28.

Gabriel gefiel die Jacke, die Ricarda nähte. Sie war aus vielen kleinen Stoff- und Fellfetzen zusammengesetzt. Eichhörnchen. Kaninchen. Biber. Weich und warm und so scheckig, dass sie auch im Herbstwald eine gute Tarnung abgeben würde. »Sie ist fantastisch«, sagte er. »Du bist einfach die beste Näherin weit und breit.«

»Pia ist ebenfalls sehr geschickt mit den Händen«, sagte Ricarda. »Sie hat bloß keine Lust.«

Zwei Eichhörnchen tobten über uns durch die Baumwipfel. Ich fing Gabriels Blick auf. Sacht schüttelte er den Kopf.

Nein. Nein, das konnte nicht sein! Sie hatten sich gegen meine Bitte entschieden?

»Gehen wir ein Stück?«, fragte ich rasch, denn vor Ricarda wollte ich nicht mit ihm streiten.

»Einen Moment, junge Dame.« Meine Möchtegern-Mutter hielt mich auf. »Du kannst gerne gehen, Gabriel, wir sind hier fertig.«

Also ging er, und ich blieb.

Ohne Umschweife kam sie zur Sache. »Warum hast du dich mitten in der Nacht mit Gabriel getroffen? Und wohin wollt ihr jetzt? Was ist mit Orion?«

Ich lächelte nur und zuckte mit den Achseln. Sollte sie daraus machen, was sie wollte. Orions Beziehung zu Lumina war bei den Damhirschen immer noch nicht öffentlich bekannt; er hatte keine Lust, sich deswegen mit Paulus auseinanderzusetzen.

»Hör mir gut zu, Pia. Die Jäger töten, wer immer ihnen vor die Mündung gerät, aber sie haben gewisse Vorgaben, an die sie sich halten. Sie könnten uns ausrotten, aber sie halten sich ein wenig zurück. Dafür sollten wir dankbar sein.«

Meine Dankbarkeit hielt sich in Grenzen, was ich jedoch für mich behielt. »Und? Was hat das mit Gabriel zu tun?«

»Eine Zeitlang haben die Jäger sehr viele Mädchen getötet. Vielleicht war es auch immer ein und derselbe Mann … es war wirklich schlimm.« Ihr Blick verlor sich in der Ferne. »Er hat viele junge Frauen vergewaltigt und umgebracht, manche davon noch halbe Kinder. Irgendwann hörte das glücklicherweise wieder auf, doch wir leiden immer noch unter den Folgen. Pia, ist dir denn nicht aufgefallen, wie wenig Mädchen es hier gibt? Du bist fast die Einzige in deinem Alter.«

Ich hatte mich in der Tat schon gewundert, warum es keine Mädchen im Lager gab, mit denen ich mich hätte anfreunden können.

»Alle Jungs, Pia, und alle jungen Männer werden auf die eine oder andere Weise hinter dir her sein. Das mag für dich sehr schmeichelhaft sein, aber … ganz ehrlich, es sagt nicht viel aus. Weder über dich noch über sie. Ich meine es ernst. Achte auf deinen Ruf, oder du wirst Probleme bekommen. Richtige Probleme. Halte dich an Orion, lerne Nein zu sagen. Und um Gottes Willen, geh Gabriel aus dem Weg. Dieser Junge macht nichts als Ärger.« Ich dachte, sie wollte mich schlagen, so wütend starrte sie mich an. »Du darfst jetzt gehen, Pia.«

Lucky. Ich wollte fühlen, wie er lächelte. Wie er den Arm um meine Schultern legte und sagte: Lass sie doch. Sie macht sich Sorgen um dich.

Ach Lucky. Wenn du nur hier wärst. Dann würde ich mich nicht so fühlen – wie in einem finsteren Loch, als wäre mein Herz eine schwarze Sonne, um die ich kreise.

Jeska ließ einen Stein von der Größe eines Schädels neben unser Zelt plumpsen. Unter Aufbietung all ihrer Kraft schob sie ihn so lange hin und her, bis sie endlich zufrieden nickte.

»Was wird das?«, erkundigte ich mich. Nicht, dass es mich wirklich interessiert hätte.

