1. KAPITEL

Ein Butler trachtet zuvorderst danach, seinem Dienstherrn treu und diskret zu dienen. Dazu gehören Tatkraft, Entschiedenheit, möglicherweise eine gehörige Portion Langmut und in jedem Fall ein sehr, sehr schlechtes Gedächtnis.

Leitfaden für den vollkommenen Butler und Kammerherrn von Richard Robert Reeves

Rochester House Somerset, England, 1806

Herrlich und hell glänzend wand sich der Fluss durch die sorgfältig gepflegten Wälder, flirtete hier und da mit einem Kiesweg, bevor er sich sanft in einen großen, klaren Teich ergoss. Im tiefblauen Wasser spiegelte sich die makellose Silhouette einer eleganten Rotunde mit Säulen und einem Brunnen aus rosa Marmor. Der Pavillon diente Lord und Lady, Fürst und Bettelmann schon seit Jahren als Treffpunkt für Stelldicheins.

Über diesem erstaunlich effektvoll angelegten idyllischen Fleckchen erhob sich ein sanfter Hügel. Darauf thronte wie eine Krone auf einem Samtkissen ein majestätisches Herrenhaus aus goldgelbem Ziegelstein, dessen Fenster in der späten Nachmittagssonne einladend blitzten.

Rochester House galt allgemein als Inbegriff vornehmer Kultiviertheit. Der König höchstpersönlich hatte das Haus und seine Einrichtung beifällig als „das feinste in ganz England“ bezeichnet.

Das lag nun beinah ein halbes Jahrhundert zurück. Damals hatte der Earl das Kompliment einfach mit einem Kopfnicken entgegengenommen. Insgeheim war er natürlich hocherfreut, aber es wäre ungehobelt gewesen, dies auch zu zeigen. Und ein Rochester war niemals ungehobelt.

Wenn er allein war, kostete er das königliche Kompliment jedoch weidlich aus. Jede Nacht, wenn er zu Bett ging, dachte er an die Worte und an die Miene des Königs. Es half Rochester beim Einschlafen, und oft bescherte es ihm ganz entzückende Träume.

Jetzt natürlich nicht mehr. Jetzt war er vollauf von der enervierenden Aufgabe in Atem gehalten, in Würde zu sterben.

Das Sterben fand er dabei noch relativ einfach. Die Würde war es, die ihm Schwierigkeiten bereitete. Doch im Leben gab es nichts umsonst, diese Lektion hatte er schon vor Langem gelernt.

Eigentlich hätte es Rochester nicht überraschen dürfen, dass es ans Sterben ging. Schließlich war er über siebzig, ein Umstand, den er vor seinen Zeitgenossen zu verbergen gesucht hatte, indem er sich so lang wie möglich an gepuderte Perücken hielt, an Rouge und eine wahrhaft prächtige Garderobe, welche von den schlaffen Wangen und der zerfurchten Stirn ablenkte.

Um die Illusion von Jugend noch zu verstärken, hatte er eine Frau geheiratet, die mindestens ein halbes Jahrhundert jünger war als er. Angeblich hatte er die hübsche, aber fade Miss Leticia allein deswegen geheiratet, um seinen Haushalt mit einer schönen Frau zu schmücken - genauso wie man zur Dekoration der Dinnertafel Orchideen kaufte.

Doch in Wirklichkeit wollte Rochester unbedingt einen Erben. Er hatte gedacht, er würde heiraten und einen Sohn zeugen und auf die Art seine Ländereien, sein Vermögen und seinen Titel sichern. Selbst jetzt noch schauderte ihn ob dieser Geschmacklosigkeit. Der Geschlechtsakt war wie ein Kunstwerk, wenn man ihn zum Vergnügen ausübte. Wenn es aber darum ging, ein greinendes Kind in die Welt zu setzen ... Rochester verzog die Lippen.

