23. 11. 1534

Fünfter Verhandlungstag

Agnes erwachte im Morgengrauen aus einem schrecklichen Albtraum. Wie eine alte Frau kroch sie mit heftig pochendem Herzen aus den Federn. Aber noch schlimmer war das anhaltende Gefühl, dass die Welt sie mit bösen Augen verfolgte – aus den Tiefen des kalten Kamins, aus den Ecken der dunklen Holzvertäfelung. Sogar unter dem Bett schien etwas unendlich Niederträchtiges zu lauern, das sie zu verschlingen drohte, sobald sie auch nur einen Fuß auf den Boden setzte.

Beunruhigt blickte sie zurück auf ihre Schlafstatt. Zwischen den Kissen schaute ein blonder Schopf hervor. Es war Sophie, die tief und fest schlief. Was hatte dieses arme Mädchen nicht alles in den vergangenen Wochen und Monaten erleben müssen? All das Unglück, das ihr gemeinsames Leben hinwegzufegen drohte, wie ein Sturm im Sommer, der ohne Rücksicht auf Hunger die Ernte vernichtet.

Seit Andreas’ Tod war nichts mehr, wie es einmal gewesen war. Und doch – ihren Vater vermisste Sophie wohl nicht. Wie auch? Er hatte für das Kind zu Lebzeiten kaum ein gutes Wort übrig gehabt. Das Mädchen war ihm schlichtweg gleichgültig gewesen, und nicht das erste Mal dachte Agnes darüber nach, ob ihre Ehe und damit ihr Schicksal anders verlaufen wären, wenn sie ihrem Mann anstelle der Tochter den heiß ersehnten Sohn geschenkt hätte.

Andreas hatte sich so sehr auf einen männlichen Erben gefreut, jemanden, der ihm ähnlich gewesen wäre und dem er später sein Geschäft hätte vermachen können. Jemanden, der ihm die Zukunft und das Alter gesichert hätte. Doch Gott hatte anders entschieden und ihnen weitere Kinder verwehrt.

Trübes Licht fiel durch das einzige Fenster, und während sich Agnes das lange, braune Haar auskämmte, das ihr bis weit über die Schultern reichte, verfolgte ihr Blick die Regentropfen, die an den Butzenscheiben herunterrannen. Nach einer Weile erschienen sie ihr wie die vielen ungeweinten Tränen, die sie seit Wochen zurückgehalten hatte.

Am heutigen Tage würde der Richter sein Urteil fällen. Zuvor aber war sie als vierte Zeugin zu einer abschließenden Aussage geladen.

»Der Angeklagte hat immer das letzte Wort«, hatte ihr Augustin von Küffen erklärt. Ihm vertraute sie inzwischen weit mehr als ihrem Advokaten Mathis von Homburg, der seinen jungen Assistenten ohne Gnade entlassen hatte, nur weil dieser sich vor Gericht für sie eingesetzt hatte.

Der Gedanke, dass ihr und Sophies gemeinsames Schicksal nunmehr von einer einzigen Aussage abhing – nämlich ihrer eigenen –, machte sie halb wahnsinnig vor Angst.

Sie fröstelte, wenn sie daran dachte, zu welchen Taten die Not sie getrieben hatte.

Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie sie zu später Stunde Clewin im Haus der zwielichtigen Else aufgesucht hatte. Damals hatte Andreas noch gelebt, und es war ihr wie ein Höllenritt erschienen, als sie sich während seiner Abwesenheit bei Nacht und Nebel durch die Gassen von Köln geschlichen und mit zitternder Hand an Clewins Kammer geklopft hatte.

Kaum hatte der alte Seebär die Tür einen Spalt weit geöffnet, war ihr der Geruch von Moder und abgestandenem Schweiß entgegengeschlagen. Misstrauisch hatte der einäugige Mann sein verbliebenes Auge auf sie gerichtet, wie ein furchterregender Zyklop, der seine Beute fixiert. Erst als er sie im Schein der Tranfunzel erkannt hatte, hatten sich seine wettergegerbten Gesichtszüge ein wenig entspannt …

»Darf ich eintreten?«, fragte Agnes unsicher und warf über die Schultern des Seemanns hinweg einen flüchtigen Blick in die einfach ausgestattete Stube.

»Weiß Euer Mann, dass Ihr hier seid?«, polterte er ungehalten und rümpfte dabei seine Nase, die von Pockennarben und vom Suff verunstaltet war.

»Was kümmert’s dich? Ich bin hier, um die Wahrheit über meinen Mann und seine Geschäfte zu erfahren«, erwiderte sie mit bebender Stimme. »Und von der Ursel weiß ich, dass du mir möglicherweise dabei helfen kannst.«

Bei diesen Worten ging ein Ruck durch Clewins gedrungene Gestalt. »Nicht hier draußen«, zischte er ärgerlich. »Kommt rein, sonst hört oder sieht uns womöglich noch jemand.«

Agnes verspürte ein ungutes Gefühl im Bauch, als sie die Kammer betrat und Clewin die Tür hinter ihr verschloss. Trotzdem nahm sie ihren Mut zusammen, um ihm die alles entscheidenden Fragen zu stellen.

»Ich will, dass du hier und jetzt das wiederholst, was du der Ursel im Kleinen Ochsen erzählt hast. Hast du die wertvolle Ware des Engländers im Auftrag meines Mannes gegen schlechtes Tuch ausgetauscht und dieses dann mit Brackwasser übergossen? Oder soll ich Andreas direkt darauf ansprechen? Er wird nicht erfreut sein, wenn er erfährt, dass du in den Schenken der Stadt deinen Mund nicht halten kannst.«

Clewin war anzumerken, dass er sich wegen seiner Redseligkeit innerlich verfluchte. Seine Miene war düster, und für einen Moment vermittelte er den Eindruck, als spielte er mit dem Gedanken, sie aus seiner Kammer hinauszuwerfen. Doch dann straffte er sich und sah sie auffordernd an. »Und was bekomm’ ich dafür, oder denkt Ihr, ich riskiere ohne Gegenleistung den Zorn Eures Gatten?«

»Was verlangst du?«, fragte sie forsch.

