Hanna sie wirklich so etwas gefragt? Milia wusste es nicht. Eines aber wusste sie genau. Ihr war das Wasser im Mund zusammengelaufen. Gleichzeitig hatte eine plötzlich in ihr aufsteigende Angst sie zur Flucht bewogen. Hatte sie von der Milch gekostet? Wieso haftete ihr so ein süßlicher Geschmack unter der Zunge? Jener Geschmack, der ihr jedes Mal, wenn sie auf Nadschîb wartete, aus den Brüsten auf die Lippen gestiegen war?
Seither traute sich Milia, wenn sie Hanna mit dem Rücken zum Haus unter dem Olivenbaum sitzen sah, nicht mehr in den Garten.
Was hatte es mit Hanna auf sich? Weshalb hatte die Nonne sie aus dem Haus gejagt?
Immer wieder erschien ihr im Traum jenes Bild. Eine Frau mit gewaltigen Brüsten und im Hintergrund Jûsufs dunkles Gesicht mit gierig nach der überquellenden Milch schielenden Augen. Was hatte sich zugetragen? Milia wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass Hanna aus ihrem Dorf nach Beirut gezogen war, dass sie als Dienstmagd bei ihnen im Haus gearbeitet hatte und dass ihr einziger Sohn drei Tage nach der Geburt gestorben war.
Der Junge, so hatte Hanna erzählt, war blond. Nur drei Tage habe er gelebt. Plötzlich standen ihm die flaumweichen Haare wie Stacheln vom Kopf ab. Da wusste sie, dass er tot war.
Aber weshalb hat die Nonne sie aus dem Haus gejagt?
Hatte Milia womöglich die Sache mit den Brüsten weitererzählt? Wusste sie als Einzige, dass Hanna an Milchstau litt?
Und nun, im Hotelgarten auf dem Beckenrand sitzend, spürte Milia, wie sich auf einmal in ihren Brüsten die Milch staute. Der Himmel färbte sich grau. Sie schloss die Augen, erinnerte sich.
Sie ist allein. Es ist drückend heiß. Sie schleicht im Garten nackt um das Haus. Es ist dunkel, aber nicht finster. Wieso hat sie ausgerechnet diese Sequenzen in der traumreichen Hochzeitsnacht ausgelassen?
Nackt steht die kleine Milia vor dem Bassin im Garten des alten Beiruter Hauses. Der Olivenbaum ist da. Schnee rieselt weiß vom Himmel und lässt sich auf dem Wasser nieder. Ihr ist heiß. Sie hat das Gefühl zu ersticken.
Eben noch trug sie ein orangefarbenes Minikleid. Nun liegt es am Boden. Als hätte eine Hand den Reißverschluss vom Nacken den Rücken hinunter aufgezogen, war ihr das Kleid plötzlich vom Körper geglitten. Dieselbe Hand reißt ihr die Unterwäsche vom Leib. Dann steht sie nackt im Wasserbecken. Der Schnee rieselt warm auf sie herab. Sie drückt den Schnee an die Brust. Durstig schnappt sie nach den Flocken. Sie schwimmt und isst Schnee. Sie isst, ohne dass der Durst vergeht. Sie schwimmt, ohne dass ihr kühler wird. Der Traum nimmt kein Ende. Der Durst nimmt kein Ende. Der Schlaf nimmt kein Ende. Der Schnee nimmt kein Ende. Wasser. Überall Wasser. Alles schwimmt im Wasser. Die kleine Milia schwimmt, isst, schläft. Sie ist von Schnee bedeckt und glüht von innen.
Milia zog die Hand aus dem Wasser. Der Schauder hatte von den Brüsten auf den Bauch übergegriffen. Das Gesicht ihres Vaters erschien ihr. Die Augen halb geschlossen, schwebte er davon und wieder auf sie zu. Sie wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus.
Hanna sprach zu ihren milchprallen Brüsten. Erzählte ihnen, wie ihr Ehemann sie verstoßen und das Kind weggenommen hatte. Demnach war der Junge in Wirklichkeit nicht gestorben, sondern entführt worden! Weshalb also hatte Hanna behauptet, dass sein Haar plötzlich spröde wie trockene Stacheln abstand? Hatte der Vater das Kind getötet?
»Was heißt, er hat sie verstoßen?«, fragte Milia ihre Mutter.
»Nimm dieses Wort nie wieder in den Mund! Hörst du! Bei uns gibt es so etwas nicht. Scheidung ist Sünde.«
Hanna war eines Tages verschwunden, und mit ihr verschwand ihre Geschichte. Milia hat keinem Menschen je davon etwas verraten. Nur ihrem Bruder Mûsa gegenüber sprach sie darüber. Denn er war noch klein. Als er aber älter wurde, ging die Geschichte ins Dunkel der Vergessenheit ein.
Nach Jûsufs Tod erkrankte Saada. Fortan brachte sie ihre Zeit hauptsächlich im Erzengel-Michael-Kloster bei den Ikonen und Nonnen mit Beten zu. So fromm, wie sie war, hätte sie es im hohen Alter zu einer Heiligen oder Ähnlichem bringen können. Denn sie aß nur trockenes Brot und verteilte gegen alle erdenklichen Krankheiten ölgetränkte Watte an ihre Angehörigen. Keiner hätte je zu behaupten gewagt, dass die Arznei bei ihm fehlgeschlagen habe, denn er wäre der Lüge bezichtigt worden. Alle Familienmitglieder, ob groß oder klein, glaubten fest, dass Saada Wunder vollbringen könne und dass sie diese Fähigkeit ihrer besonderen Beziehung zu der Nonne mit dem monströsen Körper und der fiepsigen Stimme verdanke.
Milia spürte das Wasser. Schtûras Morgenkälte kroch ihr in den Körper. Sie beschloss, wieder aufs Zimmer zu gehen. In der Hotelhalle stand das Frühstück bereit. Der Fahrer saß allein am Tisch und schlang Spiegeleier, Labna und Käse in sich hinein. Kaum bemerkte er sie, rieb er sich die Hände und beobachtete sie grinsend aus den Augenwinkeln. Eine spöttische Bemerkung schlich unübersehbar um seinen Mund herum. Doch er sparte sie sich und kaute stumm weiter, auf den Lippen einen sarkastischen Ausdruck. Milia stieg die Steintreppe auf Zehenspitzen hinauf, ging zum Zimmer, öffnete die Tür. Drinnen war es dunkel. Die Vorhänge waren noch zugezogen. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Ein Geruch wie der, der im Traum aus dem Wasserbecken aufgestiegen war. Von plötzlicher Müdigkeit übermannt, zog sich Milia aus, streifte das Nachthemd über und schlüpfte ins Bett. Mansûr, fest in die Decke gehüllt, lag zu einem Halbkreis zusammengerollt neben ihr. Sie betrachtete seine geschlossenen Augen, und sofort erwachte in ihr ein Gefühl der Zärtlichkeit, begleitet von einem leichten Schmerz, der von den Schultern den Rücken hinabwanderte.
Milia sollte es nicht Liebe nennen. Jetzt im Bett, wie vorher im Auto, empfand sie etwas Undefinierbares, für das sie erst in Nazareth einen Begriff fand. Das Wort »Liebe« hat sie nur ein einziges Mal ausgesprochen. Das war, als sie einmal während der Schwangerschaft nach Weihrauch duftend von einem Besuch der Kirche heimkam. Mansûr war im Garten, rauchte eine Zigarette und genoss den feuchten Erdgeruch nach dem Regen.
»Weißt du, Milia, unser Kind wird zu Weihnachten auf die Welt kommen.«
Milia, im fünften Monat schwanger, war berauscht von dem Duft des Frühseptemberregens. Sie wusste genau, wann sie das Kind bekommen würde, sogar die Uhrzeit wusste sie. Doch als sie das Wort »Weihnachten« aus Mansûrs Mund hörte, ging ihr ein Ruck durch den Unterleib, als hätte sich das Kind bewegt. Sie nahm einen weißen Dunst um Mansûrs Augen wahr und erinnerte sich unwillkürlich an den Anblick seiner geschlossenen Augen an jenem Morgen im Masâbki-Hotel.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Wenn du mich liebst, warum darf ich dann nicht mit dir schlafen?«
Sie legte ihm die Finger auf die Lippen, damit er nicht weitersprach. Warum sagte er so etwas? Warum benutzte er diesen Ausdruck? Sie hatte ihm doch schon oft genug deutlich gemacht, dass sie davon nichts hören wollte. Dass Sex ausschließlich der Fortpflanzung dient. Und dass sie nun gottlob schwanger war.
Mansûr aber sprach weiter. Milia dagegen hüllte sich in Schweigen. Sie zog den Schleier des Schweigens über das Gesicht und bewegte sich auf Zehenspitzen durch das Haus. Lautlos erledigte sie ihren Alltag. Sie räumte auf, kochte und wartete auf ihren Mann, ohne viel Worte zu verlieren, geschweige denn Fragen zu stellen. Mansûr konnte so spät heimkommen, wie er wollte, sie beschwerte sich nicht und stellte ihn auch nie zur Rede.
Er sprach von Liebe, schwärmte von ihrer Schönheit, gestand, dass er ihr auf den ersten Blick verfallen sei. Vieles mehr sagte er. Sie aber senkte nur stumm lächelnd die Lider.
»Die Ehe macht durstig«, stellte er einmal fest.
»Mir geht es ähnlich. Ich habe auch immer Durst«, erwiderte sie.
