Die dritte Nacht

Milia schloss die Augen und sah.

Alles war weiß. Die Stimme des Arztes drang wie in Watte gebettet an ihr Ohr.

Zwei Krankenschwestern waren da. Die eine hielt Milias rechte Hand. Die andere stand bei ihren gespreizt aufgestellten Beinen. Die eine war alt, die andere jung. Die beiden Frauen glichen einander wie zwei Wassertropfen.

Die eine war klein, die andere war auch klein. Die eine hatte einen Buckel und O-Beine, die andere hatte ebenfalls einen Buckel und O-Beine.

Was hatte Wadî’a hier zu suchen?

Mutter und Tochter wie Zwillinge. Sie standen bei Milia und erteilten ihr Anweisungen. Die gleiche Stimme. Mal kam sie von rechts, mal von unten. Die Schwangere hörte eine Art Wellenrauschen aus ihrem Bauch aufsteigen. Das Kind, das sich – bereit, auf die Welt zu kommen – kopfunter gedreht hatte, schien ein letztes Mal die Sprache der Gebärmutter zu sprechen, bevor es diese für immer vergessen würde. Milia lauschte, wollte dem Kind sagen, dass es sich nicht zu fürchten brauche.

Die beiden Krankenschwestern klangen energisch. Hinter ihrer Stimme sah Milia die Konturen einer Person, umhüllt von Nebel. Der Arzt. Nein, das war Herr Masâbki. Was hatten er und seine beiden Wadî’as hier zu suchen?

Herr Masâbki am Ofen, reibt sich die Hände vor dem Feuer, kneift die Augen zusammen, als sei er der Bräutigam. Die zwei Frauen, Mutter und Tochter, stehen da, warten auf sein Zeichen.

Milia erinnert sich, dass sie geschlafen hat. Erinnert sich, dass sie »Wasser« gerufen hat und dann von Nebel eingehüllt wurde.

»Mansûr, ich will nicht nach Schtûra, ich will nach Hause.«

Eine brennende Kerze in Händen, geht Mansûr dem Auto voran.

»Wie kommst du darauf, dass ich eine Kerze dabeihatte? Ja, sicher. Ich bin ausgestiegen und vor dem Auto hergegangen. Hätte ich das nämlich nicht getan, wären wir nie zum Hotel gekommen. Aber wer läuft schon mit einer Kerze durch Wind, Schnee und Kälte?«

Milia will nicht mit ihm darüber diskutieren. Sie ist es leid, Erinnerungen richtigzustellen. »Erinnerungen sind nicht richtigzustellen. Du hast es so in Erinnerung. Ich anders. Letzten Endes ist es völlig egal. Aber nein, du willst, dass ich mich an alles genau so erinnere wie du. Schön, sollst du haben! Genug jetzt. Bitte, sag dem Fahrer, dass er sich beeilen soll. Ich bin müde.«

Milia schläft. Das Auto kämpft sich durch den Schneesturm auf dem Dahr al-Baidar. Der Fahrer fleht sie an, ihm zu helfen und den »Übergeschnappten« zur Umkehr nach Beirut zu bewegen.

»Was erlauben Sie sich, so zu reden?«

»Der Bräutigam ist übergeschnappt, Madame! Bitte helfen Sie mir. Was für ein Schlamassel! Keinen Meter fahre ich weiter. Wer sagt überhaupt, dass Frischverheiratete unbedingt nach Schtûra müssen? Helfen Sie mir, bitte!«

Was sagt dieser Mann?

»Gott, wo bin ich? Ich will nach Hause. Mansûr, wo bist du?«

Vor der Badezimmertür kniend, hört Milia das Röcheln. Sie klopft, fleht Mansûr an, doch zu öffnen, sagt, sie würde Herrn Masâbki bitten, den Arzt zu holen.

Mansûr wehrt ab.

»Warte im Bett auf mich«, krächzt er unter Husten. »Das kommt von dem Käse. Iss bloß keinen Käse. Der ist schlecht. Leg dich schlafen. Ich komme gleich nach. Keine Bange.«

Sie sagt es zwar nicht. Aber sie fürchtet sich. Sie hatte geträumt, dass ihr Traum anders ausfallen würde.

»Die Ehe«, sagt Nadschîb, »macht aus der Frau ein Stück Teig. Ich will dich kneten und backen. Komm her. Noch näher.«

Sie sind im Garten. Die abendlichen Schatten verfangen sich in den Blüten der beiden Silberakazien, die ihre Äste über den Eingang strecken.

»Ich mag Akazienblüten. Weißt du, warum diese Bäume auch Verführung genannt werden? Weil sie wie Frauen sind. Sie sind verführerisch und rauben dem Mann den Verstand.«

. . .

»Weil sie außen weiß und innen gelb sind. Und weil sie zwei Düfte haben. Jede Farbe riecht nämlich anders. Und zusammen sind die beiden Düfte die reinste Verführung. Wie findest du diese Erklärung?«

. . .

»Komm her, ich will dir etwas verraten.«

Den Rücken an den schrägen Stamm gelehnt, presst sich Milia gegen den Baum. Sie hebt den rechten Arm, lässt die Hand über einen blütenschweren Zweig wandern.

»Genau das macht mich wild«, sagt er, auf ihren Arm zeigend. »Da, an der Stelle, will ich dich mit den Lippen berühren.«

»Wehe! Komm ja nicht näher! Man wird uns sehen!«

»Du bist wie eine Silberakazie. Nur einen einzigen Kuss«, sagt er, macht einen Satz auf sie zu, legt den Arm um ihre Taille und zieht sie an sich.

»Aua!«, schreit sie.

»Schreien Sie ruhig, wenn Ihnen danach ist«, sagte die Krankenschwester.

Milia öffnete die Augen und sah nichts als Weiß.

»Warum riecht die Silberakazie auf einmal so?«, rief sie entsetzt. »Ich ersticke.«

»Schließen Sie die Augen, und atmen Sie tief ein. Das ist Chloroform. Es lindert die Schmerzen«, sagte die Stimme, deren Quelle Milia nicht auszumachen vermochte.

Das Weiß verfliegt. Die kleine Milia rennt durch dunkle Straßen. Die Stimme hallt abgehackt durch die Nacht. Als Antwort dringt aus der Kehle der Frau leises Gewimmer, das kurz darauf versiegt.

»Lasst sie. Sie braucht Ruhe«, hörte Milia den Arzt zu den Schwestern sagen.

Woher kommt das Glockengeläut?

»Das ist Fladenbrot mit Labna, Onkel. Lass mich los. Ich will essen.«

Milia wusste, dass die Geschichte ihres Onkels nicht erzählt werden durfte. Mitri, einziger Sohn neben zwei Töchtern, starb erhängt an der Kirchenglocke. Keiner traute sich, ihn loszubinden, bis Nakhla aus dem Haus gerannt kam. »Sie haben ihn ermordet«, schrie Nakhla, als er seinen Sohn an dem langen Glockenseil baumeln sah. Er bat die jungen Männer aus dem Viertel, mit anzupacken und Mitris Hals – nun dünn wie ein Bindfaden – aus der Schlinge zu befreien.

Mitri steigt aus dem großen Foto an der weißen Wand in Nakhla Schalhûbs Haus. Milia sieht ihn heraussteigen. Es ist, als sei das Bild in dem vergoldeten Holzrahmen zu einem Fenster geworden. Der Onkel mit rotem Tarbûsch, weißer Seidenabâja über dem runden Bauch und Bambusstock in der Hand, steigt über den Holzrahmen, klettert hinab und schreitet durch das Haus. Er kommt auf Milia zu und umarmt sie. In dem Moment breitet sich der Geruch von Labna und Zwiebeln aus. Das kleine Mädchen spürt, dass er sie gleich in ferne Gefilde entführt. Mitri hebt sie vom Boden und steigt mit ihr in den Bilderrahmen. Den rechten Fuß voraus, springt er, wie um einen Fluss zu überqueren.

»Gib Acht, Mädchen, dass du nicht in den Fluss fällst.«

»Aber da ist kein Wasser, Onkel.«

Kaum ausgesprochen, hört sie Wasser in ihren kleinen Ohren rauschen.

»Wieso ist der Fluss grün?«, fragt sie.

»Der Fluss ist nicht grün. Deine Augen sind grün. Und deshalb kommt dir alles grün vor.«

»Lass mich bitte runter«, schreit sie.

Milia ruft Mûsa. Mûsa aber steht am anderen Ufer und winkt ihr zu.

»Ich will nicht mit ihm gehen.«

Das Mädchen tritt den Mann mit Füßen. Vergeblich. Er hat sie fest im Griff. Seinen Arm um ihre Taille, setzt er sie auf seinen großen Wanst und geht auf dem Wasser, ohne unterzugehen.

»Siehst du, wie ich auf dem Wasser gehe? Wenn die Suraiq-Jungs wüssten, wer ich bin, hätten sie mir das nicht angetan.«

»Was haben sie getan?«

»Sie haben mich getötet«, sagt er.

»Fünf Männer umstellten mich im Kirchhof. Die Glocke läutete. Sie hatten Küchenmesser dabei und versuchten mich abzustechen. Ich hörte nur noch Glockenläuten. Die Glocke dröhnte mir in Bauch, Augen, Armen und Beinen. Da begriff ich, was Tod bedeutet. Der Tod kommt als Geräusch. Du weißt nicht, wie es dich erwischt. Mich jedenfalls holte die Kirchenglocke.«

»Wie haben sie dich getötet?«

»Die Glocke hat mich getötet. Ich hängte mich an das Seil und hob ab. Das Seil legte sich um meinen Hals. Ich flog immer höher. Wie blöd standen sie unten mit den Messern fuchtelnd, um mir Angst zu machen. Aber wovor hätte ich Angst haben sollen? Ich flog doch.«

»Und warum bist du dann gestorben?«

»Ich bin gestorben, weil ich gestorben bin. Bis heute höre ich die Glocke läuten. Deshalb ziehe ich mir den Tarbûsch so tief über die Ohren. ›Hoch damit!‹, sagte meine Mutter immer. Sie wusste ja nicht, was ich höre. Im Übrigen war sie gar nicht meine Mutter. Ich habe sie nur ›Mutter‹ genannt, weil sie es wollte. Als mein Vater sie heiratete und sie zu uns ins Haus kam, begrüßte ich sie mit den Worten ›herzlich willkommen, Tante Malika‹. ›Nenn mich nicht Tante‹, sagte sie. ›Die Stiefmutter Tante zu nennen zerstört den Haussegen. Nenne mich Mutter.‹ Aber wie hätte sie meine Mutter sein können? Sie war doch ungefähr so alt wie ich. Nein, nicht wirklich so alt wie ich. Vielleicht zehn Jahre älter. Aber sie sah aus wie ein junges Mädchen, trotz Ehe und Kindern. Es war sogar so, dass sie statt älter zu werden immer jünger wurde. Sie brachte meine Schwester Saada zur Welt, und fünf Jahre später kam meine Schwester Salma. Man sah ihr nicht an, wenn sie schwanger war, weil ihr Bauch sich kaum rundete. Schlank, klein und hübsch. Ich war fünfzehn, als mein Vater sie heiratete. ›Deine Frau‹, sagte ich zu ihm, ›ist hübsch und noch sehr jung. Wie kannst du da mit ihr…‹ Entsetzt sah er mich an. ›Raus hier‹, brüllte er und warf mich aus dem Haus. Nein. Na ja, er hat mich nicht wirklich rausgeworfen. Aber er gab mir deutlich zu verstehen, dass ich mich rar machen soll. Also habe ich mich verzogen. Ich baute mir eine Hütte im großen Eukalyptusbaum im Garten und schlief immer dort oben. Wenn es regnete, kam Mutter Malika unter den Baum und bekniete mich regelrecht, dass ich ins Haus kommen solle, bis ich irgendwann nachgab. Kaum aber sah mich mein Vater, beäugte er mich merkwürdig, sodass ich mir vorkam wie ein Fremder. Mein Leben lang fühlte ich mich im Haus meines Vaters fremd. Hätte mich Malika nicht aus lauter Mitleid durchgefüttert, wäre ich bestimmt verhungert. Was für eine gute Seele! Das hat mich alles sehr mitgenommen. Meine leibliche Mutter war kaum zwei Monate tot, da ging das Getuschel los. Ein Mann muss heiraten, um Sitte und Anstand zu wahren, hieß es. Arme Nasma. Nasma hieß meine Mutter. Wie ihr Name schon sagt, war sie zart wie eine leichte Brise. Keine Ahnung, warum sie gestorben ist. Eines Morgens wachte sie auf und konnte die Augen nicht öffnen. Ich hörte, wie sie zu Vater sagte, dass sie erschöpft sei und nicht mehr sehen könne. Sie bekam Fieber. Zwei Tage lag sie so da. Dann starb sie. Sie wollte mich sehen. ›Deine Mutter will dich sehen‹, sagten alle. Also ging ich hin. Ich setzte mich zu ihr. Sie nahm meine Hand und drückte sie. Ich hatte ein Gefühl, als läge meine Hand in einem Eisblock. Trotzdem rührte ich mich nicht von der Stelle. Kurz darauf hörte ich die Frauen weinen. ›Sie ist gestorben‹, sagten sie. Ich versuchte meine Hand aus der ihren zu lösen. Aber es ging nicht. Ihre Hand fühlte sich an wie kaltes Holz. Ich konnte nichts machen. ›Schaut, wie der Junge an seiner Mutter hängt‹, hörte ich die Frauen sagen. ›Er will sie nicht loslassen.‹ Dann erschien mein Vater. ›Steh auf, Junge, und geh hinaus‹, sagte er. Er kam zu mir, packte mich bei der Schulter und zog mich hinaus. Auf einmal brach großes Geschrei aus. Ich weiß auch nicht. Jedenfalls wurde meine Mutter mitgezogen.

›Lass ihre Hand los‹, brüllte Vater.

Ich konnte vor lauter Tränen keinen Ton sagen. Es ist furchtbar, wenn man aus der Kehle weint. Die Tränen laufen in die Kehle, sammeln sich dort, und die Worte kommen nicht mehr heraus.

Vater zog mich am Arm, Mutter wurde mitgeschleift, um uns herum Gekreische. Dann auf einmal, keine Ahnung, woher sie kam, platzte unvermittelt meine Stimme aus mir heraus. »Aua, meine Hand«, schrie ich. Ich sah, wie er an Mutters Fingern herumzerrte, um den Griff zu lösen, und dabei weinte wie ein kleines Kind. ›Verzeih mir, meine liebe Frau‹, schluchzte er. Danach kam Malika und wurde meine Mutter.«

»Und deine Hand? Wie haben sie deine Hand befreit?«

»Die Glocke läutet immerzu in meinen Ohren. Milia, meine Liebe, sag ihnen, dass sie aufhören sollen zu läuten. Ich will zur Ruhe kommen.«

»Gut, lass mich hinunter.«

»Das kann ich nicht. Wenn ich dich nämlich hinunterlasse, stirbst du.«

»Ich will sterben«, schrie Milia.

Mansûr stand neben ihrem Bett, hörte wie sie »ich will sterben« schrie und rannte zu den beiden Krankenschwestern, die im Flur plaudernd auf den italienischen Arzt warteten.

»Milia stirbt, Hilfe!«

Die eine Krankenschwester schaute ihre Doppelgängerin an, lächelte und wandte sich dann Mansûr zu. »Keine Sorge«, beschwichtigte sie ihn. »Das sagen alle, und am Ende geht doch alles gut.«

Mansûr sah, dass Milias Hals schweißgebadet war. Er nahm ihre Hand und bat sie, die Augen zu öffnen. Milia drehte sich der Stimme zu, öffnete die Augen einen Spalt breit und gab Mansûr mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er gehen solle. »Ich habe Durst«, war alles, was sie über die Lippen brachte. Wieder rannte Mansûr zu den Schwestern und bat sie um etwas Wasser für seine Frau.

»Nein, das geht nicht«, sagte die andere Schwester. »Die Betäubung muss wirken, damit der Arzt seine Arbeit machen kann.«

Er habe Durst, sagt er. »Der Tod macht durstig.« Das Glockenseil habe ihn in die Höhe gerissen, sagt er. Der Tod habe ihn übermannt wie eine lange Ohnmacht. Er habe Sankt Elias in seinem Feuerwagen aufsteigen sehen und sich vor ihm gefürchtet. Am liebsten hätte er die Suraiq-Jungs aufgesucht und sich mit ihnen vertragen. »Gut, Jungs«, hätte er gern gesagt. »Schwamm drüber. Wenn ihr wollt, dass wir es schlucken, schlucken wir es eben. Lasst uns wieder Freunde sein.«

Nakhla Schalhûb war allein im Kirchhof. Er habe niemanden gesehen, sagte er zu seiner Frau Malika. »Alle waren verschwunden.« Am dritten Tag nach der Beerdigung seines einzigen Sohnes schloss er mit Abdallah Suraiq und seinen Söhnen Frieden. Er soll, wie es hieß, eine Wiedergutmachung bekommen haben. Seiner Frau gegenüber aber leugnete er, solch eine Zahlung erhalten zu haben.

Mitris Tod an der Kirchenglocke sei, so die Geschichte, der erste tragische Fall dieser Art gewesen, nachdem Bischof Masarra unter großen Anstrengungen einen ausschlaggebenden Erlass der Hohen Pforte erwirkt hatte, der den Kirchen erlaubte, Glocken in ihrem Hof aufzuhängen. Davor hatte man, um die Gebetszeiten anzukündigen, zwei Holzblöcke aneinandergeschlagen. Zur Durchsetzung der Neuerung hatte der russische Konsul wesentlich beigetragen. Er hatte den osmanischen Gouverneur von Beirut dazu gebracht, der griechisch-orthodoxen Gemeinde das Läuten von Glocken zu gestatten. Anfangs hatte das bei den Gläubigen heftige Proteste ausgelöst. Denn viele befürchteten, dieser europäische Brauch könnte vom Gebet ablenken und Jugendliche geradezu einladen, die Kirchhöfe zu stürmen und an den Seilen herumzutollen. Dass eines dieser Seile jedoch zum Galgen werden und dass Mitri Schalhûb, ein Dröhnen in den Ohren, daran erhängt seinem Schöpfer gegenübertreten würde, das wäre niemandem in den Sinn gekommen.

Der gebürtige Beiruter war mit den Suraiq-Jungs aneinandergeraten. Auslöser war ein Scherz, der bei der Arbeit im Beiruter Hafen geäußert wurde, wo sie alle als Lastenträger beschäftigt waren. Nakhla und sein Sohn in der Lagerhalle des Stoffimporteurs Khawâdscha Girgi Dschâhil. Abdallah Suraiq und seine fünf Söhne in der Lagerhalle des Khawâdscha Muhji ad-Dîn Dâ’ûq, der sich auf die Einfuhr von Holz spezialisiert hatte. Der Streit entzündete sich an einer Beleidigung. Allerdings haben Beiruter, wie allgemein bekannt ist, eine Schwäche für Beleidigungen. Beleidigungen sind fester Bestandteil ihres Sprachgebrauchs in jeder Lebenslage. Mit ihnen wird alles zum Ausdruck gebracht: Liebe, Hass, Freundschaft, Feindschaft. Der Inhalt ist nicht von Belang. Wie die Äußerung gemeint ist, verraten Tonfall und Rhythmus.

Die Beleidigung, die Mitri das Leben kostete, war originell und anstößig zugleich. Samîh, Abdallah Suraiqs ältester Sohn, wuchtete gerade ein schweres Holzbrett, als Mitri vorbeikam und sah, wie er sich abrackerte. Unwillkürlich packte er mit an und sagte im Scherz:

»Na, Weichei, du machst doch wohl nicht schlapp!«

»Hände weg!«, zischte Samîh.

Mitri aber ließ nicht los.

»Hände weg, sonst schiebe ich dich in die Fotze deiner Mutter zurück!«, fluchte Samîh.

Von seinem originellen Einfall offenbar selbst überwältigt, wiederholte er den Satz mehrmals in rhythmischem Singsang. Damit war der Streit da. Mitri stürzte sich prügelnd auf Samîh. Samîh legte das Brett ab. Aber nicht, um sich zu wehren, sondern um den Satz noch lauter zu rufen. Die Arbeiter scharten sich um die beiden Männer, versuchten sie zu trennen. Samîh gab keine Ruhe. Unerbittlich wiederholte er den Satz immer wieder, bis Mitri völlig außer sich hinausschleuderte, was im Hafen keiner auszusprechen wagte:

»Verschwinde, du Laura-Söhnchen! Gott erhalte uns die Pharao-Fotze deiner Mutter!«

Er habe damit nichts Böses gemeint, rechtfertigte sich Mitri vor seinem Vater. Er wollte Samîh die Unverschämtheit nur mit gleicher Münze heimzahlen, und da sei ihm das Unaussprechliche herausgerutscht. Suraiq, berühmt für seinen imposanten, hochgezwirbelten Schnurrbart, hatte es nicht leicht. Seine Söhne wurden insgeheim Laura-Söhnchen genannt. Denn Madame Laura hatte in der Familie das Sagen. Außerdem soll sie – und nur Gott weiß, ob es stimmt – die besondere »Kundin« des Hafendirektors, Khawâdscha Nâdschi Pharao, gewesen sein. Abdallah Suraiq, so munkelte man, habe es gewusst und den Ahnungslosen gespielt. Bei dem Wort »Pharao« in Verbindung mit der Bezeichnung »Laura-Söhnchen« wurde aus dem Streit ein wahres Gemetzel. Wie aus dem Boden geschossen, waren die fünf Suraiq-Jungs zur Stelle und droschen wahllos auf jeden ein, der sich in der Nähe aufhielt. In dem Durcheinander bot sich Mitri die Gelegenheit. Unbemerkt schlich er sich davon und überließ das Schlachtfeld den Prügelnden. Als diese kurz darauf bemerkten, dass Mitri verschwunden war, hörten sie auf, und es kehrte Ruhe ein. Allerdings sprachen die Suraiq-Jungs, wie die jungen Männer im Viertel hörten, deutliche Drohungen aus. Sie würden Mitri in die Fotze seiner Mutter zurückschieben, schworen sie.

»Mitri hatte schreckliche Angst«, erzählte Malika. »Drei Nächte hat er im Haus geschlafen. Er traute sich weder in sein Baumhaus noch zur Arbeit in den Hafen. Am Morgen des vierten Tages beruhigte ihn sein Vater. Er habe mit Abdallah Suraiq gesprochen, sagte er. Die Sache sei die ganze Aufregung nicht wert, und alles sei wieder in Ordnung. Mitri war skeptisch. Er habe seine Mutter im Traum gesehen, erzählte er mir. Sie sei spindeldürr gewesen und habe ihn an die Brust gedrückt. Dann habe er nur noch Finsternis gesehen und sich gefürchtet.«

»Hat er von der Glocke geträumt, an der er erhängt wurde?«, fragte Milia.

