ANMERKUNGEN ZUM EINSTURZ DES KÖLNER STADTARCHIVS
Als das Blaulicht nicht vorüberhuschte, sondern sich an den Wänden des Büros festklammerte, wusste ich, dass ein Unglück zu mir gekommen war. Ich trat ans Fenster, blickte auf die Nord-Süd-Fahrt: Feuerwehrwagen reihten sich dort, dick bereifte Fahrzeuge des Technischen Hilfswerks mit der Aufschrift »Katastrophenschutz« – wie viel Angst doch das Wort »Schutz« in einem solchen Zusammenhang machen kann. Eine Bombe, dachte ich. In der Baugrube für die Nord-Süd-Stadtbahn drüben am Waidmarkt haben sie wieder einmal eine Weltkriegsbombe gefunden.
Aber ich glaubte selbst nicht recht daran. Hier stimmte etwas nicht. Es war still geworden. Keine Martinshörner mehr und auch kein Verkehr. Das ständige Brausen der Autos auf der Nord-Süd-Fahrt war verstummt. Ich trat ans Fenster. Die Straße war abgesperrt. Eine der größten Verkehrsadern der Stadt: abgeschnürt. Ich schaltete das Radio ein. Nach dem Musikstück sagte der Sprecher des WDR 2: »Wie Sie soeben in den Nachrichten gehört haben, ist das Gebäude des Kölner Stadtarchivs in der Severinstraße eingestürzt.«
Ich wusste, dass das nicht stimmen konnte, denn dann hätte ich ja etwas hören müssen, das Archiv war nur wenige hundert Meter entfernt. Ich hielt es für eine voreilige Sensationsmeldung und war verärgert über den Sprecher. Er hätte auch sagen können: Ein Meteor hat den Kölner Dom dem Erdboden gleichgemacht. Natürlich ist so etwas möglich, aber es ist abwegig.
»Die Nachbargebäude wurden ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Unter den Trümmern werden noch Menschen vermutet.«
Nach diesen Worten wagte ich nicht mehr zu zweifeln – nach diesem Satz, den man sonst aus fernen Erdbebengebieten hörte. Ich sah die Staffeln der Suchhunde auf ihrem Weg zur Unglücksstelle. In 300 Metern Entfernung kämpften Menschen offenbar um ihr Überleben – oder waren sie sofort tot gewesen? So jedenfalls sagte man es, als man die beiden Opfer in den folgenden Wochen barg.
Ein Haus, errichtet zum Schutz der Menschen und ihrer Habseligkeiten, war zur Hälfte eingestürzt, ein Archiv, errichtet zum Schutz von Dokumenten, war in sich zusammengebrochen. Zwei Gebäude waren zu einer Katastrophe geworden.
Am Nachmittag verließ ich die Sperrzone, vorbei an Polizisten mit Funksprechgeräten und an Übertragungswagen verschiedener Fernsehanstalten. Mir kam eine Frau in roter Signalweste entgegen, ihr folgten etwa zwanzig Personen, Kameras geschultert, Mikrofone in der Hand, Handys am Ohr: eine Reisegruppe des Unglücks. Die Autorin in mir sah sich das alles sehr genau an, obwohl ich wusste, dass ich darüber nicht schreiben würde.
Ich suchte die Unglücksstelle nicht auf, solange der Schuttberg sie dominierte. Erst zwei Monate später ging ich an die Stelle, die ich inzwischen so oft im Fernsehen und auf Zeitungsfotos gesehen hatte. Eine gewaltige Grube mit einem gewaltigen Dach darüber. In der Grube: Wasser. Unter den Trümmern und in dem Wasser: Archivalien aus mehreren Jahrhunderten, der Kölner Verbundbrief, Jugendamtsakten, das napoleonische Stadtsiegel, Steuerkarten, die Prozessakten des Falls Agnes Imhoff.
Im Laufe der Zeit lernte ich, dass nicht das Wasser die Gefahr war, sondern die Pilze und Bakterien, die an der Luft auf das feuchte Papier warteten, sowie die alkalischen Salze, die das Papier zersetzten. Ich hörte von den aufwendigen Prozessen des Gefriertrocknens, und ich hörte Zahlen: Fünf Prozent des Archivguts sind auf immer verloren, die geretteten Stücke sind zu hundert Prozent restaurierungsbedürftig. Die Kosten dafür belaufen sich auf 400 bis 500 Millionen Euro (die Rettung der Anna Amalia Bibliothek forderte lediglich 30 Millionen Euro). Es wird voraussichtlich dreißig Jahre dauern, bis alle Archivalien gesichert sind.
Für den April hatte ich mir vorgenommen, einen Termin im Stadtarchiv auszumachen, um etwa ein Dutzend Dokumente einzusehen – Abschlussrecherchen zu meinem Roman über Kölns napoleonische Zeit. Die Arbeit an diesem Roman hatte nun ein Ende gefunden, das ich mir nie hätte vorstellen können. Die Auswirkung, die der Einsturz des Archivs auf mein Projekt hatte, war jedoch unbedeutend angesichts zweier Toter, unbedeutend auch im Vergleich zu Doktor- und Forschungsarbeiten, denen innerhalb von Sekunden die Grundlagen entzogen worden waren.