Dass sein Durst von ihrem Schweigen rührte, dass er unentwegt die Löcher stopfte, die ihre Wortkargheit riss, sagte er nicht. Ebenso wenig fragte er, weshalb sie sich beim Liebesakt schlafend stellte. Er wusste, dass ihr leises Stöhnen kein Ausdruck von Ablehnung oder Schmerz war, sondern von Lust. Die kaum hörbaren Laute, die ihren geschlossenen Lippen entwichen, erregten ihn. Erregten jede Pore, zogen ihn unweigerlich in ein tiefes, weites Meer. Sehnsüchtig wartete er auf die Dunkelheit. Die Augen geschlossen, erfüllt von Lust, gab er sich den sanften Wellen hin. Warme Luft umschloss ihn, hieß ihn für immer zu verweilen. Dann, auf dem Höhepunkt, fühlte sich alles an ihm spitz an. Er wollte mehr und mehr davon. Doch Milia, die Augen immer noch zugedrückt, schloss die Beine und drehte ihm hustend den Rücken zu. Sich selbst überlassen, raffte er sich samt seinem erschlafften Glied auf und ging ins Bad.
Kaum hörte er ihr traumgefärbtes Stöhnen, schwebte er unwillkürlich zum Ausgangspunkt der Liebe zurück. Und sofort war ihm aus dem Sinn, dass er in jenem berühmten Zimmer Nr. 10 versagt hatte. Dass er seine Pflicht in der Hochzeitsnacht versäumt hatte. Aber er hatte beim besten Willen nicht mit ihr schlafen können. Von seinen Kräften restlos im Stich gelassen, hatte er sich sterbenselend gefühlt. Immerhin war er zuvor über eine Stunde durch Nebel, Schnee und Sturm geirrt, voller Angst, jeden Moment vom Wind erfasst und ins Tal geweht zu werden. Hinzu kam die Sache mit der Männlichkeit. Im Nebel war seine Männlichkeit selbstbewusst vorangegangen. Und er hatte sich ihrer Führung überlassen, unsicher hinterhertaumelnd, die Augen der kalten Nässe ausgesetzt. Er wollte die Augen schließen, um sie vor der eisig brennenden Kälte zu schützen. Er drehte sich um, versuchte Milia auszumachen. Aber er sah nur die schemenhaften Umrisse des Wagens, der sich langsam wie eine Schildkröte vorwärts schleppte. Dann mitten auf den Höhen des Dahr al-Baidar stieg der Chauffeur aus und verkündete, dass er keinen Meter mehr weiterfahren könne und auf der Stelle nach Beirut umkehren werde.
»Dann fahre ich eben weiter«, schrie Mansûr und wollte schon zurück zum Wagen. Doch da saß der Fahrer bereits am Steuer und gab ihm mit Handzeichen zu verstehen, dass er folgen würde.
»Das Schlimmste ist überstanden!«, rief Mansûr in den Sturm, und seine Worte zerstoben.
In Wirklichkeit aber war nichts überstanden. Der Weg war äußerst gefährlich. Etliche Male glitt Mansûr aus. Auch das Auto geriet wiederholt ins Schlittern. Dann endlich lichtete sich der Nebel. Mansûr stieg in den Wagen. Milia schlief, eingehüllt in den Mantel ihrer Mutter. Sie fröstelte. Mansûr sprach sie an, wollte ihr ein Gedicht aufsagen. Eines von den vielen alten arabischen Versen, die er ausgesucht hatte, um sie zu rezitieren, wenn sie in ihrem Hotelzimmer mit Champagner anstießen, noch bevor er sie in die Arme schlösse. Ihm fielen aber nur diese beiden Verse ein:
Unbezwingbar sind die Berge des Libanon,
denn auch im Sommer herrscht dort Wind und Eis.
Dichter Schnee verwischt den Weg vor Augen,
düster und schwarz erscheint dann das klare Weiß.
Milia öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder. Offenbar hatte sie die Verse nicht verstanden, vielleicht nicht einmal gehört. Mansûr war enttäuscht. Die Poesie war sein Geschenk an sie. Alte arabische Liebesgedichte sollten das gemeinsame Leben einleiten. Er sei ein Dichter auf seine besondere Art, wollte er ihr sagen. Denn er könne unzählige Verse aus dem Gedächtnis aufsagen. Und für die Hochzeitsnacht hatte er überlegt, ihr eine ganze Tafel mit Gedichten aufzutischen. Er hatte sich genau ausgemalt, wie er sie überraschen wollte. Sie, die sein Herz erobert und ihn zum rastlosen Wanderer gemacht hatte. Er wollte ihr mit dem Champagnerglas in der Hand einen Teppich aus Worten zu Füßen legen.
Mansûr wusste nicht, dass diese flüchtige Begegnung im Garten sein Leben auf den Kopf stellen und ihn auf ein stetes Reisen zwischen Nazareth und Beirut schicken würde.
Er sah sie. Die Haut zartweiß, das lange Haar zum Pferdeschwanz zusammengebunden, den Oberkörper vorgebeugt, goss sie das Basilikumbeet. Und da war es um ihn geschehen. Nach Beirut war er gekommen, um Ware für sein in Nazareth neu eröffnetes Stoffgeschäft einzukaufen. Ursprünglich betrieb er zusammen mit seinem Bruder Amîn eine vom Vater geerbte Schlosserei in Jaffa. Nachdem er sich aber mit seinem Bruder über die Geschäftsführung entzweit hatte, ging er seine eigenen Wege. Er zog nach Nazareth mit dem Ziel, ein neues, unabhängiges Leben anzufangen.
»Ich plane, viel Geld zu verdienen und nach Jaffa zurückzugehen«, erklärte er Milia, kaum waren sie in ihrem Haus in Nazareth angekommen.
»Ich ziehe Bethlehem vor«, sagte Milia und senkte den Kopf.
»Wieso? Was gibt es denn in Bethlehem?«, fragte er.
Sie schwieg, sah in dem Augenblick den goldenen Lichtkranz zwischen ihren Wimpern flimmern. Von diesen Traum hatte sie keinem Menschen je erzählt. Was hätte sie auch sagen sollen? Etwa, dass sie wegen des Traums in die Ehe eingewilligt hatte? Dass sie auf Befehl einer Stimme jetzt hier in Nazareth war? Die Ereignisse hatten sich in ihrem Gedächtnis vermischt. Im Traum war ihr eine Frau mit Baby erschienen. Die Frau legt der kleinen Milia das Baby in den Arm und verschwindet in ihr blaues Kleid. Milia sieht, wie sich das Blau flatternd ausbreitet und bald das ganze Tal eingenommen hat. Die Frau hat das Baby Milia anvertraut. Ein dunkles Baby, die Augen geschlossen, gewickelt in eine Art Leichentuch. Über dem kleinen Kopf schwebt ein Glorienschein. Blaues Licht liegt der Siebenjährigen auf den Knien. Sie sitzt am Abhang vor einem steinernen Denkmal, im Rücken ein verlassenes Gebäude aus weißem Naturstein. Wie eine alte Kirche sieht das Gebäude aus. Die Frau ist aus dem Nichts aufgetaucht. Kurz darauf verschwindet sie wieder. Sie lässt ihr Kleid zurück. Das Kleid folgt ihr, breitet sich über das Tal aus. Milia steht auf, greift nach dem Kleid, merkt, dass sie im Begriff ist, den Halt zu verlieren. Sie drückt das Kind an die Brust, geht ein paar Schritte rückwärts, stolpert über einen Stein. Im Fallen öffnet sie die Augen und atmet tief ein. Die Öllampe vor dem Ikonenschrein an einem erhöhten Platz in der Ecke des Lîwâns droht auszugehen. Der Docht glimmt bläulich. Die blaue Frau, die Milias Sicht entschwunden ist, steigt in den Schrein aus braunem, rötlich golden changierendem Holz. Milia schließt die Augen. Die blaue Frau kommt zurück. Sie legt Milia das Baby auf die Knie und verschwindet erneut in das blaue Kleid. Das Kleid breitet sich über dem Tal aus. Das Kind auf dem Arm, tritt Milia an den Abhang. Sie will nach dem Kleid greifen, zögert, weicht zurück und fällt.
Am Morgen darauf erzählte ihr Mûsa von dem Bräutigam. Er komme aus Bethlehem, sagte er, worauf Milia einwilligend den Kopf senkte.
»Ich habe mich geirrt, er ist nicht aus Bethlehem, sondern aus Nazareth«, korrigierte sich Mûsa.
Wieder senkte Milia einwilligend den Kopf.
Hatte sie den Namen der beiden Städte im Traum gehört? Hatte die blaue Frau die Namen genannt? Milia erinnerte sich an keine Stimmen. Doch als sie auf Mansûrs Frage, was es in Bethlehem gäbe, nur ein Lächeln zustande brachte, begriff sie, dass die Namen der beiden Städte tatsächlich im Traum gefallen waren und dass sie keine Antwort geben konnte.
Hatte sie dem Mann aus Nazareth wirklich ihre Liebe gestanden?
Sie sah sich mit Mansûrs Augen. Sah, wie sie sich über das Beet beugte und mit Genuss die Mischung aus Erd-, Wasser- und Basilikumduft einatmete. Obwohl Mansûr sie nur von hinten sah, wollte er nicht mehr ohne sie aus Beirut fortgehen.
»Ich brauche dich nur zu sehen, und schon bekomme ich Durst«, sagte er.
»Wie findest du, schöner Mond auf Erden, den Mond am Himmel?«, fragte er.
»Ich bin hier, um den Basilikumduft zu behüten«, sagte er.
