13. 11. 1534
Zweiter Verhandlungstag
Noch vor Sonnenaufgang war Richard Charman aufgestanden, hatte sich nach einer kurzen Wäsche des Gesichts und des Oberkörpers Beinkleid, Hemd und Jacke angezogen und war hinunter in den Schankraum gegangen. Trotz des frühen Tages, es mochte gerade einmal die achte Stunde geschlagen haben, war die Wirtschaft schon gut gefüllt. Händler, andere Gäste der Herberge, aber auch neugierige Bürger Kölns, die sich heute ebenfalls wieder zur Verhandlung im Ratsgerichtshaus des Doms einfinden würden, saßen beisammen und nahmen ihr Morgenmahl oder ein warmes Würzbier ein. Bereits von der Treppe aus hatte Charman dem Wirt mit einem Fingerzeig bedeutet, wohin er sich zu setzen gedachte, an den kleinen Tisch neben dem Aufgang zum Obergeschoss nämlich, möglichst weit entfernt von den anderen Gästen, wie er es jeden Tag zu tun pflegte, seitdem er hier im Schwarzen Hahn am Alten Markt, direkt gegenüber des Rathauses, angekommen war. Der Wirt, ein untersetzter Mann in den Vierzigern, kam heran und grüßte: »Guten Morgen, Herr Herrmann. Dasselbe wie immer?«
Richard Charman nickte verdrossen. Er mochte nicht, wie einige der Deutschen ihn manchmal nannten. Reichhardt Herrmann. Wie bedauernswert und entstellt klang doch dieser Name im Vergleich zu seinem englischen, Richard Charman. Doch Insistieren nutzte nichts. Die Deutschen und im Besonderen die Rheinländer waren stur. Fröhlich und aufgeweckt, gewiss, aber stur und penibel. Eher ließen sie zu, dass ihm die Ohren schmerzten, als dass sie sich selbst Mühe gaben, wenn ihnen der Sinn nicht danach stand.
Der Schankwirt stellte eine Schale Getreidegrütze sowie einen Humpen Dünnbier vor ihn. »Eine gesegnete Mahlzeit wünsche ich Euch, Herr Herrmann, und vor allem, dass unser Gott und unser Herr Jesus Christus mit Euch seien«, sagte er und blinzelte ihm vertraulich zu. Richard Charman glaubte, in den Worten des Schankwirtes einen verschwörerischen Unterton vernommen zu haben, den er sich nicht zu erklären vermochte. Verwundert sah er dem Mann nach, bis dieser mit einem Stapel Schalen in der Küche verschwunden war, schüttelte den Kopf und wandte sich seiner Speise zu.
Obwohl der Roggenbrei mit Speck und getrockneter Petersilie gewürzt und sogar mit einem rohen Ei verfeinert worden war, führte Charman nur lustlos kleine Portionen mit dem hölzernen Löffel zum Mund. Ihn belastete die gesamte Situation, in der er sich befand, und dazu gehörten auch die Menschen in der Schänke, die er verhalten und aufmerksam studierte. Die meisten kannte er nicht, doch einige der Gesichter hatte er schon gestern im Prozess bemerkt. Den dicken Kaufmann etwa, mit seinem Gesicht, das an einen Hefekloß erinnerte, den die Köchin versehentlich zu lange im Dampf gegart hatte. Er war während der Verhandlung mehrmals eingeschlafen und hatte dies durch lautes, ungeniertes Schnarchen kundgetan, sehr zur Unterhaltung der anderen Zuschauer, aber zum Verdruss des Richters, Dr. Hieronymus Hauser, welcher derlei Verhalten als Missachtung seiner Autorität empfunden und ihn daher streng ermahnt hatte. An die Frau jenes beleibten Händlers entsann sich Charman ebenso gut. Sie hatte ihren Gatten des Öfteren mit spitzem Ellbogen angestoßen, als er sich wieder einmal angeschickt hatte wegzunicken, und war sein genaues Gegenteil. Ihr dürrer Leib hätte gewiss dreimal in dem seinigen Platz gefunden. Auch der prächtig gewandete Jüngling mit dem schiefen Maul, der Sohn eines reichen Kölner Apothekers, wie ihm Anwalt Bellendorf erklärt hatte, war gestern im Gerichtssaal gewesen.
Charman ließ den Löffel in die halb geleerte Schale fallen und nahm einen kräftigen Schluck Bier.
Er hatte den Krug noch nicht abgesetzt, da öffnete sich die Tür und Helmbert Bellendorf trat ein, seine rindslederne Dokumentenmappe unter den linken Arm geklemmt. Anlässlich des bevorstehenden zweiten Prozesstages bereits in den feinsten Zwirn seiner Zunft gewandet, spähte er ins Halbdunkel des Schankraumes. Ihre Blicke begegneten sich, und der Anwalt nickte Charman kurz zu, bevor er die Tür schloss. Die Geräusche des Marktplatzes verstummten. Bellendorf kam zu Charman an den Tisch, zog einen Stuhl heran und nahm Platz. Bevor er jedoch nur einen Satz sagen konnte, erschien der Wirt und fragte dienstbeflissen: »Was darf es sein, hochverehrter Herr Advokat?«
»Nichts«, entgegnete der Anwalt entnervt und machte dabei eine abfällige Handbewegung, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen. »Ich brauche meine Sinne heute und verspüre weder Hunger noch Durst.«
»Sehr wohl, Herr Advokat. Ganz wie es Euch beliebt.«
Mit skeptischem Blick sah Bellendorf dem beleibten Mann nach, dann wandte er sich Charman zu und betrachtete ihn prüfend.
