2. KAPITEL

Ein Kammerherr widerstehe der Versuchung, seinem Dienstherrn im Gegenzug für eine echte oder auch eingebildete Kränkung die Krawattentücher zu steif zu stärken oder die Stiefel zu beschmutzen. Wenn man glaubt, sich in irgendeiner Weise dazu äußern zu müssen, möge man es tun, wenn der Gentleman bei Tische sitzt. Dann wird er in ausgeglichener Verfassung sein, und hin und wieder wird er auch den Mund voll haben. Für einen listigen Dienstboten könnte dies genau das Richtige sein.

Leitfaden für den vollkommenen Butter und Kammerherrn von Richard Robert Reeves

Gewaltig schlugen die Wellen gegen die Klippen, donnerten voll Zorn an die zerklüfteten Felsen. Oben auf den Felsen, weit über dem Meer, stand ein geräumiges Cottage. Erbaut aus demselben schwarzen Felsen, der auch die Küstenlinie kennzeichnete, hätte man es unmöglich erkennen können, wenn nicht aus allen drei Schornsteinen dicker Rauch gequollen wäre.

Captain Tristan Paul Llevanth stand vor dem Cottage und starrte auf das tosende dunkle Wasser hinaus, wie immer fasziniert von der ungestüm brausenden Wildheit. Der Wind peitschte ihm den schweren nassen Umhang um die Beine. Ein dumpfer Schmerz stieg zu seinem Knie auf, und er packte den Messingknauf seines verhassten Stocks fester. „Verdammt, sogar das Stehen tut weh“, knurrte er und wünschte sein verwundetes Bein zum Teufel.

Er atmete tief durch, sog die feuchte Meeresluft tief in die Lungen. Die Kühle erfrischte ihn und weckte seine Lebensgeister. Der Wind zauste den Baum, der oben auf der Klippe stand, und wehte ein paar braune Blätter zu Boden.

Hinter ihm schlug eine Tür. Im nächsten Moment würde einer seiner Männer zu ihm stoßen und ihm irgendeine gewollt harmlose Frage stellen. Seit seiner Verletzung hatte es sich seine Mannschaft - seine eigene Mannschaft - angewöhnt, ihn wie einen Leichtmatrosen zu behandeln, einen grünen Jungen, der noch nicht trocken hinter den Ohren ist.

Es war empörend. Außerdem erinnerte es ihn an seine Anfangszeit, als er nur eine Landratte gewesen war: ohne Schwielen und völlig ahnungslos, was das Leben auf hoher See anging. Zuerst hatte er sich gewehrt. Hatte mit aller Kraft gegen sein Schicksal angekämpft. Er war traurig und verängstigt gewesen und krank vor Sorge um Christian ...

Nein. Er wollte sich nicht daran erinnern. Er dachte lieber an die Zeit danach. Als er endlich Frieden mit der See und dem Leben an Bord geschlossen hatte.

Auch wenn er seinen ersten Kapitän hasste, einen harten, ungerechten Mann, der seine Matrosen beim geringsten Vergehen auspeitschen ließ, liebte er doch das Leben auf dem Meer, genoss plötzlich die Wildheit der tosenden Wellen, die ihm zuerst solche Angst gemacht hatten.

Obwohl er Captain Reynolds wahrhaftig nicht ins Herz geschlossen hatte - die Mannschaft war unvergleichlich. Viele Männer von damals waren immer noch bei Tristan. Gemeinsam hatten sie Stürme überstanden, der tobenden See ins Auge gesehen und gegen die Furcht angekämpft, weit draußen auf dem Ozean von einer Windstille überrascht zu werden. Die Männer waren tapfere und aufrechte Burschen und hatten ihm im Kampf gegen alle Arten von Plünderern treu zur Seite gestanden.

Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Viele verwünschten die Piraten, und sicher gab es unter ihnen auch unwürdige Kreaturen. Doch Tristan war vom sicheren Land weggezerrt und auf See in den Dienst eines harschen Kapitäns gepresst worden, der seine Leute regelmäßig prügelte, wenn er ihnen nicht noch Schlimmeres antat. Und so brachte er der Freibeuterei nicht mehr den Schrecken und die Abscheu entgegen, die er unter anderen Umständen vielleicht empfunden hätte.

Als sein erstes Schiff in einer blutigen Schlacht bezwungen worden war, der Kapitän getötet und seine Kameraden gefangen, war er auf weitaus großzügigeres Benehmen gestoßen als unter Captain Reynolds.