Sie hörte die Stimme, drehte sich um, erblickte ein Gesicht, das dem ihres Bruders Mûsa ähnlich sah. Ein Rausch erfasste sie. Ein Rausch, ausgelöst durch die Verschmelzung von Basilikum- und Wortduft. Er sprach, und schon roch es nach Basilikum. Er spazierte durch den Nachbargarten, und sofort löste das Rascheln einen Schauder aus, der ihr vom Nacken den Rücken hinabrieselte. Nur ein einziges Mal hat sie ein paar Sätze mit ihm gewechselt. Es war im Herbst, als erste Regengüsse die Erde tränkten. Milia stand in langem blauem Rock und weißem Hemd draußen und beobachtete, wie die Bäume ihre Blätter ließen.
»Du bist es!«, drang ihr seine Stimme ans Ohr.
»Ich soll wer sein?«, fragte sie.
»Du weißt schon«, sagte er.
»Ich?«
»Ich liebe dich«, sagte er.
»Weshalb?«, fragte sie.
»Ich liebe dich, und ich will dich.«
»Mich?«
Milia hüllte sich in ihr Weiß und verschwand ins Haus. So sollte Mansûr die Situation später beschreiben. Sie habe sich in ihr Weiß gehüllt, sei darin verschwunden, sagte er. Zustimmend senkte sie den Kopf.
Auf dem Weg ins alte Haus spürte sie seine Augen regelrecht auf Nacken und Schultern. Schmerzhaft wie Nägel bohrten sie sich ihr ins Fleisch. Schwer getroffen fuhr Mûsa sie an, als er erfuhr, dass sie sich auf den Fremden eingelassen hatte, ohne ihn einzuweihen. Sie aber hatte nichts zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Stattdessen griff sie sich an den Nacken, um die Nägel herauszuziehen, und willigte ein.
Mansûr schlief. Milia versuchte zu schlafen. Sie schloss die Augen. Es zuckt in ihrer linken Fußsohle. Sie rutscht von der Leiter ab. Sie soll sich nicht fürchten, sagt Mûsa. Eine lange Holzleiter. Unten sind Strand und Meer. Alles schimmert hellblau. Milia steigt die Leiter hoch. Schwester Mîlâna steht unten und rüttelt an der Leiter. Milia steht weit oben auf der wankenden Leiter. Sie klammert sich an die Sprosse über ihr, versucht weiterzuklettern. Sie wirft einen Blick in die Tiefe, sieht Wellen und Gischt. Plötzlich verliert sie den Halt, fällt hinunter, wirbelt akrobatisch durch die Luft. Kopfunter schlägt sie auf die Leiter auf, überschlägt sich. Sie fällt immer schneller. Die Leiter nimmt kein Ende. Die Nonne tritt aus dem Bild. Mûsa streckt die Arme aus, um sie aufzufangen. Er stürzt ins Wasser, wird von den Wellen verschlungen. Milia steht auf einem Felsen im Meer. In ihren Shorts haben sich Algen verfangen. Salz brennt ihr in den Augen. Sie hält Ausschau nach ihrem Bruder, findet ihn nicht. Eine Hand schnellt auf sie zu, stößt sie ins Wasser. Sie geht unter, bekommt keine Luft mehr, erstickt. Sie öffnet die Augen, leckt sich das Salz von den Lippen. Um sie herum nur Dunkelheit.
Milia setzte sich auf die Bettkante. Sie legte die Hand auf die Brust, um ihr Herz zu beruhigen. Das Herz pochte im ganzen Körper. Im Hals, in den Schläfen, in den Fußsohlen. Alles in ihr bebte.
Warum diese Angst? Wovor hatte sie Angst?
Ein flüchtiges Lächeln zog im Dunkeln über ihre Lippen. Das ist nur ein alter Traum, beruhigte sie sich. Der Traum hatte sie vor gut drei Jahren verlassen. An dem Tag, an dem sie Nadschîb Karam kennenlernte und glaubte, dass er sie von ihren Träumen erlösen und in die Wirklichkeit führen würde. Nadschîb aber verschwand aus ihrem Leben. Der Traum von der Leiter und dem Meer kehrte dennoch nicht zurück. Nun aber in Zimmer 10 im Masâbki-Hotel in Schtûra auf der Bettkante sitzend, stellte sie sich einige Fragen, deren Antwort sie kannte. Quälende Zweifel stiegen in ihr auf.
»Ich bin im Traum hingefallen, und jetzt tut mir das Bein weh«, sagte Milia zu ihrer Mutter.
»Hör auf mit diesem Altweibergewäsch. Du redest schon wie deine Großmutter!«, schimpfte die Mutter. »Du bist eine junge Frau. Mach dir lieber Gedanken, wie du einen geeigneten Bräutigam findest!«
Die weiße Frau schrak hoch. Sie stand auf, hob das lange Nachthemd vom Boden auf und zog es an. Dann setzte sie sich auf die Bettkante. Wieder hörte sie die Stimme der Mutter, die rau, belegt vom vielen Schischa-Rauchen aus ihrer Kehle hallte. Diese Stimme sollte Milia in Nazareth stets begleiten. Und sollte das Letzte sein, was an ihr Ohr drang, bevor sie den Jungen vor ihrem Foto sitzen sah. Sah, wie er den klein in Naskhi-Schrift7 unter dem Porträt stehenden Vers aus dem Evangelium abschrieb.
Weshalb erschien ihr das Zimmer, in dem sie ihre Flitterwoche verbrachten, in dieser Weise?
Er hatte ihr den Rücken gekehrt. Sie träumte mit offenen Augen einen Traum, der sich von all ihren bisherigen Träumen unterschied. Wo war der alte Traum hin?
Milia lebte im Rhythmus ihrer Träume. Sie stand morgens auf, wischte sich die Träume von den Lidern und setzte die Geschichte fort. Nadschîb sitzt mit einer anderen Frau unter dem riesigen Feigenbaum im Garten ihres Beiruter Hauses. Sie selbst steht abseits, beobachtet, wie Nadschîb der Frau über das Haar streicht, sich zu ihr beugt und sie auf den Hals küsst. Kurz darauf sind beide verschwunden.
Kam Nadschîb am folgenden Tag zu Besuch, mied ihn Milia. Sie weigerte sich, auch nur ein Wort mit ihm zu wechseln. Erst wenn der Traum von einem neuen fortgewischt war, wandte sie sich ihm wieder zu.
»Was war eigentlich gestern mit dir?«, fragte Nadschîb.
Wortlos lächelte sie.
»Ich verstehe das nicht. Ist irgendetwas vorgefallen?«
»Das hat mit dir nichts zu tun«, sagte sie und lachte unvermittelt. »Ich hatte einen bösen Traum und war deshalb schlecht gelaunt. Vergiss es einfach!«
Nadschîb konnte ihr Verhalten nicht nachvollziehen und bestand darauf, den Grund zu erfahren. Sobald sie aber ihren Verdacht äußerte und ihm auf den Kopf zusagte, dass er sie mit einer gewissen Brünetten unbekannten Namens hinterginge, sprang er empört auf und ging.
Am Ende verschwand Nadschîb tatsächlich aus ihrem Leben und heiratete jene dicke Frau.
In der Nacht träumte Milia von ihm.
»Ich bin vor deinen Träumen weggelaufen«, so seine Worte im Traum. »Mit einer Frau wie dir kann man unmöglich zusammenleben!«
»Mein Traum hat sich bewahrheitet«, sagt sie. »Ich habe dich gesehen. Im Grunde hätte ich dich da schon verlassen müssen. Ich hätte nicht warten dürfen, bis du mich verlässt. Mein Fehler.«
Milia hatte alles deutlich gesehen.
Nadschîb sitzt da. An seiner Seite jene Frau mit einem Hintern, so ausladend, dass er den ganzen Garten einnimmt. Und neben den beiden steht Milias Bruder Salîm.
»Ich hasse dich!«, schleudert sie Salîm entgegen. »Du spielst den Anständigen… den Heiligen, und in Wirklichkeit… Pfui Teufel!«
Dann steht sie wieder auf der Leiter. Sie rutscht aus, fällt kopfunter, kreischend. Mûsa steht unten, die Arme ausgestreckt, um sie aufzufangen. Sie schlägt auf dem Boden auf, fühlt sich wie ein Haufen zertrümmerter Knochen.
»Wie konntest du einfach gehen, Mûsa? Wie konntest du mich im Stich lassen? Die Sache mit dem Geld quält dich wohl immer noch, was?«
Sie hatte geträumt, Mûsa habe die Münzen entwendet, die sie unter ihrer Matratze aufbewahrte. Am Morgen, erwacht, schaute sie nach dem Geld, und es war tatsächlich fort. Als Mûsa aus der Schule heimkam, stellte sie ihn zur Rede. Mit hochrotem Kopf wies er die Anschuldigung zurück, hielt es aber schließlich nicht mehr aus und gestand unter Tränen. Milia küsste ihn auf die Wimpern und verzieh ihm.
Milia spielte mit Vorliebe ihr Traumspiel. War ihr ein Traum entfallen, dann ließ sie, morgens erwacht, die Augen geschlossen. Sie stellte sich schlafend und wartete, bis Bilder auftauchten, die sie durch den Tag tragen würden. Und abends im Bett malte sie sich vorm Einschlafen aus, was sie träumen wollte. Nein, ganz so einfach gestalteten sich die Dinge nicht. Eines aber konnte sie tatsächlich bestimmen. Den Handlungsort der Träume. Und so spielten sie meist am Strand oder an einem Abhang. Selbst im tiefsten Winter suchte sie den Strand auf. Sie hüllte sich in ihre Decke, schloss die Augen, im Sinn die Farbe Blau, und schon fand sie sich im Wasser wieder.
Ihre vier Brüder gingen im Sommer täglich ans Meer. Hin und wieder ging sie mit, badete aber nicht.