»Gott zum Gruße. Verzeiht, aber Ihr wirkt recht angespannt.«
Charman lächelte und bemerkte zynisch: »Eure Beobachtungsgabe allein muss es gewesen sein, die Euch zum Stand eines renommierten Advokaten verholfen hat.«
»Beruhigt Euch, Herr Charman. Ich habe es nicht böse gemeint. Eure Sorge ist unberechtigt, denn wir sind bestens vorbereitet. Dem Gericht liegen die corpi delicti als Beweise vor, die Vergleichsproben beider Tuche. Nur ein Blinder wäre in der Lage zu behaupten, dass Euer gelieferter feiner Stoff auch nur eine Faser mit dem verschimmelten Fetzen gemein habe, den Euch Imhoff zurück nach Antwerpen schickte.«
»Imhoff!« Charman verzog angewidert sein Gesicht. »Ich hoffe, das Gericht ist davon genau so überzeugt wie Ihr und ich.«
»Es ist doch weiß Gott nicht Euer erster Rechtsstreit, und unsere Karten sind nicht die schlechtesten«, entgegnete Bellendorf gelassen.
»Ihr habt gut Reden. Es ist ja nicht Euer Geld.«
»In der Tat, das ist es nicht. Aber Ihr müsst mir vertrauen.«
Jetzt entfuhr Charman ein Lachen. »Vertrauen? Ich vertraue niemandem mehr!«
Bellendorf lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Löwenmähne fiel wie silberner Regen auf seine Schultern herab. »Andreas Imhoff hingegen habt Ihr vertraut«, sagte er seelenruhig, nicht ohne einen herausfordernden Unterton.
Charman beugte sich blitzartig über den Tisch seinem Anwalt entgegen, so dass dieser zusammenzuckte, und zischte: »Verehrter Herr Advokat, um meine Laune ist es dieser Tage nicht sonderlich gut bestellt. Daher bitte ich Euch tunlichst, mich nicht über Gebühr mit derlei Weisheiten zu traktieren. Ich weiß selbst, dass ich Imhoff, diesem alten Dieb und Betrüger, auf den Leim gegangen bin, weil ich zu vertrauensselig war. Ich habe mich in ihm getäuscht. Wäre dem nicht so, verbrächte ich meine kostbare Zeit nicht mit einem Rechtsgelehrten, dessen Anwesenheit allein mich Tag für Tag Unmengen meines hart erarbeiteten Silbers kostet, von dem ich, Gott möge es verhindern, nicht mehr viel übrig haben werde, sollten wir den Prozess verlieren. Der Sinn steht mir nach Gerechtigkeit und nicht nach Schuldturm. Versteht Ihr das?«
»Gewiss, gewiss«, antwortete Bellendorf und hob beschwichtigend die Hände. »Ich wollte Euch wirklich nicht die Laune verderben, sondern lediglich damit sagen, dass Ihr jemandem vertraut habt, der das ausnutzte. Ich hingegen bin ein Mann, dem Ihr getrost vertrauen könnt, mehr noch, der Euer Vertrauen für eine erfolgreiche Ausübung seiner Tätigkeit dringend benötigt.«
Richard Charman entspannte sich und lehnte sich langsam in seinen Stuhl zurück.
»Imhoff hat zu Recht der Teufel geholt, und so will ich meinen Zorn nicht an Euch auslassen. Entschuldigt. Wir sollten nun lieber überlegen, wie wir seine Frau für ihre Mitschuld zur Rechenschaft ziehen und meinen Schaden wiedergutmachen können.«
»Genau das ist unser Anliegen«, pflichtete Bellendorf mit einem Lächeln bei. »Am heutigen Verhandlungstag werde ich versuchen, die Sache voranzutreiben. Ich bin guter Dinge, denn der ehrenwerte Richter Hauser scheint mir, lasst es mich so formulieren, einem schnellen Verfahren und einem Urteil in unserem Sinne nicht abgeneigt. Ich habe ihn nochmals auf die strittigen Punkte im Rechtsgutachten hingewiesen, das Agnes Imhoffs Anwalt vorgelegt hatte. Abgesehen davon, dass es nach meiner Meinung keine rechtliche Grundlage hat, ist dieser von Homburg ein nur wenig engagierter Gegner. Es wundert mich fast, wie zurückhaltend er ist. Vielleicht liegt es am Alter, und er hat über die Zeit seine Bissigkeit und Beharrlichkeit verloren. Das letzte Mal, als ich ihn sah, vor einigen Jahren, saß im Gerichtssaal ein anderer von Homburg als der, den ich nun vorgefunden habe. Aber«, fügte er hinzu, griff sich dabei seine Mappe und erhob sich, »was kümmert’s uns, solange wir siegreich sind?«
Nun stand auch Charman auf und strich sich die Jacke glatt. »Dieser junge Schnösel, von Homburgs Assistent, bereitet mir etwas Sorgen«, wandte er ein.
Bellendorf schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Augustin von Küffen ist in der Tat nicht unbegabt, das muss man ihm lassen, aber er ist nur ein Hitzkopf und ein Wasserträger für von Homburg und wird nichts gegen uns anführen können. Das verbietet ihm allein schon seine Position. Sein Wort hat keine Bedeutung vor Gericht. Macht Euch keine Gedanken, werter Herr Charman, schon bald werdet Ihr Pacht- und Mieteinnahmen aus den Imhoff’schen Häusern einstreichen oder sie meinethalben auch verkaufen können. Euer Essen und das Bier übernehme ich.«
Mit diesen Worten zog der Advokat zwei Silbermünzen aus seiner Geldkatze hervor, legte sie auf den Tisch und wandte sich zum Gehen. Richard Charman folgte ihm aus der Schänke auf den Alten Markt hinaus. Das versierte Auftreten seines Anwalts hatte ihm Sicherheit gegeben. Dennoch blieb ein ungutes Gefühl im Bauch zurück, und das – so musste er sich insgeheim eingestehen, auch wenn es bei Imhoff einmal anders gewesen war – hatte ihn noch selten getäuscht.