»Ich markiere unser Zuhause.«

»Mit einem Stein?«

»Mit einem Steinhaufen. Es ist wie ein Grab, verstehst du? Wenn ich an diesen Platz zurückdenke, dann weiß ich, hier ist mein Zuhause begraben.«

»Wir waren an diesem See … vielleicht drei Monate? Das nennst du Zuhause?«

»Na und?«, fuhr sie mich wütend an. Heute war Jeska nicht fröhlich. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, wie es war, ein Nomadenleben zu führen. Nirgendwo länger als ein paar Wochen, höchstens ein paar Monate zu bleiben. »Du bist ja bloß zu Besuch!«

»Bin ich nicht.« Das war eine glatte Lüge. Denn ich wohnte dort, wo Lucky war. Vielleicht war ein Teil von mir längst bei ihm und hatte das hier zurückgelassen: einen schlafwandelnden Körper, der in einem Unglücksstrom ertrank.

»Bist du wohl! Ich weiß, dass du zurück nach Neustadt willst. Nach Hause. Aber das hier, das ist mein Zuhause! Der Platz unter diesem Baum. Es ist ein schöner Baum, ein ganz besonderer.« Sie klopfte gegen die knorrige Rinde. »Man kann fantastisch auf ihm herumklettern. Und ein Specht wohnt oben. Das gibt es nicht immer. Und der See.« Sie schrie mir jedes Wort entgegen. »Der See! Jetzt ziehen wir bloß an den Weißen Bach.«

Die Wilden waren Nomaden, natürlich hatte dieser Zeitpunkt kommen müssen. Sie wanderten weiter, noch weiter weg. Wenn die Schnur, die zwischen Lucky und mir gespannt war, noch straffer gedehnt wurde, was passierte dann? Würde sie zerreißen? Würde ich einfach kaputtgehen, und die anderen würden sich wundern, warum ich umfiel und starb? Hoffentlich fühlte Gabriel sich wenigstens schuldig. Mit wem hatte er sich überhaupt beraten? Ob Orion dabei gewesen war? Hatte ich etwa Orion das Ende meiner Hoffnung zu verdanken?

»Ach, du verstehst gar nichts.« Wütend stapfte sie davon, nur um wenig später mit einem neuen Stein zurückzukommen. Sie holte das Material für ihr Bauwerk aus der Uferzone. Ihre Beine waren schlammbedeckt und die Arme zerschnitten vom Schilf, aber sie hörte nicht auf, einen Stein nach dem anderen anzuschleppen. Manche waren so groß, dass sie sie nicht tragen konnte, sondern sie mühsam die Anhöhe hinaufrollen musste. Und jedes Mal, wenn sie angekommen war, sagte sie etwas darüber, wie schön es an diesem Lagerplatz war.

»Haselnüsse, die einem fast in den Schoß fallen.«

»Gänsebraten.«

»Fisch.«

»Wie die Sonne hier untergeht.«

Als wenn sie woanders nicht untergehen würde!

Wahrscheinlich wollte sie, dass ich ihr half, aber ich hatte nicht vor, mit solch einem Blödsinn meine Kraft zu verschwenden. Wir würden morgen lange marschieren müssen. Paulus, Helm und ein paar andere waren bereits vorausgegangen, um das neue Lager vorzubereiten und den Weg abzusichern, und unter Jakobs Leitung sollten wir ihnen folgen, sobald die Zelte abgebaut waren.

»Holst du mir den Korb mit den warmen Jacken?«, fragte Ricarda, die vor dem Zelt saß und nähte. »Ich habe noch Jeskas Mantel vom letzten Winter behalten, obwohl ihr die Ärmel viel zu kurz sind. Ich dachte, ich könnte ihn für Benni umarbeiten, aber dir könnte er genau passen. Allerdings fehlen ein paar Knöpfe. Es wird bald dunkel, ich möchte den letzten Rest Licht ausnutzen.«

Natürlich, denn das kalte Licht der Solarlampe eignete sich nicht gut für Handarbeiten. Nichts eignete sich wirklich gut für irgendetwas. Würde ich tatsächlich den Winter in der Wildnis verbringen, frierend in einem Zelt? Mir schauderte bei dem Gedanken. Meine Sehnsucht nach Lucky war wie eine Wunde, von der man immerzu den Schorf abriss, sodass sie nie wirklich heilen konnte. Ich wartete darauf, dass Ricarda etwas hinzufügen würde, einen Satz wie: »Hoffentlich bist du dann noch da«, aber sie schien es für selbstverständlich zu halten, dass ich dann noch bei ihnen war.