»Du bist ein Mädchen. Und schwimmen gehört sich nicht für ein Mädchen!«, sagte Salîm, der älteste Bruder.
»Warum nicht?«, fragte Milia.
»Weil du ein Mädchen bist«, bestimmte Salîm.
»Ich bin kein Mädchen.«
»Wieso? Hast du denn auch einen Puller?«, fragte Mûsa.
»Halt den Mund, Dummkopf!«, schimpfte Salîm. »Und du, Milia, bleibst hier auf den Felsen. Du darfst uns zusehen.«
Einmal hatte Milia unbändige Sehnsucht nach dem Meer. Sie und Mûsa waren allein zu Hause. Die Mutter war unterwegs »Ikonen lecken«, wie Salîm ihre ständigen Besuche im Kloster beschrieb. Und Salîm hielt sich bei den Jesuiten auf. Zu Hause waren, wie gesagt, nur Milia und Mûsa. Milia war zwölf Jahre alt. Sie bat Mûsa, mit ihr ans Meer zu gehen. Dann befahl sie es ihm. Schließlich taten sie es. Dort angekommen, zog sie die Kleider aus und die Badehose an, die sie aus Salîms Schrank genommen hatte. Zitternd stand sie vor dem unendlich weiten Blau. Sie wollte gerade in das kleine Becken steigen, das sich wie eine Zunge ins Ufer schlängelte, als sie bemerkte, dass Mûsa sie anstarrte. Seine Blicke bohrten sich ihr in den Oberkörper. Da wurde sie auf gewisse Veränderungen an sich selbst aufmerksam. Aus ihrer Brust wölbten sich zwei kleine, feigenförmige Erhebungen. Diese hatte Milia bisher nicht wahrgenommen. Und lange noch würde sie versuchen, sie zu verdrängen. Sogar noch, als sie zu Äpfeln angewachsen waren. Weiß-rosa schimmernd, gekrönt von je einer zarten Knospe.
Mansûr erkundete ihre Brüste im Dunkeln, während sie müde vor sich hindöste.
»Äpfel sind viel köstlicher als Birnen«, flüsterte er.
»Was sagst du da?«
»Ich rede von deinem Busen. Ich mag die Apfelform. Birnen sind zwar auch nicht zu verachten. Aber Äpfel sind so schön rund und liegen gut in der Hand. Ich liebe deine wunderbaren Äpfel!«
»Lass das, bitte!«
Er gab sich größte Mühe, sie davon zu überzeugen, dass Sex nichts Sündiges oder Beschämendes sei. Vergeblich. Beharrlich wies sie ihn zurück, was ihn nur umso mehr erregte. Deshalb versuchte er es hin und wieder mit Gewalt. Kaum aber sah er ihr tränenüberströmtes Gesicht, schrak er unwillkürlich zurück und ließ ab von ihr. Er fürchtete ihre Traurigkeit. Fürchtete mit ansehen zu müssen, wie sie zusammengesunken auf der Bettkante saß und sich mit dem Zipfel des weißen Lakens die Wangen trocken tupfte.
Wenn er sie wollte, hielt sie ihn grundsätzlich hin. Sie verbannte ihn aus ihrem Bett, kehrte ihm den Rücken zu, stand auf, ging ins Bad. Wieder zurück, löschte sie das Licht und vertröstete ihn auf den nächsten Tag. Also wartete er, bis sie eingeschlafen war. Sobald ihre Augen und Glieder friedlich ruhten, näherte er sich ihr. Und schon sprudelte sie wie ein Brunnen und überspülte ihn. Er hob ihre Brüste aus dem Nachthemd, küsste sie, sog ihren Duft ein, schmeckte das Aroma von Apfel und Jasmin. In seiner Umarmung schmolz sie dahin. Ihren Lippen entwich ein leises Stöhnen. Er verlor den Halt, glitt in sie hinein, immer tiefer, und zerfloss in ihrem Quell, ertrank. Als würde er in ihre von Dunkelheit und Geheimnis beherrschte Welt gezogen und sich auflösen, erschlaffte sein Glied. Nach kurzer Stille von Lust übermannt, fing er von Neuem an. Doch sie hustete ihn aus sich hinaus, drehte sich auf die linke Seite und schlief selig weiter.
Am Morgen war ihr von den Ereignissen der Nacht nicht das Geringste anzumerken. Das Gesicht, weiß wie eh und je, durch die Schwangerschaft nun etwas rundlich, strahlte ausgeglichen. Wann hatte sie sich frisch gemacht? Hatte sie sich, nachdem er eingeschlafen war, unbemerkt ins Bad geschlichen? Oder hatte sie tatsächlich geschlafen und sich erst am Morgen in aller Frühe gewaschen?
Einmal beging Mansûr einen großen Fehler. Sie saßen zusammen im Wohnzimmer. Er hörte Radio. Sie strickte einen Wollpullover für das erwartete Baby. Unvermittelt stand er auf und trat an sie heran. Wortlos griff er ihr an die linke Brust, beugte sich gleichzeitig hinab, fuhr ihr mit dem Mund über und mit der Hand unter die Bluse. Brüsk wie sie ihn zurück.
»Ich will sie küssen«, sagte er, hob die Brust aus der Bluse und umfing die rosige, betörend nach Apfel duftende Knospe mit den Lippen.
»Hör auf!«, rief sie mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Im nächsten Augenblicklich entspannten sich ihre Züge. Sie schnappte nach Luft, stand auf und ging.
Mansûr traute sich nicht, ihr zu folgen. Als er das Schlafzimmer betrat, lag sie zusammengekauert auf dem Bett und schlief. In jener Nacht nahm er sie, aber ohne ihre Brüste auch nur zu streifen. Ihr Körper fühlte sich warm und weich an.
»Lass das in Zukunft!«, wies sie ihn am nächsten Morgen zurecht. »Die Brüste sind nur für das Kind. Versteh das bitte!«
Drei Nächte später hörte er wieder das leise Stöhnen, kaum, dass er ihre Brüste streichelte. Taumelnd ließ er sich in den Liebesrausch fallen. Am Tage hat er nie wieder ihre Brüste angerührt. Diesem Genuss gab er sich nur noch im Dunkeln hin, wenn ihm hinter dem zartrosa Schimmer die Türen der Nacht offen standen.
Die Arme vor den Brüste gekreuzt, sprang Milia ins Meer. Sie schmeckte Salz. Überall Salz. Genau dieser Geschmack brannte ihr auch an jenem kalten Wintermorgen auf den Lippen, als sie in Zimmer 10 im Masâbki-Hotel erwachte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sank wieder in den Schlaf. An Beiruts Felsküste dagegen stand sie, die Brüste von Salzwasser umspült, reglos da und sah gebannt zu, wie Mûsa sich in den Wellen austobte. Wie er untertauchte, eine Weile nicht zu sehen war, dass sie glaubte, er sei ertrunken, dann aber unverhofft an einer völlig anderen Stelle wieder auftauchte. Sie winkte ihn zurück, doch er schwamm immer weiter hinaus.
Sie schloss die Augen und tauchte den Kopf ein. Unter Wasser öffnete sie die Augen wieder. Um sie herum war alles blau. Ein ins gräulich Hellgrüne changierendes Blau. Ihr war, als habe das Meer grüne Augen, als entstamme das Grün, das sie nachts umhüllte, diesen Felsen und Farben. Sie hob den Kopf aus dem Wasser. Ein Kälteschauer durchfuhr sie. Ihre Augen schmerzten. Sie rief Mûsa. Der aber kraulte mit untergetauchtem Kopf in weiter Ferne durch das Meer.
Als Mûsa zurück war, stand Milia verstört im Wasser. Er nahm ihre Hand, um ihr hinauszuhelfen. Sie entwand sich ihm und ging, die Arme vor den Brüsten gekreuzt, hinter ihm her. An Land zog sie sich eilig an. Sie war hungrig und fror. Die pralle Julisonne glitzerte auf dem Wasser. Trotzdem zitterte Milia. Denn unter dem kurzen Kleid trug sie noch die nasse Badehose. Sie auszuziehen hatte sie sich nicht getraut. Mûsa kaufte einen Salzkringel mit Thymian und gab ihr die Hälfte ab. Er verschlang seinen Teil heißhungrig. Milia dagegen aß in kleinen Happen, den Blick unverwandt auf ihren Bruder gerichtet.
In der Nacht träumte sie von einem kleinen Schaf, träumte, von dem Schaf geküsst zu werden. Und in dieser Nacht setzte ihre Regel ein. Sie sei jetzt eine Frau und müsse von nun an auch als solche auftreten, sagte die Mutter. Das Blut machte Milia Angst. Sie verstand nicht, weshalb das Ei, das in ihr heranreifte, so blutig aufplatzte.
»Stirbt das Ei?«, fragte sie ihre Mutter. »Heißt das, dass jeden Monat jemand in mir stirbt?«
»Red nicht solchen Unsinn!«, erwiderte die Mutter unwirsch. »Mit Tod hat das nichts zu tun, sondern mit Natur.«
Natur sei gleichbedeutend mit Tod, schloss Milia. Diese Vorstellung drängte sich ihr Monat für Monat auf, immer stärker, je näher die Periode rückte. Gequält von dem Gefühl, in ihrer Gebärmutter balle sich etwas zusammen, schleppte sie sich schwerfällig durchs Leben. Die Hand stets auf dem Unterbauch, als sei sie schwanger, wie um das Kind nicht im Gehen zu verlieren. Irgendwann schließlich zeigte sich das Schaf. Und da erst floss das Blut, begleitet von heftigen Schmerzen und der ständigen Sorge, das Ei könnte aus ihr herausplumpsen. Diese Sorge legte sich allerdings, als sie schwanger wurde. Damit verschwand auch das Schaf. Seit sie in Nazareth lebte, sah sie es nicht mehr auf ihrer Brust kauern. In jener kleinen Stadt fern von Beirut spazierte sie jeden Tag durch Gassen und Straßen, bis die Füße schmerzten. Zurückgekehrt, legte sie sich schlafen und träumte. Von der blauen Frau. Die blaue Frau kommt auf sie zu, legt ihr das Baby in die Arme. Sie drückt das Kind an sich. Das Kind schnappt nach der Brustwarze und saugt. Sie ist wie berauscht, ihre Gebärmutter zieht sich zusammen, ihr Quell sprudelt über.
