I. TEIL: NEUSTADT
1.
Niemand konnte so malerisch sterben wie Moon.
Sie lag auf dem Rücken, hatte ihr langes kastanienbraunes Haar über die Schultern gelegt und atmete so flach, dass sie ziemlich tot wirkte. Ein runder, weißlicher Lichtstrahl tauchte ihr blasses Gesicht in Mondlicht und verwandelte sie in eine Statue aus edlem Marmor. Um ihre Mundwinkel zuckte es ein bisschen.
»Oh Julia!«, schluchzte Jupiter. »Julia, wie konnte das nur passieren. Du bist tot! Wer, ach, wer hätte das gedacht, dass uns dieses Schicksal trifft, oh, wer!«
»Nun übertreib mal nicht«, murmelte Gandhi neben mir. In der Dunkelheit fühlte ich, wie er den Kopf schüttelte.
Jupiter zog das Messer aus seiner Tasche – das heißt, er versuchte es, aber die Theaterwaffe klemmte in seinem Gürtel, und wir hörten Stoff reißen, bevor er sie schließlich ins Licht hielt.
»Oh! Jetzt naht auch mein Ende!«, rief er laut. »Oh, ich will sterben, nun, da ich nicht ohne dich leben kann! Oh Julia, ich komme mit, wo du auch hingehst!«
Jupiter, klein und breit, mit seinem rundlichen Käsegesicht, hatte eine erstaunlich kräftige und ausdrucksstarke Stimme. Wenn er aus Versehen aus dem Lichtstrahl trat und von der Dunkelheit verschluckt wurde, konnte man fast vergessen, dass er optisch nicht so gut zu der himmlischen Julia passte.
Neidlos musste ich zugeben, dass er den Titel des besten Schauspielers unserer Klasse verdiente. Kein Wunder, dass Gandhi ihn für diese Rolle ausgesucht hatte, obwohl Lucky, Merkur und Schalom viel lauter »ich, ich!« geschrien hatten. Keiner wollte sich die Gelegenheit entgehen lassen, Moon zu küssen.
Jupiter bohrte sich das Messer in die Brust und brach neben seiner Julia zusammen. Ein letztes Mal rappelte er sich keuchend auf und drückte ihr unter reichlich Tränen ein Küsschen auf die Wange.
Die anderen Jungs stöhnten. Jetzt hatte er schon die Chance und vergab sie – mehr traute er sich nicht? Aber gleich darauf wurde es totenstill, denn Julia erwachte.
Moon ließ sich Zeit dabei. Sie schlug die Augen auf, ein Leuchten zog über ihr Gesicht. Langsam, noch völlig benommen, setzte sie sich auf, strich sich die Haare aus der Stirn, verharrte eine ganze Weile, vom Licht beschienen, seufzte und entdeckte dann den dahingeschiedenen Jupiter.
»Romeo?« Ihre Stimme, leise, schon vom Entsetzen gezeichnet, ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen. Neben mir kicherte Charity. Ich versetzte ihr einen unauffälligen Rippenstoß, damit sie ruhig war, denn ich wollte keine Sekunde verpassen. Ich war zwar dabei gewesen, als Moon in ihrem Zimmer geübt hatte, aber hier in der verdunkelten Aula war es etwas ganz anderes.
Außerdem musste ich gestern Nachmittag Romeo sein, und sie hatte mir nicht erlaubt, die Augen zu öffnen, während ich tot spielte.
»Romeo?«, fragte Moon etwas lauter, beugte sich über Jupiter und fasste ihn an den Schultern. Sanft schüttelte sie ihn. »Romeo?« Sie wandte sich ab und weinte in ihre Hände. Als sie ihr Gesicht wieder in den Lichtstrahl hielt, glänzte eine einsame Träne auf ihrer Wange.
Dann erblickte sie das Messer und stieß einen Laut aus wie ein verwundetes Tier. Ich hatte zwar noch nie ein Tier gehört, aber so stellte ich mir das vor. Ein Geräusch aus dem Brustkorb heraus oder von noch tiefer, aus den Eingeweiden. Dieser Moment, indem die Kreatur begreift, dass sie sterben muss.
Moon war wieder einmal perfekt. Sie machte fast gar nichts. Sie kniete neben Jupiter und strich ihm über die stoppeligen blonden Haare.
Unpassenderweise erschien ein seliges Grinsen auf seinem Totenantlitz.