Er hätte nie gedacht, dass er Schwierigkeiten haben könnte, ein Kind zustande zu bringen. Schließlich hatte er schon vor der Ehe ein paar Bastarde gezeugt, wieso sollte er also jetzt Probleme bekommen? Das war auch der Grund, warum er so lange gewartet hatte, ehe er sich an irgendein albernes, forderndes Gänschen band, dem man zweimal sagen musste, dass man tagsüber keine Diamanten trug. Doch sosehr ihm die Vorstellung auch missfiel, er kannte seine Pflichten, und so hatte er widerstrebend geheiratet.

Leider zeigte das Schicksal einen höchst grausamen Sinn für Humor. Und so stand er jetzt da, mit einem Bein im Grab, verheiratet mit einem Gänschen, das mehr Haare als Verstand besaß, und weit und breit kein ehelicher Sohn, der sein Vermögen oder den Titel erben könnte. Der Titel, auf den er ebenso viel Mühe verwandt hatte wie auf sein Haus, sollte mit ihm aussterben.

Unwillkürlich krampfte er die Finger um das Blatt Papier, das er in der Hand hielt. Das Rascheln erregte seine Aufmerksamkeit. Ah ja, die Liste. Er lächelte erleichtert. Es gab doch noch eine Hoffnung.

All seine Fehler würde er wieder in Ordnung bringen. Selbst aus dem Grab heraus würde er noch die Würde des Namens Rochester in Ehren und das Haus in der Familie halten. Es war ein kühner Plan. Aber er war ja auch ein kühner Mann.

Er lächelte, zuckte dann zusammen, als ihm ein scharfer Schmerz durch die Schultern fuhr. Verdammt, ihm blieb nur noch wenig Zeit. Warum hatte er nur so lange gewartet?

Die schwere Mahagonitür zu seinem Schlafzimmer öffnete sich, und ein großer, gepflegter Mann trat ein. Wie es einem Butler anstand, trug er Tief schwarz und war von einer Aura der Würde und Ruhe umgeben. Er hielt ein Silbertablett in der Hand, das mit einem Leinentuch bedeckt war.

Rochester verlangte von seinen Dienstboten stets höchste Eleganz. Doch selbst er musste zugeben, dass sein Butler, der unentbehrliche Reeves, ein veritables Kleinod war. Er strahlte eine erstaunliche Autorität aus, war schlank und distinguiert, und sein dunkles Haar wies über beiden Ohren eine graue Strähne auf. Sein formvollendetes Auftreten war sogar schon Beau Brummei auf gefallen.

Rochester hatte den weitbesten Butler, und das war dem gesamten ton bekannt. Allein in den letzten zwei Monaten hatte man viermal den Versuch gemacht, Reeves bei ihm abzuwerben, doch Rochester wusste genau, was der Mann wert war, und zahlte ihm ein Vermögen.

Der Butler stellte das Tablett auf dem Nachttisch ab. Er hob die silberne Haube hoch, worauf ein mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefülltes Glas zum Vorschein kam. Rochesters Hoffnungen stiegen. „Brandy?“

„In der Tat, Mylord.“

„Aber Letty hat doch behauptet, sie hätte meinen Brandy zum Fenster hinausgeschüttet! “

„Wenn ich geahnt hätte, was Ihre Ladyschaft zu tun beabsichtigte, hätte ich sie vielleicht zu einer vernünftigeren Herangehensweise überreden können, zum Beispiel, den Brandy auf Ihren Sommersitz zu schicken. Leider kam ich zu spät.“

„Zum Teufel mit ihr, was mischt sie sich da ein?“

„Lady Rochester war bekümmert, weil Sie dem Rat des Arztes nicht Folge leisten und lieber weiterhin dem Alkohol frönen wollen. “

„Ich mag ja krank sein, aber noch bin ich nicht tot! “ „Nein, wahrhaftig nicht, Mylord. Glücklicherweise fiel mir vorhin ein, dass ich eine überzählige Flasche Brandy im Keller versteckt hatte, für den Fall, dass sich unsere Schwierigkeiten mit Frankreich verschlimmern und unser Vorrat zur Neige geht. “

„Sie schickt wirklich der Himmel, Reeves“, erklärte Rochester mit ehrlicher Begeisterung, leckte sich die trockenen Lippen und versuchte sich im Bett aufzusetzen.