»Nein, er hat von seiner Mutter geträumt. Und sie war… O Gott, steh uns bei! Weißt du, was er mich fragte? Er fragte, ob ich das Parfüm seiner Mutter röche. Außerdem verriet er mir, dass sein Vater keine neue Matratze gekauft habe, als er mich heiratete. Nakhla hatte mich belogen. Er behauptete, ein neues Bett angeschafft zu haben. In Wirklichkeit aber hat er das alte Bett behalten und nur neu gestrichen. Seit ich das wusste, konnte ich nicht mehr schlafen. Ich bin nachts wie ein Gespenst durch das Haus gespukt. Nakhla dachte, die Schlaflosigkeit rühre von meiner Trauer her. Eine Woche nach dem Tod des Jungen ist mir der Kragen geplatzt, und ich bin laut geworden. Er solle auf der Stelle ein neues Bett samt Matratze beschaffen, sonst ginge ich zu meinen Eltern zurück, brüllte ich ihn an.«

Saada hat nie von ihrem verstorbenen Bruder gesprochen. Sein Tod habe ihre Mutter erschüttert, sagte sie. Vier Jahre habe Malika Trauer getragen. Sie wollte sogar, wie alle Mütter, die ein Kind verloren haben, ihr Leben lang dabei bleiben. Doch ihr Mann habe es ihr verboten. »Was geht er dich an? Das ist nicht dein Sohn, sondern der Sohn seiner Mutter«, sagte Nakhla und zwang sie, die schwarzen Kleider abzulegen.

Der Sohn seiner Mutter starb erhängt. Er und seine Brüder, so berichtete Samîh Suraiq, seien in den Kirchhof gegangen, um beim Glockenläuten zu helfen. Den Streit mit Mitri hätten sie, nachdem sich Nakhla Schalhûb an seiner statt entschuldigt hatte, vergessen. Als sie auf dem Kirchhof eintrafen, läutete Mitri gerade die Glocke. Kaum habe er sie erblickt, sei er wie angestochen das Seil hinaufgeklettert. Fassungslos hätten sie das Schauspiel verfolgt. Je weiter er sich hinaufhangelte, desto höher sei er von der Glocke gerissen worden, das Ganze begleitet von einem ohrenbetäubenden Läuten, wie man es noch nie gehört hätte. Sie hätten Mitri fliegen sehen, sagte Samîh. Was vor sich ging, hätten sie erst begriffen, als das Glockengeläut erstarb und Mitri, das Seil um den Hals, flatterte wie ein geschlachteter Vogel. In Windeseile seien sie das Seil hinaufgeklettert, um ihn zu retten. Doch als sie ihn erreichten, hätten sie nichts mehr ausrichten können. Sein Hals sei bereits dünner gewesen als das Seil und sein Gesicht hellblau angelaufen. Nakhla glaubte ihm nicht. Aber er hatte keine andere Wahl. Ein Krieg mit den Suraiq-Jungs hätte seinen sicheren Tod bedeutet. Und Rache hätte ihm den Jungen, der, wie angekündigt, in den Bauch seiner Mutter zurückgekehrt war, nicht wiedergebracht.

»Heißt das, dass man in den Bauch seiner Mutter zurückkehrt, wenn man stirbt?«, fragte Milia ihre Großmutter.

»Das ist Unsinn, mein Kind. Es ist, wie ich dir gesagt habe. Der Tod ist ein Traum. Man bleibt, wo man ist, geht auf Reisen und kehrt erst zurück, wenn man das Licht erblickt.«

»Aber warum haben sie ihn umgebacht, Großmutter?«

»Keiner hat ihn umgebracht, mein Kind. Glaub ja nicht, was dein Großvater erzählt. Der Altersschwachsinn zeigt sich bei ihm in Gestalt endloser Tränen. Und weinend hat er sich zurechtgesponnen, dass die Suraiq-Jungs Mitri an der Glocke erhängt haben. Gestorben ist der arme Junge vor Angst. Einzig und allein die Angst vor dem Tod führt den Tod herbei. Dein Großvater ist alt. Als ich ihn heiratete, war er zwanzig Jahre älter als ich. Schau ihn dir an. Jetzt ist er vierzig Jahre älter, wenn nicht gar mehr. Gott schenke mir die Kraft und Gelassenheit, ihn zu ertragen. Ich habe ihm gesagt, dass er den Kindern nichts von der Geschichte erzählen soll. Aber im Alter entwickelt sich der Mensch zum Kind zurück und kann irgendwann nur noch mit Kindern reden. Vergiss die Geschichte, mein Kind. Nicht Mitris Geschichte ist entscheidend, sondern meine. Ich habe viel durchgemacht. Ich weiß selbst nicht, wie ich dazu kam, einen Witwer zu heiraten.«

Malikas Entscheidung hatte die Leute überrascht. Eine Zwanzigjährige, die einen vierzigjährigen Witwer heiratet. Womöglich, weil er reich war? Von der ganzen Geschichte war Milia vor allem im Gedächtnis haften geblieben, wie Nakhla zusammen mit seinem einzigen Sohn als Lastenträger im Beiruter Hafen arbeitete. Nakhla war eigentlich kein Lastenträger. Und er wäre auch nicht mittellos gestorben. In die Enge hatten ihn »die Dürrejahre« getrieben, wie er jene Zeiten nannte, in denen die Seidenraupen zu hässlichen Maden verkamen. In denen die seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wütende Hungersnot schließlich im Ersten Weltkrieg ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte, während die Überlebenden in Scharen auswanderten und nur zurückblieb, wer nicht die Möglichkeit hatte, der Misere zu entfliehen.

Auch Nakhla sah sich von den Umständen in die Enge getrieben und seiner Lebensgrundlage beraubt. Also beschloss er – um 1890 herum – sein Seidengeschäft in der Abd-al-Malik-Straße zu schließen, die Ärmel hochzukrempeln und sich zusammen mit seinem Sohn als Lastenträger zu verdingen. In Wirklichkeit war es so, dass Mitri die Lasten schleppte, Nakhla nur das Geschäft führte. Dann wendete sich das Blatt unverhofft zum Guten. Khawâdscha Aftimus habe, so sagte Nakhla, seine Schulden bezahlt. Damit waren alle Probleme gelöst, und Nakhla eröffnete seinen kleinen Laden wieder. Doch es war zu spät.

Zu spät, weil Mitri erhängt den Tod gefunden hatte. Was vom Leben blieb, war wertlos geworden. Denn Nakhla hatte nicht den Mut, seinen toten Sohn zu rächen. So verkehrten sich mit Mitris Tod die Verhältnisse im Haus, und Malika übernahm das Regiment.

Warum erzählte Milia ihrem Mann dies alles? Um ihn von dem Umzug nach Jaffa abzubringen? Oder wollte sie eine Verbindung herstellen zwischen ihrem Großvater Salîm in seiner Beziehung zu der Ägypterin und dem einschneidenden, lebensverändernden Traum ihrer Tante? Den Namen Aftimus hatte Milia nur ein einziges Mal aus dem Mund ihrer Großmutter Malika gehört. Malika unterhielt sich mit ihrer Tochter Saada. Sie sprach von einem Problem, das durch die Zahlung eines Herrn Aftimus gelöst wurde. »Aftimus? Der gewisse Herr Aftimus?«, fragte Saada. »Dieser Khawâdscha Sergius kommt mir irgendwie ständig in die Quere.«

Dieser Satz blieb dem Mädchen im Gedächtnis hängen. Und nun tauchte er plötzlich wieder auf, zusammen mit Glockengeläut.

»Das interessiert mich nicht«, wollte sie sagen. »Ich bin ich«, wollte sie sagen. »Ich bin weder meine Großmutter noch meine Urgroßmutter. O Gott, die Menschen vermischen sich alle mit mir. Ich weiß selbst nicht mehr, wer ich bin.«

»So ist es ihm auch ergangen«, erklärte der Mönch Tanjûs. »Auf dem Weg zur Kreuzigung merkte er, dass er nicht er selbst war. Er spürte, dass alle Menschen Teil von ihm geworden waren. Er versuchte sich an gewisse Dinge zu erinnern und sah alles. Plötzlich war er Mutter, Vater, Dame, Herr, Schaf. Deshalb versagte ihm die Sprache. Hätte er nämlich gesprochen, was hätte er da sagen sollen? Und hätte er etwas gesagt, wer hätte ihn verstanden? Und wäre er verstanden worden, wer hätte ihm geglaubt?«

Milia lief gerade den Weg hinab zur Quelle, als sie diese Worte hörte. Sie spürte, wie der Himmel sich vor ihr auftat, und verstand. Sie verstand, dass sie hergekommen war, um Mitri vor dem Tod zu bewahren. Also nannte sie ihren Sohn im Stillen Mitri. Nein, tatsächlich war ihr als Erstes der Name Îssa in den Sinn gekommen. Er sollte Îssa, also Jesus heißen. Sie wollte Umm an-Nûr, Mutter des Lichts, genannt werden, um den Schutz der Jungfrau Maria zu erlangen. Doch dies wagte sie nicht einmal ihrem Mann zu offenbaren. Also entschied sie sich für Mitri, aus Sorge um ihn. Sie wollte ihn vor der Glocke schützen. Wollte verhindern, dass die Suraiq-Jungs ihn töten. Aber sie war voll Sorge, weil sein Vater ihn nach Jaffa bringen würde und ihn dort nur Krieg und Tod erwarteten. Sie fürchtete sich nicht vor der Geburt, wie Mansûr glaubte. Sie war überzeugt, dass sie, an den Stamm einer Palme gelehnt, hätte gebären können. War überzeugt, dass sie Schwester Mîlâna nicht brauchte, um mit dem Jungen das zu wiederholen, was Mîlâna mit ihr als Neugeborener in dem alten Beiruter Haus getan hatte. Sie würde die Nonne nicht brauchen, um den Jungen in die Höhe zu halten und seinen Schatten an der weißen Krankenhauswand festzuhalten.

»Er heißt Amîn«, bestimmte Mansûr. Von einem Moment auf den anderen hatte sich der Name des Jungen verändert. Milia spürte ein Gefühl der Einsamkeit in sich aufsteigen. Sie hatte sich angewöhnt, das Kind in ihrem Bauch mit seinen beiden Namen anzusprechen. Mit seinem offiziellen, für den sie und Mansûr sich nach ausgiebiger Diskussion entschieden hatten. Dieser lautete Elias nach dem Propheten Elias, dem Unsterblichen, dessen Mysterium Milia erfuhr, als sie ihm in seiner Grotte, in Saidnâja1 bei Damaskus, einen Besuch abstattete. Dort eingeschlafen, hatte sie den Geschmack der Ewigkeit gekostet, vermischt mit dem Aroma des süßen Damaszener Feigenhonigs, der ihr noch auf der Zunge lag. Der andere Name, mit dem sie ihren Sohn ansprach, war sein geheimer Name, Mitri, in Gedenken an ihren einzigen Onkel, dem sie nur im Traum begegnete. Beide Namen waren mit Amîns Tod in Jaffa auf einen Schlag gestorben. So musste Milia sich, im siebten Monat schwanger, an einen neuen Namen und an ein neues Kind gewöhnen.

»Nein, unmöglich!«, hatte sie abgewehrt, als Mansûr ihr die Namensänderung mitteilte. »Kein Mensch ändert den Namen seines Sohnes. Das ist ein böses Omen. Er heißt Elias«, hatte sie weinend gesagt.

Mansûr aber ließ sich von ihren Tränen nicht umstimmen.

Was war geschehen, und wie? Sonst hatte Mansûr bereits beim Anblick einer einzigen Träne die Fassung verloren. Sie solle nicht weinen, bat er. Er füge sich ihrem Wunsch, sagte er, beugte sich zärtlich über sie und fing die Tränen mit den Fingerspitzen auf. Er besänftigte sie mit Gedichten, die ihm wie Wasser von den Lippen sprudelten und heilend auf ihre Wunden wirkten. Aber Mansûr hatte sich verändert. Er war zu einem anderen Mann geworden. Einem Mann, den sie nicht kannte. Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn nicht wiedererkenne, hielt sich aber zurück. Nein, gar nicht wahr. Sie sprach es aus und bereute es anschließend.

Es war das einzige Mal, dass sie einen Traum bereute. Für gewöhnlich nahm sie die Träume, wie sie kamen. Träume begriff sie als eine Art Schicksal. Noch nie hatte sie einen Traum in Zweifel gezogen. Denn der Traum war ihr ein Fenster zur Seele. Zur eigenen und zur Seele anderer Menschen. Sie träume und lebe, sagte sie, wenn er sich wunderte, dass sie sprach wie im Traum.

»Du sollst deinen Träumen nicht glauben«, sagte er.

»Wenn ich ihnen nicht glaube, wem soll ich dann glauben?«

»Glaube mir.«

»Ja, sicher. Aber die Träume erzählen mir, was vor sich geht.«

»Träume sind Einbildungen«, sagte er.

»Und die Gedichte, die du dauernd vorträgst, sind das etwa keine Einbildungen?«

»Poesie ist eine Wahrheit. Sie ist die Musik der Worte und der Bedeutung. Poesie verleiht den Dingen Bedeutung. Weißt du noch, wie ich deinetwegen andauernd unterwegs war? Ich hatte damals immer einen Vers von Ibn Abd Rabbihi2 im Sinn, in dem ich mich selbst wiedererkannte. Hör:

Der Körper in dem einem, die Seele im anderen Land,

die Seele ist einsam, der Körper unbekannt.«

»Gedichte sind Träume«, sagte Milia. »Unter einem Dichter stelle ich mir jemanden vor, der einen Traum hatte und diesen aufschreibt. Das Gedicht«, erläuterte sie, »überkommt den Dichter wie eine Eingebung. Poesie gehört zur Gattung der Träume. Schau dir nur einmal das Leben der Propheten und Heiligen an. Gott hat immer durch den Traum zu den Menschen gesprochen.

So hat er auch zu Josef dem Zimmermann gesprochen. Den göttlichen Satz ›deine Frau ist schwanger‹ empfing Josef im Schlaf.«

»Aber zu mir hat keiner so gesprochen. Du hast mir gesagt, dass du schwanger bist. Und das war’s.«

»Aber ich habe im Traum gesehen, dass ich schwanger bin…« Milia brachte den Satz nicht zu Ende, weil sie glaubte, Mansûr würde sie für verrückt erklären. Wie hätte sie ihm den Traum mit dem Kind offenbaren sollen. Offenbaren sollen, dass sie eines genau wisse, nämlich, dass sie nicht in Nazareth gebären würde, sondern dass er sie nach Bethlehem bringen müsste – genau wie Josef seine Frau.

In jener Nacht brach sie den Traum mittendrin ab. Mansûr steht in der Küche am Fenster und schaut hinaus. Sie sieht ihn von hinten. Ihr Blick fällt auf seine Glatze, und ihr wird bange. Mansûr hatte eigentlich dichtes Haar. Außerdem hatte in seiner Familie, wie sie von ihm wusste, keiner eine Glatze. Er sieht aus wie der Fahrer, der sie nach Schtûra gefahren hat. Deshalb hält sie ihn zuerst auch wirklich für den Fahrer. Sie sieht, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellt und die Glatze betrachtet. Was hat der Fahrer hier zu suchen, fragt sie sich. Dann hört sie seine Stimme. Es ist Mansûrs Stimme. »Auch du hast dich sehr verändert«, sagt er. »Du kommst mir so fremd vor. Warum bist du so geworden? Du siehst aus, als hättest du dein Gesicht verschleiert.«

Sie gibt keine Antwort. Ein Kälteschauer erfasst sie. Sie beschließt, den Traum zu beenden. Dass ihr Mann keine Haare mehr hat, bedeutet nur eines – Tod. »Wenn man träumt, dass einem die Haare ausfallen, muss man ›Gott steh uns bei‹ rufen. Denn das heißt, dass jemand sterben wird«, hatte ihre Großmutter Malika einmal gesagt. »In der Nacht, in der Mitri starb, habe ich geträumt, dass mir die Haare büschelweise ausfallen, bis ich am Ende eine Glatze hatte. Ich habe geschrien. Und das war der Todesschrei des Jungen.«

Milia riss die Augen auf, sah, dass sie nicht zugedeckt war. Sie zog sich eine Wolldecke über den Körper, bat den Traum aufzuhören und schlief weiter. Erneut sah sie ihn. Am gleichen Ort. Seine Glatze ist voll weißer Schuppen. Sie hört seine Stimme. »Du kommst mir so fremd vor.« Milia riss die Augen wieder auf. Sie wusste, dass sie nicht mehr einschlafen durfte. Wiederholte sich ein Traum nämlich drei Mal, dann würde er wahr werden. Sie beschloss aufzustehen, in die Küche zu gehen und sich einen Anistee zu bereiten. Von klein auf mochte sie Anistee. Ihr Vater hatte sonntags immer Anistee mit Zucker zubereitet und abkühlen lassen. Wenn sich die Familie mittags versammelte und rohe Kubba aß, genehmigte er sich ein Glas Arrak und schenkte jedem Kind ein Glas »Kinderarrak« ein, wie er den kalten Anistee nannte. Er mit seinem weißen und die Kleinen mit ihrem gelben Getränk prosteten sich zu und tranken. Später fanden die Kinder heraus, dass Arrak nach Anis schmeckt. Seither tranken sie Arrak, hergestellt aus Trester und Anis, zum Gedenken an ihren Vater. Milia wollte zu Beginn der Beziehung auf Arrak verzichten und Mansûr beim Trinken lieber mit kaltem Anistee Gesellschaft leisten. Er aber weigerte sich, dieses Spiel mitzuspielen. »Ich soll also trinken, während du mir dabei zuschaust? Nein, das mache ich nicht mit.« Dass Anis gewisse Vorzüge hat, erkannte er erst an, als Milia schwanger war und der italienische Arzt ihn darüber aufklärte, dass Alkohol dem ungeborenen Kind schade. So wandte sich Milia wieder dem »Kinderarrak« zu.

In jener Nacht ging sie in die Küche, um heißen Anistee zu trinken. Denn nur heißer Anistee vermag die Seele wiederzubeleben. In Nazareth hatte sie gelernt, Tee statt Kaffee zu trinken. Trotzdem blieb Tee für sie in erster Linie ein Heilmittel gegen Schnupfen und Fieber.

»Wer tauscht schon arabischen Kaffee gegen Tee ein? Aber so sind wir eben«, sagte Mansur und erklärte, dass das Teetrinken auf die Einflüsse des britischen Kolonialismus zurückzuführen sei. »Das war der Beginn der Niederlage. Wir gaben unseren Kaffee für ihren Tee auf. Wusstest du eigentlich, dass die alten Araber Wein auch als ›qahwa‹ bezeichneten? Und später, als der Kaffee zu ihnen gelangte und sich bei ihnen einbürgerte, nannten sie ihn ›qahwa‹, aber auch ›khamr‹, also Wein. Denn sie betrachteten ihn als geistiges Getränk. Dann lernten wir den Tee kennen, machten ihn zum festen Bestandteil unseres Alltags und halten ihn inzwischen für ein palästinensisches Nationalgetränk. Geschichte ist eine große Lüge. Und weißt du, dass Arrak ursprünglich türkisch und nicht arabisch ist? Du denkst bestimmt, Arrak sei unser Nationalgetränk. Hier am östlichen Mittelmeere glauben das alle. Aber Arrak ist nicht arabisch. In all den Weingedichten ist nie die Rede von Arrak. ›Khamr‹ heißt Wein. Aber wir, einfältig wie wir sind, haben das vergessen und tun so, als hätten wir den Arrak erfunden.«

Milia machte nicht Licht, als sie in die Küche kam. Es war eine helle Nacht. Sie stellte den Wasserkessel auf den Herd und wartete. Das Wasser aber wollte nicht heiß werden. In der Küche war alles seltsam. Das Mondlicht, das zum Fenster hereinschien und das Spülbecken silbern einspann, die gestreiften Fliesen, die zu leuchten schienen, der blau angelaufene Anis, das ohrenbetäubende Zirpen der Zikaden. Milia hielt sich die Ohren zu, um sie vor dem Lärm zu schützen. Da sah sie ihn. Wie aus dem Nichts aufgetaucht stand Mansûr da. Am Fenster mit dem Rücken zu ihr.

»Ich mache Anistee. Willst du auch eine Tasse?«, fragte sie.

Dann sah sie die Glatze. Vor Schreck bekam sie weiche Knie.

»Auch du hast dich verändert«, sagte Mansûr.

»Heiliges Kreuz! Allmächtiger!«, rief Milia.

Sie lag im Bett, eingehüllt in ihre Decke, um sie herum alles dunkel.

Glockengeläut. Wo kommt das Glockengeläut her? Warum bindet keiner den Toten vom Glockenseil los?

Mitri hebt sie auf den Arm und steigt mit ihr in sein Foto an der Wand. Er ist groß, dunkel und hat muskulöse Arme. So stellte sie sich ihn vor. Und so erschien er ihr in dem Traum mit Rohrstock und labnabestrichener Fladenrolle. In Wirklichkeit aber sah er nicht so aus.

Ihren Sohn, der nicht ihrem Bauch entsprungen war, beschrieb Malika als dünn und hellhäutig. Er habe seinen Tarbûsch schräg nach vorn gekippt getragen und immer einen Rohrstock bei sich gehabt. Hier aber ist er groß, dunkel, und über dem weißen Gewand trägt er eine dunkle abâja. Die Arme vom Körper gespreizt, hält er in der rechten Hand einen Rohrstock und umfasst mit der linken die Taille des kleinen Mädchens.

»Lass mich los! Bitte! Ich bringe dir gleich das Labna-Brot. Ich will nicht mit ins Bild. Mir reicht schon das eine Foto.«

»Nein«, brüllte sie und riss die Augen auf. Krankenhausgeruch stieg ihr in die Nase. Sie sah Mansûr. Er stand neben ihr, versuchte, ihre Hand zu halten.

»Du schwitzt entsetzlich. Bitte beruhige dich. Alles wird gut gehen«, sagte er und tupfte ihr mit einem kleinen Handtuch die glitzernden Schweißperlen von Stirn und Händen.

Milia lächelte, sah ihn. Er trank Arrak und rezitierte ein Gedicht. Es herrschte brütende Julihitze.

»Wer wird denn bei solchen Temperaturen Arrak trinken?«, bemerkte sie.