»Na, wenn du meinst«, murmelte ich. Auch nach meiner richtigen Mutter sehnte ich mich. Nach meinem Vater. Nach unserer Wohnung und meinem Zimmer und meinem Leben.

Ich kroch ins Zelt. Benni saß da und spielte mit seinen Stöckchen. Er sah nicht einmal auf.

»Weißt du, wo der Mantel ist? Jeskas Mantel?«

Ich öffnete den Korb mit den Kleidern. Wie blödsinnig, alle diese Sachen mitzuschleppen, von einem Ort zum anderen! Jeden Knopf, jedes abgewetzte Stück Stoff. Immer auf der Flucht vor den Jägern. Wie konnten sie so leben? Ich jedenfalls konnte es nicht. Der Streit darüber, ob man sich gegen die Mörder wehren durfte oder nicht, kam mir völlig unsinnig vor. Paulus und Alfred und ihr heimlicher Krieg gegeneinander! Ging es überhaupt um die Regs? Oder ging es beiden nur um Gabriel? Benni wisperte etwas Unverständliches. Seine Augen wurden groß und rund. Da erst begriff ich, was ich hörte.

Das Wapp-wapp-wapp eines Hubschraubers.

Unwillkürlich duckte ich mich, obwohl mich im Zelt sowieso niemand sehen konnte. Mein Mund war trocken, als ich wieder nach draußen kroch.

Ricarda nähte nicht mehr. Auch sie saß völlig still, das Gesicht von Entsetzen verzerrt. Zum Glück hatten wir die Netze noch nicht abgenommen. Ziemlich unwahrscheinlich, dass die Regs uns von oben gesehen hatten. Oder?

»Sie gehen dort hinten runter, ungefähr ein, zwei Kilometer entfernt.« Jakob und Gabriel eilten durchs Lager, hinter sich Orion, Lumina und ein paar andere. Rasch versammelten sich die Leute, jeder hatte den Hubschrauber gehört.

»Versteckt euch«, gebot Gabriel. »Haltet die Kinder ruhig. Wir werden Wachen rund ums Lager aufstellen, und ich werde versuchen, sie in die falsche Richtung zu locken.« Die beiden Männer übernahmen das Kommando mit einer Selbstverständlichkeit, die niemanden zu überraschen schien. Sie wirkten wie ein eingespieltes Team. Während Jakob die Leute zusammenrief, teilte Gabriel sie ein. Ein älterer Mann mit vor Furcht schneeweißem Gesicht meldete sich freiwillig, beim Legen der falschen Spur dabei zu sein, und während ich mich noch fragte, wie er kämpfen wollte, ob er überhaupt schnell genug laufen konnte, wurde mir plötzlich bewusst, warum es so wenig Alte gab.

Schweigen herrschte im Lager, als die Ausgewählten davongingen, in die Ungewissheit. Ich versuchte nicht darüber nachzudenken, dass nicht alle zurückkommen würden. Orion wechselte einen Blick mit mir, der voller Zuversicht war.

Ich konnte nicht einmal nicken, ihm kein Lächeln schenken. Er war so wunderbar, so schön mit den dunklen Haaren, dem grimmigen Blick, der das aufmunternde Lächeln Lügen strafte. Mit den anderen zog er los, um zu töten oder zu sterben.

Was würde ich tun, wenn er nicht zurückkam? Wenn er derjenige war, den die Jäger erwischten?

»Wo ist Jeska?«, fragte Ricarda, sie packte mich grob an der Schulter. »Wo ist sie?«

»Am See«, antwortete ich.