Reeves half ihm, schüttelte das Kissen auf und strich die Laken glatt, all die kleinen Verrichtungen, die ihn so unentbehrlich machten.

Rochester brauchte eine Weile, bis er nach all den Anstrengungen wieder Luft bekam. Unterdessen zog der Butler diskret eine kleine Phiole aus der Tasche und hielt sie über den Brandy. Ein paar Tropfen fielen ins Glas.

„He, Moment!“, keuchte Rochester entsetzt. „Was machen Sie denn da?“

„Ich gebe Ihr Stärkungsmittel ins Glas, Mylord.“

„Ich will das verflixte Zeug aber nicht.“

Ruhig nahm Reeves den Löffel zur Hand und rührte vorsichtig um. „Sie wollen Ihren Brandy nicht, Mylord? Wirklich nicht?“

„Zum Henker, den Brandy will ich schon. Aber nicht dieses ekelhafte Stärkungsmittel!“

„Dessen bin ich mir bewusst, Mylord. Genau wie der Arzt, den Sie vom Lakaien hinauswerfen ließen. “

Das war doch ein wenig unverschämt von ihm gewesen, wurde Rochester klar, obwohl der Scharlatan nichts Besseres verdient hatte. „Ich brauche keine Stärkungsmittel.“ Reeves sah auf die Hand des Earls.

Rochester bemerkte, dass er sich die Brust rieb, um den andauernden Druck ein wenig zu lindern. Er ließ die Hand sinken. „Nehmen Sie das Gesöff weg. Jetzt will ich es auch nicht mehr. “

Reeves legte den Löffel aufs Tablett und ließ den Brandy unter dem silbernen Deckel verschwinden. „Sehr wohl, Mylord.“ Er nahm das Tablett auf. „Ist das alles? Möchten Sie vielleicht ein wenig Sherry?“

Rochester warf seinem Butler einen säuerlichen Blick zu. „Sherry ist nichts als Pferdepisse und Wasser. Gehen Sie einfach. Mein Kammerdiener Miller bringt mir bestimmt ein Glas Brandy. “

„Das würde Ihr Kammerdiener sicher tun ... wenn er denn wüsste, wo er den Brandy finden kann.“ Gemessen schritt Reeves zur Tür. „Was er aber nicht weiß.“

„Sie haben gesagt, dass Sie die Flasche im Weinkeller entdeckt hätten. Ich lasse ihn dort danach suchen“, erwiderte der Earl gereizt.

Reeves blieb an der Tür stehen. „Sie war dort, Mylord. Jetzt nicht mehr. “

Rochester fluchte, laut und ausdauernd.

Die ausdruckslose Miene des Butlers änderte sich nicht. Doch sobald der Earl sich ausgetobt hatte, erklärte Reeves:

„Ich sage Miller, dass er Ihnen ein Glas lauwarme Milch bringt, das beruhigt die Verdauung.“

„Meiner Verdauung geht es bestens, und das wissen Sie genau! Ach, zum Teufel mit Ihnen, nun geben Sie mir schon diesen verflixten Brandy. Ich hoffe nur, dass Sie ihn mit Ihrem Stärkungszeug nicht völlig ruiniert haben.“

Im nächsten Augenblick hatte Rochester das Glas auch schon in der Hand. Misstrauisch roch er daran und nahm einen Schluck. Ein warmes Prickeln breitete sich in seiner Brust aus. „Ah!“

Reeves lächelte. „Dann hat das Stärkungsmittel den Geschmack nicht nachteilig beeinflusst?“

Man konnte das bittere Mittel kaum herausschmecken. Es ging jedoch nicht an, dass er Reeves in seiner Selbstherrlichkeit auch noch bestärkte. Dazu war Rochester zu sehr auf ihn angewiesen. Vor allem jetzt. Statt also zuzustimmen, erklärte der Earl gereizt: „Es geht schon.“

Rochester nahm noch einen Schluck, senkte das Glas und sah seinen Butler an. „Gut, dass Sie hier sind, Reeves, denn ich habe eine Bitte an Sie.“

Bedächtig legte Reeves den Morgenmantel Seiner Lordschaft zusammen und räumte ihn in den großen vergoldeten Schrank. „Ja, Mylord?“

„Sie sind der höchstbezahlte Butler in ganz England.“ „Ja, Mylord. Ich bin auch jeden Penny wert.“

Da hat er nicht unrecht, dachte Rochester mürrisch. „Ich will damit nicht sagen, dass Sie Ihr Geld nicht wert wären. Ich meine nur, dass Sie gut bezahlt werden. “

„Wie freundlich von Ihnen, mir den Unterschied zu erklären“, meinte Reeves.

