Kapitel 11
Am Morgen sieht alles schon viel besser aus. Als er Jillian von seinem Fenster aus beobachtete, erinnerte sich Grimm an Quinns Worte und stimmte aus vollem Herzen zu. Wie dumm war es gewesen anzunehmen, dass sie ihnen nicht folgen würde!
Während er sie voller Verlangen aus dem sicheren Versteck seines Zimmers betrachtete, musste er eingestehen, dass sie atemberaubend schön war: bekleidet mit einem bernsteinfarbenen Samtumhang, die Wangen gerötet und mit funkelnden Augen. Ihr blondes Haar fiel ihr über die Schultern und warf die Sonne zum Himmel zurück. Es hatte aufgehört zu regnen - wahrscheinlich nur wegen ihr, brodelte es in ihm -, und sie stand in einem Schwall von Sonnenlicht, das von Osten her über das Dach strahlte und anzeigte, dass es kurz vor Mittag war. Er hatte geschlafen wie ein Toter, aber das tat er immer, wenn er der Berserkerwut erlegen war, gleichgültig, wie lange sie angedauert hatte.
Er sah durch das enge Flügelfenster und rieb das Glas, bis es ihm einen klaren Blick gestattete. Während Hatchard ihre Taschen nahm, hakte sich Jillian munter plaudernd bei Kaley unter. Als Quinn einige Augenblicke später unten auf der Straße auftauchte, galant beiden Damen seinen Arm reichte und sie zum Gasthaus geleitete, seufzte Grimm schwer.
Ewig galanter, ewig goldener Quinn.
Grimm murmelte einen leisen Fluch und ging Occam füttern, bevor er sich um sein eigenes Frühstück Gedanken machte.
Jillian stieg die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, blickte sich um, um sicherzugehen, dass sie allein war, und ging dann verstohlen über die Hintertreppe wieder nach unten, wobei sie die Falten ihres Umhangs glatt strich. Sie biss sich auf die Lippe und betrat den kleinen Hinterhof. Er war dort, genau wie sie vermutet hatte, gab Occam eine Hand voll Getreide zu fressen und murmelte leise Worte. Jillian hielt inne und ge- noss seinen Anblick. Er war groß und kräftig, sein dunkles Haar kräuselte sich im Wind. Sein Plaid war unanständig tief geschlungen und lag in sinnlicher Anstößigkeit auf seinen schmalen Hüften. Sie konnte ein kleines Stück seines Rückens sehen, wo sein Hemd offensichtlich allzu hastig eingesteckt worden war. Ihre Finger zuckten, seine olivfarbene Haut zu berühren. Als er sich hinkniete, um eine Bürste aufzuheben, spannten sich die Muskeln in seinen Beinen, und trotz ihres Schwures, keinen Laut von sich zu geben, entfuhr ihr ein Atemzug reinen Verlangens.
Natürlich hörte er sie. Sie tarnte sich unverzüglich mit Gleichgültigkeit und plapperte los, um einer möglichen verbalen Attacke zu entgehen. »Warum bindest du Occam nie an?«, fragte sie unbekümmert.
Grimm gönnte sich einen kurzen Blick über die Schulter, dann begann er, die geschmeidige Flanke des Pferdes zu bürsten. »Er war einmal in einem Stallbrand gefangen.«
»Es ist ihm anscheinend nichts passiert.« Jillian überquerte den Hof und betrachtete den Hengst. »War er verletzt?« Das
Pferd war prachtvoll, viel größer als die meisten anderen und von einem glänzenden, ungezeichneten Schiefergrau.
Grimm hörte auf zu bürsten. »Du hörst nie auf mit deiner Fragerei, oder? Und was tust du hier überhaupt? Konntest du nicht einmal ein liebes Mädchen sein und auf Caithness auf uns warten? Nein, ich vergaß, Jillian hasst es, zurückgelassen zu werden«, sagte er höhnisch.
»Also, wer hat ihn gerettet?« Jillian war entschlossen, ihm nicht auf den Leim zu gehen.
Grimm wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Pferd zu. »Ich.« Es gab eine Pause, die nur von dem Geräusch der Borsten auf der Pferdehaut erfüllt war. Als er erneut sprach, sprudelte ein kleiner Wortschwall aus ihm hervor: »Hast du je ein Pferd schreien gehört, Jillian? Es ist eins der grausigsten Geräusche, die ich je vernommen habe. Es durchfährt dich so fürchterlich grausam wie der Schmerzensschrei eines unschuldigen Kindes. Ich glaube, es ist immer das Unschuldige gewesen, das mich angerührt hat.«
Jillian überlegte, wann er diese Schreie wohl vernommen hatte, und hätte ihn gern gefragt, zögerte aber, in seinen Wunden zu bohren. Also hielt sie den Mund und hoffte, er möge fortfahren.
Er tat es nicht. Leise von dem Hengst zurücktretend machte er eine schnelle Handbewegung, begleitet von einem Zungenschnalzen. Mit größtem Erstaunen sah Jillian, wie der Hengst auf die Knie sank und sich dann mit einem leichten Wiehern schwerfällig auf die Seite legte. Grimm kniete neben dem Pferd nieder und winkte sie näher.
Sie ging neben Grimm auf die Knie. »Oh, armer, braver Occam«, flüsterte sie. Die gesamte Unterseite des Pferdes war grob vernarbt. Sanft ließ sie ihre Finger über die dicke Haut gleiten und ihre Augenbrauen zogen sich mitfühlend zusammen.