»Eine Handvoll Silber wäre nicht schlecht«, erwiderte er. »Genug, damit ich mich aus dem Staub machen kann, falls Ihr so dumm seid, mich an wen auch immer zu verraten.«

»Du hast doch schon alles der Ursel ausgeplaudert, also was macht es für einen Unterschied, wenn du nun auch mir davon erzählst?«

»Bei Ursel war ich betrunken, und ich könnte es leicht als Erfindung hinstellen. Bei Euch bin ich nüchtern, und bei Gott dem Allmächtigen, was hab’ ich für eine Ahnung, was Ihr mit diesem Wissen zu tun gedenkt?«

»Erzähl mir alles, und ich verspreche dir, gegenüber meinem Mann striktes Stillschweigen zu bewahren, was unsere Zusammenkunft und alles andere betrifft.«

»Erst das Geld«, forderte Clewin und streckte seine schwielige Hand aus.

»Ich habe nur fünf Silbergroschen dabei, die ich dir sofort geben kann. Mehr ist im Moment nicht zu holen.«

Clewin nickte bedächtig. »Nun gut«, sagte er, als Agnes das Geld aus ihrem Samtbeutel kramte und es ihm mit zitternder Hand entgegenstreckte. Ohne Umschweife nahm er die Münzen an sich und steckte sie hastig in seine Jackentasche. Danach bot er ihr einen Platz und sogar einen Becher mit Bier an. Nachdem sie den Platz dankend angenommen, aber das Bier abgelehnt hatte, griff er nach dem Krug und schenkte sich selbst ein. Er nahm einen kräftigen Schluck und begann erst zögernd, doch dann immer flüssiger von jenem Tag zu berichten, als Andreas ihm ein glänzendes Geschäft vorgeschlagen hatte.

»›Dieser Richard Charman‹, hat Euer Mann getönt, ›ist ein reicher Sack, der den lieben langen Tag nichts anderes tut, als ehrlichen Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen.‹ Sein Plan war tatsächlich, die Tuche des englischen Händlers gegen minderwertige Ware auszutauschen, diese dann mit Brackwasser zu übergießen, damit sie stockten und man vor lauter Flecken das Muster nicht mehr erkennen konnte, um somit den Schwindel zu verschleiern.«

»Wie konnte er nur auf eine solche Idee kommen?« Agnes war ehrlich entsetzt. »Und warum hast du seinem Vorschlag so willfährig zugestimmt?«

»Na ja …«, antwortete Clewin zögernd. »Es war nicht nur das Geld, das mich gelockt hat. Ich bewunderte Euren Mann für seine Gerissenheit, vor allem aber war ich ihm dankbar, dass er mich in dieser Angelegenheit als gleichwertigen Partner behandelt hat.«

Agnes war nicht fähig, etwas darauf zu erwidern. In ihrem Kopf drehte sich alles.

»So war das«, endete Clewin nach einer Weile und kippte den restlichen Inhalt des Bechers mit einem Zug hinunter.

Agnes war ganz steif vor Angst, weil sie ahnte, dass die Geschichte des griesgrämigen Seemannes der Wahrheit entsprach. Schon lange hatte sie vermutet, dass Andreas zeit seines Lebens nicht nur ehrenwerte Geschäfte gemacht hatte, sondern auch jede Menge unrechtmäßige.

Aber wie üblich hatte er sie nicht in seine üblen Machenschaften eingeweiht, Frauen hatten seiner Meinung nach im Geschäft nichts zu suchen. Sie seien zu redselig und zu gutgläubig, und auch wenn es seltene Ausnahmen gebe, so würden diese Attribute auf Agnes zweifelsfrei zutreffen, wie er des Öfteren betonte. Ihm genügte es völlig, dass sie sein Bett wärmte und – nicht zu vergessen – ihre Schönheit behielt, damit er mit ihr glänzen konnte, wenn sie hin und wieder prunkvolle Festlichkeiten in seinem Namen organisierte. Ab und an verlangte er eine Unterschrift von ihr, doch er erklärte ihr nie, wofür er sie benötigte. So konnte sie allenfalls rätseln, was er gerade wieder im Schilde führte. Und wenn sie ehrlich war, interessierte sie sich auch nicht besonders für die Vorgänge im Kontor. Lieber kümmerte sie sich um Sophie und repräsentierte, wenn auch eher notgedrungen, ihren gemeinsamen Erfolg und ihre Redlichkeit bei offiziellen Anlässen, zu denen sie als Geldadel von Köln geladen waren.

»Danke«, flüsterte sie mit belegter Stimme und begab sich mit weichen Knien nach draußen auf die nächtliche Straße. Schweren Herzens eilte sie nach Hause …

Jetzt im Nachhinein dachte sich Agnes, dass sie Clewin damals einen wahrhaft stolzen Preis gezahlt hatte, nur um sich bestätigen zu lassen, was sie ohnehin schon wusste. Im Augenblick besaß sie nicht einmal mehr fünf Silberlinge. Seit Andreas gestorben war, war bis auf die Pacht aus dem Wirtshaus kein Verdienst reingekommen, und mit dem Prozess, den Charman gegen sie angestrengt hatte, sah ihre Zukunft nicht gerade rosig aus. Sie war auf die beiden Häuser, die ihr Mann ihr überschrieben hatte, angewiesen, ansonsten würde sie mitsamt ihrer Tochter wie eine Bettlerin auf der Straße sitzen.

Zutiefst bedrückt stand sie auf und ging ans Fenster. Während sie die Welt dort draußen durch die runden Scheiben betrachtete, dachte sie darüber nach, wie sie noch vor nicht allzu langer Zeit bereit gewesen war, wenigstens eines dieser Häuser an Charman abzutreten.

Oh ja, mit Richard hatte sie etwas verbunden, das, wie Gerlin bitter bemerkt hatte, weit über Freundschaft hinausging und das einer sittsamen Ehefrau gewiss nicht anstand. Aber hätte sie das vor Gericht, vor den versammelten Bürgern dieser Stadt zugeben sollen? Niemand durfte erfahren, was genau sich zwischen ihnen zugetragen hatte, vor allem Sophie nicht.