Vollendet wie ein Kreis fühlte sie sich morgens und verspürte den Drang, sich zu bewegen. Also folgte sie ihrem Wunsch und ging täglich aus dem Haus. Ihrem Mann verriet sie nichts von ihren Ausflügen. Mansûr aber hat sie gesehen. Zufällig sah er sie, als er einmal das Geschäft verließ, um seine morgendliche Schischa in Sulaimâns Café zu rauchen. Sein Blick streifte ihre Gestalt von hinten. Wie eine rollende Kugel bewegte sie sich vorwärts. Er erkannte sie auf Anhieb an ihrem Gang und folgte ihr. Zielstrebig ging sie zur Nôtre-Dame-de-l’Effroi-Kirche. Dort angekommen, setzte sie sich auf einen weißen Stein vor einen Olivenhain und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Mansûr sprach sie nicht an, sondern versteckte sich hinter einer Mauer und beobachtete sie reglos, mit angehaltenem Atem. Nach einer Weile stand sie auf und machte sich auf den Heimweg. Darauf ging er ins Café. Als er am Abend heimkam, schlief sie wie immer. Er weckte sie. Sie stand auf, bereitete ihm das Abendessen und legte sich wieder ins Bett. Unterhalten haben sie sich nicht.
Am nächsten Morgen näherte er sich ihr, während sie Kaffee für ihn kochte, und wollte sie küssen. Sie wich zurück. Er sagte etwas. Sie erwiderte kein Wort, schaute ihn nur vorwurfsvoll an. Mansûr war sich sicher, dass sie ihn bei der Kirche nicht gesehen hatte. Er war sich außerdem sicher, dass sie die Träume erfand, um alles in ihrem Sinne zu beeinflussen. Darauf aber wollte er sich nicht einlassen.
»Was ist mit dir?«, fragte er.
Stille.
Er hatte das Gefühl zu ersticken. An ihr Schweigen hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Auch an das Leben mit einer Phantom-Frau hatte er sich gewöhnt. Ihre Schwermut und unberechenbaren Launen aber hielt er nicht mehr aus.
»Sag, was los ist!«
»Du weißt doch genau, was los ist.«
»Nein, ich weiß es nicht. Also rück schon raus damit!«
»Nichts ist«, sagte sie, drehte sich um und ging aus der Küche ins Wohnzimmer.
Er folgte ihr und legte die Hand auf ihre Schulter.
»Nimm die Hand da bitte weg!«, sagte sie und drehte sich zu ihm.
»Was ist los? Was habe ich getan?«
»Du bist mir gefolgt.«
»Ich?«
»Ja, du! Ich habe dich gesehen. Statt zu mir zu kommen, hast du dich hinter die Kirchenmauer gestellt.«
»Wann?«
»Ich weiß nicht. Gestern oder vor ein paar Tagen.«
»Wie hast du mich gesehen?«
»Mit dem Rücken.«
»Kein Mensch kann mit dem Rücken sehen.«
Milia schaute ihn eindringlich an. Schlagartig bekam er den gleichen Gesichtsausdruck wie Mûsa. Die Unterlippe zitterte. Tränen hingen ihm in den Wimpern. Sie beugte sich vor, strich ihm mit den Fingerspitzen über die Augen und küsste sie.
»Lüg mich nie wieder an! Versprich, dass du mich nie wieder anlügst. Nun sag schon endlich!«
»Ich verspreche es dir«, sagte Mansûr schuldbewusst.
Er war verunsichert. Auch an diesem Tag sprach sie ihn, wie so oft, mit Mûsa an. Aber diesmal überging er es ausnahmsweise stillschweigend.
»Ich heiße Mansûr. Was drückst du mir ständig den Namen deines Bruders auf?«, wies er sie sonst immer zurecht.
»Keine Ahnung«, sagte sie. »Vielleicht, weil ich ihn vermisse.«
»Du kannst ihn vermissen, so viel du willst. Schließlich ist er dein Bruder. Aber ich heiße Mansûr. Merk dir das!«
»In Ordnung, Mansûr«, lenkte sie ein. »Ich werde es mir zu Herzen nehmen. Du bist Mansûr.«
Jener Name aber verschwand nie gänzlich. Einmal hörte Mansûr, oder glaubte zumindest, gehört zu haben, wie sie ihn im Schlaf sagte. Er wollte sich ihr gerade nähern, als ihr der Name über die Lippen kam. Unwillkürlich wich er zurück und versuchte zu schlafen. Vergeblich. Also redete er sich ein, bestimmt falsch gehört zu haben, näherte sich ihr von Neuem und nahm sie. Allerdings war ihm seltsam unbehaglich zumute. Die Frau an seiner Seite war ihm fremd. Restlos überfordert, wusste er nicht mehr, wie sie erreichen. Ihre leise Stimme wirkte bedrohlich. Und ihr schläfriger, stets in die Ferne driftender Blick hatte etwas Unnahbares.
An jenem Morgen, als sie über seine Wimpern strich und ihm einen Kuss auf die Augen drückte, fühlte er sich wie ein Kind. Er gestand alles. Dass er sie zufällig gesehen hatte, dass er ihr gefolgt war, dass er heimlich beobachtet hatte, wie sie vor der Kirchtreppe auf dem Stein saß.
»Wie hast du mich gesehen?«
»Mit dem Rücken. Ich sehe nämlich alles im Traum«, sagte sie und erzählte von den vier Himmelsrichtungen im Traum. »Und du? Was träumst du?«, fragte sie.
»Ich träume nicht«, erwiderte er.
»Das kann unmöglich sein«, widersprach sie. »Du erinnerst dich nur nicht an deine Träume. Man muss sein Gedächtnis trainieren. Denn Träume sind die Fortsetzung des wirklichen Lebens. Nachts lebt der Mensch genauso wie am Tag. Und wer sich nicht an seine Träume erinnern kann, lebt nur ein halbes Leben«, erläuterte Milia ihre Traumtheorie und glaubte, ihre Großmutter aus sich sprechen zu hören.
»Bei mir ist das anders«, wehrte Mansûr ab. »Ich träume nie.«
»Jeder Mensch träumt.«
Seit drei Monaten rundeten sich Milias Bauch und Brüste. Ihr Gesicht wurde immer strahlender. Gleichzeitig war sie ständig müde und durstig.
»Warum läufst du eigentlich immer allein draußen herum? Du könntest doch warten, bis ich abends heimkomme, und dann gehen wir zusammen spazieren«, schlug er vor und fragte, ob sie sehr unter der Trennung von ihrer Familie leide.
Wortlos schaute sie ihn an.
»Ich will dem Jungen die Stadt zeigen«, sagte sie unvermittelt.
»Welchem Jungen?«, fragte Mansûr. »Ein Junge wäre schön. Aber ich habe das Gefühl, dass es ein Mädchen ist. Wird eine Frau nämlich in der Schwangerschaft immer hübscher, so die Theorie meiner Mutter, dann trägt sie ein Mädchen im Bauch. Und du wirst eindeutig von Tag zu Tag hübscher.«
»Wenn ich sage, es wird ein Junge, dann wird es auch ein Junge!«
Auf jenem einschneidenden Ausflug ans Meer hatte sie eines erkannt. Im felsigen Becken stehend, die Arme vor dem nackten Oberkörper gekreuzt, erkannte sie, dass sie eine weite Reise angetreten hatte, von der es kein Zurück gab. Diese Wahrheit hatten ihr die knospenden Brüste offenbart. Dann, just in der Nacht darauf, war ihr das Schaf erschienen. So oft hatte sich der Traum danach wiederholt, dass Milia ihn schließlich gar nicht mehr erzählen mochte. Das kleine Schaf war ihr treuer Gast. Monat für Monat kam es zu Besuch. Auch im Wachzustand sah sie es. So leibhaftig und deutlich wie die Wirklichkeit. Ein kleines weißes Schaf. Auf unsicheren Beinen läuft es über eine grüne Wiese. Milia liegt unter einem mächtigen Feigenbaum, die Augen geschlossen und den kleinen dunklen Körper zum Halbkreis eingerollt. Das Schaf kommt auf sie zu, bleibt neben ihr stehen und schmiegt seine Wange an ihre. Milia dreht sich auf den Rücken. Das Tier weicht zurück, rennt dann auf sie zu, klettert mit den Vorderbeinen auf ihre Brust und neigt den Kopf wie zum Grasen. Die Schlafende sieht nichts als Sonne. Das Sonnenlicht dringt durch die Wolle und ergießt sich in ihre nun geöffneten Augen. Das Schaf erkundet mit dem Maul ihre Augen. Milia schließt die Augen aus Sorge, das Tier könnte glauben, ihre grünen Augen seien Gras, und nach ihnen schnappen. Sie schließt die Augen. Sie spürt die Zunge des Schafs am Hals. Sie saugt den Duft der Sonne ein. Das Sonnenschaf zittert. Sein Körper strahlt Wärme aus. Ihr Unterleib schmerzt, um sie herum saftig grünes Gras. Ihre Augen sind geschlossen. Der Schmerz zieht von den Augen zum Steißbein. Sie sieht nichts als Dunkelheit. Sie presst die Augen zusammen, presst noch fester, wacht davon auf. Die Augen bleiben geschlossen. Milia ist wach, traut sich aber nicht, die Augen zu öffnen. Eine Hitzeglocke umhüllt sie. Warmes Blut läuft ihre Schenkel hinab. Sie steht auf, wäscht sich mit kaltem Wasser, legt ein Tuch zwischen die Beine und geht wieder schlafen.