»Hör dir das an«, sagte er. »Der schönste Vers, den der Verlorene König3 je gedichtet hat:

Du hast mein Herz zerrissen, nun liegt

eine Hälfte tot da und in Eisenketten die andere.«

»Das ist nicht schön«, kommentierte Milia. »Ich mag es nicht, wenn über den Tod so gesprochen wird, als wäre Tod ein Wort wie jedes andere. Nein, das ist es gewiss nicht. Worte sind tödlich. Deshalb darf man nicht einfach drauflosreden. Ich mag auch keine Metaphern und Gleichnisse mehr. Dichter stellen sich etwas vor, und anschließend vergessen sie alles wieder. Und du rezitierst ihre Worte und schläfst kurz darauf wie ein Toter…«

»Nein. Du vergisst einen wesentlichen Punkt. Bevor ich schlafe, lodere ich…«

»Du hast wohl immer nur das Eine im Sinn! Ich meine es ernst. Du und die Dichter, ihr vergesst, was ihr gesagt habt, und schlaft selig. Ich dagegen sehe das Ganze im Traum und kriege Beklemmungen. Was für ein Unsinn! Stell dir vor, das alles würde wahr werden. Würden die Leute tatsächlich so leben, wie in den Romanen und Gedichten geschrieben steht, dann wären alle bestimmt schon längst dem Wahnsinn verfallen. Was soll dieser Unsinn also? Nein, das ist nicht schön.«

»Dafür bist du schön, meine Schöne«, sagte er und näherte sich ihr, in der Hand ein Taschentuch, um die glitzernden Schweißperlen aufzutupfen, die aus ihrer nackten Achselhöhle rannen.

»Weißt du noch?«, fragte er.

Sie bejahte, damit er nicht weitersprach. Bejahte, um den endlosen Schwall von Erinnerungen an jene Beiruter Leidenschaft zu dämmen, die sie ausschließlich durch seine Worte erfahren hatte. Zu dem Liebes-Mythos, den Mansûr beharrlich zu schaffen suchte, konnte sie nichts beitragen. Sie glaube seinen Erinnerungen, sagte sie. »Also… ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Es ist wie mit meiner Mutter, wenn sie Geschichten über mich als Zweijährige erzählte. Sie wiederholte immer und immer wieder die gleichen Geschichten. Dabei tat sie jedes Mal so, als erzählte sie sie zum ersten Mal. Am Ende haben wir ihr geglaubt, und ich habe die Geschichten als meine angenommen. Und bei dir ist es genauso. Du machst, dass ich alles glaube. Wenn du erzählst, habe ich nicht das Gefühl nur zuzuhören, sondern mich tatsächlich zu erinnern.«

Sie saß im Schatten des gewaltigen Feigenbaums. Die Herbstsonne zwängte sich zwischen den grünen Blättern hindurch und warf Lichtflecken auf ihre nackten Arme. Plötzlich erschien Mansûr. Milia durchlebte zu jener Zeit die Ängste, die einer ehelichen Bindung vorangehen. Als sie mit Nadschîb liiert war, hatte sie beschlossen, dass das Heiraten für sie der Moment sein sollte, in dem sie sich der Wahrheit stellt. Sie würde das Haus der Schmerzen verlassen, das ihre Mutter errichtet hatte. Sie würde aus dem Schatten der Nonne treten und sich von ihrer Familie lösen. Und dann würde eine neue Geschichte anfangen. Eine Geschichte, die nichts mit der Welt der Heiligen zu tun hätte. Nun aber sah sie sich einem Mann gegenüber, von dem sie nichts wusste. Nur, dass er sie liebte. Genügt es, dass man die Schwingungen der Liebe spürt, die jemand aussendet, um sich zu verlieben? Milia liebte Mansûrs Liebe. Sie war sich sicher, dass er sie schätzte. Dann kam jener Traum, der die Sache entschied. Mansûr würde ihr großer Traum sein. Sie würde ihre Geschichte mit ihm leben, so wie sie all ihre früheren Geschichten gelebt hatte.

Plötzlich erschien Mansûr. Wie aus dem Nichts aufgetaucht, stand er da und betrachtete sie. Wortlos beobachtete er einen Schweißtropfen, der ihr langsam aus der Achsel rann.

»Wann bist du gekommen?«, fragte sie.

. . .

»Was ist los? Warum antwortest du nicht?«

. . .

Sie stand auf, wollte ins Haus gehen. Da ertönte seine Stimme. Sie solle sich wieder auf den kleinen Basthocker unter dem Feigenbaum setzen, bat er.

»Steh nicht auf, bitte!«

»Was ist?«, fragte sie.

»Bleib sitzen. Ich will wissen, wohin dieser Tropfen rinnt«, sagte er und zeigte auf die Perle, die langsam aus ihrer Achselhöhle lief.

Gereizt schaute sie auf ihren Arm und wollte mit der Hand gerade den Schweiß wegwischen.

»Nein, nicht«, rief er.

Sie stand auf, wischte den Schweiß weg und ging ins Haus. Er folgte ihr.

»Du verstehst die Bedeutung von Liebe nicht«, sagte er.

»Was ist Liebe?«, fragte sie.

»Liebe ist, dass ich alles an dir mag, sogar deine Schweißperlen.«

»Das sind keine Perlen. Von Perlen spricht man nur bei Tränen.«

Wie das Gespräch weiterging, wusste Milia nicht mehr. Nun jedenfalls stand Mansûr da, tupfte ihr die Schweißperlen von den Armen, die durch die Schwangerschaft stark angeschwollen waren, und rief damit eine Geschichte wach. Eine Geschichte, die ihr entfallen war oder die vielleicht gar nicht stattgefunden hatte.

Sie wollte, so die Geschichte, ins Haus gehen. Da packte er sie am Handgelenk. Während sie sich seinem Griff entwand, fiel sie ihm in die Arme. Er beugte sich herab, wollte ihren Arm küssen und merkte, dass sie zitterte. »Wie ein Vogel.«

»Du sollst nicht ›wie ein Vogel‹ sagen. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich Gleichnisse nicht mag. Gleichnisse stimmen nicht. Keine Sache gleicht einer anderen. Das ist der Grund, warum ich dich nicht verstehe.«

Milia erinnerte sich deutlich, dass er sie gefragt hatte, woran sie dachte, und sie darauf ein »nichts« erwiderte. Da er aber auf eine »richtige Antwort« drang, sah sie sich gezwungen, irgendeine Geschichte zu erzählen. So war es immer. Wann immer sie vor sich hin träumte, wollte er wissen, was ihr durch den Kopf ging, und wurde, wenn sie schwieg, ungehalten. Also sagte sie, um ihn zu besänftigen, das, was ihr spontan in den Sinn kam.

An jenem Tag fiel ihr der Besuch in der Sankt-Elias-Grotte ein. Dort, so erzählte sie, habe sie innere Ruhe gefunden, kaum dass der Priester ihr das Eisentor aufgeschlossen hatte und sie eingetreten war. In der Grotte, die so klein war, dass nur eine Person hineinpasste, habe sie sich hingelegt, und zwar genau dorthin, wo der Prophet Elias auf der Flucht vor Isabel und Isabels Mann König Ahab geschlafen hatte. Währenddessen habe Schwester Mîlâna draußen gestanden, Weihrauch verbrannt und gebetet.

Mansûr hörte sich die Geschichte an.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er schließlich. »Ich spreche von Liebe, und du denkst an die Heiligen! Nicht zu fassen!«

Warum hatte sie Saidnâja bei Damaskus aufgesucht? Warum hatte sie sich die ewig lange Treppe hinunterbemüht in den Felsspalt, der sich wie eine gewaltige, von Gott in Stein gemeißelte Gravur vom Hügel hinab ins Tal zieht?

»Der Besuch in Saidnâja ist unerlässlich«, hatte die Nonne bestimmt. »Ich habe ein Gelöbnis für das Mädchen abgelegt, also muss ich sie auch dahinbringen. Los, Saada, komm mit!«

Saada aber war krank und außerstande, die lange Reise nach Damaskus anzutreten. Daher beschloss die Nonne, sich mit Milia allein aufzumachen.

Auf dem Weg nach Damaskus sah Milia die Höhen des Dahr al-Baidar zum ersten Mal. Milia sollte, so Schwester Mîlânas Plan, die Sankt-Elias-Grotte am 19. Juli, also am Jahrestag des im Feuerwagen gen Himmel gefahrenen Propheten, besuchen, wenn die Leute Freudenfeuer anzündeten, Dattelkuchen aßen und die ganze Nacht zu Ehren des beliebtesten Heiligen der Region Lieder sangen.

Milia war elf Jahre alt. Ausgemergelt nach dem hartnäckigen Fieber, von dem sie gerade genesen war. Sie fürchtete sich vor dem Propheten, den sie besuchen sollte.

»Hör mir gut zu, mein Kind«, hatte die Nonne sie angewiesen. »Wenn du zu ihm hineingehst, musst du mit ihm reden. Deine ganze Zukunft hängt von diesem Besuch ab. Sankt Elias hat dich vor dem Tod bewahrt. Denn er ist der einzige Heilige, der nicht gestorben ist. Er verabscheut den Tod. Gott hat ihm einen Feuerwagen geschickt und ihn in den Himmel geholt. Jetzt ist er dort oben und lebt mit ihnen. Er ist der Einzige, der am Leben ist.«

»Hat er keine Angst?«, fragte Milia.

»Wovor soll er Angst haben, mein Kind?«

»Vor den Toten. Er lebt doch mit den Toten.«

Die Nonne lachte über so viel Naivität und offensichtliches Unverständnis. Sie wollte Milia sagen, dass der Prophet jetzt mit den Cherubim und Seraphim zusammenlebe. Wie aber hätte sie ihr diese beiden komplizierten Wörter erklären sollen? Erklären sollen, dass damit die Engel gemeint waren? Erklären sollen, dass Gott seinen Propheten am Leben gelassen hatte, damit jemand den Messias empfängt, wenn der auf die Erde zurückkommt?

»Du sollst so etwas nicht sagen, mein Kind«, wies die Nonne sie zurecht. »Das sind Dinge, die wir nicht verstehen. Glauben ist wichtiger als Verstehen. Sobald du bei ihm bist, legst du einfach dein Herz in seine Hände.«

Auf dem Dahr al-Baidar sah Milia zum ersten Mal in ihrem Leben Nebel. Eine leichte weiße Wolkendecke, die auf den Bergen lag und die Erde berührte. Der Geist des Propheten habe sich in Dunst verwandelt und sie auf dem Weg hinauf zu ihm berührt, sagte sie zu Mûsa. In Damaskus, vom Zauber der Düfte überwältigt, im Ohr die Worte der Nonne, dass Apostel Paulus auf der Reise in diese Stadt zum rechten Weg gefunden habe, erwachte in Milia der Wunsch, dort zu bleiben. Sieben Flüsse, Barada genannt, durchflossen die Stadt und machten aus ihr ein auf Jasminduft treibendes Schiff. Im Schatten der Nonne zog das Mädchen nach Saidnâja, trat in andere Sphären ein, sah, wie sich in jenem von Kerzen erleuchteten Raum unzählige Ikonen aneinanderschmiegten und die Heiligenbilder mit den Schatten der andächtig im Halbdunkel knienden Menschen verschmolzen. Die Nonne hieß Milia niederknien. Da kniete Milia nieder. Sie hieß sie die Marienikone küssen. Da küsste Milia die alte Holzikone. Sie hieß sie das Vaterunser aufsagen. Da sagte Milia das Vaterunser auf. Dann ergriff die Nonne Milias Hand, hieß sie aufstehen und führte sie hinaus in den Hof des Klosters. Ob sie Gott gesehen habe, fragte sie das Mädchen.

Milia verstand nicht, was sie hätte sehen sollen. Sie dachte, der halbdunkle Raum voller Ikonen sei die Sankt-Elias-Grotte gewesen. Dachte, das Gelübde sei erfüllt, und sie könne nun wieder heimfahren. Die Nonne aber hielt Milias Hand weiter fest in der ihren und erklärte, dass sie sich erst am Anfang der Reise befänden.

Milia stand vor einem felsigen Abstieg, der sich vom Hügel steil hinunterschlängelte. Da sah sie Gott. Den Himmel wie von Vogelfedern geziert. Den Horizont endlos weit. Dann die Grotte. Milia erinnerte sich noch genau, wie sie die zweihundert Steinstufen hinabgestiegen war. Erinnerte sich, wie sie gekeucht hatte. Erinnerte sich, dass ihr schwindlig war. Erinnerte sich, wie der alte Scheich mit langem Bart sie an die Hand genommen und ihr gesagt hatte, dass sie sich hinlegen und keine Angst haben solle. Wie sie den langen Weg wieder hinaufgekommen war, um die Rückreise nach Beirut anzutreten, daran konnte sie sich allerdings nicht erinnern. Die Nonne habe sie tragen müssen, erfuhr sie von dieser, weil sie beim Aufstieg schrecklich gekeucht und gehustet habe. Milia aber wusste von alldem nichts mehr.

Sie sah einen Mann. Er schloss das Tor zur Grotte auf und sagte zu Schwester Mîlâna, dass er das nur ihr zuliebe tue. Denn Seine Exzellenz, der Bischof, habe angeordnet, niemandem Einlass zu gewähren.

»Geh hinein«, sagte die Nonne.

Milia trat zögernd ein. Sie bückte sich und kroch auf allen vieren vorwärts. Dann sah sie ihn. Gesicht und Brust von einem langen weißen Bart völlig zugewuchert, stand er vor ihr, um ihn herum Feuer. Sie wich vor den Flammen zurück. In dem Augenblick ertönte die Stimme der Nonne, befahl ihr zu bleiben, wo sie war.

»Leg dich dahin, wo er geschlafen hat.«

Milia legte sich auf den Rücken und sah. Der Mann dreht sich um, schlägt mit dem Gewand an den Felsen und geht. Der Felsen springt entzwei, Wasser schießt heraus. Das Wasser löscht das Feuer. Milia liegt im Wasser. Angenehm kühle Luft umspielt sie. Der alte Mann hebt ab, steigt auf. Sie greift nach seinem Gewand. Doch sie bekommt das flatternde Gewand nicht zu fassen.

Der alte Mann war verschwunden. Angst erfasste sie. Sie schaute zu der Tür, durch die sie hereingekommen war. Sie war verschlossen. Und die Nonne war fort.

»Wie konntest du nur einschlafen? Du hättest beten müssen. Sankt Elias hätte deine Stimme hören sollen, hätte hören sollen, dass du ihm dankst. Aus diesem Grund haben wir dich doch hineingeschickt. Denn hier hat er geschlafen, als er vor dem König auf der Flucht war. Hierher kam ein Vogel vom Himmel mit Essen für ihn. Und du schläfst einfach ein, statt zu beten! Allmächtiger!«

Sie habe nicht geschlafen, wollte Milia der Nonne sagen. Sie habe gesehen, wie das Wasser aus dem Felsen schoss und unzählige Vögel die Flügel ausbreiteten, um den alten Mann zu tragen und mit ihm aufzufliegen, wollte sie sagen. Sie sei ganz und gar von Weihrauchduft erfüllt gewesen und habe sich zu einer anderen Welt gehörig gefühlt. Richtig, sie hatte in der Höhle die Augen geschlossen. Aber nicht, um zu schlafen, sondern um zu sehen. Und das war ihr gelungen. Sie wollte dem Propheten des Feuers eines sagen. Und das hatte sie auch getan. Sie möchte ein Junge sein, hatte sie gesagt. Das wünschten sich alle Mädchen, hatte der Prophet entnervt gemurmelt. Denn sie seien unwissend. Wüssten die Menschen nämlich Bescheid, dann würden sich alle wünschen, Frauen zu sein, hatte er gesagt und ihr von den beiden Marias erzählt, Maria Magdalena und der Jungfrau Maria. Jede Frau habe, so seine Worte, die Möglichkeit, die eine oder die andere Maria zu sein. Nur den Frauen seien die beiden vollkommenen Gefühle, Liebe und Mutterschaft, vergönnt. »Und du, Milia, wirst beide erleben. Fürchte dich nicht.«

Wer Maria Magdalena sei, erkundigte sich Milia. Schwester Mîlâna wandte das Gesicht ab, schien die Frage nicht gehört zu haben. Japsend und prustend schleppte sie Milia die lange Steintreppe hinauf.

Woran sie denke, wollte Mansûr wissen. Da erzählte sie ihm von dem Besuch in der Sankt-Elias-Grotte in Saidnâja und fragte, was die Worte, die sie dort gehört hatte, wohl bedeuten könnten.

»Sankt Elias hat zu dir gesagt, dass du beide Marias sein wirst?«

»Das habe ich ihn sagen hören.«

»Gott bewahre uns«, sagte er.

»Wovor?«, fragte sie.

»Vor den Frauen«, antwortete er.

»Ich verstehe nicht«, sagte sie.

»Ich auch nicht«, sagte er.

Sie hatte nichts verstanden. Nun aber lag sie auf dem Halbbett, und Mansûr stand neben ihr.

Sie sehe Vögel auf dem Kirchdach, hatte sie gesagt. Da sei auch die Glocke. Die Glocke, an der Mitris langer, dünner Hals hing. Um die Glocke herum schwirrten die Vögel des Sankt Elias. Die Nonne irre sich, hatte Milia ihrer Mutter erklärt. Die Vögel hätten Sankt Elias davongetragen. Sie habe es genau beobachtet. »Schau, die Ikone, Mutter. Das sind keine Feuerpferde. Das sind Vögel.«

Woher kamen die Vögel? Hatten sie die Glocken zum Läuten gebracht?

Sie verabscheue Glockengeläut, und sie verabscheue Vögel, wollte sie sagen. Sie vermisse die Poesie, wollte sie außerdem sagen. Warum rezitierte Mansûr keine Gedichte mehr? Sie habe ihre Einstellung geändert, wollte sie sagen. Sie finde inzwischen Gefallen an Gleichnissen und Metaphern. Menschen sollten lieber dem Wort lauschen als Wort zu sein.

Nein, sie traf keine Schuld. Er sei es leid, halte das Ganze nicht mehr aus, sagte er. Sie wollte verstehen, doch es gelang ihr nicht. Schuld war Asma, die Frau seines verstorbenen Bruders Amîn. Nein, schuld war Amîn. Nein, die Mutter. Nadschîba konnte Milia noch nie ausstehen. Denn sie glaubte, dass Mansûr sich durch ihren Einfluss verändert habe. In Wirklichkeit jedoch war es umgekehrt. Mansûr war zu Milia gegangen, weil er sich verändert hatte. Wie aber hätte man der Mutter klarmachen sollen, dass die Ursache bei ihrem Sohn lag? Die Mutter war wie blind, sah nichts. Das hatte Mansûr selbst einmal gesagt. »Es hat nichts mit dir zu tun, Milia. Sie will einfach nicht sehen, dass ich vor ihr und Amîn weggelaufen bin.« Milia dagegen sah klar und deutlich. Sah, wie sich seit Amîns Ermordung alles veränderte.

Die Poesie verschwand. Ebenso die Geschichte, wie al-Mutanabbi auf dem Rückweg in seine Stadt starb, weil er auf seinen Diener gehört hat. Nachdem er so einen Satz gesagt habe, so die Worte des Dieners, dürfe er vor Dabbas Onkel4, der ihm in der Wüste auflauerte, nicht weglaufen:

»Pferde, Nacht und Wüste kennen mich

auch Schwert und Lanze, Heft und Stift.«

»Also ist er seiner Poesie zum Opfer gefallen?«, kommentierte Milia.

»Was hätte er tun sollen?«, fragte Mansûr.

»So ein Dummkopf. Wer glaubt denn den eigenen Worten? Er war ein Dummkopf, weil er sich selbst geglaubt hat.«

»Am Ende bleibt einem nichts übrig als zu glauben. Das ist der Tod. Der Tod ist der einzige Augenblick der Wahrheit im Leben des Menschen«, sagte er.

Warum er aus ihren Nächten verschwunden sei, wo Poesie und sein Begehren geblieben seien, wollte sie ihn fragen, tat es aber nicht. Doch die Frage sprach aus ihren Augen. Er hatte gerade seinen Kaffee hinuntergekippt und war im Begriff, das Haus zu verlassen, blieb dann aber unvermittelt stehen, trat an sie heran und stricht ihr liebevoll über die Wange.

»Der Arzt hat gesagt, dass ich es ab dem siebten Monat unterlassen soll.«

»Ich verstehe nicht«, sagte sie.

»Vergiss es. Ich gehe dann, bis bald.«

»Das Kindersterben ist das Zeichen«, sagt Tanjûs. Mit zerzaustem Haar steht der Mönch in der Ferne und winkt sie zu sich.

»Bitte, geh weg. Ich werde mit meinem Mann nach Jaffa ziehen und Schluss.«

»Was gibt es in Jaffa?«, fragt er.

Sie drehte sich um, riss die Augen auf, sah Mansûr.

»Entspann dich, Liebling«, beruhigte er sie. »Der Arzt sagt, dass wir noch ungefähr eine Stunde warten müssen. Alles wird gut gehen.«

Milia fragte nach dem Kind.

»Noch nicht. Es dauert noch etwas.«

Sie verstand. Sie wolle ihre Mutter bei sich haben, sagte Milia. Sie sprach von Schmerzen, davon, dass ihr ganzer Körper schmerze. Sie zitterte. Ihre Zähne klapperten.

Mansûr rannte hinaus und kam mit den beiden Krankenschwestern zurück.

Die Große sah Milia an.

»Ich hole den Arzt«, sagte sie. »Es ist so weit.«

Die Kleine trat an Milia heran, nahm ihre Hand und wischte ihr mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Keine Angst«, beschwichtigte sie.

»So, mein Herr!«, wies sie Mansûr an, »Sie gehen jetzt hinaus. Und Sie, meine Liebe«, wandte sie sich an Milia, »Sie helfen mir und sich selbst.«

Wellenartig erfassten Milia die Schmerzen. Sie hatte das Gefühl zu zerbersten. Hatte das Gefühl, schreien zu müssen. Das Gefühl, mutterseelenallein zu sein.

»Mutter! Schau, was sie mit mir machen!«, kreischte sie. Alles drehte sich vor ihren Augen. Und dann nur noch Dunkelheit.

Er steht da, den Kopf gesenkt.

»Ich sehe das Kind«, sagt Tanjûs.