Rochester musterte ihn scharf. „Das klang jetzt aber verdächtig nach Sarkasmus.“

Reeves lächelte leise. „Sarkasmus ist doch auch etwas wert, finden Sie nicht? Vielleicht sollte ich um eine Lohnerhöhung nachkommen, weil ich über einen so großartigen Sinn für Humor verfüge.“

Der Earl starrte ihn an. „Ich soll Sie für Ihren Sarkasmus entlohnen?“

„Ich betrachte es lieber als Ausgleich dafür, dass ich den Ihren ertrage, Mylord.“

Das brachte Rochester trotz seiner Schmerzen im Brustkorb zum Lachen. „Zum Teufel mit Ihnen, Reeves! Ich sollte Sie für Ihre Frechheiten auspeitschen lassen! “

„Ah, aber nur ich weiß, wo die letzte Flasche Brandy versteckt ist.“

Medizin und Brandy taten allmählich ihre Wirkung: Der Druck in Rochesters Brust ließ nach, und ein sanftes Glühen breitete sich in ihm aus, als er das leere Glas auf dem Nachttisch abstellte. „Reeves. Ich muss mit Ihnen reden. Es geht darum, was mit all dem hier ...“, er machte eine Geste, die seinen gesamten Besitz umfasste, „... nach meinem Tod passieren soll.“

„Soll ich Mylady holen ...“

„Du liebe Güte, nein! Warum das denn? Auf das Theater kann ich verzichten ... wenn ich doch nur nicht geheiratet hätte. Nicht, dass ich etwas gegen Letty hätte, das nicht. Es ist nur so, da es keine Erben gibt, hätte ich diese Ehe gar nicht schließen müssen.“ Der Earl rang sich ein Lächeln ab. „Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Reeves, seit dem Tag Ihrer Ankunft haben Sie weit mehr getan als nur Ihre Pflicht.“

„Danke, Mylord. Es war mir stets eine Ehre.“

„Deswegen möchte ich, dass Sie meinen Nachfolger ausfindig machen. “

Reeves, der gerade das Laken Seiner Lordschaft glatt strich, hielt in der Bewegung inne. „Mylord?“

„Verdammt, ich liege im Sterben! Ich habe keine Zeit mehr, hier Volksreden zu halten.“

Um Reeves’ Lippen zuckte es. „Mylord, auch wenn Ihnen für Reden keine Zeit mehr bleibt, brauche ich doch etwas mehr Informationen, als Sie mir bisher offenbart haben.“ Aus irgendeinem Grund schnürte es Rochester bei dem freundlichen Ton die Kehle zu. „Es ist ganz einfach. Ich möchte, dass Sie meinen Erben finden und dafür sorgen, dass er dem Namen Rochester keine Schande bereitet.“ „Ihren Erben, Mylord?“

Der Earl griff nach dem gefalteten Bogen Papier, den er zuvor beiseitegelegt hatte. Er klappte den Bogen auf und zog die daraufgekritzelte Liste zurate. „Ich war zwar nicht in der Lage, ein eheliches Kind zu zeugen, außerehelich war ich hingegen reichlich gesegnet.“

Reeves hob die Brauen. „Mylord?“

„Der älteste meiner Bastarde - aber das wird er nicht für immer bleiben - wird der nächste Earl. “

„Aber ... Verzeihung, Mylord, nun bin ich doch ein wenig verwirrt. “

Der Earl atmete tief durch. „Reeves, mir ist eben eingefallen, dass ich schon einmal verheiratet war. “

