Kapitel 23

Er kam nicht.

Der Tag ihrer Hochzeit brach kühl und bewölkt an. In der Morgendämmerung hatte ein Graupelregen eingesetzt, der die verkohlte Wiese mit einer Schicht knirschenden, schwarzen Eises bedeckte.

Jillian blieb im Bett und lauschte den Geräuschen im Schloss, das sich auf das Hochzeitsfest vorbereitete. Ihr Magen begrüßte knurrend den Geruch von geröstetem Schinken und Fasan. Es war ein Mahl, die Toten zu erwecken, und es hatte Erfolg; sie rappelte sich vom Bett auf und tastete sich durch den schwach erleuchteten Raum zum Spiegel. Sie starrte ihr Spiegelbild an. Dunkle Schatten entstellten die zarte Haut unter ihren stumpfen bernsteinfarbenen Augen.

In weniger als sechs Stunden würde sie Quinn de Mon- creiffe heiraten.

Das Stimmengewirr drang deutlich vernehmbar in ihre Gemächer; die halbe Grafschaft war anwesend, und zwar schon seit gestern. Vierhundert Gäste waren geladen und fünfhundert waren gekommen, bevölkerten die gewaltige Festung und nahmen weniger bequeme Unterbringungen in dem nahe gelegenen Dorf in Beschlag.

Fünfhundert Menschen, mehr als je zu ihrer Beerdigung kommen würden, trampelten auf der verfrorenen schwarzen Wiese herum.

Jillian presste die Augen fest zusammen und weigerte sich zu weinen, sicher, dass sie Blut weinen würde, sollte sie auch nur einer weiteren Träne gestatten zu fallen.

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Um elf Uhr tupfte Elizabeth St. Clair anmutig ihre Tränen mit einem zierlichen Taschentuch fort. »Du siehst bezaubernd aus, Jillian«, sagte sie mit einem innigen Seufzer. »Sogar noch bezaubernder, als ich ausgesehen habe.«

»Du denkst nicht, dass die Tränensäcke unter meinen Augen das Ganze beeinträchtigen, Mama?«, fragte Jillian verbittert. »Wie steht es mit meinem grimmig verzerrten Mund? Ich lasse die Schultern hängen und meine Nase ist knallrot vom Weinen. Du bist nicht der Meinung, dass man meine Erscheinung ein wenig merkwürdig finden könnte?«

Elizabeth schniefte, setzte eine Kopfbedeckung auf Jillians Haar und zog einen hauchdünnen Schleier aus tiefblauer Gaze über das Gesicht ihrer Tochter. »Dein Vater denkt an alles«, sagte sie mit einem Achselzucken.

»Ein Schleier? Wirklich, Mama. Niemand trägt in der heutigen Zeit einen Schleier.«

»Stell dir vor, du wirst eine neue Mode kreieren. Zum Ende des Jahres werden ihn wieder alle tragen«, zwitscherte Elizabeth.

»Wie kann er mir das antun, Mama? In dem Wissen um die Liebe, die ihr miteinander teilt, wie kann er es rechtfertigen, mich zu einer lieblosen Heirat zu verdammen?«

»Quinn liebt dich wirklich, also wird sie nicht lieblos sein.«

»Es geht um mich.«

Elizabeth ließ sich auf der Bettkante nieder. Einen Augenblick lang beschäftigte sie sich mit dem Fußboden, dann sah sie Jillian in die Augen.

»Es geht dir nahe«, sagte Jillian, seltsam beruhigt von dem Mitgefühl in Elizabeths Blick.

»Natürlich geht es mir nahe, Jillian. Ich bin deine Mutter.« Elizabeth betrachtete sie einen schwermütigen Moment lang. »Liebling, quäle dich nicht, dein Vater hat einen Plan. Ich hatte nicht vor, dir das zu erzählen, aber er plant nicht, dich das Ganze durchstehen zu lassen. Er glaubt, dass Grimm kommen wird.«

Jillian schnaubte. »Das habe ich auch geglaubt, Mama. Aber es sind noch zehn Minuten und von dem Mann ist weit und breit nichts zu sehen. Was wird Papa tun? Die Hochzeit mittendrin stoppen, wenn er nicht auftaucht? Vor fünfhundert Gästen?«

»Wie du weißt, hat sich dein Vater noch nie vor einem Skandal gefürchtet. Der Mann entführte mich von meiner Hochzeit. Ich glaube fest, dass er hofft, dir möge dasselbe geschehen.«

Jillian lächelte schwach. Die Geschichte der >Werbung< ihres Vaters um ihre Mutter hatte sie seit frühester Kindheit gefesselt. Ihr Vater war ein Mann, von dem Grimm noch etwas lernen konnte. Grimm Roderick sollte nicht wegen ihr mit sich kämpfen, er sollte für sie gegen den Rest der Welt kämpfen. Jillian atmete tief durch, hoffte, wo es nichts mehr zu hoffen gab, und malte sich für sich selbst eine solche Szene aus.

 

 

»Wir haben uns heute hier zusammengefunden, in der Gesellschaft von Familie, Freunden und Gratulanten, um dieses Paar in den heiligen, unzerstörbaren Bund ...«

Wütend blies Jillian gegen ihren Schleier. Obwohl er ein wenig aufbauschte, bekam sie keine klare Sicht. Der Priester war bläulich verfärbt, Quinn war bläulich verfärbt. Gereizt zupfte sie an dem Schleier. Keine rosengetönten Farben für sie an ihrem Hochzeitstag, und warum auch? Hinter den hohen Fenstern fiel der Graupelregen in nebelhaften blauen Schwaden.