»Nein, bitte, kein Wort über das Kind.«

»Ich liebe Kinder«, sagt er. »Und ich mag schwangere Frauen. Schwangerschaft ist der Inbegriff weiblicher Schönheit. Glaub ja nicht, was die Frauen behaupten. Trägt eine Frau einen Jungen aus, dann wird sie, diesem Gewäsch nach, hässlich. Trägt sie aber ein Mädchen aus, dann wird sie hübscher. Alles Unsinn! Schau dich an. Du bist mit einem Jungen schwanger und zunehmend hübscher geworden. Eine schöne Frau wird in der Schwangerschaft umso schöner. Oder soll die Jungfrau Maria mit Jesus im Bauch etwa hässlich gewesen sein! Ich habe zu Schwester Mary gesagt, dass etwas nicht stimmt. Männer sollten besser nicht heiraten, weil der Messias unverheiratet starb. Seine Frauen hatten allesamt ein und denselben Namen. Mariam nannte er alle, um ihre Namen nicht zu verwechseln. Sprach er mit einer, dann war es so, als spreche er mit allen. Gott vergebe mir. Nein, ich will damit nichts andeuten. Aber als ich dich ganz allein dastehen sah, dachte ich, du seiest Mariam. Mir von Gott geschickt. Ich muss nach Jerusalem und dachte, ich nehme dich mit. Aber nein, du heißt nicht Mariam. Ich muss deinen Namen ändern«, sagt er und kommt näher.

»Ich will keinen anderen Namen, bitte!«

Männer dürften, so seine Worte an die Nonne, ruhig unverheiratet bleiben, weil der Messias, gesegnet sei er, keine Kinder hatte. Bei den Frauen dagegen verhielten sich die Dinge anders. Eine Frau, die nicht erfährt, was Maria erfahren hat – also kein Kind zur Welt bringt –, ergründet nie das Geheimnis des Lebens.

Was das Geheimnis des Lebens sei, will Milia ihn fragen, als er auf sie zukommt. Sie sei verheiratet, will sie sagen. Das sei nicht erlaubt, sie sei schwanger, will sie sagen. Doch da liegt er bereits neben ihr im Bett.

Was will der Mönch von ihr? Wie hat er sich Einlass in ihre Nacht verschafft? Mansûr habe Recht, will sie sagen. Er sei tatsächlich verrückt. Im Übrigen würden ihn die Nonnen nicht als Mönch anerkennen.

Sie schläft in einem schmalen Bett in einem alten Steinhaus auf einem hohen Berg, spürt, wie der Mönch sich ihr nähert. Seine Müdigkeit mischt sich in ihre. Sein heißer Atem kriecht ihren Hals hinauf. Dann sieht sie sich unter freiem Himmel, schmeckt das Salz der Welt. Sie spürt ihn. Das sei nicht erlaubt, sagt sie. »Mansûr, Liebling, der Arzt sagt doch… Du hast gesagt, dass der Arzt gesagt hat.« Er hält ihr den schwarzen Ärmel vor den Mund, damit sie schweigt. Da spürt sie das Wasser aus sich herausbrechen.

Sie riss die Augen auf. Das Laken war nass. Sie drehte sich zu Mansûr. Er schlief gleichmäßig atmend in seinem Bett. Sie wollte aufstehen und ihn wecken, spürte aber, dass das Wasser noch immer sprudelte. Sie schämte sich. Also schloss sie die Augen, schlief wieder ein. Sie sah ihn. Er kommt näher, legt sich schwer auf ihre Brust. »Runter von mir!«, brüllt sie. »Du bringst meinen Sohn noch um!«

»Was ist?«, fragte Mansûr. Schnaufend stand er an ihrem Bett.

»Das Wasser«, sagte sie. »Ich bin ganz nass.«

»Fruchtwasser. Wir müssen ins Krankenhaus.«

»Nein, nicht heute«, wehrte sie ab. »Das Kind kommt morgen.«

Er half ihr aus dem Bett.

»Ich gehe ein Auto holen«, sagte er.

»Nicht heute«, wiederholte sie. »Das Kind kommt heute noch nicht. Außerdem regnet es.«

»Zieh dich schnell an. Mach dich fertig. Ich gehe ein Auto holen.«

Milia hatte Recht. Es regnete ununterbrochen. Sie wusste, dass sie ihren Sohn am vierundzwanzigsten Dezember zur Welt bringen würde. Das Zeichen, das sie empfangen hatte, bedeutete den Ausbruch anderer Wasser.

Das bestätigte der Arzt im Italienischen Krankenhaus. Er schickte sie nach Hause mit den Worten, sie solle das Fruchtwasser abwarten.

»Aber das Wasser, Herr Doktor, es war eine ganze Menge!«

»Keine Angst«, beschwichtigte der Arzt und ermahnte Mansûr, in den letzten Tagen der Schwangerschaft auf Sex zu verzichten.

»Ich habe wirklich nichts getan«, sagte Mansûr.

Die Untersuchung habe ergeben, erklärte der Arzt verwundert, dass die Gebärmutter in der vergangenen Nacht aktiv war. »Aber vielleicht war es nur ein Traum. Schwangerschaft bringt lebhafte Träume mit sich. Kein Grund zur Besorgnis.«

Sie lag im Bett. Er beugte sich über sie, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und ging in sein Bett. Er sah, wie sie sich im Bett aufsetzte. Sah, dass ihre Haare leuchteten und aus ihrem Hals Öl sickerte.

»Komm zu mir«, sagte sie.

Er stieg aus dem Bett und setzte sich zu ihr.

»Hol Watte«, sagte sie.

Er stand auf, ging an den Holzschrank, holte aus der Schublade eine Rolle Watte heraus und kam zurück.

»Wisch das Öl von meinem Hals und bewahre es für den Jungen auf«, sagte sie.

Er wischte das Öl fort, doch unaufhörlich quoll neues nach. Die Watte sog sich restlos voll.

»Soll ich ein Handtuch holen?«, fragte er.

»Nicht nötig«, sagte sie. »Aber du musst wissen, dass dieses Öl für den Jungen ist. Wenn du ihn mit dem Öl einreibst, ist er vor Krankheit geschützt.«

Sie sah ihn im Dunkeln durch das Haus in Jaffa geistern. Sie würden für immer im Haus der Familie wohnen, bestimmte ihre Schwiegermutter. »Das ist das Haus seines Vaters. Wer verlässt schon das Haus seines Vaters?«, sagte sie. Amîns Ehefrau Asma würde in ihrem Zimmer bleiben. Die Kinder würden aus Mansûrs Zimmer in das ihres Vaters ziehen. Und Milia würde mit Mann und Tochter in Mansûrs Zimmer wohnen. Ein Zimmer anzubauen sei nicht nötig.

»Wie es Gott beliebt«, sagte Milia und sah Nadschîba an. »Ein Junge. In meinem Bauch ist ein Junge, Schwiegermutter, kein Mädchen.«

Milia wusste bereits, bevor sie schwanger war, dass sie einen Jungen austragen würde, und hatte seinetwegen die lange Reise auf sich genommen. Sie versuchte Mansûr auf unterschiedliche Weise klarzumachen, dass sich ihre Liebe zu ihm in der Liebe zu dem Kind in ihrem Bauch offenbare. Und dass Frauen letzten Endes nur eine einzige Liebesgeschichte leben. Die Liebe zu ihrem Kind. Denn die mysteriöse Beziehung einer Frau zu ihrer Gebärmutter sei eine einmalige, unvergleichliche Beziehung.

Sie sah ihn. Er steht im Schatten. In dem dunklen Flur zwischen Esszimmer und Küche in dem Haus in Jaffa. Er steht da, Asma an ihn geschmiegt. Die kleine brünette Frau mit rundlich fülligem Körper hängt an Mansûrs Hals, als wolle sie ihn erklimmen. Mansûr, zu ihr hinabgebeugt, vergräbt das Gesicht in ihrem. Milia kommt näher, hustet, um ihre Anwesenheit kundzutun und Mansûr Einhalt zu gebieten. Er aber hört sie nicht. Sie steht inzwischen unmittelbar hinter ihm, sieht, wie Asma die kleinen Augen entrückt verdreht. Sie sieht sich zwischen den beiden hindurchgehen, als sei sie ein Geist, der durch Türen und Körper hindurchschweben kann. Sie dreht sich um, betrachtet ihr Leben, schwindet, so wie sie in dem Traum mit Nadschîb dahingeschwunden ist, als sie ihn in den Armen einer anderen Frau sah und begriff, dass er sie verlassen würde.

»Schämt euch!«, schimpft Milia. »Der Mann ist kaum einen Monat tot. Schämt ihr euch denn gar nicht?«

Weder sehen noch hören die beiden Milia. Sie treiben in einem Meer von Lust und Geheimnis. Milia geht um sie herum, bis sie wieder hinter Mansûr steht. Sie packt ihn bei den Schultern und schüttelt ihn. In der Ferne tauchen drei Jungen auf. Zwei glichen sich wie einander anblickende Spiegel. Der dritte hat dunkle Haut, krauses Haar und grüne Augen. Die drei Jungen kommen näher, gehen zu dem Mann, der die Frau umarmt, verschwinden zwischen den vier verschlungenen Beinen. Milia rennt zu dem dunklen Jungen. Er liegt auf dem Boden. Blut schießt aus seinen Augen. »O Gott, Mansûr! Wie kannst du nur?«, schreit sie. »Siehst du denn nicht den Jungen?« Sie bückt sich, will den Jungen auf den Arm heben, mit ihm fliehen, doch dann ist alles schwarz. Sie sieht sich. In schleimigem Wasser schwimmen. Der kleine dunkle Junge zappelt, scheint zu ersticken. Ein kleiner Fisch, die Haut von Wasser und Salz bleigrau glänzend, japst, scheint zu ersticken. Er öffnet und schließt die Augen, wohl ein stummer Hilferuf. Milia nimmt den kleinen Fisch in die Hände, schwimmt durch hohe Wellen. Sie sieht Mansûr, er schwimmt, den Fisch haltend. Sie steht an der Felsküste, versucht ihre kleinen Brüste mit den Armen zu bedecken. Sie ruft ihren kleinen Bruder. »Lass ihn nicht allein, Bruder!«, schreit sie. »Das ist mein Sohn. Ich habe ihn Îssa genannt. Ich bin allein, Bruder. Beeil dich, bevor der Junge erstickt.« Mûsa ist verschwunden. Der Fisch kommt zu ihr geschwommen. Er ist nun purpurrot mit Weiß durchmischt. Er taucht auf, treibt auf der Wasseroberfläche.

Mansûr kommt hinzu, packt den toten Fisch, wirft ihn ins Meer. Er schaut Milia an und befiehlt ihr, ihm heim nach Jaffa zu folgen.

»Aber unser Zuhause ist doch in Nazareth«, sagt sie.

»Jetzt sind wir in Jaffa zu Hause. Pack deine Sachen und komm!«

Milia öffnete die Augen, geweckt von der Stimme der kleinen Krankenschwester. Sie stand vor ihr. Dann hörte sie die Stimme der anderen Schwester hinter sich.

»Eine schwierige Geburt«, stellte sie fest. »Der Arzt muss etwas unternehmen.«

»Aus dem Weg, Schwestern!«, befahl der Arzt heiser mit kehliger Stimme. »Beruhigen Sie sich, mein Kind, ich bin ja hier«, beschwichtigte er Milia.

Die Nonne erscheint. Hadscha Mîlâna, alt und blind, in wallender schwarzer Kutte. Vor ihr kniet eine strahlend weiße Frau, am Körper ein langes weißes Kleid. Ihr blondes Haar glänzt im Kerzenschein. Die Nonne streicht ihr über den Kopf. Die Frau weint. Aus ihren Augen kullern eine Art Perlen und breiten sich teppichartig auf dem steinernen Boden im Hof der Nôtre-Dame-de-l’Effroi-Kirche aus.

Milia kommt näher, stellt sich hinter die Kniende, bückt sich, versucht die Perlen aufzusammeln. Doch die strahlend weißen Kugeln springen ihr aus den Händen.

Die Stimme der Nonne klingt rau. »Milia, Schatz, wo ist der Junge? Du musst ins Krankenhaus. Warum bist du noch hier, mein Kind?«

»Aber ich bin im Krankenhaus! Siehst du denn nicht, wie ich leide? Und du? Was machst du hier? Und wer ist die kniende Frau?«

»Das ist die Sünderin, die sich hinkniete und Jesus die Füße salbte. Sie wartet auf dich und deinen Sohn.«

»Sie wartet auf mich?«

Die blonde Frau steht auf, geht zu Salîm, dem Großvater, und umfängt ihn. Wie ein Bild, das sich im Wasser auflöst, verschwindet die Nonne.

Der Großvater, den Milia nie kennengelernt hat, löst sich von seiner Geliebten, geht zu dem kleinen Mädchen und hebt sie auf den Arm.

Schwester Mîlâna steht da, die Hände von sich gestreckt, wie um sich an der Luft festzuhalten. Die Blonde trägt ein schwarzes Bußgewand, sie tritt an Milia heran und drischt auf sie ein. Sie packt das Mädchen beim kurzen krausen Schopf. Die Haare ziehen sich in die Länge. Strähnenweise fallen sie zu Boden. Das Mädchen hat das Gefühl, die Frau will ihr alle Haare ausreißen.

»Hadscha, bitte, ich will nicht sterben!«

Die Nonne steht da und schaut zu. Die kleine Milia rollt über den Boden, hört Gelächter aus der Kehle der Nonne. »Mutter, Hilfe!«, schreit sie.

»Öffnen Sie die Augen!«, sagte der Arzt.

Milia öffnete die Augen.

Tanjûs steht vor ihr. Er nimmt ihre Hand und führt sie zu einer Quelle.

»Das ist die Quelle unserer Lieben Frau«, sagt er. »Trink!«

Milia beugt sich herab und trinkt. Sie trinkt viel, ist nach wie vor durstig. Sie hebt den Kopf. Das Wasser in der gerundeten Handfläche rinnt durch ihre Finger.

»Ich habe immer noch Durst«, sagt sie.

»Trink, so viel du willst. Durstig wirst du dennoch bleiben. Hierher kam Maria, nachdem man ihren Sohn gekreuzigt hatte. Sie stand da, wo du jetzt stehst. Sie weinte, und aus ihren Tränen entsprang eine Quelle. Sie beugte sich über die Quelle, trank von ihren Tränen und blieb durstig. Mit Tränen kann keiner seinen Durst löschen.«

»Sie weint ununterbrochen, schwimmt regelrecht in ihren Tränen«, stellte die kleine Krankenschwester fest.

»Ich weine nicht«, sagt Milia zu Tanjûs. »Warum sollte ich weinen? Ich habe Durst und trinke. Aber woher kommt dieser entsetzliche Durst, Pater?«

»Das ist der Durst der Liebe. Liebe macht durstig. Die Frau hat Durst, weil beim Anblick ihres Sohnes kein Wasser der Welt mehr genügt, um sich satt zu trinken. Diesen Durst lernte die Jungfrau Maria vor dem Kreuz stehend kennen. Und von dem Tag an trank sie ihr Leben lang unentwegt Wasser. Ihr Durst war endlos, weil sie bereute.«

»Was bereute sie?«, fragt Milia.

»Sie bereute, dass sie geglaubt hatte, die schweren Zeiten seien überstanden und die Gefahr gebannt, als Josef der Zimmermann starb. Josef hatte in Träumen und Visionen gelebt. Er hatte einmal gesagt, dass er wie Abraham, Gott segne ihn, ein neues Volk gründen würde. So steht es in dem aramäischen Evangelium, das ich geerbt habe. Die Wahrheit liegt nicht bei mir. Die Wahrheit steht in dem Buch geschrieben. Ich muss dir das Buch zeigen. Komm morgen zu mir in die Höhle. Dann lese ich es dir vor.«

»Aber ich verstehe kein Aramäisch«, sagt sie.

»Das ist unwesentlich«, erwidert Tanjûs. »Wesentlich ist, dass das Buch sich von selbst liest. So habe ich alles lesen können. Als Josef starb, fand die Jungfrau Frieden. Aber die Ärmste hatte keine Ahnung. Sie erfuhr es erst am Schluss. Da war das, was geschehen sollte, bereits geschehen.«

Milia glaubte Mansûr nicht, dass die Nonnen den libanesischen Mönch tatsächlich aus Kirche und Kloster verbannt haben sollten.

»Aber Milia!«, fuhr Mansûr sie an. »Ein Mönch unter Nonnen? Unmöglich! Wenn Nonnen überhaupt einmal einen Mann zu Gesicht bekommen, dann nur außerhalb des Klosters.«

»Aber er ist ein Heiliger!«, sagte Milia.

»Ja, wie die Nonne, von der du mir erzählt hast. Die Nonne, die das Leben deiner Mutter zerstört hat. Das ist keine Heilige!«

»Sie ist sehr wohl eine Heilige. Aber ich mag sie nicht. Man muss ja nicht alle Heiligen mögen. Schließlich hat Gott dem Menschen die Wahl gelassen.«

Der Mönch steht neben dem Halbbett. Auf dem Halbbett liegt eine weiße Frau, die Beine gespreizt, um sie herum zwei Krankenschwestern und ein grauhaariger Arzt. Die kleine Milia steht neben dem Mönch und fragt ihn, wer diese Frau sei und woran sie leide.

»Das bist du, Milia. Wenn du groß bist, gehst du nach Nazareth. Du wirst deinen einzigen Sohn im Italienischen Krankenhaus zur Welt bringen.«

»Aber ich soll nach Jaffa. Ich will das nicht.«

»Du wirst nicht dorthin gehen. Keine Sorge.«

»Wird mein Sohn bei mir bleiben?«

»Gott beschütze deinen Sohn.«

Sie sieht ihn. An der Seite seines Vaters geht er durch Nazareths Gassen. Ein Junge, zwölf Jahre alt. Die Augen von Visionen angegriffen. Zitternd lauscht er der Geschichte, die sein Vater erzählt. Der Geschichte von Abraham, Friede sei mit ihm, und seinem Sohn Isaak.

Gott habe, so sagt Josef der Zimmermann seinen Diener Abraham auf die Probe stellen wollen. Und als der Diener sich gehorsam zeigte, habe Gott den Sohn vor dem Tod gerettet. »Mich wollte Gott auch auf die Probe stellen, durch dich. Ich habe eine Stimme gehört. Sie befahl mir, dich zu töten. Du bist nicht mein Sohn. Wessen Sohn bist du? Ich wollte dich auf den Berg führen und dich Gott als Opfer darbringen. Doch dann kam der Traum und sagte mir, dass der Engel deiner Mutter den Geist Gottes eingehaucht hat.«

An dem Tag wurde Jesus von Nazareth bewusst, dass ihm das Leid, das Isaak erfahren hatte, erspart geblieben war. Wann immer der Vater auf Abraham und den Opfer-Sohn zu sprechen kam, wurde Jesus von einem Schwächeanfall übermannt. Er konnte die Geschichte, so wie sie in der Thora steht, nicht glauben. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als habe der Vater seinen Sohn auf den Berg geführt, ihn gefesselt, geschlachtet und Gott als Brandopfer dargebracht. Er glaubte, die jüdischen Propheten hätten die Geschichte neu geschrieben, um den Sohn vor seinem Vater zu retten.

Mansûr mochte die Jesus-Geschichten nicht.

»Ich bekomme Zustände, wenn ich immer wieder dieselbe Geschichte höre. Bei Poesie ist es völlig anders. Man kann einen Vers unendlich oft wiederholen, und er versetzt einen jedes Mal aufs Neue in Rausch. Geschichten dagegen hört man sich zwei, drei Mal an, dann werden sie öde. Die Jesus-Geschichten öden mich an. Aber was soll ich machen! Ich bin als Christ geboren, so ist es nun einmal. Als ich nach Nazareth zog, habe ich mir keine Gedanken darüber gemacht. Aber jetzt ist Schluss. In Gottes Stadt kann kein Mensch leben. Wir gehen nach Jaffa. In die Stadt, die der Dichterfürst, Ahmad Schauqi, einst besucht hat. Gewohnt hat er in dem Viertel Manschîjja, wo er, umgeben von den Honoratioren der Stadt, Gedichte rezitierte.«

»Die alten arabischen Dichter«, sagte Milia, »hatten neben ihrer Poesie eine Geschichte, die ihnen zur Unsterblichkeit verhalf. Erst durch die Geschichten der Dichter erhält die Poesie Vollkommenheit. Nimm zum Beispiel Imru’u-l-Qais. Aus seiner Dichtung erfährt man nicht, dass er König und Königssohn war. Nicht, dass er die Tochter des Kaisers liebte und ihretwegen gestorben ist. Nicht, dass er ›der Mann mit den Wunden‹ genannt wurde. Und vieles andere auch nicht.«

»Woher hast du all diese Geschichten?«

»Ich habe Mûsas Bücher studiert, um ihm beim Lernen zu helfen. Er war unsere einzige Hoffnung. Er sollte das Abitur bestehen, um uns zu ernähren. Nikola und Abdallah heirateten zwei Schwestern, angeblich Prinzessinnen der Familie Abu Lama, schreckliche Weiber! So blieb nur Mûsa übrig. Ich habe ihm zur Seite gestanden, habe tagtäglich mit ihm gepaukt und gebüffelt. Dann kam wie ein Geschenk des Himmels die Anstellung in einem Hotel in Tiberias, wo er ein Jahr lang arbeitete. Anschließend kam er bei der Firma Shell in Beirut unter.«

Als Mansûr erfuhr, dass Mûsa ein ganzes Jahr in Tiberias gearbeitet hatte, kochte er vor Wut.

»Jetzt wird mir klar, dass ich hinters Licht geführt worden bin. Warum hat mir Mûsa nichts davon gesagt, dass er in Palästina gelebt hat?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Milia. »Alles, was ich weiß, ist, dass er sich in dem Jahr sehr verändert hat. Als er heimkehrte, war er irgendwie seltsam. Ich hatte keinen Zugang mehr zu ihm. Die Sache mit Salîm hat ihn dermaßen aufgebracht, dass er sich schwor, kein Wort mehr mit ihm zu wechseln.«

Milia hatte keine Ahnung, was ihrem Bruder in Tiberias widerfahren war. Sicher wusste sie nur, dass er als Buchhalter im Schâti’-Hotel am See Genezareth tätig war, das einem Libanesen der Familie Salhab gehörte. Anlässlich seiner Heimkehr kam die Nonne vorbei, um zu erfragen, ob er den berühmten Muscht-Fisch gekostet habe. Jenen Fisch, den einst der Messias und seine Jünger gefischt hatten.

Die Nonne erzählte allerlei über den Geschmack dieser ihr unbekannten Fischart und über die schmerzhafte Erfahrung, die der Achtzehnjährige in der Fremde gemacht hatte. Doch dann sprang sie wie angestochen auf.

»Ich rieche die Sünde!«, rief sie verstört. »Komm zu mir ins Kloster, mein Sohn, und leg die Beichte ab.«

Woher wusste die Nonne von der Amerikanerin, in die sich Mûsa verliebt hatte?