Rochester beobachtete den Butler genau, ob er irgendwelche Anzeichen von Überraschung zeigte, Reeves sagte jedoch nur: „Ah!“

Der Earl winkte matt mit der Hand. „Es war eine ... eine ziemlich geheime Heirat, aber mein Anwalt hat die Details alle parat. Der Pfarrer, der uns damals getraut hat, konnte gefunden und dazu gebracht werden, sich an die Eheschließung zu erinnern. Wir haben sogar das Kirchenregister gefunden, in dem die Ehe verzeichnet ist - aber die Einzelheiten brauchen Sie ja nicht. Sie brauchen nur zu wissen, dass man sich um alles gekümmert hat.“

„Verstehe. Wie, äh, günstig für Ihren Sohn. Glauben Sie, dass die Gesellschaft diese Geschichte akzeptiert?“

„Wohl oder übel. Der Pfarrer ist inzwischen der Erzbischof von Canterbury.“ Rochester lachte. „Er ist ziemlich jähzornig veranlagt. Wenn einer meiner entfernten Verwandten bei ihm antanzt und versucht, ihm die Sache wieder auszureden, wird er ihn nur hochkant aus der Kirche werfen.“ Der Earl grinste. „Verdammt! Da wäre ich zu gern dabei! Ich wünschte mir fast, dass ich nicht im Sterben läge!“

„Vielleicht freut sich Ihr Sohn ja an Ihrer statt an dem Anblick.“

„Nicht Sohn - Söhne! Es waren Zwillinge. Der ältere heißt Tristan Paul Llevanth.“

„Llevanth“, sagte Reeves nachdenklich. „Der Name kommt mir bekannt vor.“

Der Earl verzog das Gesicht. „Ich weiß, verdammt. Muss der verflixte Kerl hingehen und berühmt werden. Verdammt ungehörig. Aber daran kann ich jetzt auch nichts mehr ändern.“

„Nein, Mylord“, stimmte Reeves zu.

Missmutig verzog Rochester das Gesicht. „Ich habe Pauline wirklich geliebt, und wenn ich sie hätte retten können - man hatte sie wegen Verrats angeklagt, aber sie war unschuldig. Das kommt eben von einer unkonventionellen Erziehung. Ihr Vater hing unhaltbaren politischen Ideen an und ermutigte sie, allen möglichen Blödsinn zu lesen.“

„Blödsinn, Mylord?“

„Jede Menge politische Narreteien. Er starb, bevor ich sie kennenlernte, zum Glück. Sie neigte zu sehr extremen Ansichten, die nicht immer im Einklang mit ihrer Schönheit standen. “

„Ja“, erwiderte Reeves, „Überzeugungen können wirklich unkleidsam sein.“

Reeves warf seinem Butler einen scharfen Blick zu. „Was soll das heißen?“

„Nichts, Mylord. Gar nichts.“

„Pah! Pauline und ich haben uns irgendwann voneinander getrennt, aber ich habe ihr immer Geld für die Knaben geschickt.“ Der Earl runzelte die Stirn. „Verdammt, warum konnte Letty nicht ... aber nein. Das spielt nun keine Rolle mehr.“ Er sah Reeves bedauernd an. „Möglich, dass ich meine unehelichen Kinder nicht so oft besucht habe, wie ich es hätte tun sollen.“ Der Earl ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen und seufzte dann schwer. „Das lässt sich jetzt auch nicht mehr ändern. Alles lief wie gesagt bestens, bis man Pauline des Verrats anklagte. Das war eine schlimme Sache.“

Reeves schüttelte das Kissen seiner Lordschaft auf. „Gewiss haben Sie getan, was in Ihren Kräften stand, Mylord.“

„Ich war gar nicht da, um ihr zu helfen. Wenn ich nicht im Ausland gewesen wäre ..." Rochester verstummte. Die Brust war ihm eng geworden.

„Mylord?“ Reeves Stimme klang besorgt.

