An einem Tag im folgenden Frühjahr nahm Nadja morgens den Weg am Fluß, der beidseitig durch hohe Steinmauern gehalten wurde, ein Lastkahn rührte den Glanz der Fläche auf, zog eine Schleppe aus Wellen hinter sich her. Der Himmel war klar, ein silbriges Licht, das Mauerwerk neben ihr noch dunkel vom Regen der Nacht. Die Hacken ihrer Absätze knirschten auf dem Stein, sie ging nicht, sie eilte so schnell es der knielange Wollrock ihr gestattete. Schon als sie den Bürgersteig betrat, nur noch einige Meter zur Souterraintür des Theaters, sah sie, daß kein Siegel daran klebte. Sie sah die schiere Tür, unbeschmutzt von aller Willkür, und sie schloß die Hand zur Faust, als habe sie einen Sieg errungen. Keine Troika war erschienen, alle Befürchtungen, die die anderen nach der gestrigen Vorstellung geäußert hatten, alle Ängste waren nur herbeigeredet worden. Und das war es, was die erreichen wollten. Daß die Angst siegte und die Menschen das Flüstern begannen.
Otto, ihr Regisseur, durchquerte den Zuschauerraum, sein üblicher, bedächtiger Gang; da konnte weiß der Himmel was passieren, Otto würde das Schreiten nicht aufgeben. Nadja erschien am Zwischendurchgang, sie legte eine Hand an den Türrahmen. Otto blieb vor ihr stehen, zog sein Jackett in den letzten Zügen an. Sie beruhigte ihren Atem.
»Was soll das hier werden?«
»Was meinst du wohl.«
»Bitte«, sagte Nadja, »du hast’s doch draußen gesehen.«
»Niemand wird uns verschonen.« Otto schloß den letzten Knopf in einer Langsamkeit, als hätte er noch nie einen Knopf geschlossen.
»Wenn ich eine Sekunde zweifle«, entfuhr es Nadja, »dann kommen sie. Rein in den Spalt, wie eine Schabe. Und dann sind sie da. Aber nur, weil ich zweifle.«
Otto schaute an ihr vorbei, eine Nuance. Früher, als alles Aufbruch gewesen war, als das Gefühl sie trug, alles zu dürfen, da hätte Otto ihre Schärfe mit einer Hand aus der Luft gewischt, Papperlapapp, red keinen Unsinn, aber diese Bestimmtheit war seit Wochen, Monaten, mit jedem Tag geringer geworden, bis, wie jetzt, nichts mehr davon übrig schien. Sie war nicht bereit, schwindende Illusionen zu teilen. Im Gegenteil.
»Ich bin es gewohnt, Entscheidungen zu treffen«, sagte er mit dem diffus an ihrem Kopf vorbeigehenden Blick, »und nicht, daß andere einen Plan für mich haben, von dem ich nichts weiß.«
»Wir haben nie etwas gemacht, was gegen sie war.« Sie spürte die rundgeschabte Kante des Holzrahmens in der Hand.
Er lächelte, fast wie schlaftrunken nach einer zu kurzen Nacht. »Ein Wahn ist keine fixe Idee. Er ist eine Überzeugung. Viel mehr als Ohnmacht führt der Verlust von Macht zu Gewalt.« Er flüsterte, das bemerkte Nadja.
»Es ist besser, wenn du auch gehst.«
Trotzig war ihre Wut, und sie wollte nicht, daß Otto diese Reaktion an ihr sah. Sie wollte seinen Enthusiasmus sehen, seine Ideen hören, seinen Wahnsinn und diese Leidenschaft teilen, immer noch weiter zu gehen, längst jenseits aller Beherrschung, aller kleinlichen Angst. Sie stieß sich mit der Hand vom Rahmen ab, ging an Otto vorbei, betrat den dunklen Zuschauerraum, nur Stühle, keine Menschen. Sie spürte deutlich, wie Otto ihr weiter seinen Rücken zukehrte.
Sie atmete tief ein, das Staubige, den kalten Rauch. In die Stille mischte sich eine reuige Scham wie Sand in Wasser.