Agnes war nicht mehr zur Ruhe gekommen, seit Clewin ihr über die Machenschaften ihres Mannes die Augen geöffnet hatte. Von der Überzeugung getrieben, nicht nur den guten Namen des Imhoff’schen Geschäfts, sondern auch ihren eigenen verteidigen zu müssen, hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie nahm sich vor, das an Richard Charman begangene Unrecht auch ohne die Unterstützung ihres Mannes wieder ins Lot zu bringen und gleichzeitig sich selbst und Sophie vor dem drohenden Unheil zu bewahren. Doch dafür hatte sie das Einverständnis und die Hilfe des Engländers benötigt.

Agnes traf den Engländer, wie man ihn allenthalben in Köln nannte, das erste Mal im Frühling des vergangenen Jahres, als Andreas ihn zu einem ihrer Feste einlud. Und bereits damals imponierte ihr seine stattliche Erscheinung.

Obwohl er ein reicher Händler war, kleidete er sich vergleichsweise schlicht in Wolle und Leder. Alles, was er trug, war zwar von guter Qualität, aber ohne jeglichen Prunk. Sein dunkelblondes Haar war ordentlich geschnitten und reichte ihm bis auf die Schultern. Ein paar Fältchen umspielten seine tiefblauen Augen, die Agnes sogleich in ihren Bann zogen. Im Gegensatz zu seinem energisch-kantigen Kinn war der Mund weich und die Nase gerade und spitz, was ihn auf den ersten Blick feinsinnig und edel erscheinen ließ.

Als jedoch Richard Charman das Imhoff’sche Kontor einige Zeit nach dem Vorfall mit der vertauschten Ware aufsuchte, wurde er, entgegen seiner üblichen zurückhaltenden Art, laut und beschimpfte Andreas in ihrem Beisein als einen Lügner und Betrüger. Damals konnte Agnes kaum glauben, was sie da hörte. Andreas sollte die wertvollen flandrischen Tuche, die Charman ihnen aus Antwerpen geschickt hatte, unterschlagen und durch andere, minderwertige ersetzt und zurückgeschickt haben. Am Ende verließ Charman wutentbrannt das Haus, erhob noch auf der Straße die Faust und drohte mit dem Richter.

Später traf sie ihn zufällig auf dem Markt, und er appellierte in leidenschaftlicher Weise an ihr Mitgefühl.

»Ihr seid doch eine Frau mit Mut und Verstand«, erhob er vor allen Leuten seine Stimme. Dann zog er sie gegen ihren Willen in den Schatten einer Linde und beschwor sie geradezu mit seinem intensiven Blick, ihn anzuhören.

Doch obwohl sie ihn im Grunde schon damals sehr mochte, entzog sie sich schweren Herzens seinem Einfluss, mit der Begründung, dass sie von all dem nichts wisse und ihm beim besten Willen nicht helfen könne. Verwirrt und zutiefst verunsichert lief sie anschließend nach Hause.

Kurz darauf erhielt sie den Hinweis von ihrer Pächterin Ursel Rumperth, dass an der Sache doch etwas dran sein könnte. Daraufhin kam es zwischen Agnes und ihrem Mann zu einem bösen Streit, weil sie es wagte, den Handel mit Charman zu hinterfragen, ohne jedoch die Quelle des Zweifels zu nennen.

Andreas verbot ihr wie üblich das Wort und betrank sich hernach sinnlos in einer Schenke. Als er zurückkehrte, zerrte er sie ohne Worte ins Bett, wo er sie mit Gewalt nahm und anschließend schlug.

Es war nicht das erste Mal, dass er so mit ihr umging. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie ihn nie anders gekannt. Schon gleich nach ihrer Hochzeit hatte er sie das erste Mal gezüchtigt, weil sie angeblich mit Absicht die Blicke anderer Männer auf sich zog und sich geweigert hatte, ihm jederzeit zu Willen zu sein. Völlig außer sich hatte er damals behauptet, sie sei ein gieriges Weib, das ihn nicht aus Liebe, sondern nur des Geldes wegen geheiratet habe.

Mit den Jahren war es immer schlimmer geworden, und zur Vergeltung ihrer angeblichen Sünden hatte er sie regelmäßig mit den Händen oder dem Stock traktiert. Danach war ihr nichts anderes übrig geblieben, als die blauen Male notdürftig unter ihrer kostbaren Kleidung zu verstecken, die Andreas ihr trotz oder gerade wegen seiner Grobheiten des Öfteren schenkte. Agnes war es inzwischen längst gleichgültig, ob und wann er sie schlug, aber nicht wo. Solange er es in der Intimität ihres Schlafzimmers tat, war sie bereit, sich in ihr Schicksal zu ergeben. Nicht aber, wenn es vor Sophies Augen geschah, was in letzter Zeit immer häufiger der Fall war. Manchmal reichte nur ein falsches Wort, um ihn in Rage zu bringen.

Am liebsten wäre sie ihm davongelaufen. Doch wohin sollte sie gehen? Ihre Eltern, ehemals angesehene Kaufleute, waren längst tot. Geschwister hatte sie keine. Aber am meisten bedrückte sie, dass sie nichts Eigenes und keinerlei Talente besaß, um für Sophie und sich selbst einen gesicherten Lebensunterhalt verdienen zu können.

»Du könntest allenfalls deinen Leib an betrunkene Freier verkaufen«, hatte Andreas gehöhnt, als sie nach einem besonders bösartigen Angriff allen Mut zusammengenommen und ihm damit gedroht hatte, ihn zu verlassen.

Im Rückblick konnte sie nicht mehr zweifelsfrei sagen, was sie sich dabei gedacht hatte, als sie Charman kurz nach ihrem Streit mit Andreas heimlich besucht hatte.

Der gut aussehende Geschäftsmann hatte ihr bereits bei früheren Begegnungen immer wieder mit Blicken und kleinen Gesten zu verstehen gegeben, wie sehr er sie schätzte. Er selbst hatte ihr unter der Linde verraten, dass er im Schwarzen Hahn am Alten Markt logierte, und sie aufgefordert, ihn dort zu besuchen, was ihr merkwürdig erschienen war.

