38.
Das Lager lag an einem Teich, der auf der einen Seite von Bäumen, auf der anderen Seite von ein paar Felsen eingerahmt war. Dort stürzte ein kleiner Wasserfall herunter und schäumte tüchtig. Eiskalt war das Wasser, aber es fror nicht zu. Ich überlegte, ob ich wohl mutig genug war, darin zu baden. Eine Lungenentzündung konnte ich jetzt nicht gebrauchen.
»Alfred will dich sprechen«, sagte Jeska. Sie stand hinter mir und rieb sich die Oberarme.
»Wenn ich dürfte, würde ich dir meinen Mantel ausleihen«, sagte ich.
»Lass mal lieber.« Sie war wieder ein Stück gewachsen und überragte mich um einen halben Kopf. Der Mantel von Truth Mozarts edler Marke hätte uns beiden gepasst, doch solange ich nichts Näheres wusste, fasste ich niemanden an und tauschte auch keine Kleidungsstücke.
»Und Mutter sagt, du sollst Alfred ausrichten, dass zum Mittagessen genug übrigbleibt. Weston hat zwei Kaninchen gefangen.«
Weston war mein Vater. Ich war nicht wenig überrascht gewesen, dass mich außer meiner Mutter, meiner kleinen Schwester und meinem stummen Bruder ein neuer Vater erwartete. Er war ein ruhiger, breitschultriger Mann aus der Gruppe der Wölfe. Paulus hatte ihn mitgebracht, und Ricarda war mit ihm einverstanden gewesen. Benommen von dem Verlust ihrer großen Tochter – mir –, hatte sie zugesagt. Weston war stark, er hatte die Arme eines Holzfällers, und er war sanft zu Benni, also hatte sie ihr Einverständnis gegeben. Ein Fallensteller war er außerdem, und seither gab es öfter Fleisch bei uns.
Sie brachten Alfred und mir immer eine ordentliche Portion, damit ich mich erholte und wieder ganz gesund wurde. Orion lebte nicht mehr bei ihm, denn noch im Herbst war er zusammen mit seiner Wildkatze in Luminas Zelt gezogen. Da ich verschwunden war, hatte er keinen Grund mehr gehabt, sich als mein Freund auszugeben. Paulus legte großen Wert darauf, dass ein weibliches Wesen den gefährlichen Soldaten unter Kontrolle hatte, also hatte er zugestimmt.
Die Schuld an den toten Jägern hatte Gabriel Jakob zugeschoben. Jakob, der gewiss stolz darauf gewesen wäre.
»Jetzt komm schon, träum nicht«, drängte Jeska. »Er hat gesagt, es ist wichtig.«
Der Lagerplatz war nicht zufällig gewählt worden. Alfred hatte darauf gedrängt, und so waren wir hergekommen. Hier hatte er sein unterirdisches Labor, einen alten, eingegrabenen Waggon, mit einer versteckten Einstiegsluke und einer Leiter. Seit ich zurück war und wir hergezogen waren, arbeitete er fast ununterbrochen da unten.
Als die drei mich am Sumpf gefunden hatten, war Orion mit ausgebreiteten Armen auf mich zugerannt, aber ich hatte mich abgewandt.
»Fass mich lieber nicht an«, sagte ich. »Ich bin krank. Morbus Sechs.«
Sie hielten Abstand, während ich ihnen ein paar Details schilderte, aus denen sich eine Geschichte zurechtbasteln ließ. Ich sprach nicht darüber, wie Lucky in meinen Armen gestorben war. Mein Herz machte meinen Mund stumm. Aber ich warnte sie vor der Krankheit.
»Es geht mir schon fast wieder gut. Aber es ist bestimmt noch ansteckend.«
Das hatte Happiness Zuckermann jedenfalls geglaubt. Falls nicht, hatte ich ihr bloß den Schrecken ihres Lebens verpasst.
»Das muss ich mit Alfred besprechen«, sagte Gabriel. »Jetzt gleich.«
»Habt ihr noch mehr Toms?«
»Ein paar altmodische Funkgeräte. Neustadt kann nicht mithören.«
Bevor wir uns auf den Weg machten, begruben wir Lucky. Orion zerschlug das Eis auf einem der Tümpel, und wir betteten ihn hinein. Ich weinte nicht. In diesem Moment, unter dem weiten Himmel, war nichts als Stille in mir. Ich wusste, ich konnte sein wie Benni. Nichts mehr sagen. Sich an irgendetwas festklammern. Und warten, bis der Schmerz verging, aber er würde nicht vergehen.
»Leb wohl, Lucky«, sagte ich leise.
Helm sprach ein Gebet.
Dann gingen wir nach Hause. Ich hatte einen Schal um Mund und Nase gewickelt, und ich hatte mehr Angst als sie.