Das Ganze sei nichts als eine alberne Erfindung der Nonne, wehrte er ab. »Ich habe mich weder verliebt noch sonst etwas. Ich bin ein Mann wie jeder andere. Das ist alles.«

Die Geschichte, die alle glaubten, entsprach nicht den Tatsachen. Milia wusste es. Als Einzige. Mûsa hatte sie in sein Geheimnis eingeweiht und sie gebeten, das Gesagte für sich zu behalten. Also hat Milia keinem je ein Wort davon verraten. Seinem Erlebnis mit Susan, der Tochter des Pfarrers Jakob Dschâmûs, lauschend, spürte sie, wie Worte zu Lebewesen werden, die vor Lust beben und in Leidenschaft entflammen.

Er sprach von Liebe. Das sei keine Liebe, sondern eine Mischung aus körperlichem Begehren und Seelenverwandtschaft, bemerkte Milia und erzählte ihm von dem Dichter Dschamîl bin Ma’mar5. Dieser hatte den Namen seiner Liebsten angenommen, sich also in Dschamîl Buthaina umbenannt, weil er glaubte, dass seine Liebe auf diese Weise nicht mit ihm sterben, sondern dem Geist der Liebsten auch über ihren Tod hinaus nachklingen würde.

»Aber ich bin nicht so«, wehrte Mûsa ab. »Ich bin nicht so verrückt wie dein Dichter. Wie Feuer brennt es in meinem Herzen. Ich habe Tiberias verlassen, die Geschichte vergessen, erinnere mich nicht einmal mehr daran, wie sie aussah. Trotzdem ist das Feuer noch da. Es steigt aus dem Herzen in die Kehle auf, und ich habe das Gefühl zu ersticken.«

Mûsa erzählte von der Siebzehjährigen mit den großen Augen. Jeden Sonntagmittag kam sie ins Schâti’-Hotel und aß mit ihrem Vater, dem Pfarrer, gebratenen Fisch. Der Pfarrer trug einen roten Tarbûsch und, als Zeichen seines geistlichen Standes, über dem weißen Hemd einen schwarzen Kragen. Er trank eisgekühlten Weißwein und sah seiner Tochter, stets in ein Gespräch mit ihr vertieft, unverwandt in die braunen Augen.

Mûsa sah sie und verliebte sich auf der Stelle. Sie trug immer Kleider in Brauntönen, war groß, schmal in der Taille, hatte eine kleine, feine Nase, schmale Lippen und schaute sich immerzu um, als warte sie auf jemanden.

Pfarrer Jakob Dschâmûs hatte in Amerika zum christlichen Glauben gefunden. Ursprünglich stammte er aus einer jüdischen Familie, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Safad lebte. Er hatte sich in eine amerikanische Touristin verliebt, die fünfzehn Jahre älter war als er, und war ihr, Dorothy hieß sie, nach Portland gefolgt. Dort hatte das Paar in einer protestantischen Kirche der Adventisten geheiratet. Jakob hatte sich dem neuen Glauben angeschlossen und Theologie studiert. Gearbeitet hatte er als Geschäftsmann und als Missionar zusammen mit Dorothys Bruder. Dann war Dorothy gestorben, worauf er mit seiner Tochter Susan in die Heimat zurückkehrte. Seither lebte er, als Pfarrer ohne Gemeinde und Kirche, von den Zuwendungen, die ihm die amerikanische Missionsgesellschaft der Adventisten zukommen ließ. Seine Familie hatte sich von ihm abgewandt. Und die Araber konnten sich mit einem Christentum, das wie die Juden den Samstag heiligte, nicht anfreunden. Die orthodoxe Gemeinde in Tiberias, die gesammelt zum Protestantismus übergetreten war, bekannte sich zur presbyterianischen Kirche der amerikanischen Missionare. Vorsteher dieser Kirche in Tiberias war ein Priester syrischen Ursprungs namens Abdallah Sâjigh, bekannt für seinen arabischen Chauvinismus und seinen Hass auf die jüdische Einwanderung. Pfarrer Abdallah führte eine üble Kampagne gegen Pastor Jakob. Er bezichtigte ihn der Scharlatanerie und untersagte den Mitgliedern seiner Gemeinde jeden Kontakt mit ihm, weil er, so behauptete Pfarrer Abdallah, kein Christ sei und womöglich sogar als zionistischer Spion agiere mit dem Ziel, die Christen Palästinas zu spalten.

So blieb Pastor Jakob nur ein einziges Gemeindemitglied. Seine hübsche Tochter, die ausschließlich Englisch sprach.

Dass Susan nicht Arabisch sprach, fiel Mûsa nicht auf, da er nie Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihr hatte. Sobald sie sonntags im Hotelrestaurant auftauchte, setzte er sich an einen Tisch, von dem er sie gut sehen konnte. Eindringlich schaute er ihr in die braunen Augen. Trafen sich ihre Blicke, dann führte er einen stummen Dialog mit ihr. Sie faszinierte ihn. Ihr Reiz steckte in dem flüchtigen Lächeln, das ihren Lippen offenbar unwillkürlich entfloh, das sie dann aber schnell zurückrief, wobei sie, die Stirn in Falten gelegt, zu Boden schaute und mit dem Essen innehielt.

Ihr Vater war anders. Obwohl er aus seinem alten und neuen Umfeld ausgestoßen war, machte er einen unbeschwerten Eindruck. Er stopfte sich Fisch um Fisch aus dem See Genezareth in den Mund, und er sprach alle an. Wurde er ignoriert, plauderte er trotzdem in einem höchst eigenartigen palästinensischen Dialekt weiter.

Mûsa ließ sich von Pfarrer Jakobs zweifelhaftem Ruf und dem Verdacht der Spionage, der an ihm haftete, nicht abhalten. Er war von der Anmut seiner Tochter hingerissen. Kaum hörte er ihren leichten Schritt auf dem Restaurantboden, flatterte sein Herz. Die ganze Woche wartete er auf den Sonntag. Er zählte die Tage, und am Samstagabend begann er die Stunden zu zählen. In Vorfreude wachte er bis spät in die Nacht und legte sich irgendwann doch schlafen. Aber nur, um die Ankunft des Morgens zu beschleunigen. War es endlich so weit, dass sie mit ihrem Vater erschien, dann wusste er nicht so recht, was tun, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Also setzte er sich wie immer an einen Tisch mit freier Sicht auf ihren Tisch, bestellte gebratenen Muscht-Fisch und Teigtaschen, gefüllt mit frischem Thymian, und einen Arrak. Bedächtig an seinem Glas nippend, ließ er sich in ihre Augen fallen. Das Essen rührte er nicht an. So zogen die Tage ins Land, ohne dass Mûsa seine Liebste je angesprochen hätte, bis Pfarrer Jakob schließlich den Weg bereitete.

Nachdem er Muscht-Fisch und zum Nachtisch Johannisbrotsirup mit Sesampaste verspeist hatte, wandte sich der Pfarrer an den jungen Libanesen und fragte ihn, warum er nicht esse. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern stand auf, ging an Mûsas Tisch, nahm einen Fisch von seinem Teller und segnete ihn. »So, und jetzt iss, mein Sohn. Iss so viel du magst. Die Speise wird nicht ausgehen, weil Adonai, Friede sei mit ihm, dieses Meer, das Meer von Galiläa, mit seinen heiligen Füßen gesegnet hat. Weißt du, dass Adonai hier auf dem Wasser gegangen und nicht untergegangen ist? Während er auf dem Wasser ging, schwammen unter ihm die Fische. Der Messias beugte sich zu den Fischen herab und segnete sie. Deshalb wird das Meer von Galiläa nie ohne Fische sein, bis ans Ende aller Zeiten.«

Der Pfarrer redete und aß. Sie solle sich zu ihm und Mûsa an den Tisch gesellen, forderte er seine Tochter auf. Draufhin setzte sich das Mädchen um und schaute wie entrückt in die Luft. Da entdeckte Mûsa das Geheimnis. Sie sei nicht von dieser Welt gewesen, sagte er zu seiner Schwester. Nach der kurzen Begegnung im Restaurant traf er sie drei Mal. Er wartete vor ihrem Haus auf sie. Wenn sie herauskam, folgte er ihr. Er holte sie ein und ging eine Weile neben ihr her. Seinen Gruß erwiderte sie mit einem Kopfnicken. Sie sei wunderschön, sagte er und fragte, ob sie mit ihm im Libanon leben würde. Er habe sich auf den ersten Blick in sie verliebt und erkenne sie an ihrem leichten Schritt. Unvermittelt verabschiedete sie sich, indem sie die Hand hob, und verschwand in einer engen Gasse, die zum Frauenbad führte. Zwei Tage später, als sie mit ihrem Vater im Schâti’-Hotel bei Tisch saß, fasste er sich ein Herz, trat an ihren Tisch heran, begrüße den Pfarrer mit einem Handschlag und reichte ihr dann die Hand. Wie es ihr im türkischen Bad gefallen habe, fragte er mit hochrotem Kopf. Susan gab keine Antwort. Dafür aber hielt der Pfarrer einen Vortrag über die Bedeutung der arabischen Bäder in der andalusischen Kultur. Juden, Araber und Muslime hätten in Cordoba und Granada gemeinsam gebadet. Toleranz sei das Wasser. Deshalb stelle die Taufe die Essenz der christlichen Lehre dar. Der Katholizismus habe das nicht begriffen. Deshalb hätten die Kastilier, als sie Andalusien eroberten, die Bäder zerstört und die Bücher verbrannt. »Das ist die Barbarei, mein Sohn! Sie sollten einmal zu uns in die Kirche beten kommen!«

Die drei Begegnungen, bei denen Mûsa seine seltsame Liebste traf, verliefen ähnlich. Deshalb konnte er seiner Schwester kaum etwas erzählen. Er folgte der Schönen, holte sie ein, ging neben ihr her, sprach sie an, bekam keine Antwort, und am Ende verschwand sie in die Gasse, die zum Bad führte.

Eines Tages war Susan fort.

Pfarrer Jakob kam nur noch allein ins Restaurant. Statt Weißwein trank er Arrak. Sein gluckerndes Lachen war verflogen. Dafür war sein Gesicht von Kummerfalten gezeichnet. Mûsa stand auf und ging an den Tisch des Pfarrers, um ihn zu begrüßen. Der Pfarrer aber starrte unverwandt auf seinen Teller. Stumm den gebratenen Fisch kauend und Arrak trinkend, stierte er vor sich hin, die Augen trüb, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen.

Mûsa traute sich nicht, nach seiner Liebsten zu fragen. Von einem Tag auf den anderen war sie wie vom Erdboden verschluckt. Vor dem Haus zu warten hatte keinen Zweck. Der Sonntag stand nun nicht mehr für ein freudiges Wiedersehen, und der Anblick von gebratenem Fisch erregte in ihm nur noch Unbehagen, ja Widerwillen. Er verzichtete auf den Fisch des Messias, saß stattdessen einfach nur im Café des Schâti’-Hotels und ließ, von tiefer Einsamkeit erfüllt, den Blick über das stille Wasser des Sees Genezareth schweifen.

Der Pfarrer erzählte ihm, was geschehen war.

Pfarrer Jakob trat an seinen Tisch, bat, sich setzen zu dürfen, und fing an zu reden. Warum er sich denn nicht nach seiner geliebten Susan erkundige, fragte der Pfarrer. Mûsa geriet ins Stottern, wusste nicht, was er sagen sollte. Susan sei nach Amerika zurückgegangen, berichtete der Pfarrer, weil sie mit dem Leben im Heiligen Land nicht zurechtkomme. Sie wollte kein Arabisch lernen. Und das bisschen Hebräisch, das sie in Amerika gelernt hatte, war ihr plötzlich entfallen. Seit sie im Land war, hätte sie unter Panikzuständen und Alpträumen, die vom Tod handelten, gelitten. Sie hasse dieses Land, wolle es auf dem schnellsten Weg verlassen und nach Portland zurück. Er habe mit den unterschiedlichsten Argumenten versucht, sie zum Bleiben zu bewegen. Und unter anderem Mûsa angeführt. »Ich habe ihr gesagt, dass du sie liebst, und dass die Liebe das Tor zum Leben ist. Aber sie hatte ihren Entschluss gefasst. Ich weiß nicht, was ich hier noch soll. Die Araber betrachten mich als Juden. Und die Juden werfen mir vor, die Religion meiner Vorfahren verraten zu haben. Ich werde meiner Tochter folgen und zurückgehen.«

Der Pfarrer machte ein Angebot, das Mûsa die Sprache verschlug. »Komm mit nach Portland. In Amerika gibt es jede Menge Arbeit. Du trittst in unsere Kirche ein, wirst ein Glaubensbruder, und ich gebe dir Susan zur Frau. Was hältst du davon?«

Mûsa war überfordert. Was hätte er sagen sollen? Dass ihm jetzt so einiges klar wurde? Klar wurde, dass Susan ihn nicht verstanden hatte? Dass sie fortgegangen war, ohne erfahren zu haben, wie sehr er sie liebte? Dass er diese neuen Religionen verabscheue und ihm die ölgetränkten Wattebällchen, die seine Mutter ihm als Kind gewaltsam in den Rachen gestopft hatte, genug Religion gewesen seien? Oder hätte er sagen sollen, dass er Muscht-Fisch nicht mochte? Dass er ihn nie gemocht, ihn nur seinet- und seiner Tochter wegen gegessen habe? Dass der einzig wahre Fisch die von Korallen, Sonne und Salz gefärbte Rote Meerbarbe sei? Dass nichts an Salzwasserfisch heranreiche? Dass dieser See, der die Jesusgeschichte erlebt habe, ihn mittlerweile anöde? Dass er nach Beirut zurückwolle, um endlich einmal wieder richtig schlafen zu können, weil nur die Feuchtigkeit des Meeres und der Salzgeruch tiefen Schlaf bescheren?

Mûsa fühlte sich betrogen. Betrogen von einer jungen Amerikanerin, die ihn mit dem duftenden Weiß ihrer Arme verführt hatte. Er sah dem Pfarrer in die geschlossenen Augen – der Pfarrer hielt nämlich beim Reden, wie um die Teufel zu rufen, die ihm ins Ohr flüsterten, die Augen geschlossen. Jedenfalls sah Mûsa dem Pfarrer in die geschlossenen Augen, und da wurde ihm bewusst, dass er betrogen worden war. Schlagartig begriff er, dass die Schöne, die, aus dem Bad kommend, ihm mit ihrem Duft den Kopf verdreht hatte, nichts als eine Illusion war.

Warum er Susan versucht habe zu entjungfern, wollte der Pfarrer von ihm wissen.

»Nach dem Treffen mit dir hat Susan unter Schock gestanden«, sagte der Vater. »Sie war in dich verliebt. Sie sei, so hat sie mir offenbart, in den jungen Libanesen verliebt, der den ganzen Tag an der Straßenecke auf sie wartete, aber nie mit ihr sprach. ›Es war wie eine Vergewaltigung‹, so hat sie gesagt. ›Er kam ins Haus. Ich habe ihn eingeladen. Ich hatte ihn drei Mal getroffen. Er begleitete mich bis zum Bad, wartete draußen auf der Straße auf mich, und wenn ich frisch gebadet heraustrat, kam er, vergrub die Nase in meinem Haar und atmete den Duft tief ein, als wollte er mich in sich einsaugen. Dann ging er. Beim dritten Mal verlief es wieder genauso. Nachdem er den Duft meiner Haare eingeatmet hatte, drehte er sich um und wollte zur Arbeit ins Hotel gehen. Doch da nahm ich seine Hand und führte ihn ins Haus. Er war verunsichert, stolperte unterwegs mehrmals, wäre fast gestürzt. Als er aber ins Haus kam und sah, dass du nicht da bist, stürzte er sich auf mich und versuchte mir die Kleider vom Leib zu reißen. Ich wollte ihn doch. Warum hat er sich so verhalten? Ich fühlte mich verletzt und war den Tränen nahe. Er nahm mich in den Arm, und dann rannte er plötzlich weg. Ich verstehe das nicht. Auf einmal habe ich ihn nur noch gehasst. Ich will keinen Tag länger bleiben.‹ Das waren ihre Worte. Warum hast du das getan?«

»Nein, das habe ich nicht«, sagte Mûsa. »Sie hat die Geschichte erfunden. Der Pfarrer hat mich im Hotelrestaurant angeschrien und öffentlich blamiert.«

Mûsa schilderte seiner Schwester den Vorfall bruchstückhaft. Es war, als sei ihm das Gedächtnis abhanden gekommen. Alles wie weggewischt. Eines allerdings wisse er mit Sicherheit. Ihm sei nicht klar gewesen, dass Susan kein Arabisch sprach. »Ihr Vater ist schuld. Er setzte sich zu mir an den Tisch und rief sie dazu. Wir unterhielten uns auf Arabisch. Richtig. Sie hat nie ein Wort von sich gegeben. Aber sie erweckte den Eindruck, als ob sie alles verstünde. Sie nickte immerzu und lachte, wenn ihr Vater lachte. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Wenn ich neben ihr ging und etwas sagte, nickte sie. Ich dachte, sie sei einfach nur wortkarg. Dann dachte ich, dass es bei den Reformisten, Adventisten und all den Sekten, die aus Amerika zu uns kommen, vielleicht so ist, dass Frauen vor der Ehe nicht mit einem Mann reden dürfen. Wer weiß. Aber der Pfarrer war verrückt. Sie ist vor ihm weggelaufen, nicht vor mir.

Der libanesische Hoteldirektor, Khawâdscha Salhab, erzählte mir, dass er dem Pfarrer Hausverbot erteilen wolle, weil er sich jeden Sonntag heillos betrank und sich dann mit den Gästen anlegte. ›Außerdem‹, sagte er, ›gehört sich das nicht. Ein Geistlicher, der sich derart volllaufen lässt! Nein, den will ich hier nicht haben. Doch im Vertrauen, von Mann zu Mann. Wie sind denn die amerikanischen Bräute so‹, fragte er mich.«

Keiner habe ihm geglaubt, sagte Mûsa.

Zwar behaupteten alle, ihm zu glauben, aber der Neid blitzte ihnen förmlich aus den Augen, so als habe er tatsächlich mit dem Mädchen geschlafen. Am Ende glaubte Mûsa die Geschichte selbst und erzählte sie mit siebzig sogar einmal seinem Sohn. Iskandar, der zu der Zeit bei der Beiruter Ahrâr-Zeitung arbeitete, hatte seinen Vater gefragt, was an der Liebesbeziehung zwischen Marika und dem Bischof dran sei. Darauf hatte Mûsa von seiner Zeit in Tiberias als Achtzehnjähriger berichtet. Er habe, erzählte der Vater, das wortkarge amerikanische Mädchen umarmt und dann die Flucht ergriffen. Es sei keine bewusste Entscheidung zu fliehen gewesen, sondern ein Reflex, denn für das, was danach geschah, sei er noch nicht bereit gewesen. »Auf alles war ich gefasst, nur nicht darauf. Ich weiß nicht, wie es passierte, aber plötzlich steckte ich in ihr drin. Und da erfasste mich die blanke Angst. Ich erinnere mich nur noch an meine Angst und an das Gefühl der Einsamkeit, als ich ihre Schreie hörte.«

»Das heißt, die Geschichte stimmt«, bemerkte der Sohn.

»Ich weiß es nicht. Jedenfalls kann das, was der Pfarrer behauptete, nicht die Wahrheit gewesen sein. Nein, so war es bestimmt nicht. Wie das geht, habe ich erst später erfahren. Ich wollte nicht mit den Jungs nach Tel Aviv gehen. Dort gäbe es jede Menge Bars und Frauen, hieß es. Aber ich bin nie mitgegangen. Dann in Beirut habe ich gelernt, wie man es macht. Sie war aus Aleppo. Ihren Namen weiß ich nicht mehr. So war es damals. Es war nur im Nuttenviertel möglich. Dort haben wir unsere Erfahrungen gemacht. Aber das Mädchen in Tiberias, das war Liebe. Dann hat sie alles zerstört. Na ja, vielleicht war es gar nicht ihre Schuld. Ihr Vater war verrückt. Er hat die Sache mit der Vergewaltigung und so weiter erfunden. Das eigentliche Problem aber war die Nonne. Sie hat die Sünde angeblich gerochen. Daraufhin drängte mich meine Mutter, Gott hab sie selig, in die Kirche zu gehen und die Beichte abzulegen. Ich hatte nichts zu beichten. Was hätte ich sagen sollen? Jedenfalls, die Einzige, die mir beistand und Mutter sagte, dass sie mich in Ruhe lassen solle, war Milia.«

Mûsa betrachtete das Foto an der Wand, und sofort kamen ihm die Tränen.

»Warum weinst du, Mûsa, mein Kleiner?«, schrie Milia.

Die Frau auf dem Halbbett wimmerte. Die beiden Krankenschwestern standen bei ihr.

»So wird das nichts«, sagte der Arzt entnervt.

»Es gibt Schwierigkeiten«, sagte die eine Schwester.

»Die Frau ist ganz blau im Gesicht«, sagte die andere Schwester.

Der italienische Arzt ging ans Fenster, öffnete es und schnappte frische Luft.

»Was soll ich tun, Doktor?«, fragte die ältere Schwester.

»Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht«, sagte er, statt zu antworten, zu der jüngeren.

Sie ging zu ihm ans Fester. »Wie bitte? Was?«, fragte sie.

»Nichts«, antwortete er.

Der Arzt war, entgegen Mansûrs Annahme, kein Italiener. »Italiener« wurde er deshalb genannt, weil er in Italien studiert hatte und mit einer schönen Italienerin verheiratet heimkehrte, die in Nazareth allen den Kopf verdrehte. Rita galt in der kleinen Stadt mit den unzähligen Klöstern, Kirchen, Mönchen und Nonnen als Inbegriff der Schönheit. Zu dem Beinamen »Italiener« war Ghassân al-Hilu also durch seine Frau gekommen, die eine eigenartige Person war. Sommers wie winters zog sie mit weißem Sonnenschirm durch Nazareths Gassen und wünschte sich sehnlichst schwanger zu werden. Nachdem die Schwangerschaft bei ihr vier Jahre lang ausgeblieben war, ging sie im fünften Jahr in ihre Heimat zurück. Dr. Ghassân gestand sich nicht ein, dass seine Frau für immer fort war, sondern glaubte, sie sei zu Besuch bei ihren Eltern und komme in einer Woche wieder. Beharrlich wartete er auf sie. Zumindest glaubten das alle. Obwohl mittlerweile Monate und Jahre ins Land gezogen waren, blieb er dabei. Wann immer sich jemand nach seiner italienischen Frau erkundigte, gab er die gleiche Antwort. Sie besuche ihre kranke Mutter. Und nun zog Dr. Ghassân selbst mit Ritas weißem Sonnenschirm durch die Stadt, sprach eine Mischung aus Arabisch und Italienisch und ging seiner Arbeit als erster Gynäkologe in Nazareth nach.