Ich warf einen schnellen Blick zu Lucky hinüber, aber in der Dunkelheit konnte ich ihn nicht richtig sehen; ich wusste nur, wo er gesessen hatte, bevor Gandhi das Licht ausgemacht hatte.
»Alles verloren«, klagte Julia äußerst gefasst. Sie jammerte nicht. Ich hatte schon ein paar Aufführungen gesehen, wo die Julia sich schreiend und schluchzend über ihren toten Geliebten warf, aber das hätte nicht zu Moon gepasst. Sie betrachtete ihn nahezu kühl und nahm dann das Messer in die Hand. Sehr überlegt, sehr … abgeklärt.
»Dann will auch ich nicht mehr leben«, beschloss sie. Wieder hörte ich Charity kichern. »Na, dann auf Wiedersehen«, flüsterte sie, als Moon auf der Bühne sich das Theatermesser in die Brust stieß und über Jupiter zusammenbrach.
Eine Weile war es mucksmäuschenstill, als könnte jetzt noch etwas geschehen – aber was sollte denn passieren, wenn die beiden Hauptdarsteller verblichen waren? –, dann konnte Charity es nicht länger aushalten und platzte lauthals heraus. Ihrem ansteckenden Lachen konnte sich niemand entziehen. Sogar unser ehrwürdiger Geschichtslehrer druckste verstohlen.
»Licht an!«, befahl er. »Nun, wie hat es euch gefallen?«
»Das ist einfach so lustig!« Bei jeder Bewegung verströmten Charitys rote Locken einen intensiven Duft nach Himbeeren und Maiglöckchen. Sie konnte wie immer nicht widerstehen und knabberte an ihren Haarspitzen. Ihr prächtiger Schopf versperrte mir die Sicht auf Lucky, der gerade Moon von der Bühne herunterhalf. »Ich freue mich jedes Jahr darauf! Endlich ist unser Jahrgang an der Reihe. An Moon und Jupiter kommt einfach niemand heran.«
Jedes Jahr sahen wir uns die Aufführungen der Elften an, und jedes Mal behauptete Charity, sie hätte sich noch nie so gut amüsiert.
»Was bedeutet eigentlich der Name Julia?«, fragte Peace. »Warum heißt sie so?«
»Ich würde sie Tränchen nennen«, meinte Charity und erlitt ihren nächsten Kicheranfall. »Und ihn …«
»Jammero!«, kreischte Peace. »Jammero und Tränchen!«
Da ich mit dem bescheuertsten Namen der ganzen Schule gesegnet war, sagte ich lieber nichts dazu. Die anderen lagen vor Lachen halb auf dem Boden. Sie steckten sich immer gegenseitig damit an, und obwohl ich meistens nicht so recht mitlachen konnte, musste selbst ich glucksen.
Gandhi klatschte in die Hände und scheuchte uns zurück auf die Stühle.
»Nicht schlecht für die erste Probe«, meinte er. »Aber du solltest dich ein bisschen zurückhalten, Jupiter. Too much, wenn du verstehst, was ich meine.«
Jupiter grinste. Er genoss es, auch einmal im Mittelpunkt zu stehen. Dass er mit Moon auf der Bühne kuscheln durfte, war für ihn sicherlich der Höhepunkt des Jahres.
»Aber ich dachte, wir sollten übertriebene Gefühle darstellen«, verteidigte er sich.
»Schon, aber vergiss nicht, diese Gefühle haben die Menschen nicht zum Lachen gebracht, sondern sie in den Wahnsinn geführt. In den Tod. Das ist der Weg ins Verderben. Nur deshalb machen wir das hier, klar?« Gandhi blickte sich um. Vier Schüler und genauso viele – immer noch leise prustende – Schülerinnen heuchelten ungeteilte Aufmerksamkeit. Die Gemischtklasse an der Theodor-Frühlingswetter-Schule, vierter Bezirk, Neustadt, enthielt die acht übriggebliebenen Siebzehnjährigen, die weder in die Sportlerklasse, die Technikerklasse noch in die Schlaubergerklasse passten – das hieß, niemand wusste, was aus uns werden sollte.
Moon hatte den Kopf gegen Luckys Schulter gelehnt. Sie waren das perfekte Paar, sie so hübsch und er mit dem untrüglichen Gespür dafür, wo gerade die beste Party stattfand.