Das Gefühl meiner eigenen Ohnmacht war dennoch nicht unbedeutend, und ich wollte mich daraus lösen. Die Idee einer Benefizaktion nahm Gestalt an, und in Quo Vadis fanden sich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, die diesen Plan unterstützten und fortführten. So entstand die LeseTaten-Reihe: An sieben Orten in der Bundesrepublik lasen dreißig Autorinnen und Autoren im April 2010 unter Verzicht auf ihr Honorar aus ihren Werken. Fünf der Teilnehmer sind auch in dem vorliegenden Band vertreten. Die Einnahmen der Lesereihe wurden für eine Patenschaft verwendet. Die Wahl fiel auf das Gerichtsdokument zum Fall Agnes Imhoff.
Damals wurden Zeugen gehört und Aussagen verglichen, und das wird auch heute wieder geschehen: Zurzeit werden drei Prozesse wegen des Archiveinsturzes vorbereitet. Von gefälschten Bauprotokollen ist die Rede, von fehlenden Sicherheitsstützen, von mangelnder Bauaufsicht und von übermäßigem Abpumpen von Grundwasser. Man wird über mögliche Baumängel sprechen, über Versäumnisse, vielleicht über Pfusch. Vielleicht wird es so ausgehen, wie Peter Meisenberg in seinem Radio-Feature befürchtete: »Am Ende sitzt das Grundwasser auf der Anklagebank«.
Wie auch immer das Urteil lauten wird: Die Wiederherstellung der Archivalien wird das nicht beschleunigen, noch wird es auf wundersame Weise retten, was bereits aufgegeben werden musste. Die Grube wird man eines Tages zuschütten, das Gelände wird vielleicht wieder bebaut werden, aber noch klafft die Wunde. Sie ist sichtbar im Stadtbild und, wie die große Resonanz der Benefizaktion bei den Mitgliedern von Quo Vadis gezeigt hat: Der Verlust der Archivalien ist über die Stadtgrenzen hinaus spürbar – nicht nur für uns Autoren. Archive und Museen sind Orte, an denen eine Gemeinschaft die Grundlagen ihrer Identität hinterlegt. Es sind daher Orte, an denen die Vergänglichkeit unverrichteter Dinge vorübergehen soll. Diesmal aber hat sie zugeschlagen mit einer Genauigkeit, die nicht nur die Bürger Kölns wie einen Anschlag auf ihre Identität empfinden. Das Kölner Stadtarchiv war das größte seiner Art nördlich der Alpen, die Sammlung begann im Jahr 1322 im Kölner Rathaus, überdauerte Herrscherwechsel und Kriege, bewahrte Wappenbücher ebenso wie Büroquittungen.
Die Katastrophe des Archiveinsturzes führte nicht nur in Köln, sondern auch auf internationalen Tagungen zu Diskussionen über die Kultur des Aufbewahrens und den gesellschaftlichen Stellenwert von Archiven. Wir können es uns nur leisten, etwas wegzuwerfen, weil es Orte gibt, an denen aufbewahrt wird, und weil ständig neu erschaffen wird. Wegwerfen und neu (be)schaffen, das ist der Herzschlag des Konsums. Dass auch die Literatur ein Konsumgut ist, war schon immer ihre Bürde. Die Archivalien aber waren keine Konsumgüter (mehr). Fast scheint es, als wäre ihnen dieser Anachronismus zum Verhängnis geworden. Sie ließen sich in ihren Inhalten digitalisieren, nicht aber in ihrer Haptik. Das ewige Leben im Internet, das jedem Urlaubsfoto möglich ist: Den Archivalien steht es nicht zu.
Dies soll nun anders werden. Das Archiv der Zukunft, das die »Stiftung Stadtgedächtnis« in Köln plant, wird neue Wege gehen und die Möglichkeiten nutzen, die der virtuelle Raum bietet. Die Zukunft strebt dem weltweit zugänglichen Datensatz entgegen, aber sie kann es nur, wenn sie auf Papier und Pergament fußt. Im Zuge der Rettung der Archivalien wird Köln zu einem internationalen Zentrum der Papierrestaurierung ausgebaut werden. Methoden und Technologien werden neue Impulse erhalten, wenn aus »Archivflocken« wieder Dokumente entstehen.
Es wird ein Rest bleiben, der nicht gerettet werden kann. Es ist aber gerade dieser Rest, der unser Bewusstsein schärft für die Verantwortung, die wir gegenüber Archivgütern und Erinnerungsstücken tragen. Und es wird auch nach der juristischen Aufarbeitung der Katastrophe ein Rest der Empörung bleiben. In dieser Empörung liegt Hoffnung, denn sie ist Gradmesser für die Leidenschaft, mit der man sich für eine Sache einsetzt. Wenn die sichtbaren Spuren des Archiveinsturzes längst verschwunden sind, bedeutet das nicht, dass auch die Wunden geheilt sind. Doch den ungeheilten Wunden steht eine »unheilbare« Leidenschaft gegenüber, aus der Antrieb und Impulse hervorgehen.
Man könnte sagen, dass die Autorinnen und Autoren von Quo Vadis eine solche unheilbare Leidenschaft für Geschichte besitzen; dieser Leidenschaft haben sie mit dem Benefizprojekt Ausdruck verliehen. Sie haben damit einen finanziellen und vor allem ihren ganz persönlichen kreativen Beitrag zur Rettung der Archivalien geleistet, der angesichts der immensen Arbeit, die noch nötig ist, gering anmutet. Wir hoffen aber, dass der Impuls der Aktion fortwirkt und auch andere dazu einlädt, Verantwortung für unsere Gedächtnisorte zu übernehmen.
Tanja Schurkus
März 2012