»Oh Gott.« Sie sah sich hastig um. »Räum meine Sachen ins Zelt. Benni wird still sein, sie dürfen bloß das Zelt nicht sehen!«

»Ja«, sagte ich. »Ich kümmere mich darum.«

Ricarda rannte davon, in Richtung der Uferzone, und ich bückte mich und sammelte in fliegender Eile alles zusammen und häufte Nähzeug, Lampe und Mäntel auf die Matten. Benni hatte sich wieder beruhigt. Lautlos murmelte er vor sich hin. Ich sollte wahrscheinlich bei ihm bleiben, aber ich fand es unerträglich, nicht mitzubekommen, was draußen vor sich ging. Wenn jemand kam, ein Jäger … Wie damals im Gebüsch, als ich mich mit Gabriel verkrochen hatte, in meiner ersten Nacht bei der Gruppe, hatte ich die Augen aufmachen müssen, hatte ich alles sehen müssen, statt mich abzuwenden.

Mit klopfendem Herzen stand ich vor dem Zelt, ging rückwärts ein paar Schritte fort und versuchte zu erraten, ob jemand es bemerken würde. Das Netz war gut mit Blättern bestückt. Auch von den anderen Zelten war von hier aus nichts zu erkennen. Mir fiel auf, wie still es war. Wo hatten sich bloß die anderen versteckt? Wenn ich da hinten ins Gebüsch kroch, würde ich jemand anders aufstören?

Ein Schauer lief mir über die Haut, als mir bewusst wurde, dass ich als Einzige noch herumstand, eine leichte Beute und überdies der Beweis dafür, dass Menschen hier lebten.

Ich musste sofort verschwinden, aber wohin? Mit Macht drängte ich die Tränen zurück. Der Baum. Natürlich! Jeska hatte mir vorhin noch gesagt, dass er sich gut zum Klettern eignete.

Es war gerade hell genug, um die Astgabel zu erkennen, in die ich meinen Fuß setzen musste. Von dort aus erklomm ich den nächsten Ast und zog mich höher hinauf. Schließlich saß ich auf einem breiten Ast, nicht sehr hoch, obwohl mir vier oder fünf Meter schon recht weit weg vom Erdboden vorkamen. Direkt vor mir war eins der größeren Netze befestigt, die den Blick von oben auf das Lager unmöglich machen sollten.

Ich machte es mir einigermaßen bequem und lauschte dann in die Dunkelheit hinaus. Alles schien ruhig. Der Wald machte immer Geräusche, Mäuse fiepten, Nachtvögel flatterten, es knackte, es raschelte … Kein Grund zur Sorge, sagte ich mir, und doch fuhr mir jeder Laut mitten durchs Herz. Ich versuchte gleichmäßig zu atmen. Alles in Ordnung. Gabriels Freunde werden nicht zulassen, dass die Jäger ins Lager kommen. Sie werden nicht …

Ich erstarrte, als ich einen hellen Schein unter mir wahrnahm. Unser Zelt. In unserem Zelt war Licht. Die Solarlampe! Ich hatte sie mit den anderen Sachen auf die Matten geworfen, hatte nicht daran gedacht, dass sie leuchten würde. Mit zunehmender Dunkelheit wurde sie immer heller, so hell, dass sie Bennis Schatten an die Zeltwand warf. Er saß immer noch da und spielte ruhig mit seinen Stöckchen. Von hier oben konnte ich zuschauen, wie er seine Hände bewegte.

Es half nichts, ich musste vom Baum herunter und die Lampe ausschalten, auch wenn ich in der Dunkelheit des nächtlichen Waldes kaum wieder hinaufkommen würde. Oh, verdammtes Frühlingswetter! Wie hatte ich nur so blöd sein können!

Ich hangelte gerade nach dem Ast unter mir, als ich den Schatten auf dem Platz vor dem Zelt bemerkte, fast direkt unter mir. Eine Gestalt. Einen Moment lang hoffte ich, hoffte ich, tat nichts anderes als mir wünschen, dass es einer unserer Leute war. Einer von Gabriels Kämpfern, der zurückgekommen war, um Entwarnung zu geben. Oder einer derer, die hiergeblieben waren, jemand, der wie ich noch kein Versteck gefunden hatte. Ich würde ihm zurufen, er solle die Lampe ausschalten, und konnte oben in der Astgabel bleiben. Aber während ich mir das noch wünschte, wusste ich schon, dass es einer von den Regs war. Ich konnte es spüren, ich witterte es. Mein Körper wusste es, so wie das Wild in den Wäldern es weiß, ob der Mensch vor ihm ein Jäger ist oder ein harmloser Wanderer.