Lucky und ich kannten uns schon seit der Kindergartenzeit, und gemeinsam waren wir in der gemischten Klasse derer gelandet, deren Begabungen sich erst noch entwickeln mussten. Lucky hatte sich mit allen sofort angefreundet, insbesondere mit den Mädchen, und ich war glücklich gewesen, dass Moon nicht etwa die süße Charity oder die perfekte Peace zu ihrer besten Freundin erkoren hatte, sondern mich. Seitdem waren wir meist zu dritt unterwegs.
Da Lucky und ich beide nicht designt waren und uns so gut verstanden, hatte ich damit gerechnet, dass man ihn mir als Freund zuteilen würde. Lucky war mittelgroß und hatte ein spitzes Kinn. Sein Gesicht war insgesamt etwas zu lang und schmal, sodass es etwas von einem Fuchs hatte. Luckys Familie war nicht besonders wohlhabend, und anders als die meisten Kinder, die nicht bereits vor ihrer Geburt genbehandelt worden waren, war er nie im Nachhinein operiert worden. Trotzdem oder vielleicht auch deshalb hatte ich gedacht, er würde gut zu mir passen, schließlich hatte auch ich die Praxis eines Schönheitschirurgen noch nie von innen gesehen. Mir gefielen seine braunen Haare, seine funkelnden Augen und seine witzigen Bemerkungen. Er hatte einen etwas zu breiten Mund und stand im Ruf, der beste Küsser der Schule zu sein – das allerdings wusste ich nur vom Hörensagen. Lucky küsste jedes weibliche Wesen, das keinen Mundschutz trug, nur mich hatte er noch nie geküsst.
Ich hatte Luckys Namen ganz oben auf meiner Wunschliste stehen, aber das Auswahlverfahren dauerte lange und die genetische Kompatibilität war natürlich wichtiger als unsere persönlichen Vorlieben.
Und dass fast alle Jungs Moon auf ihre Liste geschrieben hatten, war ein offenes Geheimnis. Leider hatte ich mich nie getraut, Lucky zu fragen, ob er meinen Namen an erster Stelle auf der Liste für den Wunschpartner eintragen würde.
Oder an überhaupt irgendeine Stelle. Kein einziges Mal hatten wir über so etwas gesprochen, und als Moon mir vor einem halben Jahr erzählt hatte, sie hätte einen Freund zugewiesen bekommen, hatte ich sie lachend umarmt und nichts Böses ahnend gefragt: »Na, wer ist denn der Glückliche?«
Moons Gesicht verfärbte sich und sie wisperte mir ins Ohr: »Lucky.«
»Oh«, sagte ich. Auf der Suche nach einer lustigen Antwort meinte ich lahm: »Wetten, ich bekomme Jupiter?«
Sie lachte. »Jupiter? Den nehmen sie aus dem Programm, so, wie der aussieht.«
Natürlich hatte unser Klassenkleinster Wachstumshormone bekommen, aber viel größer war er trotzdem nicht geworden, und allen Diätvorschriften zum Trotz war er auch noch schwerer als erlaubt. »Ich habe eine Stoffwechselanomalie«, bekannte er freimütig, und deshalb dachten wir, er würde keine Freundin zugeteilt bekommen. Leute mit Anomalien sollten sich der Gesellschaft zuliebe besser nicht fortpflanzen.
Doch die Gesundheitsbehörde hatte wohl nichts Auffälliges in Jupiters DNS gefunden, denn er ging mittlerweile mit einem Mädchen aus der Neunten, zwei Stufen unter uns. Ich dagegen hatte immer noch keinen Partner.
»Peas?«
Ich schrak zusammen, als Gandhi sich unvermittelt an mich wandte. »Äh, ja?«
»Erkläre doch bitte, was wir aus dieser Szene gelernt haben.«
Ich riss meine Gedanken von der unerklärlichen Tatsache los, dass ich keinen Freund hatte, und bemühte mich, die Frage zu beantworten. Meine Noten waren in diesem Schuljahr nicht besonders gut. Die meiste Zeit fühlte ich mich schläfrig, und es war bestimmt ein halbes Jahr her, dass ich mich lange genug konzentriert hatte, um eine Klassenarbeit zu Ende zu schreiben. Daher bemühte ich mich, ihm eine befriedigende Antwort zu geben.