Advokat Helmbert Bellendorf durchmaß den Alten Markt mit großen Schritten, so dass Charman Mühe hatte, ihm zu folgen. Kaum waren sie an den ersten Passanten vorbeigekommen, begannen diese auch schon, unverhohlen zu tuscheln und die beiden Männer zu mustern. Charman versuchte, ihnen keine Beachtung zu schenken. Es fiel ihm schwer. Er wusste, dass er und der Prozess gegen Agnes Imhoff mittlerweile erstes Stadtgespräch waren. Man nannte ihn nur abfällig den Engländer, wenn man von ihm sprach, und viele schienen überzeugt zu sein, er habe die Witwe dieses angesehenen Mitgliedes der Kölner Tuchhändlergilde aus Raffgier und in betrügerischer Absicht vor Gericht gezerrt und wolle sie nun um all ihr Hab und Gut erleichtern. Dass er zuvor jedoch seinerseits durch Andreas Imhoff um ein beträchtliches Vermögen gebracht worden war, schien die wenigsten zu interessieren. Die Straße glaubte ihm nicht. Charman warf einer Gruppe Frauen einen grimmigen Blick zu, als diese im Vorübergehen allzu offensichtlich mit den Fingern auf ihn zeigten. Ertappt wandten sich die Weiber ab und steckten die Köpfe zusammen, um weitertratschen zu können. Charman spuckte auf den Boden. Er war wütend darüber, dass sich anscheinend die ganze Stadt gegen ihn verschworen hatte, und wünschte sich, er wäre niemals auf dieses vermaledeite Geschäft mit Andreas Imhoff eingegangen.
Eine komplette Schiffsladung flandrisches Tuch hatte Imhoff bei ihm geordert, und er war bereit gewesen, einen sehr ertragreichen Preis dafür zu zahlen. Der in Aussicht stehende Gewinn aus diesem Handel war verlockend gewesen, hatte ihn, Charman, blind gemacht und sein sonst so scharfes Auge für Kauf und Verkauf getrübt. Und dann noch die schöne Agnes Imhoff. Erst in den Gesprächen mit seinem Anwalt Helmbert Bellendorf war Charman bewusst geworden, mit welchem Betrügerpaar er sich eingelassen hatte. Doch da war das Kind bereits in den Brunnen gefallen.
Unzählige Klagen waren schon gegen die Imhoffs geführt worden, und doch waren sie, wie Charman mit Schrecken hatte hören müssen, mithilfe rechtlicher Spitzfindigkeiten ihres Advokaten Mathis von Homburg immer wieder in der Lage gewesen, die beiden Häuser, die sie als Gläubigersicherheiten in vielen Verträgen gestellt hatten, zu Unrecht zu behalten. In Dutzenden von Prozessen waren sie ungeschoren davongekommen; gewieft, rücksichtslos und mit allen Wassern gewaschen, verborgen hinter einem brokatenen Vorhang aus Lug und Trug, blendend durch ausschweifende und beliebte Feste, die sie mit den Geldern der Geprellten ausgerichtet und zu denen sie nur die wichtigsten Leute geladen hatten. Am Ende waren es die betrogenen Gläubiger gewesen, denen zu allen Verlusten auch noch Unmoral vorgeworfen worden war. Man liebte die Imhoffs und hasste ihre Feinde in Köln. Eine schöne Frau an der Seite eines scheinbar erfolgreichen und äußerst großzügigen Geschäftsmannes und Gildemitgliedes. Und doch war all das Teil der Masche, ein geplantes Vorgehen, eine Art von Geschäft, das sich für das Betrügerpaar vielfach bewährt und ausgezahlt hatte.
Nun aber lag die Sache anders. Andreas Imhoff war tot. Die Fassade hatte Risse und er seinen verdienten Lohn bekommen; wenigstens er würde niemanden mehr betrügen. Agnes stand alleine da. Agnes Imhoff, die Frau mit den zwei Gesichtern. Das eine mit dem bezauberndsten Lächeln und dem unschuldigen Augenaufschlag eines Rehs, eines, das von blütenduftgeschwängertem Haar und glatter Haut geziert wurde. Und das andere. Eiskalt. Berechnend. Gefühllos. Sie würde für diese Lüge zahlen. Charman ballte die Faust in der Tasche.
»Ihr werdet mir meine Häuser nicht wegnehmen!«
Er schrak zusammen und sah verwundert auf. In seine Gedanken versunken war er Bellendorf bis zum Ratsgericht am Domhof gefolgt, am Fuße dessen steinerner Treppe sie nun angelangt waren. Doch nicht das mächtige Gebäude selbst erregte seine Aufmerksamkeit, sondern die Frau, die sich auf der ersten Stufe postiert hatte und von zwei Männern, zwei Frauen und einem Kind umringt wurde. Es waren der Anwalt Mathis von Homburg, sein Assistent Augustin von Küffen, Agnes’ Tochter Sophie, die sich hinter ihrer Mutter verkrochen hatte, sowie Stingin Bruwiler, die Magd, und Gerlin Metzeler, die Cousine von Agnes, die Charman beide noch aus der Zeit seiner Besuche bei den Imhoffs kannte.
Er blickte stumm in die Runde und dann in die vor Wut funkelnden Augen Agnes Imhoffs.
Diese hatte die Hände energisch in die Hüften gestemmt und wirkte selbstsicher und siegesgewiss. Unwillkürlich kam ihm das Bild eines Racheengels in den Sinn, wie er es bereits des Öfteren in den Kirchen Antwerpens hatte bestaunen dürfen, als er den Götzen der päpstlichen Arroganz noch gutgläubig gehuldigt hatte. Mit unbeugsamem Blick, Augen, aus denen Blitze schossen, die die Kraft von Gottes Gerechtigkeit in sich trugen und die Sünder in Asche verwandelten. Mit vollem Haar, wehend im Atem des Allmächtigen, und Flügeln, die kraftvoll schlugen, genährt von Zorn und dem Durst nach Vergeltung.