Der Kapitän des Piratenschiffs, Captain Ballaliet, ein ehemaliger französischer Marineoffizier, der auf die Freibeuterei verfallen war, um seine Spielschulden zu begleichen, hatte die englische Mannschaft eingeladen, bei ihm mitzutun. Die Aussicht auf Beute, besseres Essen und einen wohlwollenden Kapitän war ein Angebot, das man unmöglich ausschlagen konnte. Und so verwandelte sich Tristan ohne Probleme von einem englischen Matrosen in einen vagabundierenden Piraten.

Tristan sah blicklos auf den weiten Ozean hinaus. Er war kein Heiliger und hatte Dinge getan, die er jetzt bedauerte. Obwohl sein Piratenleben nicht sehr moralisch gewesen war, trug es reiche Früchte: Irgendwann eroberte Captain Ballaliet ein Schiff und übergab es Tristan. Von da an segelten sie gemeinsam und waren kaum aufzuhalten. Wenn Captain Ballaliet nicht bei einem besonders schwierigen Entergang von einem Querschläger in die Brust getroffen worden wäre, würde Tristan vielleicht heute noch die Meere befahren und nach verlockenden Fregatten Ausschau halten.

Doch nach Ballaliets Tod hatte Tristan jeden Kampfgeist verloren. Eine Weile war er ziellos herumgekreuzt. Die Mannschaft war darüber nicht glücklich, schließlich wurden sie nur bezahlt, wenn sie dicke Beute machten. Wenn er nicht vor Gibraltar ein ganz bestimmtes Schiff überholt hätte und Admiral Nelson begegnet wäre - Tristans Leben wäre sicher anders verlaufen. Nelson hatte in Tristan etwas gesehen, was ihm der Rettung wert schien. Im Gegenzug hatte Tristan sein Schiff und seine Männer in den Dienst des Admirals gestellt, und so kämpften sie bei der Schlacht von Trafalgar. Sie errangen einen überwältigenden Sieg, doch zu welchem Preis? Nelson war tot, gefallen durch die Kugel eines Scharfschützen, während zahllose andere Männer starben oder verstümmelt wurden.

Der Wind fuhr in Tristans Haar und versuchte es aus dem Band zu lösen. Tristan schloss die Augen und gab sich der feuchten Luft hin. Wenn er ganz stillhielt, fühlte es sich beinah so an, als ob der Boden schlingerte wie ein Schiff auf beinah glatter See. Fast konnte er das Knarren und Ächzen der Takelage hören, Pech und Teer eines frisch geschrubbten Decks riechen. Nachdenklich wippte er auf den Fersen ...

Ein heißer Schmerz fuhr ihm durch das Bein. „Verdammt und zugenäht!“

„Käpt’n!“ Der Erste Offizier Stevens packte Tristan am Arm.

Tristan schüttelte den Mann ab. „Zum Henker, Stevens. Ich brauche kein Kindermädchen.“

„Ich weiß, Käpt’n. Ich wollte nur nicht, dass Sie wie ’n leeres Fass über Bord gehen. Da runter ist es ganz schön weit.“

Mit zusammengebissenen Zähnen stellte Tristan den Fuß auf, wobei er sich schwer auf seinen Stock stützen musste. „Es besteht keineswegs Gefahr, dass ich die Klippe runterfalle, Sie verfluchter Esel. Mag sein, dass ich meinen verkrüppelten Fuß nicht mehr fest auf Deck eines seetüchtigen Schiffes stellen kann, aber an Land komme ich immer noch gut allein zurecht. “

Sein Ausbruch stieß auf Schweigen. Tristan wusste, auch ohne hinzusehen, dass sein ehemaliger Erster Offizier ein ebenso langes Gesicht zog, wie das Meer weit war. Verdammt, er hatte den Mann wirklich nicht verletzen wollen. Im Stillen verfluchte er sein jähzorniges Gemüt: Beim geringsten Anlass explodierte er wie eine geladene Kanone.

„Tut mir leid, dass ich störe, Käpt’n“, meinte Stevens kleinlaut. „Ich wollte nicht ..."

„Haben Sie auch nicht“, unterbrach Tristan ihn, während er den Schmerz in seinem Bein zu unterdrücken suchte. „Das liegt einzig und allein an mir. Ich bin einfach in üb-ler Stimmung. Das Wetter ...“ Er presste die Hand an den Oberschenkel.