»Wo ist Savannah?«, fragte ich. Denn nur ihretwegen hatten die Regs mich diese Monate in Neustadt ungestört leben lassen. Und nur ihretwegen schickten sie mich krank in die Wildnis hinaus.
»Leise«, flüsterte Gabriel, der neben mir ging. »Helm weiß nichts davon. Wir konnten nicht riskieren, dass Paulus von ihr erfährt.«
»Also lebt sie noch.«
»Ich bin kein Mörder«, sagte er. »Auch wenn ich mir in dem Moment gewünscht habe, ich könnte einer sein.«
»Das verstehe ich«, flüsterte ich unter meinem Schal.
»Wir haben sie ein paar Freunden in einer anderen Gruppe anvertraut. Bitte frag nicht.«
»Ja«, sagte ich, denn auch das verstand ich nur allzu gut. Von Worten, die das Fieber an die Oberfläche trug, von Träumen, in denen man nicht mehr wusste, was man verraten hatte und was nicht.
Meistens trug Orion mich, und ich wollte ihn davon abbringen, doch er fürchtete sich nicht.
»Küsst du mich halt nicht«, meinte er, und mir wurde warm und wieder kalt bei seinen Worten, denn ich dachte an Lucky und den Kuss, mit dem ich ihn umgebracht hatte, und ich weinte an seiner Brust, während Orion mich weiter durch den Wald trug. Sie hatten es eilig, denn es wimmelte hier von Einzelgängern, und meine Freunde hatten auf dem Hinweg einige Kämpfe ausfechten müssen. Doch wir hatten Glück. Waren zurück ins Lager gekommen. Lebendig.
Ricarda stürzte auf mich zu. Die abwehrenden Hände von Helm und Gabriel hielten sie auf.
Sie sah mich an, und ich sehnte mich danach, dass sie mich umarmte. Aber das wollte sie gar nicht. Sie war viel zu wütend dafür.
»Du verdienst eine Ohrfeige, Pia«, sagte sie. »Dafür, dass du einfach so verschwunden bist. Dass du es gewagt hast zu gehen, ohne mich zu fragen und ohne dich zu verabschieden. Was sollte ich denn Benni erzählen, was glaubst du?«
Ich hatte keine Antwort. Sie ließen sie nicht an mich heran, sodass sie mich nicht ohrfeigen konnte. Ein Mann erschien an ihrer Seite und sagte, sie solle sich beruhigen. Ich betrachtete ihn verwundert. Ein unauffälliger Mann, nicht hübsch und nicht hässlich, aber stark, mit dunklen Haaren und ruhigen Augen.
»Das ist Weston«, sagte Ricarda. »Dein Vater.«
Er war ein ernster Mann. Aber er lächelte, und es war kein mühsames Lächeln, das besagte: Oh, noch jemand, für den wir sorgen müssen, sondern ein Lächeln, das mir zurief: Endlich bist du da, Tochter. Untersteh dich, deiner Mutter je wieder solche Angst zu machen.
Es gelang mir, zurückzulächeln, obwohl die Tränen sehr nah waren in jenen Tagen.
Alfred hatte mich untersucht. Mir die Matte in seinem Zelt zugewiesen, als wäre er mein Vater. Niemand durfte mich besuchen. Auch nicht Jeska. Ich hörte sie vor dem Zelt schreien: »Pia! Du bist wieder da? Pia, ich bin hier!«
Ich war zu schwach, um zurückzuschreien. Konnte nur flüstern.
»Ich musste doch wieder zu euch. Nach Hause.«
Alfred hörte es, er nickte. Vielleicht würde er es ihnen mitteilen. Er war vorsichtig, was den Kontakt zu den anderen anging, teilte meine Isolation.
Jeden Tag nahm er mir Blut ab.
Wir brachen das Lager ab und zogen her.
Hier waren wir.
Ich durfte wieder nach draußen, aber immer noch hielt ich mich von allen fern. Nur meine Schwester war nicht von mir fernzuhalten.
Ich folgte Jeska zu Alfreds unterirdischem Waggon und stieg die Leiter hinunter. Sie wartete oben. Alfred war recht eigen, was sein kleines Reich da unten anging.
»Pia.«
»Die bin ich.« Ich wartete.
»Du bist nicht mehr ansteckend. Die Ergebnisse sind endlich eindeutig. Entwarnung.«
Er wartete auf meine Freude, aber ich war wieder einmal stumm. Überwältigt von zu vielen Gefühlen.
»Was noch?«, fragte ich schließlich.
»Ich habe den Erreger isoliert«, sagte er. »Du hast mir Morbus Sechs mitgebracht, Pia. Das ist fantastisch. Es ist noch viel besser als Morbus Fünf. Eine gefährliche Krankheit, die unweigerlich zum Tode führt.«
In seiner Begeisterung erinnerte er mich an meine Lehrerin Venus.
»Aber ich bin nicht gestorben.«
»Du, meine liebe Pia, bist eine Ausnahme.« Er strahlte mich an, als würde er im Glücksstrom schwimmen.