»Nicht Ihr!«, fauchte Agnes, und der Engel flog davon.
»Geht einfach weiter, Herr Charman, ich bitte Euch«, raunte Helmbert Bellendorf seinem Mandanten mit einem verzweifelten Unterton zu. Er suchte die Situation zu schlichten, bevor sie eskalierte, doch es war bereits zu spät. Kaum dass Charman aus seiner Starre erwacht war, sprang er wieselflink zu Agnes Imhoff an die Treppe, stieß seinen Zeigefinger wie einen Speer durch die Luft und zeigte drohend auf sie.
»Ihr werdet sehen, was mit denen geschieht, die einen Richard Charman zu betrügen suchen. Ich sage es Euch schon jetzt voraus: Im Armenhaus werdet Ihr landen, werte Frau Imhoff, und den Dreck vom Boden fressen wie eine Ratte. Ihr wollt mich ruinieren? Versucht es, aber ich sage Euch: Die Gerechtigkeit wird siegen. Euren Mann hat Gott bereits gerichtet für seine Untaten, und ich danke ihm dafür. Bald aber seid Ihr an der Reihe, das gelobe ich, so wahr ich hier stehe.«
Langsam bildete sich eine Menschentraube um die beiden Kontrahenten des Wortgefechts, und auch die mit Hellebarden bewaffneten Wachen am Eingang des Gerichtes waren auf den lautstarken Disput aufmerksam geworden. Einige der Gaffer feixten und stießen sich an, so als wäre dieses Zusammentreffen der erste Akt eines in Kürze im Gerichtssaal fortzuführenden Schauspiels. Unentwegt zog und zupfte Helmbert Bellendorf, der, so schien es, etwaige unglückliche Äußerungen seines Mandanten um jeden Preis zu vermeiden suchte, an Charmans Jackenärmel. Der jedoch ignorierte ihn einfach.
Plötzlich taumelte Agnes Imhoff rückwärts, fassungslos, als wäre ihr eine schreckliche Erkenntnis gekommen, als hätte sie einer Wahrheit ins Gesicht geblickt, die sie nicht hatte sehen wollen und die sich ihr nun unbarmherzig offenbarte. Beinahe wäre sie über Sophie gestolpert, die sich noch immer hinter ihr in den Rockfalten verbarg, hätte sie Augustin von Küffen nicht geistesgegenwärtig am Arm ergriffen und festgehalten. »Mörder«, stammelte Agnes mit einem Mal. »Ihr wart es tatsächlich! Es stimmt also doch, was man sich erzählt. Ihr hattet Eure Finger im Spiel bei Andreas’ Tod!«
Ein Raunen ging durch die Menge. Agnes Imhoff sprach aus, was niemand sonst wagte, wohl aber ein jeder der Umstehenden in diesem Moment dachte. Sie sagte, was hinter vorgehaltener Hand schon seit einigen Wochen in Köln die Runde machte wie ein verleumderischer, bösartiger Wind, der die Herzen vergiftete. Charman konnte es spüren. Der Engländer hatte etwas mit dem Tod des Tuchhändlers zu schaffen, flüsterte der Wind den gierigen Ohren der Marktfrauen zu und fuhr es aus ihren Mündern in die Köpfe der Mägde. Der Londoner Kaufmann steht mit dem Teufel im Bunde. Ist er nicht auch ein Anhänger des neuen Glaubens? Ein Ketzer?, hauchte der Wind sein böses Gerücht in die Schänken hinein und strich es über die Segel am Rheinufer, dass die Schiffer es hören konnten und weitertrugen wie den Schwarzen Tod, der auch wahllos und verderblich von Mensch zu Mensch sprang und sich nicht um Stände scherte.
»Ich ein Mörder?«, platzte es aus ihm heraus. »Gewiss: Dass Euer Gatte, ein Betrüger und Dieb, ein Beutelschneider und Haderlump, jetzt unter der Erde ist, nun, ich würde lügen, behauptete ich, es täte mir leid. Aber ein Mörder bin ich nicht, auch wenn ich demjenigen von Herzen danke, der die Tat vollbrachte, so es denn überhaupt ein Verbrechen war, Gnädigste, und er nicht, wie vom Medicus und den Bütteln im Übrigen vermutet wird, einfach volltrunken im Rhein ersoffen ist.«
»Was fällt Euch ein, das Andenken des Gatten meiner Cousine in den Schmutz zu ziehen und damit unsere ganze Familie zu beleidigen?«, mischte sich nun Gerlin Metzeler ein, die bisher mit zusammengekniffenen Lippen neben der Magd gestanden hatte.
Charman sah, dass sie sich am liebsten auf ihn gestürzt hätte, so wie sie ihn aus ihren leuchtend blauen Augen anfunkelte. Ihr schmales Gesicht, ihr markantes Kinn und die ein wenig nach oben gereckte Nase verliehen ihr einen wütenden und arroganten Ausdruck. Hübsch war sie.
Charman lächelte.