Stevens nickte. „Allerdings, Käpt’n. Kanonier Thurwell sagt auch, dass ihm der Arm heute Morgen ganz schön wehtut.“

„Thurwell beklagt sich doch dauernd über seinen verletzten Arm, selbst wenn der Arzt nichts feststellen konnte.“

„Ist mir auch schon aufgefallen.“ Stevens sah aufs Meer hinaus. Beim Anblick der hohen Wellen hellte sich seine Miene ein wenig auf. Er atmete tief ein. „Riecht nach Nordwestwind.“

„Aye. Wenn mich nicht alles täuscht, kriegen wir Sturm.“ Tristan sah zu dem kleinen Mann und grinste ihn schief an. „An Tagen wie diesen vermisse ich die See. Sie hätte sich unter uns aufgebäumt und uns ein hübsches Tänzchen aufgeführt.“

„Aye, allerdings, Käpt’n“, stimmte Stevens sehnsüchtig zu. „Die anderen und ich, uns geht es auch nicht mehr so wie früher, als wir noch Seeleute waren.“ Der Erste Offizier lehnte sich an einen Baum und zupfte traurig an der Strickmütze herum, die sein strähniges weißes Haar bedeckte. „Ich hatte ja keine Ahnung, wie viel es mir bedeutet hat, Erster Offizier zu sein, bevor es vorbei war. An einem Tag ist man noch Matrose, am nächsten ...“, er breitete die Hände aus, und die schwieligen Finger zitterten kaum merklich, „... ist man nichts, gar nichts mehr, so fühlt es sich an.“

Tristan biss die Zähne zusammen. Irgendetwas geschah mit einem, wenn man als Seemann gezwungen war, dem Meer den Rücken zu kehren und wie alle Landratten auf festem Boden herumzuhumpeln. Irgendwie fühlte man sich leer. Nutzlos. Wie Strandgut, das am Ufer angespült wurde und nun langsam verrottete. Das war auch der Grund, warum er kaum noch schlief. Er war sich sicher, dass er in Einsamkeit sterben würde.

Frieden fand er nur an dem Ort, an dem er jetzt stand, auf der Klippe vor dem Cottage über dem Meer, wo er den Wind und die Gischt spüren konnte. Wenn er die Augen schloss und sich vom Gefühl und den Geräuschen tragen ließ, konnte er fast meinen, er wäre wieder auf hoher See.

Sein Bein zwickte, als er es aus Versehen belastete. Einen Augenblick war er froh um den vertrauten Schmerz. Er füllte die Leere in seiner Seele, lenkte ihn von den unausgefüllten Tagen ab, die vor ihm lagen.

„Kreuzwetter, Käpt’n!“, rief Stevens aus. „Machen Sie die Luken dicht, eine Kriegsfregatte hält direkt auf uns zu. Schaut aus, als könnte sie jeden Augenblick die Kanonen abfeuern.“

Tristan sah in die Richtung, in die Stevens blickte. Dort auf dem steilen Pfad kam eine wohlvertraute Gestalt heranmarschiert. Sie war eher klein, einen Kopf kleiner noch als Stevens, außerdem war sie eine Frau. Ohne auf den Pfad vor sich zu blicken, kam sie unbeirrt näher - sie hatte diesen Gang schon sehr oft unternommen.

Als sie das Gartentor erreicht hatte, schob sie den Riegel auf, betrat den Garten und schloss das Tor hinter sich. Der Wind zerrte an ihrem blauen Mantel, blähte ihn auf und zauste ihr streng frisiertes Haar.

Tristan blickte Stevens an. „Ich dachte, wir wollten ein Schloss am Gartentor anbringen.“

„Steht schon auf meiner Liste, Käpt’n.“

Tristan warf seinem Ersten Offizier einen empörten Blick zu.

„Wollte sagen“, fügte Stevens hastig hinzu, „dass ich mich gleich heute Nachmittag darum kümmere.“

Tristan nickte. Als er das Cottage oben auf den Klippen gekauft hatte, waren er und seine Männer die einzigen Einwohner weit und breit. Tatsächlich gab es mit Ausnahme eines brombeerüberwucherten verlassenen Hauses, das eine halbe Meile von den Klippen entfernt lag, im ganzen Umkreis keinerlei Gebäude.