Vielleicht war es ein diffuses Gefühl von reuiger Verpflichtung gewesen, das sie dazu gebracht hatte, ihn nun doch aufzusuchen, nachdem sie von Clewin erfahren hatte, wie übel Andreas dem Engländer tatsächlich mitgespielt hatte. Zusätzlich war ihr Vorhaben von dem Gedanken genährt worden, dass sie dieses Geschäft mit ihrer naiven Unterschrift überhaupt erst möglich gemacht hatte. Andererseits hatte sie vielleicht geglaubt, Andreas mithilfe von Charman und dem Wissen von Clewin noch zur Vernunft bringen und dazu bewegen zu können, seine Verfehlungen wieder rückgängig zu machen. Denn nur so wäre seine Seele vor dem drohenden Höllenfeuer zu retten gewesen. Und falls nicht, so hatte sie möglicherweise auf Charmans Verständnis für ihre missliche Lage gehofft, darauf, dass er bereit sein würde, auf ihr Angebot einzugehen und ihr anschließend aus der Umklammerung ihres unlauteren Ehemanns herauszuhelfen.

Der Umstand, dass Andreas für mehrere Tage zu einer Messe nach Aachen verreist war, hatte schließlich für Agnes den Ausschlag gegeben, ihren waghalsigen Plan in die Tat umzusetzen.

Noch immer erschien es ihr wahrhaft verrückt, dass sie ganz allein in einem dunklen Mantel und mit heruntergezogener Kapuze in den Schwarzen Hahn gegangen war …

Mutig trat sie an den Ausschank heran und erkundigte sich bei dem dicklichen Wirt mit der Halbglatze nach Charman. Nachdem er die Anwesenheit des Engländers bestätigt hatte, bat sie ihn, Charman zu fragen, ob er bereit sei, sie zu empfangen.

»Seit wann kommen die bestellten Huren im Nonnengewand daher?«, grölte einer der betrunkenen Gäste lautstark, weil es wohl nur eine Sorte von Frauen gab, die sich zu so später Stunde und ohne schützende Begleitung nach einem Mann erkundigten. Der Rest der Gäste brach daraufhin in dröhnendes Gelächter aus.

Agnes lief es bei den haltlosen Sprüchen der Männer heiß und kalt den Rücken hinab. Obwohl sie diesem unverschämten Kerl, der das Geschwätz begonnen hatte, am liebsten die Meinung gesagt hätte, blieb sie ruhig, um vor den übrigen Gästen ihre Identität nicht zu offenbaren. Nicht auszudenken, wenn jemand sie oder Andreas gekannt hätte.

Bebend vor Aufregung wartete sie am Treppenaufgang hinter dem Schankraum auf Charmans Antwort.

In einer Mischung aus Erleichterung und Furcht folgte sie anschließend dem Wirt in die oberen Gemächer, nachdem Charman seine Zustimmung gegeben hatte.

»Guten Abend, Madame«, begrüßte der Engländer sie mit weltmännischem Charme, als sie über die Türschwelle trat. Er verbeugte sich und reichte ihr höflich die Hand.

Im Takt eines Herzschlages überblickte Agnes die Einrichtung der durchaus geräumigen Stube. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, darauf eine brennende Wachskerze und ein halb aufgegessenes Mahl. Der Wirt, der Agnes hinaufbegleitet hatte, tauschte die leere Weinkaraffe gegen eine volle. »Und bringt noch einen Becher«, rief Charman ihm mit rauer Stimme hinterher. Dann wandte er sich Agnes zu. »Entsprechend meinem schlechten Benehmen auf dem Marktplatz hatte ich eigentlich nicht erwartet, Euch noch mal leibhaftig zu sehen«, begann er und zwinkerte ihr dabei vertraulich zu.

»Setzt Euch doch«, bot er freundlich an, als sie nicht sogleich etwas erwiderte, und schob ihr einen Stuhl zurecht. »Ich bin Euch gern zu Diensten!« Seine Augen funkelten im Kerzenschein, als er sie unvermittelt anlächelte.

Zu Diensten? Hatte sie schon jemals einen Mann getroffen, der bereit war, ihr zu dienen? Und dann noch unter solch unglücklichen Umständen? Für Andreas kam so etwas jedenfalls nicht in Frage. Bei ihm war es umgekehrt, die Frau diente dem Mann, indem sie ihm untertan war.

Zögernd setzte sie sich nieder. Erst nachdem der Wirt den Becher gebracht hatte und wieder gegangen war, schlug sie die Kapuze zurück.

Charman starrte sie an wie eine Erscheinung. »Jesus«, sagte er nur, und das mit einer Betonung, die offenbar seinem merkwürdigen Akzent geschuldet war. »Euer Anblick verzaubert mich stets aufs Neue. Weiß Euer Gatte überhaupt, wie glücklich er sich schätzen darf, mit einer so schönen Frau verheiratet zu sein?«

»Ihr müsst entschuldigen«, begann sie zögerlich und senkte angesichts seiner Schmeicheleien verlegen den Blick, »wenn ich unangemeldet hier erscheine, aber …«

Während sie ihm von ihrer Absicht berichtete, ihm nun doch zu helfen, hielt sie mehrmals inne, um nach Worten zu suchen. Charman hingegen schien sie gar nicht zu hören. Er schaute sie nur unentwegt an. Plötzlich löste er sich aus seiner Erstarrung, schloss den Mund wieder, der für einen Moment offen gestanden hatte, und schluckte. Agnes’ Blick fiel auf seinen breiten Hals und seinen Adamsapfel, der währenddessen auf und ab hüpfte.

»Ihr wollt mir also helfen«, wiederholte er ungläubig. »Und das, nachdem Ihr mein Ansinnen vom Markt so vehement abgelehnt habt?«

Sie nickte, froh darüber, dass der von ihr befürchtete Wutausbruch offenbar ausblieb. »Ich weiß inzwischen, dass mein Mann Euch tatsächlich Unrecht getan hat«, fuhr sie hastig fort. »Ich schäme mich so sehr für ihn. Und im Augenblick ist er verreist … da dachte ich …«

»Was dachtet Ihr?« Er hob eine Braue und schaute sie fragend an.