„Ich war in Italien. Die Rückreise hat Wochen gedauert. Sobald ich an Land ging, habe ich um eine Audienz beim König nachgesucht, aber ... es war zu spät. Sie war in der Woche davor im Gefängnis gestorben, und die Knaben waren verschwunden. Einfach weg! Ich habe nach ihnen gesucht, konnte indes keine Spur finden. Bis Rochester presste die Lippen aufeinander.

„Bis?“, hakte Reeves nach.

„Bis ich Tristans Namen in der Zeitung las. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie entsetzt ich war - mein eigen Fleisch und Blut in der Zeitung, als wäre er ein gewöhnlicher Bürgerlicher.“

„Ja, Mylord.“

Der Earl versuchte ein Bild von seinen Söhnen heraufzubeschwören, brachte aber nur eine blasse Erinnerung zustande. „Ich glaube mich zu erinnern, dass es hübsche Jungen waren. Sie sahen sich kein bisschen ähnlich. “

„Wenn sie nach Ihnen gerieten, waren sie gewiss sehr gut aussehend.“

„Alle meine Kinder sehen sehr gut aus“, erklärte Rochester streng. Er hoffte, dass es stimmte.

„Alle Ihre Kinder, Mylord?“

Rochester blickte auf die Liste in seinen Händen. Auf seine Wangen war eine feine Röte getreten. „Der Tod ist so verdammt ungerecht! Hier liege ich, ein tonangebendes Mitglied der Gesellschaft, ein Freund des Prinzen, und was passiert?“ Zornig deutete er auf seine ausgemergelte Gestalt. „Das hier! Ich hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommen könnte.“

„Jawohl, Mylord. Auf gut gekleidete Menschen ist der Tod einfach verschwendet.“

Rochester kniff die Augen zusammen. „Spotten Sie etwa über mich?“

„Niemals, Mylord. Ich finde es nur etwas beunruhigend, dass Sie anscheinend dachten, Sie würden nie sterben. Wir müssen alle sterben, Mylord. Alles andere wäre unnatürlich.“

Der Earl ließ die Schultern hängen. „Ich weiß, ich weiß. Ich bin bloß ... verdammt, ich bin einfach noch nicht so weit. Ich wollte noch einen Ball zu Lettys Geburtstag abhalten, der Prinz hat versprochen zu kommen, das wäre der Triumph der Saison geworden ... aber für all das ist es jetzt zu spät, verdammt.“ Der Earl of Rochester reichte Reeves die Liste. „Hier. Das sind meine Kinder. Ich wollte selbst nach ihnen suchen, aber ... nun, es hat wohl nicht sein sollen.“ „Eine der Ironien des Lebens liegt wohl darin, dass man nie damit fertig wird. Egal, wie viel Zeit man zur Verfügung hat, sie wird gefüllt, immer wieder gefüllt.“ Reeves nahm das Papier. „Ich glaube nicht, dass es jemals genug Zeit geben kann. Für keinen. “

„Nein, wohl nicht.“

„Allerdings ...“ Reeves blickte auf die Liste. „Vielleicht sollte man manchen Angelegenheiten mehr Aufmerksamkeit schenken als anderen. Sie hatten uneheliche Kinder und haben Sie in all der Zeit, die ich Ihnen nun schon diene, kein einziges Mal erwähnt. “

Rochester errötete. „Der Duke of Richmond hat angeblich zwölf illegitime Kinder. So viel sind neun doch gar nicht.“ „Hmm. Ist das derselbe, den Sie immer als den König der Hinterlist bezeichnen?“

Düster beäugte Rochester seinen Butler. „Sie haben ein verflixt gutes Gedächtnis, was?“

„Eben noch haben Sie mein Gedächtnis gepriesen, als Sie den Brandy getrunken haben.“

Der Earl unterdrückte ein Lächeln. „Bitte versuchen Sie jetzt nicht abzulenken. Ich habe meinen Anwalt Mr. Dunstead gebeten, die Kinder zu suchen. Ich will jedem von ihnen etwas hinterlassen, vorausgesetzt, sie erweisen sich des Namens Rochester für würdig.“ Der Earl atmete tief durch. „Hier kommen Sie ins Spiel. Dunstead soll sie finden, aber Sie sollen kultivierte Menschen aus ihnen machen.“ „Kultivierte Menschen aus ihnen machen? Aber Mylord, das kann ich doch nicht ... “