Das Sonnenschaf, wie sie es nannte, erschien stets umgeben von einem strahlend blauen Lichtkranz. Doch jedes Mal war die Szenerie verändert. Mal rannte es über ihren kleinen Körper, der sich plötzlich in ein endlos weites Feld verwandelte. Mal ließ es sich auf ihrer Brust nieder und küsste ihre Schultern. Mal schmiegte es den Kopf an ihren Hals. Aber immer fürchtete Milia um ihre Augen. Eines allerdings war bei den Träumen mit dem Schaf anders als sonst. Beim Erwachen öffnete sie nicht, sondern sie schloss die Augen.
Kaum war Milia schwanger, verschwand das Schaf. Erst Ende Dezember 1947, als sie, von Wehen und vom Pressen völlig entkräftet, in ihren langen Traum fiel, zeigte sich das Schaf wieder. Sein plötzliches Erscheinen löste in Milia gemischte Gefühle aus. Sie freute sich, es zu sehen. Gleichzeitig war es ihr nicht ganz geheuer. Sie hatte vergessen, dass sie ihre Augen vor dem Schaf schützen musste. Sie öffnete sie, und schon senkten sich dichte weiße Wollbüschel in blauen Lichtkränzen auf ihre Augen.
Neben ihr schlief ein Mann. Er atmete unregelmäßig und pfiff dabei gelegentlich durch die Nase. Milia wischte sich die Spuren der Nebelfahrt aus den Augen und versuchte, ihr Gedächtnis zu ordnen.
Diesen Mann kannte sie nicht. Doch, natürlich kannte sie ihn. Ihr zukünftiger Ehemann war das. Seine Leidenschaft war an ihr vorbeigegangen. Gemerkt hatte sie davon nicht das Geringste. Erst am Tag vor der Hochzeit, in Ansätzen, erfuhr sie von ihm, wie er für sie empfand. Und da stieg in ihr das Gefühl auf, die einzige lohnende Geschichte verpasst zu haben.
Am Vorabend der Hochzeit kam er unangemeldet zu Besuch. Üblicherweise war es so, dass der Bräutigam am Tag vor der Hochzeit von der Bildfläche verschwindet und mit seinen Freunden Abschied vom Junggesellendasein feiert. So nennt sich der letzte zügellose Ausbruch, den sich der Bräutigam leistet, bevor er sich in den Käfig der Ehe begibt. Das jedoch hat Mansûr unterlassen. Aber nicht, weil er dafür zu anständig war, sondern weil er in Beirut keine Freunde hatte. Stattdessen suchte er an jenem kalten Dezemberabend die Schâhîns auf, um seine Familie zu entschuldigen. Wegen der Ereignisse in Palästina, so erklärte er, würden seine Angehörigen nicht zur Hochzeit kommen können. Dennoch sollte die Familie der Braut, darum bat er höflichst, die Hochzeit nicht aufschieben. Beim Gast saßen Mûsa und die Mutter. Indessen kochte Milia in der Küche Kaffee. Mûsa runzelte nachdenklich die Stirn, auch Saada sagte kein Wort. Milia kam mit dem Kaffee herein, stellte das Tablett vor dem Gast auf den Tisch und schenkte vier Tassen ein, während die anderen betreten schwiegen.
»Kein Problem«, sagte sie unvermittelt, als führe sie einen angefangenen Satz zu Ende.
»Kein Problem«, wiederholte Mûsa.
»Gott schenke uns seinen Segen«, sagte Mansûr mit bebender Stimme und stand auf, um zu gehen.
Gähnend erhob sich die Mutter und wollte ihn gerade verabschieden, als Milia sich zu Wort meldete.
»Setzt euch«, sagte sie. »Er hat seinen Kaffee noch gar nicht ausgetrunken«, fuhr sie, an die Mutter gerichtet, fort und zog sie am Arm zurück in den Sessel.
Mansûr setzte sich auf die Sesselkante, wie um jeden Augenblick wieder aufzuspringen, und nippte an seiner Tasse. Milia nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn neugierig an, als erwarte sie etwas von ihm zu hören.
»Weißt du«, sagte Mansûr.
»Ich weiß«, unterbrach Milia. »Die Umstände… Und man muss…«
»So war das nicht gemeint«, unterbrach er sie und verstummte abrupt.
Stille folgte, nur kurz von Mûsa gestört, als er den Raum verließ. Die Flamme der Öllampe flackerte. Milia trug ein gelbes Kleid. Die Wangen in die Hände gestützt, wartete sie auf das, was Mansûr gleich sagen würde. Leise ging die Mutter hinaus. Und dann kehrte vollkommene Ruhe ein.
Auch er würde sich im letzten Moment zur Flucht entschließen, wollte Milia sagen, tat es aber nicht. Ein trauriges Lächeln huschte über ihre Lippen. Hastig wischte sie mit der Hand die schattenhaften Erinnerungen fort, die sich in ihre Augen geschlichen hatten. Zum ersten Mal saß sie mit dem Mann, der wenige Stunden später ihr Ehemann sein sollte, in einem halbdunklen Zimmer. Sie spürte seine Beklommenheit. Wie sollte sie ihm beibringen, dass sie es genau gewusst hatte? Gewusst hatte, dass er an diesem Abend zu Besuch kommen würde, um ihnen mitzuteilen, dass seine Familie nicht aus Jaffa anreisen würde.
»Die Straße ist gesperrt. Das englische Militär hat die Straße vor drei Tagen gesperrt«, sagte sie.
Die Kaffeetasse in Mansûrs Hand zitterte. Er sah geisterähnliche Wesen über den Paternosterbäumen schweben. Wie es kam, dass sie so gut über die Ereignisse in Palästina unterrichtet war, fragte er nicht. Auch nicht, woher sie wusste, dass seine Familie nicht kommen würde. Er stellte die Tasse auf den Beistelltisch, dessen Rand kalligraphische Verzierungen in Kufi-Schrift8 aufwies.
»Was steht hier?«, fragte er, nachdem er vergeblich versucht hatte, das Geschriebene zu entziffern.
»Keine Ahnung. Da musst du Mûsa fragen. Ich glaube, das ist aus einem Gedicht. Den Tisch hat er von einem Freund als Mitbringsel aus Damaskus bekommen.«
»Nein, das ist kein Gedicht«, widersprach Mansûr auf den Tisch starrend. »Das ist ein Vers aus dem Koran.«
Er rieb sich die Hände gegen die Kälte. Milia stand auf, legte ein Stück Holz in den Ofen und setzte sich wieder. Bald breitete sich eine angenehme Wärme im Raum aus, und Mansûr wurde etwas redseliger. Mit einer Handbewegung überspielte er seine Verlegenheit in der Annahme, sie vor Milia verbergen zu können. Dann nahm er ihre Hand, küsste den Türkisring an ihrem Finger, räusperte sich und sagte:
»Im Spaß rang ich mit einer Frau um einen Ring.
Sie war schön wie der Mond, der am Nachthimmel hing.
Doch als ich versuchte mit etwas Glück
ihr vom Finger zu ziehen das gute Stück,
schloss sie um die Kostbarkeit den Mund.
und so war verschwunden das Rund im Rund.«
Dann sprach er von seiner Liebe.
Es war Nacht. Draußen beugte sich ein Baum zum nächsten. Der Dezemberwind peitschte den Regen an die Fenster. Drinnen saß ein siebenunddreißigjähriger Mann in dem Raum, den die Schâhîns Dâr nannten. Hohe Wände. Die Decke aus braunem Holz. Von ihr herab hing eine Petroleumlampe. In der Ecke ein wärmender Ofen. Vier Sessel mit blau-schwarz gestreiften Bezügen. Ihm gegenüber eine vierundzwanzigjährige Frau in Sonnengelb, Gesicht und Finger milchweiß. Den Blick auf den Boden gerichtet, im Augenwinkel das Flackern der Öllampe, hing er seinen Phantasien nach. Er stellte sich ihre Arme vor, nackt und weiß. Sich die Hände reibend, nahm er Anlauf zum Reden. Er sprach leise. Leicht vorgebeugt, wie er dasaß, fiel sein kleiner, über den Ledergürtel quellender Bauch nicht auf. Was aber sofort ins Auge fiel, waren die etwas eingefallenen Schultern und das runde, dunkle Gesicht mit buschigen schwarzen Brauen und schwarzem Schnurrbart.