»Das Andenken von Andreas Imhoff?«, vergewisserte er sich in gespielter Überraschung, als hätte er sich verhört. »Meint Ihr das Andenken desjenigen Mannes, dessen Leben auf Lug und Trug fußte, der Schnaps, Wein und der Hurerei mehr zugetan war als seinem eigenen Weibe? Sprechen wir von derselben Person?«
»Es gab Zeiten«, riss Agnes Imhoff mit bebender Stimme das Wort an sich, trat dabei die Stufe herab und näherte sich Charman so sehr an, dass sich ihre Nasen fast berührten und er ihren wütenden Atem spüren konnte, »da wart Ihr froh gewesen, mit ihm Geschäfte machen zu dürfen.«
Charman wich nicht zurück. Er konnte Agnes riechen, so dicht war sie bei ihm, und er erkannte sie. Doch die Blumen dieses Duftes waren verblüht. Er senkte seine Stimme und sprach jedes Wort dennoch klar und deutlich aus, als er sagte: »Und es gab Zeiten, da wart Ihr froh gewesen, mit mir sprechen zu dürfen. Habt Ihr das genauso vergessen wie die Wahrheit?« Er fixierte sie einen kurzen Moment, dann wandte er seinen Blick ab und schritt erhobenen Hauptes, einen etwas überfordert wirkenden Helmbert Bellendorf im Schlepptau, die Treppe zum Eingang des Gerichtsgebäudes empor.
Charman setzte sich mit Bellendorf auf die Bank, die der Klägerpartei vorbehalten war, rechter Hand und etwa vier Schritte vom Richtertisch entfernt, von dem aus Doktor Hieronymus Hauser erhaben auf die Anwesenden herabblickte. Neben ihm saßen zu jeder Seite die Schöffen, welche dem Prozess als höchstrichterliche Zeugen und Beisitzer dienten.
Hauser nahm von einem Gerichtsdiener einen Stoß Dokumente entgegen, den er vor sich auftürmte und Blatt für Blatt konzentriert sichtete. Bellendorf indes sah stoisch und schweigend nach vorne, als starrte er durch die vertäfelten Wände des Saales und des Doms auf das Wasser des Rheins. Nach und nach bemächtigte sich Charman ein plötzliches Gefühl der Überlegenheit und der Siegesgewissheit und vertrieb die Zweifel, die ihn noch beim Verlassen der Wirtsstube übermannt hatten. Er würde gewinnen. Entspannt lehnte er sich an das ungepolsterte Rückteil der Bank und beobachtete, wie nun auch die Gegenseite Stellung bezog. Die schütteren Haare Mathis von Homburgs quollen wirr unter seinem Hut hervor. Mit seinem etwas ungepflegt wirkenden Äußeren, das durch sein eingefallenes Mausgesicht noch unterstützt wurde, machte er auf Charman nicht den Eindruck eines Prozessgegners, den es zu fürchten galt.
Agnes Blick fiel auf Charman. Regungslos starrte sie herüber, sah ihn durchdringend an. Sie hasste ihn, das war offensichtlich, und Charman wusste, dass diese Frau alles daran setzen würde, ihn zu vernichten, um ihre Häuser behalten zu dürfen. Nur eines verband sie noch: Es ging für jeden von ihnen um viel Geld, für Agnes Imhoff vielleicht noch um mehr.
Die Türen des Gerichtssaales schlossen sich. Der Andrang und das öffentliche Interesse an diesem Verfahren waren auch heute so gewaltig, dass nicht einmal der Hälfte derer, die dem zweiten Prozesstag beiwohnen wollten, Einlass gewährt worden war. Die vier Büttel vor den Türen hatten wie am ersten Tag alle Hände voll zu tun, Ruhe und Ordnung zu wahren und weiteren Besuchern den Zutritt zu verwehren.
Doktor Hieronymus Hauser sah auf und ließ seinen Blick über die annähernd einhundert dicht an dicht sitzenden Menschen schweifen. Ein lautes, unterschwelliges Grummeln war zu hören. Meinungen und Einschätzungen aus Dutzenden von Kehlen, ab und an zerrissen von einem Hüsteln, Räuspern oder einem verhaltenen Lachen. Alles in allem ein der Angelegenheit nicht angemessenes Gebaren, welches der Richter ganz und gar nicht schätzte. Mit einem Donnerschlag ließ er den Hammer auf den Tisch fahren. Sofort wurde es leiser, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Noch ein Schlag und auch das letzte Gemurmel verstummte.
Hauser legte eine dramatische Pause ein, bevor er laut und vernehmlich beschloss: »Die Verhandlung des Klägers, dem hier anwesenden Richard Charman, wohnhaft zu London, Königreich England, vertreten durch den ehrenwerten Advokaten Helmbert Bellendorf, ansässig in Köln, gegen die ebenfalls hier anwesende Beklagte, Frau Agnes Imhoff, Witwe des unlängst auf tragische Weise verstorbenen Tuchhändlers Andreas Imhoff …«
Wieder erhob sich ein Raunen.
»Ruhe!«, befahl der Richter erbost und unterstrich seine Anweisung durch zwei erneute Hammerschläge. »Ruhe oder ich lasse den Gerichtssaal räumen und die Öffentlichkeit ausschließen. Wir befinden uns im Kölner Ratsgericht und nicht im Narrenturm!«
Es wurde still.