„Reeves, es ist wichtig.“ Unruhig rutschte Rochester im Bett herum. „Meine Kinder müssen gefügig gemacht werden. Sehen Sie, Tristan Paul Llevanth, der nächste Earl of Rochester, war früher mal Pirat.“

Reeves blinzelte. Der Earl konnte sich daran erfreuen, seinen Butler zum ersten Mal in zwanzig Dienstjahren schockiert zu haben. „Ein Pirat?“

„Nun, jetzt nicht mehr. Jetzt ist er nur ein Kapitän.“

Reeves hob die Brauen. „Llevanth! Natürlich kenne ich den Namen, ganz England kennt ihn. Vor einem Jahr segelte Captain Tristan Llevanth noch mit Nelson bei Trafalgar auf der Victory. Sein Name stand in der Morning Post und..."

„Erinnern Sie mich nur nicht daran, dass er eine Figur des öffentlichen Lebens geworden ist. Das war äußerst ungehobelt von ihm.“

„Mylord, er ist ein Held! Ich weiß, man munkelt, dass er früher Freibeuter gewesen sein soll ... “

„Pirat. Beschönigen Sie es nicht.“

„Dann also Pirat, Mylord. Aber Nelson hat dafür gesorgt, dass Llevanth begnadigt wurde, damit er bei Trafalgar kämpfen konnte. Das sagt doch einiges über seinen Charakter!“

„Der Narr ist Kapitän“, erwiderte der Earl giftig, „das ist für mich nicht viel besser als ein gewöhnlicher Pirat. Es würde mich nicht überraschen, wenn der nächste Earl bei Tisch in den Zähnen herumstochern würde und sich nie badete.“

„Kennen Sie denn viele Kapitäne, Mylord?“

„Dieser Kerl, Nelson. Der war mal auf einer Soiree eingeladen. Ein kleiner, ungehobelter Mann, wenn ich mich recht erinnere. Und ohne jedes Gefühl für Stil.“

„Vermutlich ist Ihr Kapitän attraktiver. Die Rochesters sind ja bekannt für ihre körperliche Schönheit.“

„Ja, aber wenn Dunstead recht behält, ist der nächste Earl auch verletzt.“ Verflixt, sollte er denn überhaupt kein Glück haben? Ein Kapitän mit irgendeiner unvorteilhaften Verletzung. Der Earl konnte nur hoffen, dass sein Sohn nicht auch noch schlimme Narben davongetragen hatte. Das wäre dann wirklich zu viel.

„Darüber habe ich auch etwas gelesen“, erklärte Reeves. Der Butler wirkte immer noch verblüfft. „Ich kenne die genauen Ausmaße der Beeinträchtigung nicht, aber sie war doch so schlimm, dass er seinen Abschied einreichen musste. Admiral Nelson soll das angeblich sehr bedauert haben, denn er hielt große Stücke auf Captain Llevanth.“

„Pah. Nun, ich kann nur hoffen, dass er Vernunft annimmt und meine Bedingungen für die Erbschaft akzeptiert.“ „Verzeihen Sie, Mylord, aber das klingt ja, als hätten Sie erst kürzlich mit ihm gesprochen?“

Der Earl zupfte an der Bettdecke.

„Mylord?“

„Ja, ja! Hab schon gehört. Ich habe dem Burschen geschrieben. Ich dachte, das wäre das Mindeste, was ich tun könnte, nachdem ich diese Krankheit ja wohl nicht mehr überlebe und ich bisher noch nicht viel Kontakt zu ihm hatte.“

„Darf ich fragen, wie er reagiert hat?“

„Nein.“

„Verstehe. Was genau haben Sie ihm denn geschrieben?“ „Dass ich hoffte, er wüsste, was von ihm erwartet würde, wenn er erst einmal im Besitz des Titels sei. Seine Antwort war sehr unverschämt.“