Tristan hatte die Einsamkeit genossen und düstere Vorahnungen gehegt, als er eines Tages zufällig beobachtete, wie jemand von der Vorderseite des Hauses die Brombeerranken entfernte. Jemand schickte sich an, sein Paradies zu entern. Vor drei Monaten hatte dann ein schwer beladener Karren vor dem Haus gehalten, und zwei Frauen und ihre Dienstboten waren ausgestiegen. Seitdem hatte sich Tristans Leben zum Schlechteren gewendet. „Ich weiß nicht, warum sie immer wieder herkommt.“

Stevens spitzte die Lippen. „Vielleicht gefallen Sie ihr. “ „Und sie glaubt, sie würde mich für sich einnehmen, indem sie mein Schaf stiehlt und mich mit Vorwürfen überschüttet? Wohl kaum. “

„Da haben Sie vermutlich recht“, stimmte Stevens zu und sah dem Besuch mit offenkundigem Interesse entgegen. „Es heißt, dass der junge Doktor bei ihr vor Anker gehen will.“ Stevens stellte sich auf die Zehenspitzen, weil ihre Besucherin einen Augenblick hinter einer großen Eibe verschwand. „Angeblich ist der Doktor ganz verrückt nach ihr und will die Witwe heiraten - die jüngere, nicht die Mutter.“ Tristan warf Stevens einen strengen Blick zu. „Sie haben wirklich ein unheimliches Talent dafür, nichtiges Geschwätz aufzuspüren. Schade, dass wir Sie nicht als Spion zu den Franzosen geschickt haben. Ihre Bemühungen hätten den Krieg bestimmt abgekürzt.“

„Gehört zu meinen vielen Vorzügen“, erklärte Stevens heiter. „Ah, da ist sie ja. In voller Takelung über den Hügelkamm, genau auf Kurs.“ Er schüttelte den Kopf. „Meine Güte, Käpt’n, Mrs. Thistlewaite ist ja wirklich auf hundertachtzig Knoten. Es wird wohl wieder das verflixte Schaf gewesen sein. “

Tristan sah zu der Frau, die sich mittlerweile gegen den Wind stemmte, während sie den letzten Anstieg hinter sich brachte. Trotz ihres energischen Auftretens wirkte sie ziemlich verloren. Um ihr herzförmiges Gesicht bauschten sich ein paar Kringellöckchen, obwohl sie das Haar energisch nach hinten gekämmt und zu einem straffen Knoten aufgesteckt hatte.

Ihre Figur kannte er nicht, da er sie noch nie ohne ihren voluminösen Mantel gesehen hatte. Aus ihrem zarten Gesicht und den schmalen Händen konnte man jedoch schließen, dass sie gertenschlank war.

Nicht, dass Tristan das interessiert hätte. Er war vollkommen zufrieden mit seinem Junggesellendasein, und hin und wieder stillte er seine Lust durch einen Ausflug in das Städtchen, das am Fuß der Klippe lag. Im Gasthaus gab es zwei üppige Schankmädchen, die man sich aufs Zimmer kommen lassen konnte, wenn man über das nötige Bargeld verfügte.

Außerdem sah er schon von Weitem, wes Geistes Kind diese Frau war. Sie war ernst und streng, die Art Frau, die man heiratete, wenn einem an gut ausgeklopften Teppichen, heißen Mahlzeiten und endlosem Gerede am Esstisch gelegen war. Tristan nahm sein Essen am liebsten schweigend ein. Und was seine Teppiche anging, so lagen sie ohnehin auf dem Boden, was kümmerte ihn da, ob sie sauber waren?

Inzwischen hatte sie ihr Ziel erreicht und baute sich vor ihm auf. Ihre Gesichtszüge, ihre ganze Haltung kündeten von heftigem Zorn.

Stevens nickte vergnügt. Seine scharfen blauen Augen tränten im böigen Wind. „Ahoi, Mrs.Thistlewaite! Was führt Sie an einem solch stürmischen Tag zu uns?“

„Ich habe mit dem Captain zu reden.“

Tristan sah Stevens an. „Kümmern Sie sich darum.“ „Kommt ja nicht infrage!“ Ihr Besuch verschränkte die Arme vor der Brust. „Captain Llevanth, ich bin gekommen, um mit Ihnen zu reden, mit niemandem sonst.“

„Das habe ich befürchtet.“

Ihr Blick wurde womöglich noch ein bisschen strenger. Trotz seines Ärgers ertappte Tristan sich dabei, wie er ihre Augen betrachtete. Sie waren groß und leicht schräg gestellt und von einem bemerkenswert satten Braun, gesäumt von dichten Wimpern, darüber anmutig nach oben geschwungene Augenbrauen. Die Miene der Dame verfinsterte sich weiter. „Sie wissen, warum ich mit Ihnen reden möchte.“ Stevens beugte sich vor, um Tristan, wie er meinte, verschwörerisch zuzuraunen, doch seine Stimme war nicht leiser als sonst: „Käpt’n, ich meine fast, es ist wieder mal ein Schaf. Eins von ihnen hat, scheint’s, eine Vorliebe für den Garten der Dame, oder nicht?“