»Ähm – es geht um die Gefahr, die Leidenschaft für die Gesellschaft darstellt. Liebe kann leicht tragisch enden, wenn man alles so ernst nimmt und wenn man«, ich suchte in meinem umnebelten Hirn nach Worten, »wenn man glaubt, dass man ohne den anderen nicht leben kann.«
»Oh Julia!«, rief Jupiter theatralisch dazwischen. »Stirb nicht!«
»Deshalb«, fuhr ich fort, weil Gandhi mir freundlich zunickte, »führt der Weg der Leidenschaft unweigerlich in die Katastrophe. Aus Leidenschaft wurden Menschen umgebracht und Kriege begonnen. So etwas darf es nie wieder geben.«
»Gut gesprochen.« Unser Geschichtslehrer nickte zufrieden. »Genau aus diesem Grund ist Romeo und Julia Pflichtlektüre für alle elften Klassen. Um uns die Absurdität übertriebener Gefühle vor Augen zu halten. Leidenschaft ist der Beginn des Untergangs. Wilde Gefühle haben die Menschheit an den Abgrund geführt, und nur wenn wir es schaffen, uns davon zu befreien, werden wir die nächste Stufe der Evolution erreichen: den Menschen, der keine Aggression gegen seinesgleichen mehr kennt. Der Mensch, der den Verirrungen der Vergangenheit endgültig entwachsen ist und sich mündig und verantwortungsbewusst verhält.« Gandhi lächelte uns an. »Die Hausaufgabe ist klar: Schreibt einen Aufsatz über das Leid, das Leidenschaft der Menschheit gebracht hat. Titel: Wilde Gefühle und ihre Gefahren. Morgen sehen wir uns wieder.«
Gandhi verfügte über die unnachahmliche Fähigkeit, seine Sätze so zu beenden, dass das letzte Wort exakt mit der Pausenklingel zusammenfiel.
Wir sprangen von den Stühlen. Lucky und Merkur ließen die Jalousien hochfahren und das Tageslicht wieder hereinströmen. Moon tänzelte auf mich zu und hakte sich bei mir unter. »Na, wie war ich? Hat man gesehen, dass die Träne aus Kunststoff war?«
»Keine Spur«, sagte ich. »Es wirkte total echt.«
»Du bekommst bestimmt auch mal eine Rolle, Pi«, meinte Moon, die sofort merkte, dass ich ein wenig niedergeschlagen war. »Du kannst das auch, das weiß ich.«
»Kann ich nicht«, widersprach ich ihr. »Ich würde mich nur lächerlich machen.«
Moon lachte. »Ach was. Na komm, Pi, gehen wir was essen.«
»Leute!«, rief Merkur vom Fenster her. »Das müsst ihr euch ansehen. Eine echte Taube!«
Peace und Charity kreischten. »Igitt! Scheuch sie weg!«
»Jemand müsste das Ungezieferspray holen«, sagte Lucky.
Zuerst wollte ich die Flucht ergreifen, aber dann zog es mich doch zum Fenster, denn ich war einfach zu neugierig. Das letzte Mal, dass ich einen Vogel gesehen hatte, war bestimmt schon zwei, drei Jahre her.
»Mach es zu!«, schrie Charity, als Lucky das Fenster öffnete.
Um das ganze Schulgebäude war seit mehreren Tagen ein Gerüst errichtet. Der Wirbelsturm, der vor drei Wochen hier durchgezogen war, hatte Teile des Daches abgedeckt und einige Wärmespeicherplatten aus der Fassade gerissen. Während des Unterrichts beobachteten wir gerne die Arbeiter, die den Schaden behoben. Dass im vierten Stockwerk Leute vor unserem Fenster hin und her marschierten, war irgendwie lustig, aber eine echte Taube war natürlich noch viel spannender.
»Bist du sicher, dass das nicht ein Adler ist?«, fragte Peace und riss panisch die Augen auf. »Sie ist so riesig!«
»Ein Schwan«, vermutete Charity.
»Hat jemand eine Ballastschnitte übrig? Wenigstens ein paar Krümel?« Lucky beugte sich über das Fenstersims.
Ich trat noch näher an die Öffnung heran. Ja, es war ganz offensichtlich eine Taube. Sie war so groß, dass man sie mit beiden Händen hätte halten müssen, wenn man denn so verrückt gewesen wäre, ein solches Ungeziefer anzufassen. Ihre Federn waren nicht einfach grau, sondern schimmerten metallisch, wie Öl in einer Pfütze. Sie ruckte mit dem Kopf und machte ein paar Schritte vorwärts. Ihre absurd kleinen dünnen Füße waren rosa und wirkten ekelig nackt.