Reeves seufzte. „Mylord, dies ist eine ziemlich anspruchsvolle Aufgabe.“

„Was soll daran so schwer sein?“, fragte Rochester gereizt. Plötzlich fühlte er sich sehr müde. „Suchen Sie Llevanth auf, und überreden Sie ihn dazu, die Earlswürde anzunehmen. Und dann bringen Sie ihm das Nötige bei, damit er den Titel mit demselben Stil und derselben Ernsthaftigkeit ausfüllt wie ich.“

„Aber ... wenn er doch ein Kapitän ist ... “

„Wenn Sie sich nicht durchsetzen, ist er verloren. Titel und Besitz werden in jedem Fall auf ihn übergehen, aber das Vermögen bekommt sein Bruder, allerdings nur, wenn er sich als zivilisiert erweist. Man muss ihn dazu zwingen, seine Pflichten anzunehmen. Ich lasse es nicht zu, dass all meine Mühen binnen einer Generation verloren gehen.“

„Ja, Mylord.“

Der Earl lehnte sich zurück. Der Druck in seiner Brust ließ ein wenig nach. „Danke, Reeves. Ich wusste, dass Sie mich nicht im Stich lassen. Wenn ich erst einmal tot bin, wird Ihr Lohn verdoppelt. Sobald Sie den älteren in einen echten Rochester verwandelt haben, gehen Sie bitte zu Christian, dem jüngeren Bruder, und tun bei ihm dasselbe. Es dürfte nicht allzu schwierig sein. Meine Kinder haben gewiss einen überlegenen Verstand mitbekommen. “

Reeves legte die Liste ordentlich zusammen. „Hat Mr. Dunstead sie schon gefunden?“

„Noch nicht.“ Der Earl gähnte. „Ich befürchte, dass sich mein jüngerer Sohn irgendwo versteckt. Wir haben gewisse Hinweise, dass er eine, sagen wir, noch denkwürdigere Persönlichkeit ist als sein Bruder. “

„Noch denkwürdiger? Denkwürdiger als der Held einer Seeschlacht?“

„Leider ja.“ Der Earl presste die Lippen aufeinander. „Das soll Dunstead Ihnen erklären.“

„Mylord, ich frage es nicht gern, aber ... äh ... neigt einer Ihrer Söhne vielleicht zu Gewalt? Natürlich möchte ich Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich bin doch um meine persönliche Sicherheit besorgt.“

„Wenn sie je gewalttätig geworden sein sollten, dann mit gutem Grund, darauf können Sie sich verlassen. Meine Söhne wissen vielleicht nicht, wie man sich kleidet, aber es sind trotzdem noch meine Söhne. Kein Rochester war je in irgendwelche Gewaltverbrechen verwickelt.“

„Vielen Dank. Das ist überaus beruhigend“, erwiderte Reeves trocken.

Der Earl gähnte noch einmal, dann fielen ihm die Augen zu. „Es liegt immer im Blut.“

„Ja, Mylord.“ Reeves steckte die Liste ein und begann die Vorhänge vor dem massiven goldenen Bett zuzuziehen. „Sie müssen sich jetzt ausruhen, Mylord.“

„Danke, Reeves. Ich werde gut schlafen, weil ich weiß, dass Sie sich um die verlorenen Rochester-Erben bemühen werden.“ Mühsam schlug der Earl ein weiteres Mal die Augen auf. „Ach ja. Beinah hätte ich es vergessen. Zusätzlich zu Ihrem Lohn werde ich Sie mit einem großzügigen Wechsel versorgen, damit Sie erwerben können, was immer Sie für nötig halten. Vielleicht möchten Sie auch ein paar der anderen mitnehmen. “

„Welche anderen, Mylord?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kapitän über einen ordentlichen Kammerdiener oder Koch verfügt. “

„Vielleicht hat er dennoch beides.“ Reeves drehte langsam die Lampe herunter.

Rochester bemerkte es kaum. Das Stärkungsmittel und der Brandy hatten ihre Wirkung getan, er dämmerte bereits ein. Er hatte alles so gut gerichtet, wie es ihm eben möglich war, und er war zuversichtlich, dass Reeves den Rest erledigen würde.

Wie immer.