Tristan zuckte mit den Schultern. „Was erwartet sie denn von mir? Ein Schaf kann man nicht anbinden, sonst erwischt es der Wolf.“

Stevens ließ sich das durch den Kopf gehen. „Stimmt. Eigentlich gibt’s überhaupt keine richtige Methode, ein Schaf anzubinden. Ein Seil würde es fressen. Und anketten kann man es auch nicht, weil man befürchten müsste, es könnte sich die zarten Beinchen aufreiben. Wir müssen ihr einfach sagen, dass wir nicht ... “

„Oh! “ Empört warf die Dame die Hände in die Luft. „Nun reden Sie doch nicht so, als wäre ich gar nicht da!“

Stevens blickte auf ihren Besuch und dann auf den Kapitän. „Käpt’n, finden Sie, wir hätten geredet, als wäre Mrs. Thistlewaite gar nicht da?“

Tristan gab vor, darüber nachzudenken. Ihm war bewusst, dass die Dame von Minute zu Minute zorniger wurde. Nur um sie weiter aufzubringen, ließ er den Blick an ihr auf und ab wandern, wobei er an gewissen Stellen innehielt, als könnte er ihre Figur unter dem voluminösen Mantel erkennen. „Nein“, erklärte er schließlich, „ich finde nicht, dass wir reden, als wäre sie gar nicht da, denn wenn sie nicht hier wäre, würden wir gar nicht erst über sie - oder mit ihr - reden.“ „Oh!“ Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Captain, wenn Sie möchten, dass ich die Angelegenheit vor den Konstabler bringe, brauchen Sie es nur zu sagen! “

Tristan seufzte. „Also schön, Mrs. Thistlewaite.“ Er holte seine Pfeife aus der Tasche. „Erzählen Sie mir, was das freche Schaf verbrochen hat. Hoffentlich hat es nicht zum Brandy gegriffen. Trunkenheit in der Öffentlichkeit kann ich bei meinen Schafen nicht dulden.“

„Ach, nun seien Sie nicht albern! “ Missbilligend betrachtete sie seine Pfeife. „Muss das sein?“

„Ja.“ Er stopfte die Pfeife und steckte den Tabaksbeutel wieder ein.

Ihre Lippen wurden schmal. „Captain Llevanth, ich bin hierhergezogen, um ein Seminar für junge Damen einzurichten. Meine Mutter und ich arbeiten hart, um alles fertig zu bekommen. Dazu gehört auch, im Garten Trittsteine zu legen, um einen Weg zu gestalten. Das können wir aber nicht, wenn dieses Schaf immer wieder vorbeitrampelt, unsere Kräuter frisst und unsere Haushälterin in den Wahnsinn treibt.“

Tristan steckte seine Pfeife an, wobei er die Schwefelhölzchen vom Wind abschirmte. Gleich darauf stieg würziger Rauch auf, der sofort vom Wind hinweggefegt wurde. „Wissen Sie, was ich täte, wenn meine Haushälterin von einem Schaf in den Wahnsinn getrieben würde? Ich würde mich von der Haushälterin trennen. Offensichtlich ist sie für ihren Posten ungeeignet. Schade, dass Sie sich nicht an Bord eines Schiffes befinden, denn dann hätten Sie die Gute einfach kielholen können. Das hätte ihr die überspannten Anwandlungen schon ausgetrieben.“

„Captain Llevanth, für leichtfertige Scherze ist jetzt wirklich nicht der geeignete Zeitpunkt.“

Er hob die Brauen. „Mrs. Thistlewaite, ich will nicht, dass Sie hier sind, habe es nie gewollt. Deswegen wünsche ich Ihnen auch keinerlei Erfolg bei Ihrem Unterfangen, noch mehr weibliche Ablenkungen in diesen friedlichen Winkel zu bringen.“

Die Witwe hob das Kinn. „Haben Sie deswegen das Schaf in unseren Garten geschafft? Damit wir aufgeben und wegziehen?“

„Ich will zwar nicht, dass Sie hier sind, aber so wichtig ist mir die Sache nun auch wieder nicht, dass ich mir die Mühe machen würde, deswegen Schafe durch die Gegend zu transportieren. Meine Schafe sind gekennzeichnet und dürfen sich hier im Bezirk frei bewegen. Sie können gehen, wohin sie wollen.“

Die Frau versteifte sich. „Irgendjemand muss das Schaf aber in unseren Garten gelassen haben. Es kann das Tor schließlich nicht selbst öffnen.“

Er warf ihr einen Blick zu, sah die stolzen Züge und deren reine Form. Wirklich schade, dass sich seine Schafe nicht zu benehmen wussten. Er hatte sie nur gekauft, damit seine Männer eine Beschäftigung hatten.