»… die ebenfalls hier anwesende Beklagte, Frau Agnes Imhoff, Witwe des unlängst auf tragische Weise verstorbenen Tuchhändlers Andreas Imhoff«, griff er das Gesagte wieder auf und fuhr fort: »wohnhaft zu Köln, vertreten durch den ehrenwerten Advokaten Mathis von Homburg, ansässig zu Köln, und dessen Assistenten Augustin von Küffen, ebenfalls ansässig zu Köln.«
Etwas außer Atem von dieser langen Ansprache, schnaufte der Richter, rückte sich den Hut zurecht und griff sich eines der Dokumente aus dem Stapel vor ihm. »Ich werde nun die Stellungnahme des Kölner Ratsgerichts bezüglich des Rechtsgutachtens verlesen, das seitens der Vertretung der Beklagten eingebracht wurde.«
Er räusperte sich und trug dann mit versteinerter Miene seinen Text vor: »Das Ratsgericht zu Köln hat das eingebrachte Rechtsgutachten der Beklagten Frau Agnes Imhoff eingehend geprüft und ist zu folgendem Schluss gekommen: Das Kölner Ratsgericht teilt nicht die im Gutachten vertretene Meinung, der zufolge Frauen im Allgemeinen geschäftsunmündig seien. Im Gegenteil ist das Gericht der Auffassung, dass die Beklagte sehr wohl auf eigene Rechnung Geschäfte tätigte und sich an solchen beteiligte, und zwar deshalb, weil eine der beiden Immobilien, nämlich das Gasthaus Zum kleinen Ochsen in der Cecilienstraße, zum Zeitpunkt des Geschäfts mit dem Kläger noch im Besitz des verstorbenen Andreas Imhoff, gegen bare Münze an die Wirtin Ursel Rumperth verpachtet war und Frau Imhoff die Pacht selbst eingetrieben hat. Aus ebendiesem Grunde hält das Gericht die Beklagte für uneingeschränkt geschäftsmündig und für alle erwachsenen Schulden und Forderungen in vollem Umfang haftbar.«
Agnes Imhoff, die den Worten des Richters bis dahin schweigend zugehört hatte, hielt es nicht mehr auf der Bank. Sie sprang auf und rief mit verzweifelter Stimme: »Herr Richter, Ihr irrt Euch in dieser Sache. Zwar habe ich Geld in Empfang genommen, tat dies aber nur auf Anweisung meines Mannes und in dessen Namen. Er als alleiniger Besitzer war es, der die Pachtverträge schloss, und er war es auch, der über die Gelder Buch führte. Nicht einmal meine Unterschrift findet sich auf dem Pachtvertrag. Das ist nicht Recht, was hier gesprochen wird!«
Dr. Hausers Hammerschlag dämpfte das aufwallende Gemurmel im Saal. Verärgert wandte er sich Agnes Imhoff zu, die noch immer stand und mit feuchten Augen zum Richterstuhl emporblickte.
»Was Recht ist und was nicht, entscheide ich, werte Frau Imhoff. Mäßigt Euch und sprecht und erhebt Euch nur, wenn ich Euch dazu auffordere. Wenn Ihr nicht sogleich wieder Platz nehmt, werde ich gegen Euch eine empfindliche Geldbuße wegen Missachtung des Gerichts verhängen. Wollt Ihr das? Gewiss nicht. Darüber hinaus richte ich nicht nach Gutdünken, sondern stets streng nach geltendem Recht, welches in diesem Casus besagt, dass selbst Boten als geschäftsfähig angesehen werden. Und genau dies trifft auch auf Euch zu, da Ihr zum damaligen Zeitpunkt regelmäßig die Pachteinnahmen Eures verstorbenen Gatten eintriebt.«
Eine Träne rann über Agnes Imhoffs Gesicht, die Wange hinab. Sie zitterte. Ihre Lippen bebten.
Richard Charman betrachtete die ihm gegenübersitzende Frau regungslos. »Sie ist wirklich überzeugend«, raunte er mehr zu sich selbst als zu seinem Advokaten, der ihm jedoch beipflichtete: »In der Tat, das ist sie.«
Plötzlich war es um die Beherrschung von Agnes Imhoff vollends geschehen. Unter Tränen rief sie: »Was wisst Ihr vom Recht? Ihr wisst ja nicht einmal, wie er war. Wie wollt Ihr über mich richten, wenn Euch die Wahrheit nicht interessiert? Ihr glaubt tatsächlich, ich habe die Unterschrift aus freien Stücken gegeben?«
Agnes Imhoff lachte verzweifelt auf.
»Geschlagen hat er mich, wieder und wieder, und im Keller eingesperrt zusammen mit meiner armen Tochter. Nur um ihretwillen habe ich die Verträge mit Herrn Charman unterzeichnet, nur um meine geliebte Sophie vor Andreas zu schützen. Er hat gedroht, sie umzubringen, seine eigene Tochter! Geld, Geld, Geld, es ging fortwährend nur um Geld. Und nun soll ich, die ich mit einem Teufel von Ehemann bestraft worden bin, auch noch alles verlieren? Ihr mögt es Recht nennen, aber Gottes Gerechtigkeit ist es nicht!«
Schluchzend brach Agnes Imhoff über dem Tisch zusammen und grub ihren Kopf in die Arme. Einige Strähnen hatten sich aus dem Knoten gelöst, mit dem sie ihr dichtes Haar am Hinterkopf gebändigt hatte, und umspielten das verborgene Gesicht. Niemand schien sich diesem traurigen Anblick entziehen zu können, den die sonst so stolze Frau in diesem Moment abgab.
Charman spürte, dass die Zuschauer mit ihr und gleichsam eine unbändige Wut auf Richter Dr. Hauser fühlten. Ein schier chaotisches Durcheinander entbrannte. Der Saal kochte im Volkszorn. Missfällige Zwischenrufe und Pfiffe ertönten, manche der Besucher sprangen sogar auf und beschimpften offen den Richter.
Bellendorf beugte sich zu Charman herüber und hob seine Stimme gegen den anhaltenden Lärm im Gerichtssaal: »Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir haben gewonnen, denn seine Auffassung hat der Richter unmissverständlich dargelegt. Was hat die Gegenseite dem, abgesehen von diesem theatralischen Auftritt von Frau Imhoff, entgegenzusetzen? Ihr stärkster Trumpf, das Rechtsgutachten über die angeblich nicht vorhandene Geschäftsmündigkeit und die somit vereitelte Haftbarkeit der Beklagten hat sich in Luft aufgelöst.«
Mittlerweile hatte Doktor Hieronymus Hauser die Büttel herbeigerufen und ließ gewaltsam den Saal von denjenigen räumen, die sich mit ihren Missfallensbekundungen und Respektlosigkeiten besonders hervorgetan hatten. Aber es waren fast ein Dutzend Männer der Stadtwache nötig, um die aufgebrachten Menschen hinauszubefördern, und sogar als sich die Türen wieder geschlossen hatten, waren noch Rufe des Unmuts und Pfiffe deutlich durch das Holz zu vernehmen.