Ein Mann. Reglos betrachtete er das Schattentheater, das sich ihm bot. Das Gewehr trug er nicht über der Schulter, sondern schussbereit in beiden Händen. Ein leichteres Ziel gab es nicht, als Benni hinter der Zeltwand.

In diesem Moment übernahmen die klaren Gedanken. Meine Angst schrie um Hilfe. Meine Angst lähmte mich, sie war wie ein Sturm in meinem Kopf, der alle Vernunft durcheinanderwirbelte. Aber auf meine klaren Gedanken war Verlass. Ich schob die Gefühle zur Seite, eine Sache von weniger als einer Sekunde. Meine Gedanken waren schnell, vielleicht schneller als das Licht, denn während der Jäger seine Waffe in Position brachte, auf die Schattengestalt des kleinen Jungen im Zelt zielte, überschlug ich die Möglichkeiten. Ich konnte rufen, ihn ablenken, sodass er sich mir zuwenden würde. Dann würde er mich erschießen und anschließend Benni, damit war nichts gewonnen. Nein, ich musste ihn überrumpeln, aber ich war hier oben auf dem Baum, unmöglich konnte ich so schnell herunterklettern, noch dazu lautlos, und überdies hatte ich keine Waffe. Wie tötete man einen Menschen? Ich wusste es nicht. Ich hatte immer angenommen, dass es schwer sein würde, aber in diesem Moment wurde mir klar, dass es ganz leicht war. Man musste nur Schritt für Schritt tun, was nötig war. Und ein bisschen Glück gehörte auch dazu.

Ich packte das Netz mit beiden Händen und sprang vom Ast.

Die Verankerungen rissen, während ich fiel. In einem Sturm aus Zweigen und Blättern flog ich durch die Luft, in die Tiefe, doch wie erwartet stürzte ich nicht senkrecht nach unten. Das Netz war auch am gegenüberliegenden Baum befestigt, und so flog ich einen Bogen, erwischte den Mann mit meinem ganzen Gewicht in die Seite und fiel über ihn. Wir landeten mitten in Jeskas Steinhaufen. Der Schuss löste sich und zerriss die Stille mit einem ohrenbetäubenden Knall. Der Jäger hatte keine Zeit zu schreien. Sein Körper hatte den Aufprall für mich abgemildert, während er mit voller Wucht in die Steine geschleudert wurde. Immer noch hatten die klaren Gedanken die Oberhand. Ich war wie ein Soldat, weder Schmerz noch Angst zählten. Während ich noch auf ihm lag, in der winzigen Zeitspanne zwischen Schrecken und Begreifen, fingerte ich nach einem Stein und schmetterte ihn auf seinen Kopf. Ich schlug mit aller Kraft zu. Immer wieder. In diesem Moment hatte ich keine Gefühle. Es gab nichts in mir, weder Entsetzen noch Leidenschaft, weder Hass noch Liebe. Ich ließ der Liebe für diesen kleinen Jungen im Zelt keinen Raum, ich tat, als gäbe es sie nicht. Liebe oder Verantwortung oder meine Dummheit. Warum ich tat, was ich tat, musste warten.

Nur schnell sein. Nur entschlossen sein.

Wie viele Schläge waren nötig, um zu töten? Ich wusste es nicht, wusste nicht, ob er bereits tot war, als er sich nicht mehr bewegte. Ich musste sicher sein, ganz sicher. Doch schließlich konnte ich meine Arme kaum noch heben, und mir wurde bewusst, wie schwer der Stein war.

Da fiel mir der Schuss ein. Wenn noch mehr Jäger in der Nähe waren, hatten sie ihn gehört. Sie würden kommen. Ihren Freund finden. Und das Zelt. Selbst wenn ich das Licht löschte, würden sie das Zelt finden.