Tristan hatte nicht erwartet, auch dann noch für seine Mannschaft Verantwortung tragen zu müssen, wenn diese das Schiff verlassen hatte. Aber nachdem er mit Stevens auf das Cottage oben auf der Klippe gezogen war, war der Rest seiner Männer nach und nach eingetrudelt. Zuerst lief alles gut, doch jeder Kapitän wusste um die Gefahren des Müßiggangs. Um mögliche Probleme gar nicht erst aufkommen zu lassen, hatte Tristan seinen Männern Pflichten zugeteilt. Sie mussten sich um die Schafe kümmern, die Kombüse putzen, das kleine Cottage von oben bis unten schrubben - oder was ihm und Stevens eben sonst so einfiel.

Zur Beruhigung zog Tristan an seiner Pfeife. „Madam, vielleicht ist es Ihnen ja nicht bewusst, aber ich bin Kapitän. Ein Kapitän befasst sich nicht mit Schafen.“

„Wer denn dann?“

„Stevens!“

Der Erste Offizier trat eifrig vor. „Aye, Sir?“

„Hören Sie der Frau an meiner Stelle zu. Wiegen Sie sie in dem Glauben, dass Sie ihr aufmerksam zuhören. Ich gehe inzwischen nach drinnen, da ist es wärmer.“ Tristan stützte sich auf seinen Stock und ging zum Haus zurück.

Ein blauer Blitz ließ ihn innehalten. Wieder einmal stand Mrs. Thistlewaite in ihrem blauen Mantel vor ihm, nur dass sie jetzt die Arme ausbreitete, wie um ihm den Weg zu versperren. Tristan schüttelte hilflos den Kopf. Wirklich, die Frau war ja noch hartnäckiger als ... nun ja, als alles, was er kannte. Außerdem war sie sehr hübsch anzusehen, wenn man den Umstand ignorierte, dass sie immer eine finstere Miene zu ziehen schien.

Sie richtete ihre großen braunen Augen auf ihn, und er sah, dass sie zornig funkelten. Bei diesem Anblick schmolz merkwürdigerweise seine eigene schlechte Laune dahin.

„Captain Llevanth, ich möchte nicht mit Ihrem Butler sprechen. Ich spreche ja schon andauernd mit ihm, passieren tut allerdings nie etwas.“

„Seien Sie doch froh, dass nichts passiert.“

„Captain Llevanth, ich verliere allmählich die Geduld.“ „Ihre Geduld geht mich nichts an.“

„Oh! Sie ... Sie ... Sie ...!“

„Na, das ist mir ja ein brillantes Abwehrfeuer. Beinah so wirksam wie der Einsatz von Schrotkugeln gegen Kanonen. Ihnen fällt doch bestimmt noch etwas Besseres ein, oder?“ Tristan war sich nicht sicher, warum er die lebhafte Witwe so gnadenlos provozierte, doch ... auf seinem Gesicht malte sich ein leichtes Lächeln. Es war auf alle Fälle ein amüsanter Zeitvertreib. Sicher sagte es einiges aus über seine traurige Verfassung, dass er die Dispute mit seiner Nachbarin ebenso genoss, wie er sie verabscheute.

Sie ließ die Arme sinken, obwohl ihre Haltung nach wie vor erbitterten Zorn verriet. „Ich bin nicht hergekommen, um nett mit Ihrem Ersten Offizier zu plaudern oder mich über Kanonenfutter zu unterhalten.“

„Feuer. Kanonenfeuer.“

„Wie auch immer.“

„Madam, wie ich schon öfter gesagt habe: Es ist nicht mein Problem. Schließen Sie Ihr verflixtes Gartentor, und zwar ordentlich. Sehen Sie? Schon ist die Sache aus der Welt geschafft.“

Sie stampfte mit dem Fuß auf, wobei sie in einer Pfütze landete und den Saum ihres moosgrünen Rocks, der unter dem blauen Mantel hervorlugte, mit Schlamm bespritzte. „Captain, das Tor war verschlossen. Und zwar ordentlich. “ „Dann springt mein Schaf also in Ihren Garten?“

„Genau. Das weiße mit dem schwarzen Gesicht.“

Tristan blickte über die Schulter. „Stevens, habe ich ein weißes Schaf mit schwarzem Gesicht?“

Stevens kratzte sich am Kinn und runzelte die Stirn. „Hmm. Mir scheint, dass ich ein solches vor nicht allzu langer Zeit gesehen habe.“

„Ist es möglich, dass dieses spezielle Schaf über einen Zaun springen kann, der so hoch ist wie der um Mrs. Thistlewaite Garten?“

„Nie im Leben! “, erklärte der Erste Offizier, den schon die bloße Vorstellung zum Lachen brachte.