Dr. Ghassân beugte sich zu der jungen Krankenschwester hinab, die Milia Wadî’a II nannte. Abgestoßen von seinem Atem, der nach Zigarettenrauch roch, drehte sie unwillkürlich das Gesicht weg. Wieder zu ihm gewandt, hob sie den Zeigefinger und wollte ihn gerade ermahnen, das Rauchen aufzugeben. Doch da kam ein Wimmern von Milia. Sie eilte zu der Schwangeren, beugte sich über sie und hörte, dass sie vom Weinen sprach.

»Was ist nur los, Herr Doktor?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Seltsam. Dabei ist alles völlig normal. Sie scheint Angst zu haben.«

»Nun kommen Sie, meine Liebe, Sie haben es fast überstanden«, spornte die Schwester Milia an.

Milias Wimpern öffneten sich einen Spalt breit. Eine Träne hing im Winkel ihres linken Auges.

»Weine nicht, mein kleiner Mûsa«, sagte sie. »Das ist nur ein Traum. Sobald du die Augen öffnest, ist alles wieder an seinem gewohnten Platz, und du wirst sehen, dass hier nichts bedrohlich ist.«

Mûsa aber öffnete die Augen nicht. Der kleine Junge wälzte sich unruhig im Bett neben seiner Schwester. Die Träume umflatterten seine Augen. Sie hatte ihn durch die Dunkelheit in den Lîwân schlurfen sehen. Barfuß und den Oberkörper seltsam vorwärts schiebend, kam er zu ihr. Sein gestreifter grüner Schlafanzug glänzte im silbernen Mondlicht, das durch das Fester hereinschien. Milia machte ihm Platz im Bett. Sie streckte den rechten Arm aus, damit er den Kopf darauf legte. Er aber ließ sich daneben nieder, rollte sich zusammen und schlief ein. Milia zog den Arm ein, drehte sich auf die linke Seite, schloss die Augen und sah sich in den Traum des Bruders tauchen.

Mûsa saß im Garten des Hauses. Zigarettenrauch in die Luft blasend, dachte er über die Geschichte nach, die er keinem so richtig erzählen konnte. Nach seiner Rückkehr aus Tiberias wusste er nichts mit seinem Leben anzufangen. Saada jammerte unentwegt vor Schmerzen, musste sich aber, nachdem Milia nun verheiratet und nach Nazareth gezogen war, selbst um Haushalt und Familie kümmern. Salîm lebte zusammen mit Nadschîb in Aleppo und genoss die Gastfreundschaft des Aleppiner Schreiners, der zwei Töchter auf einen Schlag losgeworden war. Nikola und Abdallah hatten das Geschäft des Vaters in eine Sargschreinerei umgewandelt und zwei Schwestern aus dem Hause Abu Lama geehelicht. Sie führten sich auf wie zwei einfältige Prinzen, weil sie in eine Familie eingeheiratet hatten, die noch aus osmanischen Zeiten den Emir-Titel trug, mittlerweile aber in würdiger Armut lebte. Mûsa begriff, dass die Pflege der kranken Mutter ihm zufiel. Er war überzeugt, dass der Zerfall der Familie auf Salîms Dummheit und die Heimtücke der Mutter zurückging. Er konnte nicht glauben, dass seine Mutter unschuldig war. Er hatte das nagende Gefühl, dass sie in Salîms perfiden Plan eingeweiht war und wusste, dass ihr Ältester, um der Armut zu entkommen, Nadschîb zu einer Doppelhochzeit mit den beiden wohlhabenden Aleppiner Schwestern überreden und damit Milias Glück zerstören würde. Daher der anklagende Blick, den Mûsa der Mutter zuwarf, als Nikola wutschnaubend drohte, »den Dreckskerl« Salîm umzubringen. Saada leugnete, etwas gewusst zu haben. Mûsa aber war sich sicher, dass sie das Vorhaben ihres ältesten Sohnes gutgeheißen hatte.

Als Mûsa irgendwann Adâl Na’ma heiratete und sie in das alte Haus einzog, beschloss Saada, das Feld zu räumen und allein zu leben, weil Adâl ihr Dauerleiden nicht ertrug. Außerdem wollte sie nicht so enden wie Hasîba, umgeben von Hass, geplagt von Angst und Gedächtnisverlust. Mûsa mietete für die Mutter eine Wohnung in der Nähe des Klosters an, wo sie allein leben und zur Gesellschaft die Heilige haben würde. Schwester Mîlânas Augen waren zu dem Zeitpunkt bereits so weit vom grünen Star befallen, dass sie sich, in einer Welt des blauen Weihrauchs treibend, rundum von Heiligen umgeben fühlte.

Saada wollte Milias Foto mit in die neue Wohnung nehmen. Mûsa aber sperrte sich dagegen. Nein, in Wirklichkeit hat er sich nicht gesperrt. »Selbstverständlich kannst du es haben, Mutter«, sagte er, hängte es ab und reichte es ihr. Während sie es in altes Zeitungspapier einwickelte, starrte er die entstandene Leere an der Wand an und brach in Tränen aus. Verwundert sah ihn die Mutter an.

»Dann sag doch, dass du dich nicht davon trennen kannst. Nein, du sollst nicht weinen. Ich will das Bild nicht, wenn dich das so traurig macht«, sagte sie, wickelte das Foto wieder aus und stieg auf das Bett, um es an seinen Platz zu hängen.

»Nein, Mutter. Komm herunter! Bitte, komm herunter!«, rief Mûsa. »Leg es aufs Bett.«

Saada legte das Bild auf das Bett und zog in die neue Wohnung.

Die Mutter hatte seine Tränen falsch gedeutet. Mûsa beließ sie in ihrem Glauben. In Wirklichkeit weinte er nicht, weil Milias Foto das Haus verlassen sollte, sondern aus einem anderen Grund. Den Lîwân würden nun, so war es abgesprochen, seine beiden Töchter beziehen. Und die beiden pubertierenden Mädchen würden die Wände zweifellos mit allerlei Fotos tapezieren. Fotos von Abd al-Halîm Hâfidh6, Dalîda7 und anderen Idolen, die über Fantasie und Lebensgefühl der unversehens in die Moderne gestolperten Stadt herrschten. Selbstverständlich würde Milias Foto früher oder später weichen müssen. Daher war Mûsa sogar erleichtert, als die Mutter Interesse an dem Foto äußerte, und überließ es ihr gern. Als ihn dann aber die weiße Leere anstarrte, machte es ihn beklommen. Denn Milias Abbild schimmerte in dem Weiß. Es war, als hätte das Foto auf die Wand abgefärbt. Mandelförmige Augen im Schatten des Lichts, das aus ihnen strahlte. Das Gesicht, schemenhaft umrissen von grauen Punkten auf der abplatzenden Farbe.

»Das Bild ist auf die Wand übergegangen«, wollte er sagen. Die Mutter aber würde das nicht verstehen, ja nicht einmal verstehen wollen. Warum hätte er sie also darauf aufmerksam machen sollen?

»Salîm ist schuld«, sagte Saada.

Mûsa hätte ihr, seiner Mutter, die ihm und Adâl mit ihrem ständigen religiösen Hokuspokus das Leben zur Hölle machte, am liebsten ins Gesicht gebrüllt. Aber er tat es nicht. Er sagte nicht, was ihm auf der Zunge brannte. Dass sie schuld war. Dass sie sich mit Salîm verbündet hatte. Dass sonst nicht geschehen wäre, was geschehen war, weil Salîm nicht den Mumm hatte, eigenständig Entscheidungen zu treffen. Dass er niemals das Jurastudium an der Saint-Joseph-Universität abgebrochen hätte und nach Aleppo gegangen wäre, hätte sie ihn nicht dazu ermuntert. Davon war Mûsa nach wie vor überzeugt.

Zehn Jahre danach tauchte Salîm auf, um, wie er behauptete, die Mutter zu sehen.

Das Vergangene sei vergessen und vergeben, sagte die Mutter und lud alle Söhne zu einem Festmahl zu Ehren von Salîm und seiner dicken Frau ein. Alle schlossen den Erstgeborenen, der kein Anwalt geworden war, sondern den Beruf des Vaters ergriffen hatte, unter Tränen in die Arme. Alle verziehen ihm mit Ausnahme von Nikola. Nur Nikola, mit mächtiger Statur und hervorquellenden Augen unter dem rotem Tarbûsch, weigerte sich, den Bruder zu küssen.

Saada sah in Salîms Besuch die Rückkehr des verlorenen Sohnes.

»Schlachtet das gemästete Kalb, Kinder«, rief sie freudig, »und setzt euch an die Tafel der Liebe!«

Salîm war nach Beirut gekommen, um zu erkunden, ob Nikola und Abdallah ihn in die Werkstatt aufnehmen würden. Die Arbeit in Aleppo ginge mehr schlecht als recht, klagte er und äußerte den Wunsch, ins Geschäft des Vaters mit einzusteigen.

»Nach so vielen Jahren schneist du plötzlich herein, nur um dein Erbe zu kassieren!«, brüllte Nikola. »Schämen solltest du dich! Nachdem du uns und deine Schwester zugrunde gerichtet hast, wagst du es, Forderungen zu stellen! Mach, dass du wegkommst! Verschwinde!«

Salîm verschwand nicht. Nikola stand auf und ging. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich um und sagte an die Mutter gewandt: »Seit dem Tag, an dem Milia auszog, hat es in diesem Haus nichts Genießbares mehr zu essen gegeben!«

Die Gespräche über Geschäft und Schulden interessierten Mûsa nicht. Wie gebannt starrte er Salîm an. Das Gesicht inzwischen länglich, die Haare ergraut, die Lippen schmal und die Augen eingesunken, sah er haargenau aus wie der Vater. Man hätte meinen können, Jûsuf sei wieder zum Leben erwacht. Nikola setzte der Diskussion ein harsches Ende, indem er die Rückkehr des Bruders ins Geschäft ablehnte. Abdallah war unentschieden. Er verstand nicht, was vor sich ging. Und Mûsa sah fasziniert, wie sein ältester Bruder sich zu einer Kopie des Vaters entwickelt hatte. Dann sagte Salîm etwas, das alle unmissverständlich hörten.

»Du bist schuld, Mutter«, sagte, nein röchelte er. »Du hast gesagt, ich solle gehen und mir keine Gedanken machen und dass Gott schon für Milia sorgen würde.«

Betretenes Schwiegen trat ein. Salîms gekrächzte Worte hatten eingeschlagen.

»Du? Das hast du so zu Salîm gesagt?«, fragte Mûsa.

»Ich? Nein, ich erinnere mich nicht.«

»Du hast Milia unglücklich gemacht!«, empörte sich Mûsa. »Du hast sie abgeschoben in ein Land, das in Flammen steht.«

Saada fing an zu weinen. Streit brach aus. Abdallah beschimpfte die Mutter und Salîm, warf ihnen vor, Milias Leben für nichts und wieder nichts zerstört zu haben.

Im nächsten Augenblick zeigten sich die Symptome der Krankheit. Saadas Gesicht rötete sich. Sie bekam keine Luft mehr. Abdallah rannte den Arzt holen. Mûsa ging in sein Zimmer, schloss die Tür ab und schwor sich, nie mehr ein Wort mit der Mutter zu reden.

Solche Vorsätze sind in Familien jedoch schnell vergessen. Salîm kehrte nach Aleppo zurück. Wieder brach der Kontakt ab. Mûsa half der Mutter beim Packen und beim Umzug in die Wohnung, in der sie sterben würde. Milias Foto blieb an seinem Platz, weil die Wand es nicht hergeben wollte.

»Komm, Mûsa, mein Liebling. Komm, leg dich zu mir und weine nicht.«

Milia sah ihn. Mûsa wälzte sich im Bett. Der Schatten des Traums schwebte um seine Augen. Er sitzt allein am Ufer des Sees Genezareth. Plötzlich schlagen die Wellen bis in seine Augen. Das Meer von Galiläa steigt. Weiße Gischt überspült den Horizont. Wellen bäumen sich auf. Das Restaurant bricht unter der Wucht der anbrandenden Wellen zusammen. Mûsa in einem kleinen Boot wird von Wind und Wellen umhergeschleudert. Fernab steht Milia. Das kleine Mädchen geht auf dem See. Auf dem Wasser gehend, streckt sie die Arme aus. Von Weitem sieht sie aus wie ein kleiner Vogel, der die Flügel ausbreitet, fliegen will, aber gegen die Wellen ankämpft. Er steigt, sinkt, verschwindet, taucht auf, kommt näher, entfernt sich. Die kleine Milia taumelt inmitten der hohen Wellen, weiße Gischt regnet auf sie herab. Mansûr, in jeder Hand ein Ruder, rudert, versucht sie zu erreichen. Das Mädchen entfernt sich, wird vom Wasser verschlungen. Mûsa befiehlt dem Meer, sich zu beruhigen. Seine Stimme bewirkt nichts. Mûsa sitzt auf der Westseite des Hotelrestaurants. Er sitzt allein auf dem Holzdeck, das wie eine Zunge in den See ragt und dem Gast das Gefühl gibt, sich auf einem Schiff zu befinden. Außer ihm ist niemand da. Zu hören ist nur, wie die Wellen an die Pfähle klatschen, die das Restaurant tragen. Mûsa isst einen Happen Muscht-Fisch, gewürzt mit Salz und Zitrone. Er kaut. Ihm wird schwindlig. Er sieht, wie ihm die Zähne ausfallen. Er hat Gräten im Mund, denkt er zuerst. Er beugt sich über den Teller und spuckt. Die Wangen fühlen sich an, als würden sie zusammenkleben. Sein Mund ist nur noch ein offenes Loch. Dann sieht er es. Er schaut auf den Teller und sieht, wie all seine Zähne ausfallen. Er hebt die Hand, fängt die Zähne auf, steckt sie zurück in den Mund. Er hat Schmerzen. Sein Mund ist ein einziger Schmerzklumpen. Er will schreien. Er schaut auf den See, will Milia sagen, dass er entsetzliche Schmerzen hat. Aber der See ist fort. Die Wellen sind verschwunden. Um ihn herum nichts als Dunkel. Alles ist vom Dunkel der Nacht umhüllt. Die Nacht klebt an seinem Körper. Er versucht die Augen zu öffnen. Es gelingt ihm nicht. Seine Augen sind wie mit Wachs versiegelt. Weihrauchduft steigt ihm in die Nase. Der Mann schreckt hoch, zeichnet sich ein Kreuz auf die Stirn. Er steigt aus dem Bett, geht, wie früher als kleiner Junge, auf Zehenspitzen zu seiner Schwester und schlüpft zu ihr ins Bett.

»Hab keine Angst, mein Liebling. Ich bin bei dir.«

Sie will ihrem Bruder erzählen, dass Tanjûs verschwunden ist. Stimmt es, dass der libanesische Mönch tot bei der Jungfrauenquelle aufgefunden wurde?

Sie fragte Mansûr nach Einzelheiten. Doch der leugnete, Kenntnis von der Sache zu haben.

»Das hast du mir doch erzählt.«

»Ich?«

»Gestern hast du erzählt, dass man seinen Leichnam gefunden hat und nicht weiß, was man mit ihm machen soll. Wie gekreuzigt lag er da. Man hatte ihm in den Mund geschossen und seine Arme auf dem Boden ausgestreckt. Die französische Nonne, die das Kloster führt, hat beschlossen, die Sache zu vertuschen. Sie wickelte den Mönch in ein weißes Tuch, sagte, dass er im Libanon beerdigt werden würde, und ordnete absolutes Stillschweigen an.«

»Ich?«

»Selbstverständlich du. Schließlich sehe ich in diesem Land niemanden außer dir.«

»Ich habe dir immer gesagt, dass wir nach Jaffa gehen sollen. Dort haben wir eine große Familie. Aber du willst ja unbedingt hier bleiben, bis das Kind geboren ist. Und da warte ich also. Erzähl mir jetzt nicht, dass du hier keinen Menschen siehst. Schließlich wolltest du es so!«, erwiderte Mansûr.

»Aber darum geht es doch nicht«, sagte sie.

Sie will zu Mûsa, will ihm die Zähne zurück in den Mund stecken. Milia weiß es. Von ihrer Großmutter Malika weiß sie, dass zwei Träume den Tod ankündigen. Haare schneiden und Zahnausfall. Alle anderen Träume, so Malikas Worte, seien Reisen. »Reisen, die der Mensch in ferne Welten unternimmt, weil die Seele nicht gern im Körper weilt. Sobald der Körper schläft, macht sich die Seele auf. Und wenn sie zurückkehrt, leicht und beschwingt von all ihren Erlebnissen, fällt der Körper prügelnd über sie her. Der Schlaf gleicht einem Ring, in dem Seele und Körper ihren Kampf austragen. Der Mensch spürt seine Seele im Wachzustand nicht. Erst wenn der Engel des Schlafs ihn besucht und seine Seele über Zeit und Ort schwebt, erkennt er, dass er aus zwei Teilen besteht, die durch den Willen des Allmächtigen eine Verbindung eingegangen sind. Und genau darin besteht das Wunder. Wie könnten Wasser und Feuer sonst eine Verbindung eingehen? Der Mensch ist eine Verbindung aus zwei Elementen, die nichts verbindet: Erde und Luft. Der Körper besteht aus Erde und die Seele aus Luft. Wie erhaben die Seele ist, spürt der Mensch nur im Traum. Wenn sie, auf Reisen, die Erde auf sich warten lässt, wird dem Menschen die geheime Bedeutung des Lebens klar. Wenn die Seele sich darin übt, den Körper zu verlassen, und erkennt, dass sie ihr eigenes Leben hat.«

»Heißt das, dass ich zwei Dinge bin, Oma?«, fragte Milia verängstigt.

»Selbstverständlich, mein Kind. Hast du nicht von deiner Tante Salma geträumt, bevor sie starb? Hast du nicht gesehen, wie sie träumte, dass sie fliegt?«

»Ich?«

»Aus diesem Grund ist deine Tante nicht wirklich tot. Ihre Seele hat begriffen, dass der Körper entbehrlich ist. Der Körper aber kann das nicht erfassen. Deshalb macht er Schwierigkeiten und schmerzt. Er schmerzt, damit die Seele leidet und es nicht wagt, ihn zu verlassen. Arme Salma, sie hat schrecklich gelitten. Erinnerst du dich noch, Milia, wie sehr deine Tante gelitten hat?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete das Mädchen zitternd. Milia hatte das Gefühl, ihre Seele würde gleich aus dem Körper fahren, und bekam Angst. Sie betrachtete ihre Augen im Spiegel des kleinen Beckens im Garten, wo sie planschend viel Zeit zubrachte. Gern hätte sie von ihrer Großmutter erfahren, ob die Augen Teil des Körpers oder der Seele sind.

»Die Augen sind Teil der Seele«, erklärte die Nonne. »Schau dem heiligen Elias in die Augen, und du wirst sehen, dass sie Feuer sprühen. Wie konntest du nur, Mädchen? Wie konntest du einschlafen? Ich habe dich zur Sankt-Elias-Grotte gebracht, damit du ihn siehst und er dich sieht. So hätte er dich für immer in Erinnerung behalten, dich nie vergessen. Ich werde irgendwann sterben, mein Kind. Ich kann nicht immer die Vermittlerin zwischen dir und ihm spielen. Du musst ihm tief in die Augen schauen und ihm sagen, dass du ihn liebst.«

Die Augen des unsterblichen Propheten waren aus ihren Höhlen getreten und hatten sich an den Felsen geheftet. Milia sah seine Augenlichter. Überall blitzten sie in der kreisrunden Grotte, die so klein war, dass nur ein Mensch ausgestreckt liegend hineinpasste. Aufrecht konnte der Prophet darin nicht stehen. Deshalb muss er wohl, um seinen Kopf auf den Stein zu betten, der ihm als Kissen diente, auf allen vieren hineingekrabbelt sein. Seine Augen waren aus der rotblauen, neben dem Steinkissen aufgestellten Ikone getreten und überall in der Grotte zu sehen. Milia fürchtete sich vor seinen vielen Augen. Sie wollte ihm dafür danken, dass er sie von der Krankheit geheilt hatte. Wollte ihm sagen, dass sie ihn niemals vergessen würde. Doch plötzlich hatte sie den Adler vor sich. Wie war er durch das kleine Loch in der Decke hindurchgekommen? Milia hatte ihn schon vorher gesehen. Auf einmal waren ihre Augen in der Lage gewesen, den Fels zu durchdringen und die Weiten dahinter zu ergründen. Mit ausgebreiteten Flügeln die vereinzelten Wolken am Himmel streifend, war der Adler hoch oben Runde um Runde gekreist und hatte nach der Öffnung gespäht. Dann hatte er unvermittelt die Flügel angelegt und sich fallen lassen. Er solle die Flügel aufspannen, schrie Milia. »Du stirbst sonst! Stirb nicht, bitte! Wer soll dann dem heiligen Elias das Essen bringen?« Der Adler hatte nicht auf sie gehört. Senkrecht, wie im Todessturz, fiel er. Kurz vor der Öffnung war er auf Faustgröße zusammengeschrumpft und durch das Loch hereingeschlüpft. Nun in der Grotte vor ihr breitete er die gewaltigen Flügel aus und schlug damit gegen die Wände, wie um sie auseinanderzuschieben und mehr Platz zu schaffen. Milia hockte zusammengekauert auf Sankt Elias’ Schlaflager, unfähig sich zu bewegen. Sie fühlte sich unwiderstehlich von den Krallen des Adlers angezogen. Der Adler packte sie und flog mit ihr hinaus. Milia hoch oben in der Luft. Schwindel. Angst. Fernab sah sie das Gesicht ihrer Tante auftauchen. Weinend fragte Tante Salma nach Ibrâhîm Hanânîjja.

»Warum weinst du, Tante? Tote weinen nicht und dürfen auch nicht weinen.«

Was die Tante darauf sagte, hörte Milia nicht. Die Tante war verschwunden. Das kleine Mädchen sah sich selbst. Liegend. Auf dem breiten Bürgersteig vor der Verkündigungskirche in Nazareth. Der Bauch aufgedunsen. Die Arme wie gekreuzigt von sich gestreckt.