»Ich dachte, dass ich die Angelegenheit wiedergutmachen könne, indem ich Euch ein Geschäft vorschlage. Ich könnte Euch eines meiner eigenen Häuser abtreten, wenn Andreas nicht bereit ist, den Schaden zu zahlen.«

»Abgesehen davon, dass Ihr mit beiden Häusern gebürgt habt – denkt Ihr ernsthaft, das würde er zulassen?« Charman schien sichtlich verblüfft. »Euer Gatte behauptet, er könne seine Schulden nicht bezahlen, da all sein Vermögen Euch gehöre und Ihr nicht haftbar zu machen seiet. Was allerdings Unsinn ist, da ich zum einen vor Abschluss des Geschäfts Erkundigungen über seine Bonität habe einholen lassen und Ihr zum anderen mit Eurer Unterschrift für ihn gebürgt habt.« Leicht verärgert zuckte er mit den Schultern. »Weshalb also soll ich auf die Hälfte meines Geldes verzichten? Wenn Euer Ehemann nicht einlenkt, werde ich die Sache wohl zu Gericht geben müssen«, beschied er verdrießlich.

»Tut das nicht«, bettelte sie. »Vielleicht können wir uns ja gütlich einigen. Schließlich konnte ich nicht wissen, was er vorhat, als er mich zur Unterschrift aufrief. Er zwingt mich des Öfteren, meinen guten Namen für seine Geschäfte herzugeben. Hätte ich geahnt, was er im Schilde führt, hätte ich niemals unterschrieben.«

»Das ist bedauerlich, aber es geht auch um meine Existenz!«

Agnes blickte verstört auf. »Was ist Euch lieber? Prozessieren und vielleicht alles verlieren? So aber bekommt Ihr mit Gewissheit die Hälfte des Schadens ersetzt. Außerdem weiß ich von jemandem, der Andreas schwer belasten könnte. Wenn Ihr meinem Ehemann damit droht, lenkt er bestimmt ein. Er mag ein Betrüger sein, aber dumm ist er nicht.«

Charman kniff fragend die Augen zusammen, was ihn geradezu wild aussehen ließ.

»Wiederholt das noch einmal«, sagte er rau.

»Ich habe einen Zeugen, der den Betrug bestätigen kann, einen Handlanger von Andreas, der ihm geholfen hat, den Schwindel mit Eurer Ware durchzuführen. Er ist in Köln. Ich habe ihn getroffen, und er wäre gegen ein gewisses Salär bestimmt bereit auszusagen, wenn man ihm garantieren würde, dass er straffrei davonkommt.«

»Wer ist es?«

Agnes schüttelte den Kopf. »Ich will es Euch gerne sagen, aber gebt mir zuerst Euer Wort, dass Ihr dann auf einen Prozess verzichtet.«

»Einverstanden. Sagt mir den Namen des Zeugen.«

»Er nennt sich der einäugige Clewin. Er selbst hat mir erzählt, dass er die Ware ausgetauscht hat.«

»Warum tut Ihr das plötzlich für mich?«, fragte er mit unverhohlenem Misstrauen, obwohl sein Blick merkwürdigerweise weicher geworden war. Ungefragt goss er Agnes von dem Wein in den vor ihr stehenden Becher. »Trinkt«, sagte er und hielt ihr den Becher entgegen. Sie nahm ihn und setzte ihn mit zitternden Händen an ihre Lippen. Es erschien ihr wie eine himmlische Wohltat, als der teure Rebsaft ihre Kehle hinunterrann.

Als sie absetzte, hatte sie den Becher beinahe leer getrunken. Charman schenkte beiläufig nach und ließ sie dabei nicht aus den Augen.

»Welche Gründe hat eine schöne Frau, wie Ihr es zweifelsfrei seid, mir gegenüber ihren vermögenden Ehemann zu denunzieren? Und das, obwohl ich ihr Feind sein könnte?«

»Ich …« Sie schluckte verlegen, weil ihr die Antwort regelrecht im Halse stecken blieb. »Weil … weil«, presste sie hervor.

Charman legte seine große, warme Hand auf ihre viel kleineren, vollkommen erkalteten Finger und drückte sanft zu.

»So beruhigt Euch doch«, bemerkte er leise. »Ich werde Euch nicht an Euren Mann verraten, und auch sonst werde ich Euch aus der Sache heraushalten, ganz gleich, wie die Angelegenheit ausgeht. Wenn Ihr mir nur Eure Gründe offenlegt, warum Ihr in Wahrheit hier seid. Ihr könnt mir vertrauen. Hört Ihr? Ich spüre doch, dass noch etwas Euer Herz schwer macht.«

Er schaute ihr fest in die Augen und in diesem Moment war etwas von ihm auf sie übergesprungen.

Sein sanfter Blick und die Art, wie er mit ihr sprach, berührten auf sonderbare Weise ihr Innerstes, so wie es noch kein Mann zuvor vermocht hatte. Als ob ein Damm zerbersten würde, brach all das Unglück der vergangenen Jahre aus ihr hervor. Sie sprach über ihre unglückliche Ehe mit Andreas, die nicht, wie Gerlin wohl annahm, auf ihr eigenes Drängen hin geschlossen worden war, sondern nach dem Willen ihrer Eltern, die mit dem Geld ihres Schwiegersohnes den Kleinen Ochsen behalten konnten. Über Andreas’ Rohheit und Brutalität, die er nicht nur ihr gegenüber, sondern von Zeit zu Zeit auch gegenüber Sophie an den Tag legte. Auch ihre Unfähigkeit, sich dagegen zu wehren, ließ sie nicht unerwähnt, und die Tatsache, dass ihr Mann diese Wehrlosigkeit offenbar für seine düsteren Geschäfte ausgenutzt hatte.