Sie runzelte die Stirn, was ihre Brauen noch feenhafter wirken ließ. Bevor sie etwas sagen konnte, fuhr Tristan fort: „Stevens, können Schafe eigentlich fliegen?“

Stevens prustete.

„Oder kriechen? Könnten sie unter einem Tor hindurchkriechen?“

„Meine Güte, nein! Dazu sind sie viel zu auf geplustert. Sie kommen doch schon im Stehen kaum durchs Tor, selbst wenn es offen ist.“

Mrs. Thistlewaite kniff die vollen Lippen zusammen. „Captain, ich weiß nicht, wie Ihr Schaf in meinen Garten kommt, aber es gelingt ihm. Und dann geht es wie eine Sense durch mein Beete, frisst all meine Kräuter und ... “

„Stevens?“

„Aye, Käpt’n?“

„Haben wir denn einen Garten?“

Stevens blickte sich um und blinzelte. „Aber ja. Sie stehen doch mittendrin.“

Tristan zog an seiner Pfeife und betrachtete die Pflänzchen, die den Gartenweg säumten. „Sind das Kräuter?“ „Aye, Sir. Manche.“

„Klettern unsere Schafe über den Zaun, um die Kräuter hier zu fressen?“

„Natürlich nicht, Käpt’n. Ich kann mich an keinen einzigen Fall erinnern.“

„Hmm. “ Tristan bemerkte, dass der Witwe die Röte ins Gesicht stieg. Vielleicht machte es ihm deswegen so viel Freude, sie aufzuziehen, weil sie so überaus ordentlich und makellos aussah, ihr Haar so streng frisiert und ihr Mantel bis zum Hals zugeknöpft war. Und weil sie die Lippen so entschlossen zusammenpresste, dass es schon fast eine Herausforderung war, sie zu berühren. Zu kosten. Sie zu küssen.

Er ertappte sich dabei, wie er auf ihren Mund starrte. Die Unterlippe war voller als die obere und sanft geschwungen. Er fragte sich, ob die Unterlippe wohl so sinnlich war, wie sie aussah, und was passieren würde, wenn er sie küsste und dann sanft...

Selbst erschrocken angesichts der Richtung, die seine Gedanken genommen hatten, versuchte er, sich wieder auf die augenblickliche Situation zu konzentrieren. „Mrs. Thistlewaite, Schafe springen nicht über Zäune, und sie fliegen auch nicht durch die Luft und landen inmitten eines Gartens. Ich habe auch einen Garten, und die Schafe beachten ihn nicht. Ich finde, dass Ihre Magen jeglicher Grundlage entbehren. Sie werden sich selbst um Ihr Schafproblem kümmern müssen.“

„Captain“,entgegnete Mrs.Thistlewaite frostig, „ich sehe, dass ich hier meine Zeit verschwende.“

„Sie verschwenden nicht nur Ihre Zeit, Sie machen sich auch unbeliebt. Wenn Sie nicht aufhören, mich zu belästigen, werde ich meine Hunde darauf abrichten, dass sie all die albernen Schafe in Ihren Garten hetzen, jeden Morgen.

Dann haben Sie wirklich Grund zur Klage. “

„Oh! Ich kann es nicht fassen - wie können Sie es wagen?“ Sie richtete sich kerzengerade auf. Ihre Augen funkelten. „Sie, Sir, sind kein Gentleman!“

Kein Gentleman. Die Worte zogen eine Flammenspur durch sein Herz. Sein Vater war ein Gentleman gewesen. „Ich wollte auch nie ein Gentleman sein. Jetzt nicht und auch nicht früher. Ein Gentleman ist meiner Meinung nach keine lohnende Bekanntschaft.“

„Ich nehme an, dass Sie jede Menge Gentlemen kennen.“ „Mehr, als mir angenehm ist“, fuhr er sie an. Allmählich verlor er die Beherrschung. „Aber was ist denn mit Ihnen? Wenn ich kein Gentleman bin, sind Sie dann eine Dame? Wo ist Ihr Gefühl für Schicklichkeit? Wie kommen Sie dazu, einen Junggesellen aufzusuchen, und weit und breit ist keine Anstandsdame in Sicht?“

Etwas glomm in ihren Augen auf, ein Funken ... war sie etwa gekränkt? Sofort bedauerte Tristan seine hässlichen Worte, denn er war nur auf das Wortgefecht aus, er wollte sie nicht verletzen. Doch bevor er noch etwas sagen konnte, hatte sie sich bereits abgewandt und rauschte davon. Ihre Röcke bauschten sich um ihre Knöchel, und der Wind zerrte an ihrem Haar, als sie hastig den Pfad hinunterlief, dem Tor und ihrem sicheren Heim entgegen.