»Er war so übel verbrannt, dass man dachte, er würde es nicht überleben«, erzählte ihr Grimm. »Sie hatten vor, ihn zu töten, also habe ich ihn gekauft. Er war nicht nur verletzt, er war auch noch Monate später völlig verstört. Kannst du dir die Qual vorstellen, in einer brennenden Scheune in der Falle zu sitzen, eingesperrt? Occam konnte schneller rennen als das leichtfüßigste Pferd, er hätte die Feuersbrunst meilenweit hinter sich lassen können, doch er war gefangen in einer von Menschen gemachten Hölle. Seitdem habe ich ihn nie mehr eingesperrt.«
Jillian schluckte und sah Grimm an. Sein Ausdruck war verbittert. »Du hörst dich an, als ob du selbst in einige von Menschen gemachte Höllen geraten wärst, Grimm Roderick«, bemerkte Jillian leise.
Sein Blick verhöhnte sie. »Was weißt du schon darüber?«
»Eine Frau lebt den größten Teil ihres Lebens in einer von Männern gemachten Welt«, antwortete Jillian. »Erst in der Welt ihres Vaters, dann in der ihres Gatten und schließlich in der ihres Sohnes, durch dessen Gnade sie dann in seinem Haushalt ihr Dasein fristen kann, sollte ihr Gatte vor ihr sterben. Und in Schottland scheinen die Ehemänner grundsätzlich in dem einen oder anderen Krieg vor ihren Frauen zu sterben. Und manchmal ist es Schrecken genug für jede Frau, einfach nur die Höllen zu beobachten, die Männer sich gegenseitig bereiten. Wir empfinden Dinge anders als ihr Männer.« Unwillkürlich legte sie ihre Hand an seine Lippen, als er anhob zu sprechen. »Nein. Sage nichts. Ich weiß, dass du glaubst, dass ich wenig Sorgen oder Schmerz kenne, aber ich hatte meinen Teil. Es gibt Dinge, die du von mir nicht weißt, Grimm Roderick. Und vergiss nicht die Schlacht, die ich gesehen habe, als ich klein war.« Ihre Augen weiteten sich ungläubig, als Grimm zärtlich ihre Fingerspitzen küsste, die an seinen Lippen lagen.
»Touche, Jillian«, flüsterte er. Er nahm ihre Hand und legte sie behutsam in ihren Schoß. Jillian blieb regungslos sitzen, als er seine Hand schützend darüber legte.
»Wenn ich ein Mann wäre, der an Sternenwünsche glaubt, wünschte ich mir bei jedem einzelnen, dass Jillian St. Clair niemals den kleinsten Funken irgendeiner Hölle zu Gesicht bekommen soll. Für Jillians Augen sollte es nur Himmel geben.«
Jillian blieb völlig still, verbarg ihr Erstaunen und frohlockte über das Gefühl seiner starken, warmen Hand, die ihre umfasste. Bei allen Heiligen, sie würde den ganzen Weg nach England durch die Grausamkeiten eines wütenden Grenzkrieges reiten, wenn am Ende ihrer Reise das auf sie wartete. Sie stellte sich vor, ihr Körper würde dort, wo sie kniete, Wurzeln schlagen. Um weiterhin von ihm berührt zu werden, würde sie freiwillig in dem kleinen Hinterhof alt werden und Wind und Regen, Hagel und Schnee sorglos ertragen. Wie gefangen von dem Schimmer des Zauderns in seinem Blick hob sie den Kopf, und er schien sich nach vorne und hinunter zu bewegen, als habe er, durch einen zufälligen Windhauch angestoßen, eine unerwartete und glückliche Entdeckung gemacht.
Seine Lippen waren einen Atemzug von ihren entfernt und sie wartete mit rasendem Herzen.
»Jillian! Jillian, bist du da draußen?«
Jillian schloss die Augen und wünschte den Besitzer der aufdringlichen Stimme in die Hölle und noch weiter. Sie spürte die leichte Berührung von Grimms Lippen auf ihren, als er sie schnell, zart küsste, doch das war nicht das, was sie sich erhofft hatte. Sie wollte, dass seine Lippen sich auf ihre pressten, sie wollte seine Zunge in ihrem Mund und seinen Atem in ihren Lungen, sie wollte alles, was er zu geben hatte.
»Es ist Ramsay«, sagte Grimm. »Er kommt. Komm hoch von den Knien, Mädchen. Sofort.«
Jillian rappelte sich hoch und trat zurück. Verzweifelt versuchte sie, Grimms Gesicht zu sehen, doch sein dunkler Kopf war nach vorn gesunken zu der Stelle, wo ihrer noch vor einem Augenblick gewesen war. »Grimm«, flüsterte sie eindringlich. Sie wollte, dass er den Kopf hob; sie musste seine Augen sehen. Sie wollte die Bestätigung, dass sie wirklich Verlangen in seinen Augen gesehen hatte.
»Mädchen.« Er stieß das Wort aus wie einen Seufzer, den Kopf noch immer gebeugt.
»Ja?«, flüsterte sie atemlos.
Seine Hände krallten sich in die Falten seines Kilts und sie wartete, bebend.
Hinter ihnen schlug klappernd die Tür auf und schloss sich wieder. »Jillian«, rief Ramsay, als er den Hof betrat. »Da bist du ja. Ich bin so froh, dass du zu uns gestoßen bist. Ich dachte, du würdest mich vielleicht gern auf den Jahrmarkt begleiten. Was macht dein Pferd da auf dem Boden, Roderick?«
Verzweifelt hielt Jillian den Atem an, ohne sich zu Ramsay umzudrehen. »Was, Grimm? Was?«, flehte sie mit drängendem Flüstern.
Er hob den Kopf. Ein Schimmer von Trotz lag in seinen blauen Augen. »Quinn ist in dich verliebt, Mädchen. Ich denke, das solltest du wissen«, sagte er leise.