Sie sah die beiden. Sie standen vor ihr. Sie konnte die beiden nicht auseinanderhalten. Die heilige Nonne Hand in Hand mit Tanjûs. Wie zwei Greise mit zerfurchten Gesichtern. Sie hörte eine Stimme. Von weit her. Sie solle pressen, sagte die Stimme.

Eine Hand rüttelte an ihrer Schulter.

»Öffnen Sie die Augen, mein Kind! Pressen. Los, pressen. Halten Sie durch. Es fehlt nicht mehr viel.«

Milia öffnete langsam die Augen. Helles Licht. Strahlend durchflutete die Sonne den Raum. Es regnete nicht mehr. Die Sonne schien. Hinter dem Licht stand der alte italienische Arzt.

»Kommen Sie, mein Kind. Alles ist in Ordnung. Wir haben es gleich geschafft. Aber Sie müssen ein wenig mithelfen.«

Milia lächelte. Sie spürte, wie ihr eine der Schwestern mit einem Handtuch den kalten Schweiß von den Lidern wischte. Sie fragte nach Mansûr.

Mansûr stand neben ihr. Sie waren in der Eingangshalle des Masâbki-Hotels. An der Wand hingen lauter Fotos. Mansûr rief sie, wollte ihr ein Foto zeigen. Zu sehen war darauf Scheich Bischâra al-Khûri8, der Präsident der libanesischen Unabhängigkeit, und Dschamîl Mardam Bek9, der syrische Ministerpräsident. Die Bilder an der Wand, sagte Mansûr, erzählten in Kurzfassung die Geschichte Syriens, Libanons und Palästinas.

»Seltsam«, bemerkte er. »Offensichtlich hat unsere Geschichte keinen anderen Platz als diese Wand in einer kleinen Stadt zwischen Beirut und Damaskus gefunden, um die Serie der arabischen Niederlagen festzuhalten.«

»Bitte, ich kann Politik nicht ausstehen. Seit wir in diesem Hotel sind, redest du von nichts anderem als von König Faisal, Maisalûn und solchem Zeug. Ich bekomme Kopfschmerzen davon.«

Sie ließ seine Hand los und ging zum anderen Ende der Wand, wo zwei Gedichte je in einem Rahmen nebeneinanderhingen.

Mansûr folgte ihr und las:

»Das Masâbki bescherte uns großen Genuss,

Musik und Getränke im Überfluss.

Schön war es dort und die Stimmung heiter,

als feiere Abu Nuwâs mit uns weiter.

Das stammte vom Dichterfürst. Ahmad Schauqi ging hier ein und aus, begleitet von Muhammad Abd al-Wahâb10 mit Ûd. Abd al-Wahâb griff Schauqis Worte auf und vertonte sie. Und hier ist Khalîl Mutrân11, der Dichter der zwei Länder.«

»Was hat Jesus damit zu tun? Ich mag solche Gedichte nicht.«

Mansûr trat an das zweite Gedicht heran und las:

»Verängstigt suchte Maria ihr Kind,

Jesus war fort – wie Kinder so sind.

Maria, rief ich, schau nicht so furchtsam drein,

Jesus wird sicher im Masâbki sein.«

»Was hat Jesus hier zu suchen? Nein, das ist keine Dichtung!«

An jenem Tag, dem zweiten Tag ihrer Ehe, erkannte Mansûr, dass er diese Frau, die nun die seine war, nie besitzen würde. Er habe sich in sie verliebt, so offenbarte er seiner Mutter, weil sie eine Frau sei. Groß und gut gebaut, runde Hüften, eine schmale Taille und ein Weiß, das dem von Da’d, der »einzigartigen Perle«, zu gleichen schien. Ihre Erscheinung entsprach seinem Traumbild von einer Frau, das geprägt war von unzähligen Gedichten. Gedichten, die die Liebe besangen und in denen sich angesichts des Körpers der Agebeteten eine Flut von Wünschen und Sehnsüchten entlud.

Wo war das Verlangen geblieben? Warum empfand Mansûr solch eine tödliche Einsamkeit? Seit dem Tod seines Bruders lebte er in einem Strudel der Unruhe und Angst. Er fürchtete sich nicht vor Jaffa, auch nicht vor dem Krieg. Er hatte sich zur Rückkehr in seine Stadt entschlossen, weil er zurückkehren musste. Außerdem fühlte er sich für Asma, die junge Witwe, verantwortlich. Einmal hatte er sogar geträumt, Ehemann von zwei Frauen zu sein. Asma und Milia. Warum auch nicht? Er verspürte eine unwiderstehliche Begierde. Milia, kugelrund, war im achten Monat schwanger. Das Haar über das Kissen gebreitet, schlief sie. Währenddessen saß er allein im Wohnzimmer, trank Tee und rauchte. Er sah sich selbst zwischen den beiden Frauen, spürte den Puls in seinen Adern und merkte, wie die Lust Besitz von ihm ergriff, so als würde ihn eine Hand bei den Hoden packen und zudrücken.

Wie von einer inneren Macht getrieben, zog er sich aus und legte sich zu Milia ins Bett. Er rückte an sie heran und umfing ihre Hüften. Sie wand sich und drehte ihm den Rücken zu, das Gesicht von dem offnen Haar bedeckt. Er wechselte auf die andere Seite, sodass er Gesicht an Gesicht mit ihr lag, griff an ihre Brüste und wanderte mit den Lippen über ihren Hals. Kaum aber wollte er in sie eindringen, war alles erstorben. Schlagartig war die Lust verflogen. Als hätte ihn jemand mit kaltem Wasser übergossen, war das Feuer restlos erloschen. Ihm war, als ersticke seine Seele, als bekomme er keine Luft mehr. Er ließ von ihr ab, drehte sich auf den Rücken und wurde plötzlich von Scham erfasst. Mansûr war überzeugt, dass Milia nicht schlief und alles mitbekam. Seit Beginn, also seit der ersten Nacht im Masâbki, glaubte er nicht, dass er eine schlafende Frau beschlief. Doch das Spiel gefiel ihm. Es gab ihm das Gefühl, frei und der Herr im Bett zu sein. Das Gefühl, dass Milia ihm bedingungslos gab, was er wollte, wann immer er wollte. Er mochte dieses Spiel. Denn es entfachte in ihm eine unstillbare Lust. Der unruhige Schlaf der Frau an seiner Seite war für ihn die große Freude, die all die Gedichte aus ihm hervorlockte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Wusste nicht, wie er sich aus der Arena des Scheiterns, in die er geraten war, retten sollte.

Er stand auf, zog eilig Unterwäsche und Pyjama an.

»Was ist los mit dir?«, hörte er sie fragen.

Wortlos ging er ins Bad und schloss die Tür ab.

Milia stand auf, klopfte an die Badezimmertür und fragte ihn, ob er krank sei.

»Nichts ist los, Liebling«, drang seine Stimme krächzend heraus. »Warte im Bett auf mich.«

»Wo bist du, Mutter?«, schrie Milia schmerzgequält auf dem Bett im Italienischen Krankenhaus in Nazareth.

Der Mönch Tanjûs stand vor ihr, die Hände ausgestreckt, wie um das Neugeborene aufzufangen.

»Ich will nicht nach Jaffa. Ich will den Jungen nehmen und nach Beirut gehen. Bitte, Pater Tanjûs, sagen Sie meiner Mutter, dass sie kommen und mich holen soll. Nein, sagen Sie meinem Bruder Mûsa, dass er kommen soll, damit wir fliehen können.«

»Der Herr, Friede sei mit ihm, ist aus freien Stücken in den Tod gegangen«, sagte Tanjûs, schlug das Buch auf und fing an zu lesen. Milia verstand die aramäischen Worte nicht, die der libanesische Mönch artikulierte. Dennoch sah sie ihn. Getrieben durch Jerusalems Straßen auf dem Weg nach Golgatha, ein schweres Holzkreuz tragend. Umringt von Soldaten, den Rücken von Peitschen zerfetzt, schleppt er sich vorwärts. Er schaut, nimmt nur eines wahr. Maria Magdalenas Gesicht. Es sieht aus wie das seiner Mutter. Er blickt in die Ferne und sieht Abraham. Abraham folgt seinem Sohn. Ergeben gebeugt, trägt Isaak auf dem Rücken das Brennholz, das der Vater für die Opferung zusammengesucht hat.

»Wusste er, was sein Vater plante? Oder hat der Vater ihm die Wahrheit verheimlicht?«

Diese Frage stellte Jesus von Nazareth seinem Vater Josef dem Zimmermann, als sie, wieder in Eintracht, beisammensaßen. Josef hatte ihm kurz zuvor gestanden, dass er ihn hatte töten wollen. Anfangs erbost, hatte Jesus sich schnell gefangen. Denn er sah ein, dass es Gottes Wille war.

»Du bist also wie Abraham«, stellte Jesus fest. »Du wolltest mich umbringen, genau wie Abraham seinen Sohn töten und Gott als Opfer darbringen wollte.«

»Kein Vater tötet seinen Sohn, mein Kind«, sagte Josef mit traurigen Augen. »Ich war verwirrt. Es war, als hätte mir eine schwarze Wolke die Sicht verdunkelt. Jetzt ist es vorbei. Du bist mein einziger Sohn. Wer tötet schon seinen einzigen Sohn?«

»Und er?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, Abraham wusste nicht, dass es ein Schaf gab. Er hatte Gottes Befehl im Traum gehört, und ihm blieb nichts anderes übrig.«

»Ich meine Isaak.«

Nein, so ging die Geschichte nicht. Warum also schwebte Milia das Bild eines flüchtenden Vaters vor Augen? Pater Tanjûs hatte ihr die Geschichte anders erzählt. Warum sah sie den Sohn mit einem Messer in der Hand am Feuer stehen? Woher kam das Feuer? Maria erzitterte am Berg des Sprungs bei Nazareth. Sie hat kein Feuer gesehen. Sie sah ihn. Sah, wie sie Jesus ins Tal stoßen wollten. Sie stand da, vor ihr das Tal, und sie zitterte. Hier nun auf dem Platz vor der Kirche, der sogenannten Nôtre-Dame-de-l’Effroi-Kirche, drehte sich die schwangere Frau aus Beirut im Dunkeln um, und sie zitterte vor Kälte.

»Warum kommst du im Nachthemd zur Kirche?«, fragte der Mönch Tanjûs.

»Das ist mir gar nicht aufgefallen«, antwortete sie. »Ich schlafe, Pater, und träume. Das ist ein Traum, nicht die Wirklichkeit. Wie kommen Sie in meine Träume? Wenn ich jetzt die Augen öffne, finde ich mich zu Hause wieder, und Sie sind verschwunden.«

»Nein, öffne die Augen nicht«, sagte Tanjûs. »Ich will dir etwas Wichtiges erzählen.«

Der Mönch las die Geschichte von Khalîl, dem Freund des Allmächtigen, und seinem Sohn vor. »Weißt du, warum sich die Stadt im Süden Palästinas ›Stadt des Khalîl‹ nennt? Weil sich dort sein Grab befindet. Abraham hieß in Wirklichkeit Khalîl, weil er der Freund von Abu Îssa war.«

»Wer ist Abu Îssa?«, fragte Milia.

»Du liest wohl keine Bücher, mein Kind! Vielleicht kannst du es nicht wissen. Das ist ein Buch, das in fünfzig Jahren in Beirut geschrieben werden wird. Wie kannst du es also gelesen haben, wenn es noch gar nicht geschrieben ist?«

»Und Sie? Wie konnten Sie etwas lesen, das noch nicht geschrieben ist?«

»Weil ich in Augen lese. Du auch, Milia. Du wirst die Dinge lesen, bevor sie geschrieben sind. Du wirst sie lesen, wenn ein alter Mann an deinem Bett im Italienischen Krankenhaus steht und sagt: ›Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren.‹12«

»Heißt das, Sie werden sterben, wenn ich meinen Sohn zur Welt bringe?«

»Nicht nur ich.«

»Nein, ich will nicht, dass mein Sohn stirbt«, schrie Milia. »Kann das wirklich sein? Kann ein Vater wirklich seinen Sohn töten?«

Der Mönch schlug das Buch auf und las:

»Abraham fesselte seinen Sohn mit Seilen, stellte ihn vor den Holzstoß, setzte sich hin und wartete. Da blitzte am Himmel plötzlich ein Licht auf, und Abraham sah drei Engel, die einen weißen, gebadeten, wohlduftenden Bock herantrugen und auf das Holz legten.

Der Prophet fiel auf die Knie und brach in Tränen aus. Er eilte zu seinem Sohn, band ihn los und schob ihn beiseite. Isaak stand auf, ging zu dem weißen Bock, legte die Hand auf den Kopf und hörte ein Wimmern aus dem Bauch des kleinen zitternden Tieres. Er rannte, um grünes Gras zu pflücken, kam zurück, um das Tier zu füttern. Der Bock rieb das Gesicht am Gras und fing an zu weinen. Isaaks Hände füllten sich mit Tränen. Er drehte sich um und sah seinen Vater mit einem Messer in der Hand näher kommen.

›Nein, Vater!‹, rief der Junge.

Abraham stieß seinen Sohn weg, packte den Bock und durchtrennte ihm mit einem Jubelschrei die Kehle. Blut schoss heraus. Das Blut überflutete das Tal. Der Junge hörte das Blut. Es dröhnte in seinen Ohren. Das Blut floss vor ihm, schlängelnd suchte es ein Loch im Boden. Schreie ertönten.

Als Abraham den Bock schlachtete, rochen er und sein Sohn den Tod und gerieten in einen Blutrausch. Abraham wich zurück. Er schaute zum Himmel und bat Gott, ihm diese Prüfung zu ersparen. Er wandte sich seinem Sohn zu und sah, wie er sich über das im Todeskampf zuckende Tier beugte und den letzten Lebenspuls festzuhalten suchte, der unter dem weißen, von Opferblut verschmierten Fell pochte.

Er befahl seinem Sohn, den Bock zu nehmen und auf den Holzstoß zu legen.

Der Junge tat, wie ihm geheißen. Er hob den Bock vom Boden und spürte auf dem Weg zu dem Holz hinter sich das Messer. Der Geruch des Vaters drang ihm in die Nase. Eine Mischung aus Blut und Mist. Vor Schreck ließ er den Bock fallen und drehte sich um, da sah er in der Hand des Vaters die Klinge aufblitzen und rannte davon. Der Vater lief ihm hinterher und rief ihn zurück. Der Sohn aber war überzeugt, dass er, würde er umkehren, dem Messer zum Opfer fallen würde.

Der Vater versuchte seinen Sohn einzuholen. Doch es gelang ihm nicht. Er ging wieder zu dem Holzstoß, zündete ihn an und brachte das Opfer dar. Dann setzte er sich unter freiem Himmel hin, das Messer immer noch in der Hand.

Der Mann blieb dort sitzen, bewegte sich nicht von der Stelle, darauf wartend, dass das echte Schaf käme.«

»Also wusste Jesus, dass er geschlachtet werden würde?«, bemerkte Milia.

»Sicher«, erwiderte der Mönch.

»Warum ist er dann zurückgekommen?«

»Weil die Geschichte zu Ende gehen muss.«

»Aber ich will nicht, dass die Geschichte zu Ende geht«, widersprach sie.

»Keine Geschichte ist endlos«, sagte er.

»Das stimmt nicht. Keine Geschichte hat ein Ende. Geschichten gehen nicht zu Ende. Ich glaube nicht, dass der Vater tausend Jahre auf die Rückkehr seines Sohnes gewartet hat, um ihn zu töten.«

»Ich bin erschöpft«, sagte Milia und wollte die Augen öffnen.

»Öffne die Augen nicht«, rief der Mönch. »Ich will dir noch eine Geschichte erzählen.«

»Ich bin von Ihnen und Ihren Geschichten ganz erschöpft. Die Geschichte geht nicht so. Jesus wusste, dass es ein Schaf gibt. Abraham handelte gegen den Willen des Sohnes. Schließlich konnte er sich Gottes Befehl nicht widersetzen. Er führte seinen Sohn auf den Hügel, es zerriss ihn. Aber er konnte nichts machen. Oben angekommen, band er den Jungen fest und schaute zum Himmel hoch. Er schrie und weinte. Da kam das Schaf. Er sah das Schaf und begriff, dass Gott ihn auf die Probe stellte, um sich seiner Treue zu vergewissern. Abraham warf sich auf die Knie und bat um Vergebung. Er umarmte seinen Sohn, und sie weinten zusammen. Dann schlachteten sie das Schaf und gingen heim, als sei nichts gewesen. Jesus kannte diese Geschichte in- und auswendig. Er hatte sie bestimmt tausend Mal gelesen. Deshalb hat er sich nicht gefürchtet, als er zum Tod am Kreuz verurteilt wurde. Er wusste, dass sein Vater, der das Schaf geschickt hatte, um Isaak vor dem Tod zu retten, unmöglich den eigenen Sohn im Stich lassen würde.«

»Aber warum hat er ihn im Stich gelassen?«, fragte der Mönch.

»Ich weiß es nicht. Sie stellen die Frage. Also antworten Sie darauf.«

»Wie ich schon sagte. Seit damals wartete er auf ihn, noch immer.«

»Aber das wusste er doch nicht. Erzählen Sie mir nicht, dass er es gewusst hat. Er dachte, es gäbe ein Schaf, sonst wäre er doch gar nicht erst hingegangen.«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Mönch.

»Ich will diese Geschichte nicht wieder hören«, wehrte Milia ab.

Schmerzen erfassten sie von Kopf bis Fuß. Sie wollte wimmern, spürte aber eine Hand auf dem Mund. Die Hand hielt ihr Mund und Nase zu, erstickte sie. »Ich sterbe«, wollte sie sagen, konnte aber nicht. Das war der Tod. Man stirbt, wenn man nicht sagen kann, dass man stirbt. Nein, ich will nicht sterben. Wer kümmert sich dann um meinen Sohn? Vielleicht bringen sie ihn nach Jaffa. Milia wollte die Augen öffnen, wollte in ihr Bett zurück. Sie könne die Augen öffnen, wann immer sie wolle, sagte sie zu dem libanesischen Mönch. Dann wäre er aus ihrer Welt ausgeschlossen, weil sie allein in ihrem Bett liegen würde.

Ihre Augen öffneten sich. Licht drang in sie ein. Sie lag in einem Bett, das nicht das ihre war. Aufgebahrt auf einem Holzstoß. Es roch nach Blut. Sie legte die Hand auf den Unterleib, fühlte geronnenes Blut und Wasser. Die Ehe, dachte sie und schloss die Augen wieder.

Sie sah ihn und begriff. Die gelbe Sonne, die ihr in die Augen schien, sodass sie unwillkürlich die Lider senkte, stammte von dem Lichtkranz um seinen Kopf. Deshalb nannte man ihn die Sonne der Gerechtigkeit. Sonne und Gerechtigkeit gingen gemeinsam in den Tod. Allein, auf dem Weg nach Golgatha, erinnerte sich Jesus an seinen Vater. Erinnerte sich, wie die Angst vor der Geschichte ihn regelrecht aufgefressen hatte, bevor er erkannte, dass die wahre Geschichte die war, in der das Schaf, von der Sonne her kommend, den Sohn vor dem Tod rettete. Peitschenhiebe gingen auf ihn nieder, trafen ihn überall. Dennoch setzte er seinen Gang mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen fort. Er sah sein Gesicht, gespiegelt in den Augen seiner Marien, und spürte einen Schmerz. Den Schmerz des Rauschs. Schritt um Schritt ging er vorwärts, während das Schaf um ihn herumstrich. Das Schaf sah niemand. Nur die Mutter sah es. Sobald sie sich dem Tier aber näherte und die Hand ausstreckte, um seinen Kopf zu berühren, merkte sie, dass sie ins Leere griff. Sie schaute ihren Sohn an, um sich zu vergewissern, dass das, was sie sah, kein Trugbild war. Da wandte er den Blick von ihr ab und sagte: »Geh Frau. Meine Stunde ist noch nicht gekommen!«

Blut auf den Straßen. Die Stadt gekleidet in Blut, mit Ruinen behängt. Wo war der Orangenduft hin, der die weißen Strände überzogen hatte?

Ein einziges Mal hatte sie mit Mansûr Jaffa besucht.

»Komm nur ein Mal mit und schau dir die Stadt an«, sagte er.

»Ich war dort und habe alles gesehen. Also erübrigt sich jeder weitere Besuch.«

»Wir sind wegen Amîns Beerdigung hingefahren. Und bei Beerdigungen bekommt man von einem Ort nicht viel mit.«

»Ich hasse diese Stadt«, entschied Milia.

»Jaffa ist die Braut des Mittelmeers. Jaffa, das heißt, Pferdekutschen, Meer, weiße Strände, Prophet Rubin und Da’da’. Im Muallim-Da’da’-Restaurant am Jugendstrand in Dschbaila gibt es das köstlichste Grillfleisch und den besten Hummus13 überhaupt. Ich werde dir die Hasan-Bek-Moschee, den Roten Hügel und das Raschîd-Viertel zeigen. Außerdem werde ich dich zu einem deftigen Fûl-Essen14 ins Fathallah-Restaurant ausführen.«

Mansûr redete und redete. Milia lauschte.

Sie hätte gern etwas gesagt. Gesagt, dass sie einverstanden sei, mit ihm aus Nazareth fortzugehen. Dass sie aber nicht nach Jaffa ziehen werde, sondern nach Bethlehem.

»Ich weiß«, sagte sie unvermittelt. »Sie wollen dich mir wegnehmen, und dann nehmen sie mir meinen Sohn weg. Keine Ahnung, was noch alles passieren wird. Ich rieche Krieg und Tod. Gestern habe ich geträumt…«

»Verschone mich bitte mit deinen Träumen.«

Sie solle ihn mit ihren Träumen verschonen, fuhr er sie an, um jede Widerrede im Keim zu ersticken und sie zum Umzug zu zwingen. Was war mit ihm geschehen?

Milia hätte sich gern erklärt. Erklärt, dass der Tod kein Problem war, weil Tote schliefen und träumten. Erklärt, dass des Toten Träume nicht enden würden. Doch er verstand sie nicht mehr. Hatte er sie überhaupt jemals verstanden? Oder war es ihm immer nur darum gegangen, mit ihr im Bett zu »schwimmen«, wie er es nannte? Das Wort »schwimmen« hatte er in einer Situation benutzt, in der er Gedichte von Imru’u-l-Qais rezitierte.

»Der Verlorene König«, erläuterte Mansûr, »hat mit einer Frau geschlafen, als sie gerade ihr Kind stillte. Ich werde es machen wie der Dichter. Das war sicher großartig.«

Milia schwieg.