»Und das heißt?«
»In deinem Blut sind Antikörper. Du hast ein bemerkenswertes Immunsystem, meine Liebe. Ich wette, du wirst nicht so schnell krank.«
»In Neustadt gibt es keine Krankheit.«
»Stimmt auch wieder. Aber deshalb sind die meisten dort umso anfälliger. Ihr Immunsystem ist schwach, weil es nicht gefordert wird. Eine Grippewelle, und sie würden alle dahingerafft. Doch du … ich habe deine Gene analysiert, Pia. Deshalb hat es so lange gedauert. Du bist mein Heilmittel. Du bist einzigartig. Du bist eine Mutation. Du bist ein Wunder, Kind!«
»Was? Ich bin was?«
»Aus deinem Blut werde ich ein Heilmittel gegen Morbus Sechs kreieren«, kündigte er an. »Begreifst du, was das heißt? Wir haben eine Waffe gegen die Jäger. Eine Waffe gegen ganz Neustadt. Wenn wir die Besatzung eines Hubschraubers infizieren … nicht auszudenken, oder? Sie werden uns endlich zuhören müssen. Wir können das Morden beenden. Wir können endlich Paulus’ Stadt bauen, eine Stadt für uns, im Wald!«
Ein Schauer lief mir über den Rücken. »Ich bin eine Mutation?«
»Ja«, sagte er. »Die meisten Kinder in Neustadt sind aus dem Labor. Klone. Das habe ich dir schon früher erzählt. Mit diesen eingefrorenen Embryos lassen sie die Vergangenheit fortleben. Aber du bist ein echtes Kind. Du bist die Zukunft. Du bist der neue Mensch.« Er kicherte. »Ein Mensch, der nicht kompatibel ist mit dem Glücksstrom. Deshalb mussten sie dir immer so eine starke Dröhnung verpassen, verstehst du? Weil die Droge bei dir nicht wirkt. Selbst Viren beißen sich an dir die Zähne aus. Du hast ein verändertes Immunsystem. Ein weiterentwickeltes. Oh mein Gott, es ist so unglaublich! So fantastisch!«
Der neue Mensch. Jemand mit einem besseren Immunsystem. Na toll.
»Lucky war auch das Kind seiner Eltern«, sagte ich leise.
»Du hast eben Glück«, sagte er.
Glück. Er ließ das Wort fliegen wie einen Pfeil. Wie einen Vogel, den er frei ließ.
Aber es war noch zu früh für mich, glücklich zu sein.
Ich musste dringend hier raus, an die frische Luft.
»Ich werde eine Waffe schmieden!«, rief Alfred, während ich schon nach oben kletterte. »Wir werden Neustadt das Fürchten lehren!«
Die Zweige flochten ein Netz aus Licht und Schatten. Der Wald empfing mich und beruhigte mein Gemüt. Sieh hin, sagte er. Siehst du? Riechst du? Atmest du? Fühlst du?
Ja, antwortete ich. Ja.
Bereust du es? Bereust du jenen Kuss, der Lucky die Freiheit gab? Er hat es nicht bereut. Er nicht. Du weißt, sagten die klaren Gedanken, dass er damit einverstanden war, noch einmal die Sonne zu sehen. Dass es sich lohnt, für einen Kuss und eine Winternacht im Eis zu sterben. Für ein paar Fieberträume und ein viel zu kurzes Abenteuer. Er war ein Mann, kein Kind mehr, dort auf dem Dach, und dort hat er seine Entscheidung getroffen. Ist es nicht so?
Ja, sagte ich wieder, ich weiß.
Die Sonne spann goldene Fäden zwischen den Tannen, und das Rauschen des Wasserfalls bildete die Hintergrundmusik für Jeskas leisen Gesang.
»Sieben wilde Schwäne flogen in den Himmel. Und ihre weißen Federn stoben durch meinen Traum.« Sie wartete zwischen den Bäumen auf mich. Ihre Lippen waren blau, und sie hüpfte auf und ab, um warm zu werden. »Und, was hat er gesagt?«
»Ich bin gesund«, sagte ich. »So gesund, dass ich nicht einmal einen Schnupfen befürchten muss. Daher werde ich jetzt in diesem eiskalten Teich schwimmen.«
Jeska starrte mich an, als sei ich verrückt geworden. »Dann wirst du zwei Ohrfeigen bekommen«, prophezeite sie. »Eine ist natürlich dafür, dass du mitten im Winter in den Teich springst.«
»Und die andere?«
»Oh, ich fürchte, das ist die, die Ricarda dir noch für dein monatelanges Verschwinden aufgehoben hat«, meinte sie und legte so viel Mitleid in ihre Stimme, wie es ihr möglich war, und das war nicht besonders viel.
Statt einer Antwort zog ich meinen schönen warmen Mantel aus und legte ihn ihr um die Schultern.