»Glaubt mir«, flehte sie Charman beinahe an. »Ich will das alles nicht mehr. In den vergangenen Jahren hat mein Ehemann einen Prozess nach dem anderen vom Zaune gebrochen. Und ich musste mich immer seinen Vorstellungen fügen und ihn dabei unterstützen, ob ich wollte oder nicht. Eine Zeitlang habe ich mir eingeredet, dass es die anderen waren, die ihn betrügen wollten, dass er im Recht war. Er ist schließlich Mitglied der Gilde! Wie kann man von einem nach außen hin ehrbaren Geschäftsmann, mit dem man das Bett teilt und der der Vater des eigenen Kindes ist, etwas Schlechtes annehmen? All das macht mich krank und alt und nimmt mir sämtlichen Lebenswillen. Wenn es so weitergeht, werde ich schon bald in der Hölle schmoren, und das nur, weil ich rückhaltlos einem Teufel gefolgt bin.«

Charman hatte wortlos zugehört und sie angeschaut, als würde er ihr tiefes Verständnis entgegenbringen. Dabei hatte er die ganze Zeit ihre Hand gehalten. Am Ende lag sie weinend in seinen Armen, und er streichelte ihren Rücken. Mit sanfter Stimme versprach er, auf ihren Vorschlag einzugehen. Er war bereit, Andreas noch einmal zur Rede zu stellen, um ihn zum Einlenken zu bewegen und ihm aufzuzeigen, wie nah er mit seinen Machenschaften am Abgrund wandelte. Auch wollte er Agnes in ihrer Absicht unterstützen, ihren Mann zu verlassen, wenn dieser keine Einsicht zeigen würde.

In den nächsten Tagen trafen sie sich noch mehrmals heimlich in Charmans Quartier, um sich über das weitere Vorgehen gegen Andreas zu beraten. Dabei wurde Richard ihr zusehends vertrauter. Nicht nur menschlich, sondern auch körperlich.

An ihrem letzten gemeinsamen Abend, bevor Andreas aus Aachen zurückkehrte, lud er sie zu einem feinen Essen ein. Dafür bestellte er beim Wirt einen guten Rinderbraten und teuren französischen Wein auf sein Zimmer.

»Je mehr du auf dein Gefühl vertraust«, flüsterte er ihr bei Tisch zu und kam ihr dabei so nahe, dass sie seinen Atem auf den Lippen spüren konnte, »desto näher kommst du der Wahrheit deines Herzens.«

Agnes empfand abermals die starke Anziehungskraft, die der Engländer auf sie ausübte. Seine verlangenden Blicke schienen sie regelrecht zu verzehren, was ihr trotz seines guten Aussehens ein wenig Angst einflößte. Wenn es sie auch reizte, an seiner breiten Brust Schutz zu suchen, so scheute sie sich doch, auf sein offensichtliches Werben einzugehen. Nie zuvor hatte sie bei einem anderen Mann gelegen.

»Komm ruhig ein bisschen näher«, bat er sie mit einem einschmeichelnden Lächeln. Sie hatten schon Einiges an Wein getrunken, als der Wirt eine weitere Karaffe aufs Zimmer brachte. Agnes war es unangenehm, dass er Zeuge ihrer intimen Zweisamkeit wurde. Doch Charman schien ihm vollkommen zu vertrauen.

Irgendwie landete sie schließlich auf Charmans Schoß, und er drückte sie in feuchtfröhlichem Überschwang unbotmäßig an sich. Dann küsste er sie plötzlich, und sie ließ es geschehen, wobei sie es zu ihrer Überraschung als sehr angenehm empfand. Obwohl oder gerade weil es so anders war als mit Andreas.

Richards Kuss war süß und ausdauernd, und als sie ihn zaghaft erwiderte, fühlte er sich ermutigt, seine Hand auf ihren bebenden Busen zu legen.

Agnes, die ein recht offenherziges, rotes Samtkleid trug, war ganz schwindelig zumute, als er ihre Brüste mit sanften Händen zu streicheln begann. Erst recht, als er noch mutiger wurde und ihr unter die Röcke fuhr.

»Richard«, keuchte sie erschrocken, als er noch weiter zu gehen drohte.

»Agnes«, hauchte er und begann sie in einer Weise zu liebkosen, wie Andreas es niemals zuvor getan hatte. Sie ließ es geschehen und gab sich ihm willig hin. Irgendwann, als sie schon halb von Sinnen und von Lust betört in seinen Armen lag, bedeutete er ihr, aufzustehen und ihm zum Bett zu folgen.

»Wir sind wie füreinander geschaffen«, überzeugte er sie mit heiserer Stimme. Willenlos ließ sie es geschehen, dass er die Schnüre ihres Mieders öffnete, um ihr aus den Kleidern zu helfen.

Geradezu schwungvoll entledigte er sich anschließend seines eigenen Gewandes. Als er im sanften Kerzenschein schließlich vor ihr stand, wie Gott ihn geschaffen hatte, staunte Agnes nicht schlecht über seinen athletischen Körper. Er glich eher dem eines Söldners oder Reitknechts als dem eines Kaufmannes. Was danach kam, ließ sie ohne Reue geschehen. Sie wollte diesen Mann, der sie nicht nur als Verbündete, sondern auch als Frau respektierte. Richard offenbarte ihr jene Zärtlichkeit, die Andreas ihr immer verweigert hatte. Es war ein solcher Genuss, dass sie sich ihm mehrmals bereitwillig hingab, ohne an die möglichen Folgen zu denken. Danach hielt er sie in seinen starken Armen und sprach sogar von Liebe. »Du könntest zu mir nach England kommen«, sagte er leise.

»Meinst du das ernst?« Sie wusste nicht, was sie von einem solch noblen Angebot halten sollte.

»Natürlich, du könntest deine Tochter mitbringen, dann wäret ihr beide in Sicherheit. Ich würde dafür sorgen, dass die Wachen deinem Mann den Zutritt zur Stadt verwehren.«

»Das würdest du für mich tun?«

Ihr Erstaunen über diesen Mann war grenzenlos. Nie hätte sie eine solche Großzügigkeit erwartet.

»Ja, warum nicht? Du willst mir doch auch helfen, endlich zu meinem Recht zu finden. Ich könnte dir eine angemessene Unterkunft verschaffen, und dort würdest du mit Sophie fortan in Frieden leben.«

»Warum kann ich nicht als Ehefrau in deinem Haus wohnen?«, fragte Agnes irritiert.