Als Milia ihn zum ersten Mal sah, hielt sie ihn für ihren Bruder Mûsa. Und nur aus diesem Grund hat sie ihn zum Ehemann genommen. Das zumindest behauptete sie Mûsa gegenüber. Die Wahrheit allerdings lautete anders. Wie Mûsa sah Mansûr nur von Weitem, im Dunkeln oder bei schwacher Beleuchtung aus. Am Tag jedoch waren die Unterschiede zwischen beiden nicht zu übersehen. Mûsa hatte feinere und weichere Gesichtszüge. Zwar waren auch seine Brauen buschig, doch sie hingen ihm nicht in die Augen und verfingen sich folglich nicht in den Wimpern, über die Milia so oft mit dem Finger gefahren war. Mûsa war mittelgroß, athletisch, hatte muskulöse Arme und nicht den geringsten Bauchansatz. Mansûr dagegen hatte schlaffe Arme und leicht hängende Schultern. Seine krumme Haltung fiel zu dem Zeitpunkt kaum ins Gewicht, sollte eines Tages aber zu seinem besonderen Merkmal werden. In späteren Jahren hieß er allgemein »der Mann mit den hängenden Schultern«. Mûsa hatte ein rundes, zum Kinn hin schmal auslaufendes Gesicht und einen langen Hals. Außerdem hatte er eine große Nase mit leichtem Rechtsdrall, so als sei das Nasenbein gebrochen. Mansûr dagegen hatte ein volleres Gesicht und eine große, ebenmäßige Nase, die ausgezeichnet mit den Lippen und dem schwarzen Schnurrbart harmonierte.
Wer die beiden nebeneinander sah, hielt sie auf den ersten Blick für Brüder, stellte dann aber schnell fest, dass Mansûr eine grobe Kopie von Mûsa war. Größte Ähnlichkeiten wiesen Stimme und Gesäß auf. Mûsa sprach melodisch, tief aus der Kehle. So auch Mansûr. Und dass Letzterer ein ebenso flaches, knochiges Gesäß wie ihr Bruder hatte, fiel Milia sofort auf, als Mansûr sich umdrehte und den Garten verließ. Das ist Mûsas Zwillingsbruder, dachte sie unwillkürlich, als sie ihn von hinten sah.
Sie registrierte Ähnlichkeiten wie Unterschiede und willigte ohne zu zögern in die Ehe ein.
Milia habe viel durchgemacht und müsse nach zwei fehlgeschlagenen Anläufen nun schleunigst unter die Haube, sagte die Mutter.
»Nazareth ist weit weg, Milia. Willst du da wirklich hin?«, gab Mûsa zu bedenken, obwohl er nichts gegen Mansûr einzuwenden hatte und ihn für einen »anständigen Mann« hielt.
Milia saß bei der kranken Mutter und hielt ihr tröstend die Hand.
»Der Teufel! Ich rieche den Teufel!«, drang plötzlich Schwester Mîlânas Stimme an ihr Ohr, und Weihrauchduft stieg ihr in die Nase.
Wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand die Nonne auf der Schwelle und verstopfte mit ihrem Körper den Eingang. In der Hand ein messingnes Räucherfässchen, aus dem weiße Staubpartikel und ein durchdringender Geruch aufstiegen, suchte sie mit den Augen den Raum ab. Nach einer Weile ging sie langsam und mit jedem Schritt lauter atmend auf die Kranke zu.
»Der Teufel!«, rief sie, den Blick auf Milia geheftet. »Geh raus, mein Kind! Ich will deine Mutter behandeln.«
Gleichgültig sah Milia die Nonne an.
Zuvor hatte Doktor Naqfûr der Kranken einen Hausbesuch abgestattet, eine Bronchitis diagnostiziert und ihr ein Medikament verschrieben, das Saada aber nicht einnehmen wollte. Deshalb flößte die Nonne es ihr nun mit Gewalt ein.
»Sachte, sachte, Schwester!«, ging Milia dazwischen, als sie sah, wie Saada das bittere Mittel ausspuckte, ja erbrach. »Meine Mutter ist sehr geschwächt.«
»Ich weiß, ich weiß. Nikola war bei mir und hat es mir gesagt. Deshalb bin ich ja hier. So, und jetzt raus mit dir. Ich kann im Beisein des Teufels nicht arbeiten!«
»Was denn für ein Teufel?«
»Diese Frage solltest du dir am besten selbst einmal stellen! Frag dich selbst, frag deine Träume und all die Männer, die vor dir die Flucht ergreifen. Ich gebe dir den guten Rat, ins Kloster zu kommen und Buße zu tun!«
Milia traute ihren Augen nicht, als sie sah, wie die Nonne sich über die Kranke beugte, ihr einen ölgetränkten Wattebausch in den Mund steckte und ihn zu schlucken befahl.
»Sie kann nicht schlucken«, sagte Milia.
»Halt den Mund und geh raus!«
Milia hielt den Mund. Den Raum aber verließ sie nicht. Sie blieb stehen und beobachtete das Geschehen. Die Augen geschlossenen, würgte Saada die Watte hinunter und allmählich entspannte sich ihr Körper unter dem Gemurmel der Nonne.
Waren ihre Träume wirklich Teufelswerk?
Der Teufel niste sich immer nur in der Frau ein, weil ihr Körper schön und vollkommen sei, behauptete die Nonne.
»Gott hat die Frau vollendet erschaffen. Die Frau aber hat sich für den Makel entschieden. Man schaue sich nur einmal unsere liebe Jungfrau Maria an, gesegnet sei sie. Hat sie etwa einen Mann gebraucht, um zur Vollendung zu gelangen? Nein! Selbstverständlich nicht. Zur Vollendung gelangte sie durch den heiligen Geist. Denn vollendet ist sie an sich schon!«
»Aber sind denn nicht alle Frauen die Jungfrau Maria?«, fragte Milia.
»Fällt dir eigentlich gar nicht auf, Milia, dass du immer hässlicher wirst?«
»Ich?«
»Ja, du. Wieso kommst du nicht mit deiner Mutter in die Kirche? Dann treiben wir dir den Teufel aus!«
Was hätte sie erwidern sollen? Etwa, dass sie die Kirche nicht ausstehen konnte? Dass es sie gruselte, wenn sie die Gläubigen im Weihrauchdunst sah. Sah, wie sie sich vor den byzantinischen Ikonen verneigten und mit den längst verstorbenen Frauen und Männern sprachen, die darauf abgebildet waren. Hätte sie sagen sollen, dass die Kirche sie an einen Friedhof erinnerte? Dass an diesem Ort die Trennung zwischen Lebenden und Toten aufgehoben zu sein schiene und ihr die Betenden deshalb vorkämen wie wandelnde Leichen? Dieser leichte Übergang ins Jenseits machte Milia Angst. Selbstverständlich ging sie, wie allgemein üblich, am Karfreitag in die Kirche, um den Gekreuzigten zu beweinen. Ansonsten aber betete sie allein zu Hause und ersuchte Gott im Stillen, ihr doch bitte die Türen des Lebens zu öffnen.
Nein, Schwester Mîlâna irrte sich. Milias Träume waren kein Teufelswerk. Woher wusste die Nonne überhaupt von den Träumen? Ohne Frage von Saada. Seit dem Tod des Vaters war sie nämlich der Nonne gewissermaßen hörig. Ergeben wie ein Ring am Finger, gehorchte sie ihr aufs Wort. So trug sie alles, was sich in der Familie ereignete, unverzüglich der Nonne zu – wegen des Bußsakraments. Und das war eine eigenartige Angelegenheit.
Die heilige Mîlâna war nicht nur Herrin über die Nonnen im Erzengel-Michael-Kloster. Nein, ihre Macht reichte bis zu dem Klostervorsteher, dem Priester Bûlus Sâba. Denn er hatte ihr die Durchführung des Bußsakraments übertragen. Gemäß dieser Regelung nahm sie den Frauen der Gemeinde die Beichte ab und verwies sie anschließend an ihn, worauf er die Absolution erteilte. Er selbst legte auch bei ihr die Beichte ab. Diese Praxis widersprach zwar allen kirchlichen Traditionen. Doch Schwester Mîlâna hatte aufgrund ihrer Heilkräfte und ihrer Fähigkeit, Wunder zu vollbringen, Sonderrechte.
So kam es, dass sie Einblick in sämtliche familieninternen Geschichten der Schâhîns bekam. Den vielsagenden Blick, den die Nonne bei jeder Begegnung aufsetzte, hielt Milia kaum aus. Denn er brachte eine Mischung aus Mitleid und Verachtung zum Ausdruck. Außerdem zeugte er davon, dass ihre Beziehung zu Nadschîb und Wadî’ enthüllt war. Milia fühlte sich nackt, sah ihr persönliches Geheimnis neben unzähligen anderen Geheimnissen im Kopf der Heiligen herumschwirren.
Saada entspannte sich. Schweiß trat ihr aus allen Poren. Das Nachthemd war über und über von Öl befleckt.
»Wenn ich gegangen bin«, wies die Nonne Milia an, »reibst du deine Mutter mit Spiritus ab. Das war’s dann. Sie ist geheilt.«
Die Nonne ging, hielt vor der Tür aber noch einmal inne.
»Milia!«, rief sie mit ihrer fiepsigen Stimme.
»Ja«, antwortete Milia.
Die Nonne legte die Hand auf Milias Schulter und beugte sich zu ihr hinab.