Sie blickte verstohlen zu Quinn, der neben ihr stand. Ihre Augen befanden sich in Höhe seiner Brust. Trotz ihrer Verzweiflung musste sie zugeben, dass er ein überwältigender Mann war. Königlich gekleidet in einen feierlichen Tartan, hatte er das lange Haar aus seinem markanten Gesicht zurückgekämmt. Die meisten Frauen wären begeistert, neben ihm stehen zu dürfen und die lebenslang bindenden Gelübde abzulegen, ihm als Herrin seines Besitzes zur Seite zu stehen, ihm hübsche blonde Kinder zu schenken und das Leben mit ihm bis ans Ende ihrer Tage zu genießen.

Doch er war der falsche Mann. Er wird mich holen, er wird mich holen, ich weiß es, wiederholte Jillian immer wieder schweigend, als handle es sich um einen magischen Spruch, der aus der schieren Wiederholung seine Macht schöpfte.

 

Im Vorbeipreschen riss Grimm eine weitere Bekanntmachung von der Mauer einer Kirche. Er knüllte sie zusammen und verstaute sie in einem Beutel, der von zerknittertem Pergament überquoll. In dem kleinen Hochlanddorf Tummans hatte er die erste Bekanntmachung gesehen, angenagelt an eine baufällige Baracke. Zwanzig Schritte weiter hatte er die zweite gefunden, dann die dritte und die vierte.

Jillian St. Clair heiratete Quinn de Moncreiffe. Er fluchte wütend. Wie lange hatte sie gewartet? Zwei Tage? In jener Nacht hatte er nicht schlafen können, verzehrt von einer Wut, die so mächtig war, dass die Gefahr bestanden hatte, ohne jedes Blutvergießen den Berserker in ihm wachzurufen.

Die Wut hatte sich nur noch gesteigert, hatte ihn auf Occams Rücken getrieben und ihn über die Highlands jagen lassen. Er war bis an die Grenze von Caithness geritten, hatte kehrtgemacht und war wieder zurückgekommen, wobei er auf dem ganzen Weg die Bekanntmachungen abgerissen hatte, während er wie ein verwundetes Tier vom Tiefland ins Hochland jagte. Dann war er erneut umgekehrt, von einer Kraft, die sein Verständnis überschritt, unwiderstehlich nach Caithness getrieben; einer Kraft, die ihm bis ins Mark fuhr. Grimm schleuderte sich die Zöpfe aus dem Gesicht und stöhnte auf. In dem nahen Wald antwortete ein Wolf mit einem klagenden Heulen.

In der letzten Nacht hatte er wieder diesen Traum gehabt. Den Traum, in dem Jillian ihn beobachtete, wie er zum Berserker wurde. Den Traum, in dem sie ihre Handfläche auf seine Brust legte, ihm in die Augen sah und sie miteinander verschmolzen - Jillian und das Untier. In seinem Traum hatte Grimm erkannt, dass das Untier Jillian genauso tief liebte wie der Mann und genauso unfähig war, ihr jemals etwas zuleide zu tun. Im Licht des Tages hatte er nicht länger die Befürchtung, dass er Jillian etwas antun könnte, nicht einmal angesichts der Bedrohung durch den Wahnsinn seines Vaters. Er kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass er ihr nicht einmal in der wildesten Berserkerwut ein Haar krümmen würde.

Doch in seinem Traum, als Jillian ihm in die glühenden, Unheil verkündenden Augen sah, hatten Furcht und Abscheu ihre lieblichen Züge gezeichnet. Sie hatte ihm die Handfläche entgegengehalten, um ihn aufzuhalten, ihn aufzufordern, weit wegzugehen, so schnell, wie Occam ihn nur tragen konnte.

Der Berserker hatte ein mitleiderregendes Geräusch von sich gegeben, während das Herz des Mannes langsam vereiste, kälter als die eisblauen Augen, die Zeugen so vieler Verluste geworden waren. In seinem Traum war er in den Schutz der Dunkelheit geflohen, um sich vor ihrem ängstlichen Blick zu verstecken.

Einstmals hatte Quinn ihn gefragt, was einen Berserker umbringen konnte, und jetzt wusste er es.

Etwas so Harmloses wie ein Blick in Jillians Gesicht.

Voller Verzweiflung war er aus diesem Traum erwacht. Heute war Jillians Hochzeit, und wenn Träume eine Bedeutung hatten, würde sie ihm nie verzeihen, was er im Begriff war zu tun, sollte sie jemals sein wahres Wesen entdecken.

Aber müsste sie es überhaupt je erfahren?

Er würde für alle Zeiten den Berserker in sich verstecken, wenn es sein musste. Er würde nie wieder irgendjemanden retten, nie wieder kämpfen, nie wieder Blut sehen; er würde sich niemals offenbaren. Er würde als einfacher Mann leben. Sie würden bei Dalkeith Halt machen, wo Hawk ein beträchtliches Vermögen für Grimm verwaltete, und sich mit genügend Gold ein Schloss in irgendeinem Land der Welt kaufen. Sie würden den heimtückischen McKane und allen, die sein Geheimnis kannten, weit entfliehen.

Wenn sie ihn noch wollte.

Er wusste, dass das, was er vorhatte, nicht der ehrenhafte Weg war, aber, um die Wahrheit zu sagen, es störte ihn nicht länger. Gott möge ihm vergeben - er war ein Berserker, der wahrscheinlich den Wahnsinn seines Vaters im Blut hatte, aber er konnte nicht zusehen und gestatten, dass Jillian St. Clair einen anderen Mann heiratete, solange er noch atmete.

Nun begriff er, was sie schon vor Jahren instinktiv gewusst hatte, als er aus dem Wald getreten war und sie angesehen hatte.

Jillian St. Clair war für ihn bestimmt.

 

Es ging auf Mittag zu und er war nur noch drei Meilen von Caithness entfernt, als er in den Hinterhalt geriet.