Doktor Hauser strich seine Robe glatt, rückte sich den verrutschten Hut zurecht und versuchte, mittels eines bemüht gleichmütigen Blickes seine kurzfristig abhandengekommene Würde wiederherzustellen.
»Derlei Maßnahmen zu ergreifen, widerstrebt mir im Allgemeinen, aber es war leider von Nöten. Euch, Agnes Imhoff, jedoch muss ich zum allerletzten Mal ermahnen, dass Ihr nur zur Rede ermächtigt seid, so ich Euch auffordere. Mit Eurem Verhalten und Euren Zwischenrufen habt Ihr maßgeblich dazu beigetragen, dass die Lage eskaliert ist.«
Gespannt sah Charman zu Agnes Imhoff hinüber.
Sie wich seinem Blick nicht aus. Ihre Tränen waren versiegt, die Augen zu Schlitzen verengt, und durch ihren Körper ging ein angespanntes Zucken. Augustin von Küffen legte ihr besänftigend die Hand auf den Arm.
»Nun, da wir den Verhaltenskodex in diesem meinem Gerichtssaal nochmals klargestellt haben«, hob Hauser von neuem an, »will ich meinen Bescheid zusammenfassend wiederholen. Die Meinung, welche das vorgelegte Rechtsgutachten vertritt, wird vom Kölner Ratsgericht nicht anerkannt. Somit ist die Frage nach dem Anspruch auf Wiedergutmachung des Klägers durch die Beklagte unmissverständlich beantwortet, und es geht jetzt lediglich um die Höhe ebendieser Schadensersatzforderung. Ob diese Unterschrift nun erzwungen ist oder nicht, ist für diesen Fall völlig unerheblich. Es wäre zudem nicht das erste Mal, dass eine Verurteilte sich dieses Arguments bedient, um sich den Konsequenzen ihres Handelns zu entziehen.«
Bellendorf lachte auf und maßte sich jetzt sogar an, seinem Mandanten jovial auf die Schulter zu klopfen.
»Das sehe ich nicht so.«
Alle Köpfe im Saal fuhren herum.
Erneut erhob sich Gemurmel, so dass Richter Hauser wieder nach seinem Hammer griff, gewappnet, jede aufkommende Unruhe in seinem Gerichtssaal bereits im Keim zu ersticken.
Charman hatte geahnt, dass Augustin von Küffen ihm noch Kummer und Schwierigkeiten bereiten würde. Er ballte die Fäuste unter dem Tisch. Und nicht nur er, sondern der gesamte Saal musterte in diesem Augenblick ungläubig und mit erstauntem Gesicht den jungen Assistenten des Mathis von Homburg, der sich bei seinen Worten erhoben hatte und sich nun mit beiden Händen auf dem Tisch vor der Beklagtenbank abstützte, vornübergebeugt, den Kopf in den Nacken gelegt. Dem jungen Mann stand die Aufregung ins Gesicht geschrieben; es war gerötet und eine Schweißperle rann ihm die Schläfe hinab. Sein Atem ging schnell.
»Setzt Euch hin, Herr von Küffen! Was erlaubt Ihr Euch? Meint denn ein jeder hier, er könne Reden halten, wie es ihm beliebt?«, donnerte Hieronymus Hauser und ließ endlich seinen Hammer aufs Holz fahren, womit er Mathis von Homburg zuvorkam, der verärgert seinen Assistenten anblickte und nahe daran schien, ihn zu maßregeln.
»Lasst ihn sprechen«, rief Agnes Imhoff, »ich bitte Euch, Hoher Rat.«
»Frau Imhoff«, mischte sich nun auch ihr Anwalt ein, dem vor Erregung die Augengläser in den Schoß gefallen waren. »Er ist nur ein Assistent. Er weiß nicht, was er tut und redet …«
»Wollen wir das nicht herausfinden? Warum lasst Ihr ihn nicht sagen, was er zu sagen hat? Mit Eurer Hilfe allein sind wir nicht wirklich weit gekommen. Vielleicht tun meiner Verteidigung ein wenig junges Blut und frische Gedanken nicht schlecht?«
Einige im Gerichtssaal lachten auf.
Mathis von Homburg lief vor Zorn rot an und sah aus, als würde er im nächsten Augenblick explodieren. »Herr von Küffen. Auch ich befehle Euch, Euch wieder zu setzen. Seid Ihr von Sinnen? Was maßt Ihr Euch an?«
Fast schon entschuldigend blickte Augustin von Küffen auf seinen Mentor herab und sagte: »Herr von Homburg, ich bitte Euch. Es geht doch um Gerechtigkeit!«
»Ehrwürdiges Gericht, geschätzter Kollege von Homburg«, ergriff plötzlich Helmbert Bellendorf das Wort. »So lasst doch Euren jungen Assistenten von Küffen getrost vorbringen, was er zu vermelden hat. Wir alle wissen doch nur zu gut, dass es immer die schwierigen Fälle sind, die von ganz jungen und unerfahrenen Advokaten oder allwissenden Gehilfen gelöst werden. So gewiss auch dieser.«
Höhnisch grinste Bellendorf sein Gegenüber an.
»Er wird sich lächerlich machen, dieser Gernegroß, und das Verfahren nur noch mehr auf unsere Seite ziehen«, raunte Helmbert Bellendorf seinem Mandanten verschwörerisch zu und rieb sich dabei die Hände. Nun erst begriff Richard Charman das Ansinnen seines Anwalts. Langsam öffneten sich seine Fäuste, und er legte die feuchten Handflächen auf den Stoff seiner Beinkleider ab.