»Wenn ich mit dir schlafe«, fuhr er fort, »habe ich das Gefühl zu schwimmen.«

In Jaffa hatte Milia jene Düfte eingeatmet, die alle Menschen liebten. Den Duft von Orangen und den betörenden Duft von Pomeranzenblüten. Auch Milia mochte diese samtenen Aromen. In Jaffa aber roch sie Blut.

»Jaffa erinnert mich an Tripoli im Nordlibanon«, sagte sie.

»Jaffa ist die Schwester des levantinischen Tripoli«, erwiderte Mansûr.

»In Tripoli war ich ein einziges Mal, zusammen mit meinem Bruder Salîm«, erzählte Milia. »Ich war damals sieben Jahre alt und kann mich kaum mehr an etwas erinnern. Nur noch an den Duft der Pomeranzenblüten erinnere ich mich. Jaffa kommt mir vor wie Tripoli. Der Platz mit der Uhr hat viel Ähnlichkeit mit dem Tell-Platz in Tripoli.«

Trotzdem empfinde sie eine Abneigung gegen die Stadt, sagte Milia. Denn sie nehme einen seltsamen Geruch wahr. Außerdem könne sie förmlich sehen, wie Tel Aviv, mit dem Rücken zum Meer, das Maul aufreiße, um Jaffa zu verschlingen.

Jaffa würde im Meer untergehen, sagte sie zu Mansûr. Sie saßen am Strand und aßen gegrilltes Fleisch. Mansûr trank Arrak. Milia schaute in das Blau, das sich bis zum Horizont erstreckte, und erzählte, was sie in der Nacht zuvor geträumt hatte. Sie hatte geträumt, dass das Meer in die Stadt schwappt. Dass im Adschami-Viertel alle irakischen Dialekt sprechen. Dass durch die König-Faisal-Straße Boote fahren. Dass sich im Raschîd-Viertel unzählige Menschen, durch Salzwasser watend, versammeln.

Milia liegt in einem Auto. Das Auto steht mitten auf der Straße. Drum herum kämpfen sich rücksichtslos drängelnde Massen zum Strand vor.

»O Gott! Er hat doch versprochen, dass er mich erst nach Jaffa bringt, wenn das Kind auf der Welt ist. Was machst du da, Mansûr? Was machst du im Adschami-Viertel da oben auf dem Dach?«

Explosionen überall. Asma trägt einen Säugling auf dem Arm. Mansûrs Mutter zieht zwei kleine Kinder hinter sich her. In Wellen drängen die Menschen zum Hafen. Menschen über Menschen schieben sich voran, schauen mit leeren Augen, sehen nichts. Dichter Staub bedeckt alles. Männer quetschen sich zwischen die Frauen, ziehen hastig die Uniformen aus, rennen davon. Mansûr sitzt auf dem Dach des Hauses, in der Hand ein englisches Gewehr.

»Warum flüchten sie?«, fragt Milia.

»Das sind die irakischen Freiwilligen. Sie haben ihre Waffen weggeworfen, weil ihr Kommandant entlassen wurde. Sie hören nur auf den Befehl von Hadsch Murâd Juguslâwi, sagen sie.«

»Ich meine die Kinder«, sagt Milia.

Mansûr, im langen Mantel, beugt sich in dem stürmischen Wind, der die Stadt peitscht. Milia sieht ihn. Er balanciert am Rand des Daches, in der Hand eine brennende Kerze, umhüllt von Nebel. Milia friert. Die beiden Wadî’as sitzen neben ihr auf der Rückbank des amerikanischen Wagens. Milia will die Augen öffnen. Doch die Sonne versengt alles. Sie selbst brennt, Mansûr brennt. Sie hört das Schiffshorn. Das griechische Schiff im Hafen von Jaffa macht sich zur Abfahrt bereit. Mansûr steht neben einem alten Mann. Der Mann sagt, die Jaffa-Lid-Brigade sei geschlagen worden und die überlebenden Kämpfer seien zum Hafen geflüchtet.

»Wo ist Michel Îssa?«, fragt Mansûr.

Ein rundes weißes Gesicht, ein schwarzer, die Unterlippe überwuchernder Schnurrbart, nasse Kleidung. Michel Îssa steht im Bombenhagel, der von allen Seiten auf die Stadt niedergeht. Er merkt, dass er die Stimme verloren hat. Als ihm nicht einmal mehr die eigene Stimme gehorchte, sagt er zu Mansûr auf dem griechischen Schiff, habe er begriffen, dass er als Kommandant der Verteidigungstruppen Jaffas ausgedient hatte. Dass die Schlacht zu Ende war. Dass die zweihundert Männer der Rettungsarmee die Flucht ergriffen hatten.

An Deck hört Mansûr das letzte Hornsignal, bevor das Schiff ablegt und Kurs auf Beirut nimmt.

In einem schwarzen Kleid steht Asma im Garten des Hauses in Jaffa und schreit Mansûr an: »Bring mich zu Rubin oder ich will die Scheidung!15«

»Wann hast du sie geheiratet, Mansûr?«

Das jährliche Rubin-Spektakel hat Mansûr als Erwachsener nie besucht, geschweige denn jemanden dahin ausgeführt. Die Feierlichkeiten zu Ehren des Propheten Rubin kannte er ausschließlich aus der Kindheit. Er erinnerte sich deutlich an aufgeschlagene Zelte, an dhikr-Zirkel16, an die weiße Fahne mit der Aufschrift: »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Rubin ist Gottes Prophet.« Er erinnerte sich an den festlichen Umzug, der bei der Großen Moschee im Stadtzentrum begann und im Adschami-Viertel endete. Er erinnerte sich an die feiernden Frauen am fünfzehnten September. Wer dieser Prophet war, nach dem ein kleiner Fluss im Süden Jaffas hieß, das wusste er allerdings nicht. Genauso wenig wusste er, warum Jaffas Bewohner in Erwartung des Herbstes einen ganzen Monat in den sogenannten Rubin-Zelten kampierten.

Dass Krieg herrsche, sagt Mansûr zu Asma und verschiebt den Ausflug zu den Rubin-Feierlichkeiten auf das folgende Jahr. Die kleine, pummelige Frau aber versteht das nicht. Sie will auf der Stelle zu dem Rubin-Fest.

»Weinen Sie nicht«, sagte der italienische Arzt. »Pressen Sie noch ein wenig. Gleich ist es überstanden. Alles ist in Ordnung.«

Das Schiffshorn ertönt. Ein Schiff der Gargour&Fils-Reederei läuft aus. Die Stadt ist leer. Das Meer hatte die Menschen aufgenommen. Wo waren die Menschen?

Ein großer Mann namens Beiruti, Atallah Beiruti, steht vor dem Befehlshaber der britischen Armee und einem Offizier der Hagana und erklärt Jaffa zur offenen Stadt.

Das Schiff hupt. Die Juden, bereit, die Stadt einzunehmen. Die Hasan-Bek-Moschee in ihren Händen. Adschami in ihren Händen. Die Bewohner der Viertel fort. Keine Stimme, kein Laut, nur Wind, der die Häuser peitscht.

»Vergiss den Hausschlüssel nicht«, ruft Milia.

Mansûr wirft sein Gewehr hin, klettert vom Dach herunter, rennt zu dem griechischen Schiff im Hafen. Rauch steigt auf, der Motor röhrt. Mansûr rennt, er fuchtelt mit beiden Armen, ruft dem Kapitän zu, er soll auf ihn warten. Er stolpert, fällt hin, steht auf, er rennt.

Das Schiff auf hoher See. Mansûr sitzt an Deck. Jaffa verschwindet.

»Warum haben Sie die Stadt verlassen?«, fragt ihn ein junger griechischer Matrose.

Zelte überall.

»Was ist das?«, fragt Milia. »Warum habt ihr hier Zelte aufgeschlagen?«

Wegen der Feierlichkeiten zu Ehren des Propheten Rubin, erklärt man ihr. Jaffa schlage am Südufer des Flusses Zelte auf, und die ganze Stadt pilgere dorthin.

»Wo ist der Prophet Rubin?«

Prophet Rubin sitze verlassen da und warte auf die Menschen, erklärt man ihr. Sie hätten die Zelte abgebaut und seien fortgegangen. Zurückgeblieben sei nur der Geruch von Blut.

Blut auf den Straßen. Mansûr steht vor den Ruinen seiner Werkstatt. Die Maschinen überzogen mit Blut und Resten von Körpern. Eine grausame Stille.

»Wo bist du, Milia?«, schreit Mansûr. »Ich sterbe.«

»Weine nicht, Liebling. Ich bin hier«, murmelt die Frau im Krankenhausbett.

Er geht gebückt. Jesus von Nazareth geht gebückt unter der Last des Kreuzes. Entkräftet schleppt er sich durch die engen Gassen der Stadt. Noch nie hat der Mann Anfang dreißig sich so schwach gefühlt. In der Werkstatt seines Vaters hatte er oft Baumstämme gewuchtet, ohne dass es ihn sonderlich angestrengt hätte. Der hagere junge Mann mit grünen Augen, schwarzen Locken und breiter Stirn schien beim Gehen kaum den Boden zu berühren, schien mit spielerischer Leichtigkeit zu arbeiten. Es war, als steckte eine wundersame Kraft hinter seinen Rippen. Wann immer er dem Vater seine Geschichte erzählen wollte, unterbrach ihn Josef. Wann immer er von seinem seltsamen Traum berichten wollte, entriss ihm der Vater das Wort.

Das gleiche Schauspiel wiederholte sich mit den Fischern auf dem Meer von Galiläa. Als er auf dem Wasser ging, dem Sturm befahl sich zu legen und zu sprechen ansetzte, sagten die Fischer, sie hätten die Botschaft verstanden.

Als er auf dem Ölberg stand und die Stimme erhob, hörten sie nicht zu. Sie waren verzaubert von dem Licht, das aus seinen Augen strahlte und das Land in einen Olivenhain verwandelte.

Als er den Menschen sagte, dass sie die Frau nicht daran hindern sollten, seine Füße mit Salböl zu salben und mit ihrem knöchellangen schwarzen Haar zu trocknen, beugten sie sich über seine Füße und ließen ihn nicht über die Liebe sprechen, nicht sagen, dass das offene Haar einer Frau ein Kissen für die ganze Welt sei.

Als er zu seiner Mutter sagte, dass er nach Jerusalem gehe und sie mit ihm kommen solle, ließ sie ihn nicht zu Ende sprechen. Sie legte ihre Hand auf seinen Kopf und sagte, sie komme mit. Denn sie wisse, dass er der König sei.

Als sie ihn verurteilten und er, einsam den Henkern ausgeliefert, seine Geschichte erklären wollte, schlugen sie ihm Fragen ins Gesicht, die wie Antworten klangen.

Er lächelte Magdalena an, als sie ihn fragte, warum er nicht spreche, und sagte, er sei das Wort. Sie aber verlangte von ihm eine Antwort auf ihre Frage.

»Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Worte sind wie Getreideähren. Keiner besitzt das Wort. Denn Worte sind nichts als Schall, der sich am Kreuz bricht.«

Er spürte die Last des Kreuzes, das er tragen musste. Er hatte Angst. Nein, er hatte keine Angst. Er war überrascht. Es war, als habe die Kraft, die in ihm steckte, ihn verlassen. Er fühlte sich schwach, erschöpft.

Er hatte vierzig Tage gefastet. Doch als er seine Jünger zum Abendmahl rief und ihnen den besten Wein Palästinas ausschenkte, aß er nur ein Stück Brot. Voller Sehnsucht nach seinem Vater, spürte er kein Verlangen mehr nach Speise.

In Schwäche und Erschöpfung, ausgepeitscht und gedemütigt, dachte er an das Schaf und lächelte.

»Warum ist es hier so grell? Schaltet das Licht aus, bitte!«

Schmerzen in den Augen. Leiden. Was macht Habîsa hier? Warum ist die Uhr stehen geblieben? Auf dem Kissen weiße Haarbüschel. Die alte Frau versucht den Kopf zu heben, schafft es nicht. Die kleine Milia steht neben ihrer Großmutter. Die Großmutter sagt, alle Uhren im Haus seien stehen geblieben. Sie versucht die Hand vom Kissen zu heben. Kaum angehoben, fällt die Hand. Milia neben ihr weiß nicht, was sie tun soll.

Das Mädchen rennt im Haus umher. Das Haus ist wie zu einem Kreis geworden. Runde um Runde dreht das Mädchen. Alle Uhren im Haus sind um drei Uhr morgens stehen geblieben.

»Zieh die Uhr auf, Mûsa, mein Lieber.«

Mûsa stürzt herein, die Kleider voll Schlamm, das Knie blutig aufgeschlagen.

»Warum das Blut, mein Lieber? Ich habe dir doch gesagt, dass Blut im Traum nichts Gutes bedeutet. Warum erscheinst du mir blutverschmiert im Traum? Ich habe mich von Nazareth nach Beirut aufgemacht. Trotz der Umstände, in denen ich mich befinde, bin ich aufgebrochen. Ich habe zu meinem Sohn gesagt, dass er in meinem Bauch warten soll. Das geht schon, habe ich gesagt. Es sind ja nur ein paar Stunden. Ich muss nach Beirut reisen. Onkel Mûsa hat einen bösen Traum. Ich muss zu ihm. Nun bin ich bei dir. Und du? Du erscheinst blutverschmiert. Genug mit dem Blut. ›Schütze uns vor Blut, o Gott!‹ So hat die Nonne immer gebetet. Wir sollten uns vor die Ikone Marias mit dem Kind auf dem Arm stellen. Dann rief sie: ›Schütze uns vor Blut, o Gott. O Herr, mein Heiland! Möge mein Mund deine Gerechtigkeit preisen!‹ Sie befahl uns, das nachzusprechen. Also haben wir ihr nachgesprochen. Wo ist Hadscha Mîlâna? Warum sitzt sie allein da? Warum spricht keiner mit ihr? Sie sehe alles schwarz, sagt sie, und in dem Schwarz befinde sich Weihrauch. Sie sehe die Körper der Menschen nicht mehr, sagt sie. Sie lebe mit ihren Seelen. Warum ist die Nonne allein? Warum liegt sie nur noch im Bett? Warum steht sie nicht mehr auf? Was ist das für ein Geruch? Wir können die Heilige doch nicht einfach sich selber überlassen. Keiner kümmert sich um sie. Keiner wäscht sie. Wo bist du, Saada? Mutter, wo bist du?

Saada steht neben einem Eisenbett in einem dunklen Zimmer. Sie schaltet das Licht an. Die Heilige befiehlt ihr, das Licht auszuschalten. »Das Licht tut mir in den Augen weh und blendet mich.« Saada schaltet das Licht nicht aus. Sie sei in das abgelegene Kloster gekommen, um die Nonne zu baden, sagt sie. Und das könne sie nicht ohne Licht. Heiß dampft es aus einem Kupferkessel voll Wasser. Die Nonne wehrt sich. Sie will nicht gebadet werden, schreit sie. »Du bist doch hier, um mich zu töten, so wie du auch deine Tochter getötet hast. Verschwinde! Mach das Licht aus und verschwinde!«, brüllt Mîlâna.

»Aber, Hadscha, ich bin gekommen, um dich zu baden. Warum lassen sie dich so liegen? Warum bewirkst du kein Wunder? Mach, dass du wieder aufstehen kannst! Was ist das für ein Gestank? Los, komm, ich zieh dir die Sachen aus. Ich werde dich waschen und dich mit Kölnisch Wasser einreiben. Dann duftest du wieder frisch und angenehm.«

Saada geht auf die Nonne zu, will ihr helfen, die Kleider auszuziehen. Die Nonne bedeckt die Augen mit den Händen und fängt an zu winseln. Sie setzt sich im Bett auf. »Ich rieche den Teufel!«, schreit sie. »Dich schickt der Teufel, Saada! Kaum bist du hier aufgetaucht, ist der Weihrauchduft verflogen! Wie kommt das? Wo ist der Weihrauch? Weihrauch meidet das Licht. Du hast das Licht angeschaltet. Was willst du von mir? Ich weiß, du bist gekommen, um mich zu töten. Du hast deine Tochter getötet. Ich habe sie gesehen. Das arme Ding. Ihr Körper war plötzlich ganz grün. Als sei er von Gras überwachsen. Allheiliger! Allheiliger! Allheiliger! Sie hat geschlafen und geträumt. Der Arzt hat sie angeschrien. Sie soll die Augen aufmachen, brüllte er. Sie versuchte sie zu öffnen, aber das Licht… Sie bat, das Licht auszuschalten. Aber keiner hörte sie. Ihr Körper fing an zu zittern, so wie mein Körper jetzt zittert. Milia hat alles gesehen. Sie hat dich gesehen, Saada. Und sie hat den Teufel auf deiner rechten Schulter sitzen sehen. Raus hier! Ich will nicht sterben!«

Milia versuchte die Augen zu öffnen. Da sah sie ihn. Ein Junge mit dunklem Teint und Lockenkopf sitzt unter ihrem Foto im Lîwân, betrachtet das halb verblichene Gesicht und füllt die Lücken zwischen den Worten mit kleiner Schrift. Im Schein des orangefarbenen Lichtes, das durch das Fenster hereinscheint, sitzt er mit einem Stift in der Hand da und schreibt. Wer er ist und warum er unter ihrem Foto sitzt, will sie ihn fragen und tritt näher an ihn heran. Sie trägt ein braunes Kleid, das bis über die Knie reicht. Sie schaut auf zu dem hohen Messingbett. Das kleine Mädchen schaut den Jungen an, der kaum vierzehn Jahre alt ist. Er geht zu dem Foto an der Wand und betrachtet den schwarz eingerahmten Spruch darunter. Der Spruch, geschrieben in Naskhi-Schrift, besteht aus zwei Zeilen mit einer Lücke dazwischen, die der Junge mit seinem Stift zu füllen versucht. »Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft.« Das junge Mädchen auf dem Foto hat die Augen geschlossen. Der Junge, der darunter sitzt, wird von seinem Vater zum Mittagessen gerufen. Mûsa betritt das Zimmer. Die Haare sind grau, die Augen von buschigen weißen Brauen überwuchert. Mûsa setzt sich neben den Jungen, der ihm ähnlich sieht, zeigt mit dem Finger auf den Satz unter dem Foto und liest leise. Milia kommt näher. Sie lauscht, hört aber nichts. Sie versucht die Geschichte zu lesen, die der Junge zwischen die Zeilen in Naskhi-Schrift schreibt, kann sie aber nicht entziffern. Sie beschließt, die Augen zu öffnen, um den Traum zu verlassen und in das Bett im Italienischen Krankenhaus zurückzukehren, wo ihr Sohn auf sie wartet. Sie lässt den Arm sinken. Ihre Hand stößt mit einer nassen Hand zusammen. Eine fremde Hand, die Milias Hand ergreift und anhebt. Eine Stimme, sie hört sich an wie die der Krankenschwester, sagt etwas. Milia aber versteht sie nicht.

Milia sieht das Schaf. Ein kleines Schaf. Es entsteigt der Sonne, kommt auf sie zu, klettert auf ihre Brust, streckt die Zunge heraus. Es steht auf ihr, wie um sie zu umarmen. In seinen halb geschlossenen Augen glitzern Tränen. Milia versucht das Schaf ein wenig zur Seite zu schieben. Da reißt es die Augen auf. Was ist das für ein Geschrei? Tanjûs steht in dem das Zimmer durchflutenden orangefarbenen Licht. Sein schwarzes Gewand ist von Schlamm besudelt. Er tritt an das Bett heran, hebt die Hände zum Himmel und betet. Er öffnet den Mund, eine Art Weihrauch tritt aus.

»Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.17«

Das orange Licht verfliegt, und Weiß breitet sich aus. Tanjûs verschmilzt mit dem Weiß. Er weicht zurück, verschwindet.

Sie kenne die Geschichte jetzt, schreit Milia.

Dort, als sie ihn ans Kreuz schlugen und ihm Essig zu trinken gaben, als sie ihn mit einer Lanze durchbohrten, als seine Mutter und seine Marien dastanden, die Gesichter von Nebel bedeckt, da schaute er hoch in Erwartung des Schafs. Das Schaf kam nicht. Seine Augen suchten den Vater. Der Vater kam nicht. Er schloss die Augen, um sich zu erinnern. Sein Gedächtnis aber ließ ihn im Stich, und er sah nichts als Weiß.

Mûsa nimmt Milias Foto von der Wand, wickelt es in weißes Papier und legt es in die Schublade. Schwarze Punkte an der Wand markieren ein Bild, bestehend aus den Flächen zwischen Staubflecken. Der Junge mit den grünen Augen und dem kurzen schwarzen Lockenhaar nimmt einen Pinsel und weißt die Wand.

Alles ist in Weiß gezeichnet. Weiß auf Weiß. Milia wälzt sich im Bett. Durst überkommt sie. Sie greift nach dem Wasser. Doch da ist kein Wasser. Sie hebt den Kopf, will ihn an die Wand lehnen. Doch da ist keine Wand. Das kleine Schaf stolziert über ihre Brust. Sie schließt die Augen und sieht. Die kleine, dunkle Milia beugt sich über die erwachsene, schmerzgequälte weiße Milia auf dem Krankenhausbett. Die kleine Milia beugt sich über die schwangere Frau, drückt ihr einen Kuss auf die kalte Stirn, nimmt ihre Hand und flüstert ihr ins Ohr, dass sie mitkommen soll.

»Pressen!«, schreit der Arzt.

»Kräftig pressen!«, schreit die eine Schwester.

»Noch kräftiger pressen!«, schreit die andere Schwester.

Milia hebt die Hand, will das Schaf wegschieben. Sie hört eine Art Jubeltriller. Schluchzen. Glückwünsche. Sich öffnende Türen, zuschlagende Türen. Wo ist der Wind? Sie will ihnen sagen, dass sie das Fenster öffnen sollen. Sie bittet die kleine Milia, ihr zu helfen, aus diesem langen Traum zu erwachen.

Sie hört ihre Stimmen. Was macht Mansûr hier? Warum ruft er sie mit heiserer Stimme? Wohin ist die kleine Milia verschwunden? Warum kann sie, wenn sie die Augen zu öffnen versucht, nichts sehen?

Ich muss aus diesem Traum erwachen.

»Genug«, flüstert sie.

Sie versucht die Augen zu öffnen.

Das kleine Schaf hockt auf ihrer Brust. Das Foto ist schwarz geworden.

Sie versucht die Augen zu öffnen.

Versucht es angestrengt.

Das kleine Schaf hockt auf ihrer Brust. Babyschreien von fern.

Sie versucht die Augen zu öffnen, doch der Traum endet nicht.

Sie versucht die Augen zu öffnen. Es gelingt ihr nicht. Da wusste sie, dass sie gestorben war.