Der Erste Offizier sah ihr nach. „Das ist aber mal ein temperamentvolles Weib! Stürmisch wie die See und genauso unberechenbar. “

In der Stimme des Mannes lag Bewunderung. Tristan musste einräumen, dass er den Kampfgeist der jungen Dame ebenfalls bewunderte. Und dieser Mund ... so süß gerundet, so voll und zart. Er fragte sich, wie sie wohl aussehen mochte, wenn sie endlich einmal den voluminösen Mantel ablegen würde. Wie sie sich anfühlen würde ...

Warum hatte sie nur so heftig auf seine provokanten Äußerungen reagiert? Irgendetwas hatte der Witwe und ihrem rechtschaffenen Zorn jedenfalls den Wind aus den Segeln genommen. Allerdings konnte er sich nicht erklären, was es gewesen sein mochte. Er runzelte die Stirn. Ein Rätsel. Eines, das er zu lösen gedachte.

„Käpt’n?“ Stevens beugte sich weiter über die Felsen und blickte hinab zu der Straße, die sich vom Dorf heraufwand.

„Aye?“, erwiderte Tristan abwesend, in Gedanken immer noch bei der Witwe. Welche Geheimnisse verbargen sich hinter diesen Augen?

„Sie sollten lieber mal kommen und sich das anschauen.“ Tristan seufzte und hinkte hinüber zu seinem Ersten Offizier. Unterwegs hielt er kurz inne, um die Pfeife auszuklopfen. „Was gibt es denn?“

„Da unten, Sir. Zwei Kutschen und drei Karren, voll beladen und alle unterwegs zu uns herauf.“

Tristans Stirnrunzeln vertiefte sich. Wer, zum Teufel, sollte ihn an einem solchen Tag besuchen kommen? Wer sollte ihn überhaupt derart bepackt besuchen kommen? Die erste Kutsche war riesig. Ein Gespann von sechs Pferden mühte sich keuchend ab, das schwere Gefährt über die kurvenreiche Straße nach oben zu ziehen. Es war eine erstklassige Equipage, auf der sich Taschen und Kästen türmten.

Soeben kämpfte sich die schwerfällige Kutsche die Straße am Felsabhang empor. Während er sich noch fragte, wem sie wohl gehören mochte, leuchtete das Wappen am Wagenschlag im fahlen Licht auf, das durch den bewölkten Himmel drang.

Tristans Herz schien zu erstarren. Er kannte nur einen Menschen, der so herrliche Kutschen und Pferde besaß. Nur einen Menschen, der unangemeldet auftauchen und den gesamten Haushalt mitbringen würde, damit all seine Bedürfnisse befriedigt werden konnten. Aber dieser Mensch wäre der letzte, der Tristan aufsuchen würde.

Oder? Mit einem dumpfen Gefühl in der Magengrube richtete Tristan sich auf und kehrte ins Cottage zurück. „Wer es auch sein mag, er wird mindestens noch eine Stunde brauchen, ehe er bei uns aufläuft. Da bleibt uns genug Zeit, uns bei einem herzhaften Imbiss ein wenig aufzuwärmen.“ Stevens grinste und ließ seine Zahnlücken aufleuchten. „Ein Glas vom besten Hausgebrauten?“

„Oder auch zwei.“ Tristan beschleunigte seine Schritte, so gut es ihm mit seiner Beinverletzung möglich war. Der Wind fuhr unter die Schulterkragen seines Mantels. Die Kälte drang ihm allmählich ins Bein und verstärkte seine Schmerzen. Wer ihn auch besuchte, er würde auf den Empfang stoßen, den er allen bereitete - keinen.

Außer den Leuten, welche die See bereits bei ihm ausgespuckt hatte, brauchte er niemanden mehr. Seine Leute verstand er. Er konnte ihnen auch helfen. Was die anderen betraf ... er wollte einfach in Ruhe gelassen werden.

Er konnte nur hoffen, dass der Insasse der Kutsche nicht von ihm erwartete, dass man ihn willkommen hieß, denn das würde nicht geschehen, ob er nun ein Earl war oder nicht. Tristan zumindest würde den Mistkerl nicht begrüßen. Nie im Leben.