Ich nahm das Gewehr an mich und kroch unter die Netze. Benni beachtete mich nicht, wie immer. Da lag die Lampe, auf Ricardas Schlafstelle. Ich legte eine Decke darüber, und Dunkelheit umfing uns.

»Benni?«, flüsterte ich. »Ich muss dich nach draußen tragen. Ist das okay?«

Natürlich antwortete er nicht. Ich hängte das Gewehr über meine Schulter und griff nach ihm. Legte seine dünnen Ärmchen um meinen Hals, und er hielt sich tatsächlich daran fest. Das war fast mehr, als ich zu hoffen gewagt hatte. Gebückt schlich ich hinaus. Lauschte. Dann ging ich einfach weiter, nur weg von dem Zelt, weg von dem Steinhaufen. Ich kannte mittlerweile jeden Strauch, jeden Baum. Meine Füße fanden die kleine Senke unter dem Haselnusssbusch. Ich kauerte mich hinein, zog Benni dicht an mich. Mein Herz klopfte schneller. Das ist bloß die Anstrengung, sagten meine klaren Gedanken. Konzentrier dich.

Ich hielt Benni fest auf meinem Schoß, während ich in die Nacht hineinlauschte, auf die Schritte von weiteren Jägern. Jetzt hätte ich ein Nachtsichtgerät gebraucht. Nicht alle Regs benutzten eins – wenn ich noch einmal Glück hatte, würden die Jäger, die der Schuss angelockt hatte, keins haben. Wenn ich wirklich Glück hatte, würde keiner der Mörder aus Neustadt hier auftauchen.

Ich horchte so angestrengt, dass ich das Blut in meinen Ohren rauschen hörte, dass mein Herzschlag wie das Ticken einer Uhr klang. Zeitmesser.

Ich musste bereit sein, die Waffe, die ich besaß, zu benutzen.

»Wir spielen ein Spiel«, flüsterte ich in Bennis Ohr. »Verstecken. Wir verstecken uns vor Jeska, ja? Sie darf uns nicht finden. Das wird lustig.«

Er gab kein Geräusch von sich, als ich seine Arme von meinem Hals löste und ihn unter den Haselnussstrauch legte. Ganz dicht hinter mich. Dann nahm ich das Gewehr in beide Hände, stützte es auf meinen Knien ab und zielte in die Dunkelheit.

Einen Schuss hatte der Jäger abgegeben. Das hieß, ich hatte noch sieben Schuss, bevor ich wehrlos war. Sieben. Ich konnte sieben Jäger erschießen. Wie viele passten überhaupt in einen Hubschrauber? Meine Gedanken in mir lachten grimmig. Keiner der Waldleute erschießt acht Jäger in einer Nacht, sagten sie. Na und? Dann bin ich eben die Erste. Ich kann keine sieben Mal von einem Baum herunterspringen, aber schießen kann ich. Jakob hat es mir gezeigt, weißt du noch?

Deine Hände müssen aufhören zu zittern. Sie müssen die Waffe fühlen. Ihr Gewicht. Es ist alles, wie es sein sollte. Deine Hände müssen jetzt ruhig sein.

Ja, stimmte ich zu. Das müssen sie wohl. Es ist kalt.

Du meinst, dir ist kalt. Du musst einfach damit aufhören, dass dir kalt ist.

Also hörte ich damit auf. Ich wartete. Benni atmete leise hinter meinem Rücken.

Das leise Knistern von Schritten. Mäuse? Waldmarder und Dachse? Bitte, Gott, lass es ein Dachs sein.

Es war kein Dachs.

»Ich sehe dich«, sagte eine Stimme vor mir. Höchstens ein paar Meter entfernt. »Ich sehe alles.« Eine Stimme, freundlich, kultiviert, erfüllt von Heiterkeit und Ironie. Die Stimme einer Frau. Eine Ministerin vielleicht, der Stimme nach zu urteilen, die voller Macht war. Mindestens eine Regierungssekretärin.

»Steh auf, Mädchen. Komm aus dem Gebüsch. Der Kleine auch.«

Also hatte sie ein Nachtsichtgerät. Sah mich. Und Benni. Aber das Gewehr sah sie vielleicht nicht, mein Knie befand sich unterhalb der Kante in der Senke.