Im schwachen Kerzenschein konnte Agnes sein Gesicht nicht sehen, doch Charmans verlegenes Räuspern ließ sie erahnen, dass ihm das, was er zu sagen hatte, unangenehm war.

»Weißt du etwa nicht, dass ich verheiratet bin?«

Stille.

»Was denkst du denn?«, hob er vorsichtig an, als Agnes noch immer schwieg. »Glaubst du ernsthaft, ein Mann in meinem Alter und in meiner Position lebt allein?«

»Nein«, flüsterte sie enttäuscht und dachte an Andreas. Daran, wie wichtig es ihm war, dass sie ihn überallhin, wo es etwas zu repräsentieren gab, begleitete.

»Ich sehe Magdalena nicht oft«, fügte Charman hinzu und ließ es klingen wie eine Rechtfertigung. »Sie ist nicht sonderlich an mir interessiert. Sie kümmert sich um unseren Haushalt in London, damit ist sie zufrieden. Es ist keine Liebe, hörst du? Es ist Vernunft. Vielleicht fällt es mir deshalb so leicht, dich zu verstehen.«

»Könntest du dir vorstellen, sie zu verlassen?«

»Kaum«, antwortete er mit gedämpfter Stimme. »Ich fühle mich ihr verpflichtet. Immerhin hat sie mir einen Sohn geboren, der meine Geschäfte in Antwerpen führt. Er würde es gewiss nicht verstehen, wenn ich seine Mutter wegen einer anderen Frau einfach im Stich ließe. Das kannst du doch nachvollziehen, oder?«

Agnes begriff gar nichts mehr. Der Mann, dem sie bis vor wenigen Minuten nicht nur ihr volles Vertrauen, sondern auch ihr Herz geschenkt hatte, war anscheinend auch nicht anders als andere Kerle. Sicher, er war zärtlich und verständnisvoll. Aber war er das auch bei seiner eigenen Frau? Und wenn ja, wie konnte er diese geteilte Zuneigung mit seinem Gewissen vereinbaren? Oder war er auch nur ein Betrüger, wie Andreas? Nicht mit dem Geldbeutel, aber mit dem Herzen, was ihr fast noch schlimmer erschien.

»Ich muss gehen«, sagte sie traurig und wand sich aus seiner Umarmung. Ungeachtet seiner überraschten Miene schlug sie die Bettdecke zurück. Sofort wurde es kalt. So kalt wie in ihrem Innern, das sich zu einem Klumpen aus Eis zusammengezogen hatte.

»Wo willst du denn hin?«, fragte Charman aufgebracht. »Bitte, Agnes, bleib. Ich meine es ehrlich mit dir!«

»Ich gehe nach Hause«, antwortete sie schlicht und sammelte die Kleidung vom Boden auf. »Wir reden ein anderes Mal.«

»Was willst du?«, fragte er hitzig. »Soll ich mich für dich scheiden lassen?«

»Auf keinen Fall!«, erregte sie sich. »Sollte ich mein Glück etwa auf dem Unglück einer anderen Frau aufbauen?« Wie betäubt zog sie sich an. Seine Worte rauschten an ihr vorbei, während sie wie ein Räuber auf der Flucht hastig in ihre Stiefel schlüpfte. Schwungvoll zog sie den Mantel über. Unterdessen stand Charman, immer noch nackt, in der Stube und starrte sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte. Sein Angebot, sie im Dunkeln nach Hause zu begleiten, schlug sie trotzig aus.

Gedankenverloren lief sie aus der Kammer. Der dunkel gekleideten Frau, die sie dabei am Treppenabsatz des Schwarzen Hahns fast umrannte, schenkte sie keine Beachtung, zu sehr war sie bemüht, ihr Gesicht zu verbergen und den Ort des Geschehens zu verlassen. Aber wie hätte sie auch nur ahnen können, dass Gerlin ihr heimlich gefolgt war und ihnen sogar beim Liebesspiel zugesehen hatte?

Drei Tage später, kaum dass Andreas aus Aachen zurückgekehrt war, stellte er Agnes in der Wohnstube der Wolkenburg zur Rede.

»Du Schlampe! Du Hure! Du Drecksstück!«, brüllte er sie an.

Agnes hielt sich schützend die Hände vors Gesicht, während seine Schläge auf sie einprasselten. Wie hatte er es nur erfahren?

Im Nu riss er ihr die Haube vom Kopf, fasste in ihr langes Haar und zog fest daran. Dabei schlug er ihr links und rechts ins Gesicht, immer wieder, bis sie vor Schmerzen zu Boden ging. Wie üblich war es ihm gleichgültig, dass Sophie sein brutales Vorgehen mit aufgerissenen Augen beobachtete. Als das Kind vor Angst zu schreien begann, zog er Agnes erbarmungslos auf die Füße.

»Du elendes Luder«, brüllte er außer sich vor Wut und schlug nochmals zu. Diesmal mit dem Handrücken direkt auf den Mund. Agnes schmeckte Blut, sein Siegelring hatte offenbar ihre Lippe verletzt. Dennoch spürte sie keinen Schmerz, weil sich ihr ganzes Gesicht betäubt anfühlte. Doch richtig bange wurde ihr erst, als er in blinder Wut das Kind packte und mit ihm die Kellertreppe hinunterlief. »Nun wollen wir mal sehen, wer hier der Herr im Haus ist!«, brüllte er.

Wimmernd vor Furcht steckte Sophie zwischen seinen unerbittlich starken Armen und zappelte wie ein kleines Ferkelchen kurz vor der Schlachtbank.