Otto hob nur die Hand, so, daß sie seinen Handrücken sah, ein Gruß, nachlässig wie ein Mann, der am Bahngleis steht und eine alte Tante verabschiedet. Sie stampfte mit dem Fuß auf, hätte sie etwas zum Schmeißen gehabt, sie hätte es geschmissen. »Das ist Verrat.«
Otto drehte sich um, schaute sie an. Zwei schwarze Kreise, die Hornbrille. »Es stand dir noch nie gut, solche Wörter in den Mund zu nehmen.«
Im Halbdunkel wirkte sein drahtiges, aschbraunes Haar wie das kurze Fell eines Schafes. Ein dichter Pelz für den Mann mit den klaren Gedanken, den schärfsten Ideen, etwas Weichheit für den mit der unerbittlichen Fähigkeit, seinen Schauspielern Flausen auszutreiben und so nah wie möglich an die sonst sorgsam gehütete Wahrheit herauszukommen. Denn auch jetzt stimmte, was er sagte. Sie hatte das nicht sagen wollen, viel zu große Worte. Mit Pathos ein schlechtes Gewissen erzeugen, was für ein schlechtes Spiel. Aber sie konnte es sich nicht verkneifen. »Wenn du gehst, dann ist es hier vorbei.«
»Leb wohl«, sagte er und verschwand im dämmrigen Licht des Vorraumes.
Sie schritt über die Bühne, riß die Tür zum Garderoben-Kabuff auf, feuerte sie zu, hob das flügelschimmernde Kleid auf für die Nummer mit den stummen Weibern, warf es über die Garderobe, ein taumelnder Flug, das Schimmern wurde grau, ein Lappen, der über Seide, Taft und Pailletten hing, sie trat nach einem Schuh, der im Weg lag, sie hob ihn auf und blieb so, mit seinen Riemchen in der Hand, stehen. In diesen Räumen konnte sie sich neu erfinden, sobald jemand sie zwingen sollte, sie zu verlassen, gäbe es das nicht mehr, was sie im Leben am allermeisten erfüllte: die Illusion eines anderen Lebens. Das Gefühl, es weit hinaus geschafft zu haben, die Entfernung zwischen dem hier und der Mutter, dem zugigen Elternhaus und dem Jaroslawler Hinterland konnte nie groß genug sein. Wenn sie auf der Bühne stand, dann war sie in Sicherheit. Daß sie ihre kräftige Stimme von dieser Mutter geerbt und das Singen selbstverständlich und nebenbei als Kind bei der Arbeit gelernt hatte, das behielt sie für sich. Sie hatte den anderen gegenüber ihre Herkunft in ein Stadthaus verlegt, sich manchmal was bei Tschechow, manchmal bei Maxim Gorkij geliehen, und sich – weil sie sich in diesen anderen Leben nicht so gut auskannte – gelegentlich in Widersprüche verstrickt. Daher verlor sie am liebsten kein Wort über den ganzen Schlamassel und sagte zu ihrem Gegenüber, wenn er sie fragte: Wo ich herkomme? Nirgendwo, ich bin hier, hier und jetzt. Das ist unser Leben, Genosse, könnte es spannender sein als jetzt? Der Aufbruch, die Kunst, das Wir. Dann lachte sie ihr Mädchenlachen mit dem Grübchen in der rechten Wange, wischte mit der Spitze des kleinen Fingers ihren linealgeraden Pony aus der Stirn, der sich wieder schloß wie ein Feinhaarpinsel, die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger, und kniff ein Auge zu, wenn der Rauch wie eine beißende, aber sich verflüchtigende Erinnerung vorbeizog.
Dann hörte sie ein unrhythmisches Stampfen auf dem Flur. Sie drehte sich um, nichts geschah, es war still, sie mußten vor der Tür stehen, keine Stimmen, nur Nadjas Puls in ihren eigenen Ohren, so laut, daß sie einen Augenblick dachte, aus seinem Schlag sei das Geräusch von Schritten entstanden. Die Tür wurde geöffnet. Nadja spürte das Weiche der Lederriemchen in ihrer Hand, den plötzlichen Schweiß darin, ein Brennen unter den Achseln, die Kürze ihres Atems. Flitter und Federn umgaben sie, die blauen Blusen auf beschrifteten Bügeln, kein Schutz, nur Stoffe. Ein kräftiger Mann mit hoher Stirn und großen Händen trat ein. Dann ein dicker, korpulenter, seine leichten X-Beine gaben ihm den Anschein von Unbeholfenheit. Er stand sehr nah hinter dem mit der hohen Stirn, ein echter Nahesteher, wahrscheinlich zu harmoniebedürftig, um diese Arbeit machen zu können. Als letzter trat ein Dunkler mit Spitzbart ein, eine weichere Variante von Lenin, der Nahesteher versicherte sich mit einem Blick, daß sie es nur mit einer Frau zu tun hatten, der mit der hohen Stirn machte einen Schritt auf Nadja zu, sie wich nicht zurück. Mit ungeduldigem Zucken hielt er ihr einen Brief entgegen, daß sie ihn endlich nehmen mußte. Der Leninbart blieb in der Tür stehen.