Ich richtete mich auf. Und schoss blind in die Richtung ihrer Stimme. Mit dem Rückschlag, der mich fast umwarf, hatte ich nicht gerechnet. Aber schon fing ich mich wieder. Schoss einmal, zweimal, dreimal. Ich vergab alle sieben Schüsse, ohne dass meine Hände auch nur zitterten. Und dann stand ich da, den Achter hielt ich fest, um notfalls damit zuzuschlagen.

Aus der Dunkelheit kam nichts. Meine Ohren dröhnten. Verzweifelt versuchte ich zu lauschen. Aber da war nur das Rauschen in meinem Kopf, kein anderes Geräusch, kein Stöhnen einer Verletzten, kein Lachen darüber, dass ich danebengetroffen hatte. Vielleicht stand sie genau vor mir und beobachtete mich und lachte sich halbtot darüber, wie ich versuchte zu enträtseln, ob ich es geschafft hatte oder nicht.

Ich wartete.

Vielleicht wartete sie auch.

Meine klaren Gedanken versuchten, ein letztes Mal Einfluss auf mich zu nehmen.

Geh hin, befahlen sie. Sieh nach. Wenn sie tot ist, schnapp dir ihr Gewehr. Dann hast du wieder eine Waffe.

Aber ich konnte nicht. Ich rührte mich nicht von der Stelle, bis meine Beine so stark wackelten, dass ich mich hinsetzen musste, um nicht umzufallen. Zitternd legte ich den nutzlosen Achter zur Seite und nahm Benni in die Arme. Er hatte nicht geschrien, nicht einmal, als die Schüsse fielen.

»Das war nichts Schlimmes«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Es hat sich so angehört, klar, aber in Wirklichkeit waren das Kastanien, die im Feuer geplatzt sind. Riesenkastanien, was? Die werden bestimmt super schmecken.«

Er nickte, das Gesicht in meiner Armbeuge vergraben. Gemeinsam kuschelten wir uns unter den Strauch, bis uns die Nacht und die Träume und die Nachbeben der Angst verschluckten.

Ich erwachte von den Stimmen und der Kälte. Die Stimmen schrien und riefen durcheinander. Die Kälte war leise, subtil, sie fraß sich durch die Kleider und berührte meine Haut mit Frostfingern. Das Erste, woran ich dachte, als ich zitternd die Augen aufschlug, war der Mantel, den Ricarda mir versprochen hatte. Das einzig Warme war das Kind in meinen Armen, das dicht an mich gedrängt schlief.

Meine Hände waren dunkel und klebrig. Ich wollte mich aufrichten, aber Benni war zu schwer, es war mir unmöglich, mit ihm zusammen aufzustehen. Erst musste ich ihn vorsichtig von mir herunterrollen, dann schaffte ich es irgendwie, mich aufzurappeln und unter dem Gebüsch hervorzukriechen. Ich war schon halb draußen, da fiel mir ein, dass ich möglicherweise einen Fehler machte. Dass vielleicht die Jäger noch hier waren, und vielleicht waren alle, die ich kannte, tot, und ich würde den Feinden direkt in die Arme laufen.

Vorsichtig torkelte ich zum nächsten Baumstamm und hielt mich daran fest. Meine Beine ließen sich kaum bewegen. Irgendwann während der vergangenen Nacht musste ich mir den Kopf angeschlagen haben, denn ich fühlte eine gewaltige Beule an meiner Stirn, nur bei der Berührung mit den Fingerspitzen sah ich Sterne.

Die Stimmen verursachten mir Kopfschmerzen.

Ich stolperte weiter.

Da waren Menschen. Keine Jäger, nein, richtige Menschen. Sie waren dabei, die Zelte abzubauen, die Netze abzunehmen. Stimmt, heute war der Tag, an dem wir weiterziehen wollten. Da war auch unser Zelt. Jeska und Ricarda legten es gerade zusammen, da standen schon die Körbe mit unseren Sachen, die groben Säcke mit unseren Habseligkeiten, die langen Stangen, mit denen wir alles transportieren würden.