»Keine Sorge«, flüsterte sie ihr ins Ohr. »Der Bräutigam kommt schon noch. Eine Reise steht bevor. Ich sehe es ganz deutlich. Aber du musst Vernunft annehmen. Und beten musst du, damit Gott dich vor großer Sünde bewahrt. Schlag dir Nadschîb aus dem Kopf. Auch diesen anderen Kerl, dessen Namen ich nicht weiß. Es wird bald ein Bräutigam kommen. Keine Sorge. Vor allem aber musst du die Sache mit den Träumen einstellen. Fromme Menschen träumen nicht, mein Kind. Und sollten sie doch einmal träumen, dann erinnern sie sich nicht daran. Und sollten sie sich doch einmal erinnern, dann behalten sie es für sich. Die Nacht ist eine Reise ins Dunkle zur Vorbereitung auf den Tod. Nur Propheten und Heilige haben nachts Visionen. Gewöhnliche Menschen dagegen versinken beim Schlafen im Dunkeln. Der Herrgott, gepriesen sei er, hat den Schlaf erschaffen, um den Menschen auf den Tod vorzubereiten. Nacht und Tag sind zwei getrennte Welten. Gott ist das Licht. Und der Teufel ist die Finsternis. Du musst deine Träume vergessen, mein Kind. Ich bin mir sicher, dass der Herrgott dir dann Glück und Zufriedenheit schenkt.«
»Aber ich…«
Laut hustend fiel ihr die Nonne ins Wort und sagte:
»Mit Träumen lockt Satan den Menschen in die Sünde. Im Übrigen bist du eine schamlose Lügnerin. Kein Mensch kann all seine Träume behalten. Deine Mutter steht jeden Morgen entsetzliche Ängste aus, wenn du erzählst, was du nachts angeblich alles geträumt hast. Sie hält das nicht mehr aus. Deshalb flüchtet sie aus eurem Haus zu uns ins Kloster. Lass sie in Ruhe. Sie hat doch damit nichts zu tun! Dein Bruder Salîm hat das zu verantworten. Sie trifft keine Schuld an der Sache mit Nadschîb. Hör endlich auf damit, Milia! Du bist wie eine Tochter für mich. Ich habe dich aus dem Bauch deiner Mutter geholt und in die Höhe gehalten, damit du Gott nahe bist. Lass endlich gut sein! Schluss damit! Hörst du?«
Die Nonne ging, ohne Milias Antwort abzuwarten. Dabei hätte Milia einiges zu sagen gehabt. Dass die Nonne Unrecht hatte. Dass sie der Mutter keineswegs jeden Tag ihre Träume erzählte. Dass ihre Träume ihr gehörten. Dass ihre Träume mitnichten Einflüsterungen des Teufels seien, da sie sich sonst wohl kaum bewahrheiten würden. Dass sie ihrer Mutter von dem Traum mit Nadschîb nur erzählt hatte, um zu sagen, dass sie sich von Schmach und Demütigung nicht unterkriegen lassen würde.
Die Nonne ging. Milia stand da, nackt, bloßgestellt in dem Wortschwall, den die Nonne über sie ergossen hatte. Ihr wurde bewusst, dass ihre Träume nicht ihr gehörten. Und dass Saada ihre Geschichte von A bis Z der Nonne verraten hatte.
Es war Nacht. Im Dunkeln lehnte Baum an Baum. Der Regen fiel wie in Bindfäden, immerzu auf die Hausdächer trommelnd. Milia öffnete die Augen, wischte sich den Traum von den Wimpern. Sie merkte, dass sie völlig durchnässt war. Im Lîwân regnete es durch das Dach. Ihr war eiskalt an den Armen. Statt aber aufzustehen, den Teppich vom Boden zu nehmen und Gefäße unter die Löcher in der Decke zu stellen, schloss sie die Augen. Sie glaubte, falsch gesehen zu haben. Und schon war der Traum, den sie soeben gesehen hatte, wieder da. Sie sah sich selbst. Ein kleines Mädchen mit dunkler Haut. Sie sitzt auf einem Felsen. Vor ihr ein tiefes Tal, hinter ihr ein weißes, kirchenähnliches Gebäude. Sie ist allein. Weiß nicht, wo sie ist. Sie lauscht dem Säuseln, das aus dem Tal aufsteigt, und dem Geraschel der wuchernden Pflanzen. Eine Frau mit blauem Tuch auf dem Kopf und langem blauem Kleid kommt auf sie zu.
Die blaue Frau ist aus dem Nichts aufgetaucht. Sie trägt einen Säugling auf dem Arm. Der Säugling ist in ein weißes Tuch gewickelt, das wie ein Leichentuch aussieht. Die Frau legt Milia das Kind in den Arm und verschwindet. Milia, allein, hält das dunkelhäutige, tief atmende Kind. Sein Atem kriecht ihr den Hals hinauf. Sie hebt das Kind, will es an die Brust drücken, sieht seine Augen. Augen fast so groß wie das pausbäckige Gesicht. Milia sieht sich in die Pupillen tauchen und kurz darauf in schwindelerregender Höhe taumeln. Das Kind schaut sie an, zieht sie in seine Augen. Wasser umgibt sie von allen Seiten. Milia versucht, aus dem Nass der Augen zu treten. Sie streckt die Arme aus, hat das Gefühl zu ertrinken. Erschrocken riss sie die Augen auf. Es regnete im Lîwân. Sie fror an den Armen, schloss die Augen, versank wieder in den Augen des dunkelhäutigen Kindes. Solche Augen hatte Milia noch nie gesehen. Riesig, das Weiß klar und wässrig, mitten in dem Weiß je eine große schwarze Pupille. Ein schwarzer Spiegel in einem weißen Spiegel. Das Kind zieht sie in seine Augen. Das kleine Mädchen kann dem Sog der glitzernden Tränen um die großen schwarzen Pupillen nicht widerstehen.
Von lautem Geschrei aus dem Schlaf gerissen, stand Milia auf. Sie solle gefälligst Töpfe unter die Löcher in der Decke stellen, brüllte die Mutter sie an. Milia zitterte am ganzen Leib. Kalter Schweiß stand ihr auf Brüsten und Schenkeln. Ein Gefühl der Sehnsucht tobte in ihr. Eine brennende Sehnsucht. Nein, nicht die gleiche Sehnsucht, die sie nach Nadschîb empfunden hatte, nach einem gewissen Wadî’ oder nach dem Arzt, der ihr gebrochenes Bein behandelt hatte. Diese drei Männer gehörten zu Zunge, Nase, Erinnerung. Sie standen für die Liebe zum Wort, die Liebe zum Duft, die Liebe zum Aufgeschobenen. Jene Sehnsucht aber war etwas völlig anderes. Das Verlangen des Herzens.
Drei Mal hatte sie ihn in der Regennacht gesehen. Sie begriff, dass sie zu ihm gehen musste.
Die Sache mit dem armenischen Arzt hat ihre Jugend getrübt. Mit sechzehn hatte sie sich bei einem Sturz von der Schaukel am Feigenbaum das Bein gebrochen und war von zwei armenischen Ärzten im Burdsch-Hammûd-Viertel behandelt worden. Sawin Hownanian und sein Bruder Harut waren nicht wirklich Ärzte, sondern Heilpraktiker, die nach der Methode traditioneller arabischer Volksmedizin arbeiteten. Dort, in dem dunklen Haus mit stets geschlossenen Fenstern und zugezogenen Vorhängen, hatte Milia einen seltsamen Geruch wahrgenommen. Außerdem hatten diffuse Gefühle von ihr Besitz ergriffen.
Milia hatte große Veränderungen an sich selbst bemerkt. Die Hände fest um die Seile geklammert und mit den Beinen unermüdlich vor- und zurückschwingend, hatte sie sich immer höher hinaufgeschaukelt, bis das lange kastanienbraune Haar nur so im Wind wehte. Dann war sie gestürzt. Wie ihr die Seile entglitten waren, wusste sie nicht mehr. Jedenfalls lag sie plötzlich am Boden, im rechten Bein Schmerzen. Sie versuchte aufzustehen. Doch die Schmerzen zogen vom Schienbein bis in den Hals, und sie brach zusammen. Sie rief Mûsa. Vergeblich. Mûsa kam nicht. Also rappelte sie sich allein hoch, hüpfte auf dem linken Bein bis an die Treppe und hievte sich sitzend mit Hilfe der Hände und des gesunden Beins die vier Stufen zur Küche hinauf.
Auf der Schaukel durch die Luft sausend, war ihr bewusst geworden, dass sich alles verändert hatte. Seit dem Tag am Meer, als sie ihre kleinen Brüste vor den Blicken der Jungen zu verbergen suchte, und dem Traum vom Schaf in der darauffolgenden Nacht waren vier Jahre vergangen. In all dieser Zeit war ihr verborgen geblieben, dass sie sich vom kleinen, pummeligen Mädchen zu einer hoch aufgeschossenen jungen Frau mit zierlich schmalem Kinn, langen, schlanken Beinen und wohlgeformten Hüften verwandelt hatte.
Dann auf einmal, während sie sich, Arme und Beine immerzu streckend und anwinkelnd, immer höher schaukelte, war sie zur Frau geworden. Von einem Augenblick auf den nächsten hatte sie sich selbst erkannt. Sie sah ihr kastanienbraunes Haar in der Sonne schimmern. Sah das Weiß ihrer Haut gespiegelt von dem kräftigen grünen Laub um sich herum. Einst rund wie ein Ball und dafür unablässig von den Brüdern gehänselt, hatte sie nun die eigene Anmut entdeckt. Hochgewachsen, der Körper stattlich, aber nicht dick. Die Augen groß und honigfarben. Und die Krönung: kastanienbraunes, schwarz rötlich blond changierendes Haar.
Der brünetten Kleinen im Traum verriet sie nichts von ihrer Verwandlung. Sie wollte mit ihr verbunden bleiben. Denn das Traummädchen, das nach Belieben erschien und verschwand, bewegte sich weitaus freier als das pummelige Mädchen mit nackten Brüsten im Meer unter den gierigen Blicken der Jungen. Die Kleine im Traum konnte, weil sie so schlanke Beine und einen akrobatisch wendigen Körper hatte, ohne Weiteres behaupten, sich nicht wesentlich von einem Jungen zu unterscheiden. Sie genoss uneingeschränkte Bewegungsfreiheit und sah die Welt aus graugrünen Augen.