»Warum schriftlich?«, fragte sie.
»Willst du noch etwas von dem Tand mitnehmen?«, fragte der Nahesteher.
»Nix da«, sagte der Leninbart, »wir vertrödeln hier nicht unsere Zeit.«
Sie hielt den Brief, faltete ihn auf, provokativ langsam, überflog nur den hingehauenen Befehl, Direktive Nummer, Genrich Jagoda, Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, Unterschrift. Noch nicht einmal von Stalin persönlich ausgestellt war dieses Ding. Sie schaute die drei Männer an, den Nahesteher, die Hohestirn, den Leninbart.
Der öffnete ihr freundlicherweise noch ein Stück weit mehr die Tür.
»Ich danke für eure Mühe, Genossen, aber ...«, da salutierte die Hohestirn und befahl: »Wir ergreifen ungern direkte Maßnahmen, in diesem Lokal«, »Theater«, unterbrach Nadja ihn. »In diesem Schuppen.« Der Nahesteher lächelte, das Unbeholfene an ihm blieb, dazu aber eine unberechenbare Untertänigkeit. Sein Gesicht war zu weich.
Sie legte den Brief neben sich auf den Tisch, zeigte den Männern mit einer Geste, daß sie sich setzen sollten. Ihr Mut schwand. Die albernen Riemchen in der Hand. Der Garderobenstuhl, der Hocker am Schminkspiegel. Keiner der drei Männer rührte sich. »Mit wem kann ich reden?«, fragte sie und prüfte bis zur letzten Silbe die Festigkeit ihrer Stimme. »Beschluß unter Zeugen überbracht«, sagte der Nahesteher.
»Ich dachte, wir sind alle Bürger dieses Landes. Gleichberechtigte Bürger.« Der Leninbart machte einen Schritt auf sie zu, die zwei anderen folgten. Alles gleichzeitig in ihrem Kopf, das tiefsitzende Gefühl, unterlegen zu sein als Frau, nicht im Denken, aber in jeder anderen Hinsicht, und das Unbehagen, hier allein zu sein.
»Menschen«, sagte sie.
»Deutsche«, sagte der Nahesteher, »die wollen wir hier nicht. Ab zurück in euer Land.«
Sie wollte Otto unten in der ersten Reihe sitzen sehen, wie immer, wenn sie eine neue Revue einstudierten, sein unbarmherziges Auge, seinen zermalmender Perfektionismus, seine Ideen, die er wie unumgängliche Forderungen äußerte, obwohl er sie selbst als immer neues Experiment empfand. Seine Härte, die sie antrieb, sein Schweigen, das in die Unzufriedenheit verwies, dann ein kurzer Moment von Entspannung, fast Seligkeit in seinem Gesicht, wenn sie ihm boten, was er hatte haben wollen. Er sah dem jungen Tucholsky ähnlich, er wollte ihm ähnlich sehen mit seinen Hornbrillen-Augen, er sang am liebsten seine Lieder. Nur Rem, der jüngste der Truppe, durfte ihn am Klavier begleiten, Rem, den seine Eltern nach ihrem Glauben benannt hatten – rewoljuzionny mir, die revolutionäre Welt –, der nie die Zähne zusammenbiß und immer entspannt und besonnen wirkte. Sie wollte in der Mitte der Bühne mit Blick auf die leeren Stuhlreihen stehen, die Luft ihres Theaters einatmen, Ulitza Twerskaja, Moskau. Kein Name draußen, es hatte sich herumgesprochen. Die Blauen Blusen. Weil sie Arbeiter waren. ›Ein Hurra auf den Genossen Stalin‹, so hatte es am Ende ihres Programmheftes gestanden. Sie wollte die eiligen Bewegungen, die hektische Gereiztheit haben, vor jeder Revue. Das Zurechtziehen, die Stille, das Verschlossene, das alle hatten, wenn sie sich kurz vorm Auftritt konzentrierten, nur das Atmen und Gehen, und dann das Spiel. Manchmal Annas Kichern, wie sie bis zur letzten Sekunde beim Frisieren saß, stundenlang, wenn nötig, Strähne für Strähne, das Haar im Brenneisen, die richtige Hitze, der Augenblick, bevor es verbrannte, sie hatte die Sekunde im Blut, und damit bourgeoise Locken, wie sie verkündete. Annas Kichern war hier konserviert. Und Pjotrs Rauchen. Im Stehen, den Ellenbogen in die Hüfte gedrückt, wie eine Frau. Und Rems Schweigen, seine demütige Aufmerksamkeit, wenn er vom Klavierstuhl aus die Anweisungen in sich aufnahm, nie an Ottos Kritik zu verzweifeln schien, sie hinunterschluckte und versuchte, sich beim nächsten Versuch selbst zu übertreffen. Sie wollte Ottos Schonungslosigkeit, sie wollte den Raum, in dem sie eine andere sein konnte, sie wollte hierbleiben. Den Dielenboden, das unebene Holz unter ihren Sohlen spüren. Sie wollte alle Kraft in die Beherrschung ihres Körpers legen, dieses raumfüllende Bewußtsein haben, das sie auf einer Bühne hatte, wenn sie um jedes Blinzeln, jede Nuance ihres Blicks, um jede Nähe und Ferne aller anderen wußte. Geschärfte Konturen, kein Verschwinden. Sie wünschte, sie könnte das alles hier zusammenhalten, aus der Kraft heraus, die sie hatte, dem Willen, der Welt so zu begegnen, daß sie gestaltbar war und blieb, inklusive des sich zurückziehenden Ottos und ihres Ehemannes, der mit seinem Protestantismus, seinem pragmatischen, zu bodenständigen Deutschsein oftmals nicht verstand, was die Fähigkeit zur Selbsterfindung aus einem Menschen machen konnte. Er war sich nur sicher, er müßte ihre Kernschmelze auf konstantem, unbedenklichem Niveau halten.