»Da ist Pia«, sagte jemand, und Jeska ließ alles fallen und rannte auf mich zu.

»Pia! Du bist da! Oh Pia, ich bin so froh!«, jubelte sie. Sie ignorierte meine blutigen Hände, sie ignorierte, was auch immer mit mir und meinem schmerzenden Körper nicht stimmte. Sie fragte nicht einmal, ob ich verletzt war.

Ich gab ihr recht; das war im Moment ziemlich egal.

Auch Ricarda drehte sich nach mir um. Ihr Gesicht war anders. Weiß. Aus irgendeinem Grund hatte sie über Nacht ein neues Gesicht bekommen.

Ohne ein Wort, ohne ein Lächeln kam sie auf mich zu. Sie streckte nicht einmal die Hände nach mir aus. Jeska zog mich zu ihr hin, Jeska strahlte, aber Ricarda stand bloß da wie ein Geist.

»Benni war nicht im Zelt«, flüsterte sie schließlich, mit einer Stimme, die sich nicht wie eine Stimme anhörte.

»Oh«, sagte ich, »Benni schläft da hinten unter dem Haselnussstrauch. Ich musste ihn mitnehmen, weil doch der Jäger unser Zelt gefunden hatte.«

Ein Ruck ging durch Ricardas Körper. »Er lebt? Du hast ihn mitgenommen?«

»Ich zeig dir, wo das ist!«, rief Jeska eifrig, nahm ihre Mutter bei der Hand und zog sie mit sich. »Komm, ich zeig’s dir.«

Sie rannten an mir vorbei. Ich hörte, wie Ricarda aufschrie. »Benni! Benni!« Ihr Schluchzen und Heulen nahm eine Lautstärke an, die mich fast umwarf. Dann kamen sie zu dritt wieder, Ricarda trieb die beiden Kinder vor sich her, auf mich zu, und dann ließ sie Jeska und Benni los und umarmte mich. »Danke«, weinte sie. »Du hast auf ihn aufgepasst, Pia. Mein liebes Kind. Oh danke. Oh großer Gott, oh verflucht. Danke, danke. Komm her, Jeska. Komm, Benni.« Sie breitete die Arme aus und presste uns alle drei an ihre Brust, wobei sie wieder losheulte. Der Kleine machte sich steif und ließ alles wie immer über sich ergehen. Jeska lächelte unter Tränen. Ich nicht. Ich weigerte mich, zu weinen. Ich weigerte mich, zu denken. Über Ricardas Schulter hinweg sah ich den Steinhaufen und das Blut darauf, und unter einem länglichen Hügel, von einer Plane verdeckt, ragten Füße hervor. Vier Füße, zwei große und zwei kleinere.

Meine Knie gaben unter mir nach. Ich konnte nicht fallen, dazu hielten mich Jeska und Ricarda zu fest. Ich konnte ihrer Umarmung nicht entkommen. Ich konnte dieser Nacht nicht entkommen, nichts von dem, was ich getan hatte. Auch meinen Gefühlen konnte ich nicht länger entfliehen. Die klaren Gedanken verflüchtigten sich, sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Dann waren nur noch Gefühle da. Ich wollte ihnen keinen Namen geben. Es waren zu viele. Sie waren zu stark für mich. Eine Woge, die mich unter sich begrub. Ein Steinhaufen, der auf mich herabprasselte. Ein Feuer, in dem ich verglühte.

Es war zu viel. Ich wollte das nicht. Ich wollte nichts mehr fühlen. Ich wollte nach Hause, zurück in meine Wolke, zurück zu meiner eigenen Mutter mit ihren Bildern, meinem Vater, der am Frühstückstisch in seinem Ersatzkaffee rührte. Zurück zu Moon, die mich einen Tollpatsch schalt, zu Lucky, in dessen Umarmung ich verschwinden wollte. Das war der einzige Ort, an den ich jetzt noch fliehen konnte. Vor mir. Vor dieser Nacht. Vor Ricardas Tränen und Jeskas Lachen und vor Benni, dessen mageren Körper ich immer noch in meinen Armen spürte. Vor diesen Bildern, die mich von heute an verfolgen würden. Vor vier Füßen unter einer Plane.