»Andreas!«, schrie Agnes vor Entsetzen. »Lass um Herrgotts willen das Kind aus dem Spiel!«

Auch wenn Agnes sich dem Wahnsinn nahe fühlte, blieb ihr nichts anderes übrig, als den beiden zu folgen, weil sie fürchtete, er könne Sophie allein aus Rache an ihrer Mutter etwas Furchtbares antun. Doch kaum war sie am Ende der Treppe angekommen, ließ er das heulende Kind auf den Boden fallen und schnappte nach ihrem Arm, den er so fest hielt, als wäre seine Hand ein Schraubstock. Mit wüsten Beschimpfungen bugsierte er sie in einen dunklen Verschlag, während Sophie trotz aller Verzweiflung hinter ihnen herlief, wie ein herrenloses Hündchen. Nachdem er Agnes mit Schwung auf den kalten Boden gestoßen hatte, schubste er Sophie hinterher. Agnes konnte ihre Tochter gerade noch auffangen, und nun saßen sie beide da, während Andreas auf sie herabschaute, als wären seine Augen das Jüngste Gericht.

»So«, verkündete er hart. »Ich werde nun meine Ehre wiederherstellen und jenen Teufel vernichten, der dich zu diesem Übel verführt hat. Bis dahin kannst du deinem Bastard erklären, was die Erbsünde ist, und über die Form deiner Buße nachdenken, die diesmal heftiger ausfallen wird als jemals zuvor!«

Dann verriegelte er die Tür zum Keller und verließ polternd das Haus.

Die ganze Nacht über und den halben Tag hatte Agnes mit ihrer Tochter im Keller gehockt. Bis Stingin gekommen war und sie befreit hatte. Mit der Magd waren zwei Büttel ins Haus gekommen, um Agnes nach dem Tod ihres Gatten zu befragen.

Völlig versteinert hatte sie mit anhören müssen, wie man Andreas’ Leiche am Rheinufer gefunden hatte. Er hatte ein paar Verletzungen am Kopf gehabt, aber niemand hatte sagen können, wie er dorthin gekommen war und ob die Wunden letztendlich zu seinem Tode geführt hatten. Manche hatten in der darauffolgenden Zeit gemunkelt, er habe sich wie schon öfters betrunken und sei deshalb ohnmächtig ins Wasser gefallen. Wieder andere hatten behauptet, es sei Raubmord gewesen, weil der silberne Kreuzanhänger, den Agnes ihrem Andreas einst geschenkt hatte, spurlos verschwunden blieb.

Agnes jedoch hatte einen anderen Verdacht gehabt, und dieser hatte sie schaudern lassen: Nicht auszuschließen, dass Richard Charman, den Andreas offenbar in jener unheilvollen Stunde aufgesucht hatte, seinen Tod verschuldete.

Seitdem war sie dem Engländer aus dem Weg gegangen. Was ihr einigermaßen gut gelungen war, bis er sie einige Tage nach Andreas’ Beerdigung in den geheiligten Räumen des Kölner Doms abgepasst hatte.

»Warum sprichst du nicht mehr mit mir?«, fragte er sichtlich beleidigt. »Hast du vergessen, dass wir uns die Häuser teilen wollten?«

»Es tut mir leid«, antwortete sie ehrlich. »Ich kann dich nicht auszahlen. Erstens weiß ich nicht, ob du etwas mit der Sache zu tun hast, und zweitens könnte man uns verdächtigen, gemeinsam den Tod meines Mannes geplant zu haben.«

»Bist du jetzt vollkommen irrsinnig geworden?«, rief er außer sich vor Bestürzung. »Wie kommst du darauf, dass ich etwas mit dem Tod deines Mannes zu tun haben könnte? Schließlich bist du die Nutznießerin, und ich warte immer noch auf mein Geld!«

»Er wusste von uns«, erklärte sie mit gedämpfter Stimme. »Und er wollte dich zur Rechenschaft ziehen. Nur deshalb ist er am Abend seines Todes außer Haus gegangen.«

Wie auf der Flucht eilte sie ins Freie.

Charman folgte ihr und packte sie am Oberarm. »Und nun glaubst du, ich hätte ihn umgebracht?« Er sah sie aus schmalen Lidern an, als wollte er mit seinen Blicken einen dichten Nebel durchdringen. Dann ließ er sie los und schüttelte fassungslos den Kopf. »Nein, Agnes, das nehme ich dir nicht ab. Du weißt ganz genau, dass ich mir damit nur selbst geschadet hätte. In Wahrheit wolltest du dich aus seiner Tyrannei befreien, und sein Tod kommt dir gerade recht! Hast du dich mir nur an den Hals geworfen, weil du es alleine nicht vermochtest? Und dir dann einen anderen gesucht, der es für dich erledigt?« Charman ballte seine Hände zu Fäusten. »Du gottverdammte Hure«, brüllte er so laut, dass es von der Fassade des Doms dreifach widerhallte, als sie von seinen Worten zutiefst schockiert auf eine Antwort verzichtete. »Ich werde dich verklagen und dafür sorgen, dass ich zu meinem Recht komme. Ein für alle Mal!«

»Ihr seht krank aus, Herrin«, unterbrach Stingin Agnes’ Gedanken, als sie sie vor dem Fenster sitzend vorfand, immer noch die Regentropfen auf der Scheibe beobachtend.

»Ist das ein Wunder?«, fragte Agnes mit tonloser Stimme, während sie mit Blicken verfolgte, wie Stingin die beiden Becher mit warmer Milch, die wie üblich für sie und Sophie bestimmt waren, auf einem Tischchen abstellte.

Mit inniger Zuneigung beobachtete Agnes, wie ihre Tochter erwachte und sich noch ein wenig in den Kissen rekelte, wie ein Kätzchen, das mit geschlossenen Augen die Geborgenheit einer gemütlichen Schlafstatt genoss.

»Heute ist der große Tag, Stingin, schon vergessen?«, sagte Agnes bitter. »Kann sein, dass sie mir bei Gericht heute endgültig das Fell über die Ohren ziehen und wir alles verlieren. Was wirst du tun, wenn ich kein Geld mehr habe, dich zu beschäftigen?«

»Betet zum süßen Jesus, er wird uns helfen«, riet ihr Stingin und blickte auf das Bild des Erlösers, das Agnes beim Einzug in dieses Haus voller Hoffnung über der Kommode aufgehängt hatte. Doch Gottes Sohn mit dem sanft lächelnden Blick hatte stets nur tatenlos zugeschaut, wenn Andreas ihr wieder einmal Gewalt angetan hatte. Warum sollte sich das ausgerechnet jetzt ändern?

Die vierte Zeugin
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