»Oh Lucky, pass bloß auf«, jammerte Moon. »Du steckst dich noch mit irgendwas an.«
Aber Lucky hatte schon das rechte Bein über das Sims geschwungen. »Die sehe ich mir näher an. Mach dir keine Sorgen, mir passiert schon nichts.«
Die Taube flog nicht weg. Sie beäugte ihn aufmerksam, als er auch das linke Bein nach draußen schob und dann mit einem Sprung auf dem Gerüst landete.
»Oh nein, oh nein«, murmelte Schalom, aber wie wir alle konnte er den Blick nicht abwenden.
Lucky stand jetzt draußen. Er bewegte sich mit ausgestreckter Hand auf die Taube zu.
»Du wirst dich desinfizieren müssen«, prophezeite Charity und kletterte ihm nach. »Von Kopf bis Fuß, wetten? Warte, ich hab hier was.« Sie bückte sich und versuchte, den Vogel mit ein paar Krümeln zu sich zu locken. »Komm her, du Parasitenschleuder, komm zu Mami!«
Merkur war mit einer Flasche Desi-Spray wieder aufgetaucht und stieg nun seinerseits aus dem Fenster. »Lass mich durch!«, rief er. »Hier kommt der Spray-Man! Der Hausmeister ist auch schon unterwegs.«
»Halt die Klappe. Du erschreckst sie ja.« Lucky hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als die Taube hochflatterte.
Merkur hechtete nach vorn, die Flasche vor sich gestreckt, und pumpte schon, während er noch sprang. Charity, die sich gerade zurückziehen wollte, bekam eine volle Ladung Spray ins Gesicht und taumelte aufschreiend zurück. Auf einmal kam mir das Gerüst unglaublich schmal vor, und die Metallstäbe, die es zusammenhielten, wiesen erschreckend große Lücken auf.
»He, hiergeblieben«, sagte Lucky und packte Charity am Arm. Er riss sie zurück, und sie prallte gegen ihn.
»Hoppla.«
Charity wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. »Danke.«
»Nichts zu danken«, sagte Lucky und küsste sie.
So war Lucky eben. Er küsste alle Mädchen, die sich irgendwie zum Küssen anboten.
Merkur steckte den Kopf durch die gekreuzten Metallstäbe und blickte nach unten. »Das ist ganz schön tief, du meine Güte.«
»Was macht ihr denn da?« Einer der Arbeiter kam gerade die Leiter von der Etage über uns herabgestiegen. »Ihr habt hier nichts zu suchen.« Er trug Werkzeuge in der Hand und versuchte, sich zwischen Charity und Lucky, die am Fenster standen, und Merkur am äußeren Rand hindurchzuquetschen. »Rein da, aber dalli.«
»Klar«, sagte Lucky. »Entschuldigung.«
»Jetzt wird mir schwindelig«, verkündete Merkur und sprang zurück. Er stieß gegen den Arbeiter, der seinerseits gegen Lucky und das Mädchen krachte. Einen Moment lang waren alle vier in Bewegung, schwankend wie Fahnen im Sturm, und sogar das Gerüst wackelte. Merkur bekam gerade noch die Metallstangen zu fassen, doch der Arbeiter, der die Hände nicht frei hatte, hatte nicht so viel Glück. Er stolperte nach vorne und verschwand einfach.
Es war merkwürdig – eben noch stand er zwischen den anderen auf dem Brett, im nächsten Moment war er weg.
Lucky schubste Charity durchs Fenster und packte Merkur am Hemd.
»Er … er liegt da unten«, stammelte Merkur. »So ein Pech aber auch.«
»Ja ja«, sagte Lucky. »Und du gehst jetzt wieder da rein.« Er zog seinen Freund, der die Stangen gar nicht mehr loslassen wollte, zum Sims, wo sich ihm hilfsbereite Hände entgegenreckten.
»So. Da sind wir wieder.«
Sie waren alle wieder da. Als wäre nichts passiert. Charity eilte wimmernd zum Waschbecken, um sich die Augen auszuwaschen. Ihre Haut rötete sich bereits.
Merkur sang leise. »Gib dich in den Glücksstrom, umarme die Sonne, öffne die Augen …«
Lucky wischte sich die Hände an den Hosen ab. »Was für eine Stunde haben wir jetzt?«
»Mathematik«, sagte Moon und schloss das Fenster.