Dr. Hieronymus Hauser, dem ebenfalls der Ärger über das Betragen des jungen Assistenten deutlich ins Gesicht geschrieben stand, überlegte kurz und beschloss: »Die Prozessordnung sieht derlei zwar nicht vor, doch niemand soll von mir sagen können, ich hätte der Beklagten eine Möglichkeit vorenthalten, sich zu verteidigen. Sprecht meinethalben, Herr von Küffen.«
»Ich danke Euch«, entgegnete Augustin von Küffen und räusperte sich. Dann sah er nochmals zu Mathis von Homburg hinunter, doch der wandte den Blick ab.
»Ich bitte um Vergebung, Hoher Rat, und dennoch kann ich nicht anders, kann nicht tatenlos zusehen, wie Frau Imhoff, der bereits so viel Leid geschehen ist, noch tiefer ins Unglück gestürzt wird. Habt Ihr denn nicht vernommen, wie sehr sie unter den Grausamkeiten ihres verstorbenen Mannes gelitten hat, wie sie tagein, tagaus um ihr eigenes, ja gar das Leben des geliebten Kindes bangte? Soll es ihr denn verweigert werden, den Beweis dafür zu erbringen, dass diese Unterschrift deshalb nicht rechtens ist? Es geht doch darum, die Wahrheit zu erkennen und gerecht zu urteilen, und um nichts sonst. Ist sie denn schuldig, so will ich nichts gesagt haben, aber sie ist es nicht. Sie ist ein Opfer, keine Täterin. Sie tun Ihr Unrecht.«
Dabei reckte Augustin von Küffen die Faust in die Höhe, so sehr hatte er sich in Rage geredet. Er schien sich dessen allerdings erst einige Augenblicke später gewahr zu werden. Rasch ließ er den Arm wieder sinken und fuhr fort: »Um dies beweisen zu können, erbitte ich vom Hohen Gericht, eine ausgeweitete Zeugenbefragung durchzuführen, um danach das vorliegende Rechtsgutachten neu zu bewerten. Es gibt handfeste Hinweise darauf, dass der verstorbene Andreas Imhoff seine Frau unter Druck gesetzt hat. Und zwar mithilfe körperlicher Züchtigung und Gewaltandrohung, deren Maß weit über den einem Ehemann zustehenden Rahmen hinausreichte. Dies könnte etwa die langjährige Magd des Hauses Imhoff, Stingin Bruwiler, bezeugen, und bestimmt finden sich noch andere glaubwürdige Menschen. Dadurch könnte bewiesen werden, dass Andreas Imhoff die Unterschrift seiner Frau erpresst hat und dass sie deshalb zum Zeitpunkt der Zeichnung des Schuldscheins eben nicht voll geschäftsmündig war, sondern vorsätzlich dazu genötigt wurde.«
Damit setzte sich Augustin von Küffen auf die Bank zurück, legte seine wie zum Gebet gefalteten Hände vor sich auf den Tisch und blickte unsicher in die Runde.
Richard Charman hörte nichts außer seinem eigenen Herzschlag und ein entferntes Rauschen, das gleiche Rauschen, das ihn früher so fasziniert hatte und das in den großen Muscheln gefangen war, die er in Sussex als Kind am Strand gefunden hatte. Dumpf und düster hallte es nach. Doch nicht das Meer seiner Vorfahren und seine nebelverhüllten Legenden tobten in ihm, es waren Verzweiflung und Ohnmacht über die Vorfälle in diesem Gerichtssaal. Richard Charman wandte seinen Blick Helmbert Bellendorf zu, dem der Mund offenstand. Allmählich fasste sich der Advokat wieder, schüttelte den Kopf und gestand flüsternd: »Er hat doch tatsächlich hinter dem Rücken seines Mentors etwas angezettelt. Ich habe diesen Jungen wirklich unterschätzt.«
»Was bedeutet das für uns?«, wollte Charman ungeduldig wissen, dem selbst das Quäntchen Bewunderung für von Küffen in Bellendorfs Stimme unangebracht schien. Unsanft packte er seinen Anwalt am Arm.
Bellendorf befreite sich aus Charmans Griff, sah ihn an und zischte: »Das bedeutet gar nichts, außer dass sich dieser junge Heißsporn in die Herzen der Menschen geredet hat. Einwände und Eingaben dieser Art müssen immer vor Prozessbeginn gestellt werden, nicht währenddessen. Hauser hat keinen Grund, diesem nicht einmal formellen Antrag zuzustimmen, ganz gleich, wie sehr Frau Imhoff jammert und wie schön von Küffen daherplappert.«
Dr. Hieronymus Hauser indes saß mühsam beherrscht hinter seinem Richtertisch. Er machte nicht den Eindruck, als wäre seine Entscheidung bereits gefallen, sondern als würde er vielmehr genau abwägen, was zu tun war. Charman beobachtete, wie der Blick des Richters immer wieder zwischen den beiden Parteien hin und her sprang und auch die verbliebenen Prozessbesucher erfasste, die der überzeugenden Rede Augustin von Küffens zweifelsohne verfallen waren und gespannt darauf warteten, was das Gericht befinden würde. Das Volk war für Agnes Imhoff, und wer gegen die Beklagte war, war auch gegen das Volk. Spürte das auch der Richter?
Endlich räusperte sich Hieronymus Hauser und verkündete mit fester Stimme: »Das Gericht nimmt Euren Einwand, Herr von Küffen, zur Kenntnis und wird darüber sogleich mit den Advokaten beider Parteien im Richterzimmer beraten. Euer Betragen hingegen ist eine schlicht unverschämte Respektlosigkeit gegenüber dem Gericht und dem Rat der Stadt Köln, die ich keinesfalls dulden werde! Kraft meines Amtes schließe ich Euch daher ab sofort vom weiteren Fortgang des Prozesses aus und verweise Euch des Saales! Die Verhandlung ist vertagt auf morgen früh zur zehnten Stunde.«
Der Hammer ging nieder.