Sie wollte singen, mit der Größe ihrer Sehnsucht sich über Ort und Zeit strecken, es gab keine Einsamkeit, keinen Zweifel, wenn sie sang. Ihr sicherer Alt, das Rauhe, Fragwürdige hinten, kein Glanz, Sandpapier, hatte Otto gesagt, mit dem sie an den mehr oder weniger durchlässigen Oberflächen ihrer Zuhörer schmirgelte. Sie war bereit, einen Pakt vorzubereiten, in den sie ihr Leben, ihre zwei Kinder, ihren Mann, alle Kämpfe mit ihm, jeden Kuß, jedes Lachen und auch das Grenzenlose ihres Wütens einzubringen bereit war. Die Geschütztheit aufgeben, die vermeintliche Sicherheit, etwas zu haben, eine Familie, ein kleines Glück. Keine Rettung in die kühle Distanz, wie ihr Mann das machte, etwas, das sie an ihm bewunderte und zugleich verabscheute. Die Samtfalte im Vorhang, eine Schlucht mit einer Brücke, direkt vor ihren Füßen. Sie griff nach dem Stoff und wußte, daß das Hämmern von draußen kam, von der Straßenseite her, nicht Tucholskys Trommlerin, kein Uhrwerk, nicht Rems Klopfen am schwarzen Körper des Klaviers.
Sie ging über die Bühne, die Treppe hinunter, durch den Zuschauerraum, sie ging, wie sie anfangs gekommen war, wie sie immer gekommen war, sie riß die Tür auf, da kreuzten zwei Bohlen den Eingang auf Augenhöhe, von Türrahmen zu Türrahmen, dahinter standen die Männer, der Nahesteher hämmerte, die Hohestirn hielt die Nägel, der Leninbart rauchte, am Treppenniedergang lehnten zwei weitere Bohlen.
»Vergeßt mir nicht den Hintereingang, ihr Trottel«, rief sie. Nur weitere Schläge, Hammer auf Stahl, der Nagel wurde tief ins Holz getrieben.
»Dafür heben wir uns unser hübsches Siegel auf«, sagte der Bart, ruhig zwischen zwei Zügen.
Sie knallte die Tür, wartete und hoffte wirklich, naiv, kindlich, eine Sekunde lang.
Schlag für Schlag trat sie rückwärts. Sie stand, ohne den Weg wahrgenommen zu haben, im Freien, am hinteren Ausgang, immer noch der Morgen, die regennasse Luft, sie griff nach der Klinke, hielt sie, zögerte, alle Lächerlichkeit ihres Tuns, das geballte Scheitern kam auf sie zu, auch die Ahnung, daß etwas unwiederbringlich vorbei war, sie ließ die Klinke los und zwang sich, aufrecht und ohne Eile fortzugehen.
Ihr Mann Anton saß im Wohnungsflur auf zwei Koffern und mühte sich, den Stift der Schnalle in das ausgebeulte Loch des Lederriemens zu bugsieren. Er setzte sich mittig auf die Koffer. Er schaute sie nicht an, als sie eintrat.
»Ach, du verreist auch?«, fragte sie und ging in die Küche. Er brachte all sein Gewicht zum Einsatz, samt das seiner hoffnungslosen Gedanken und schob den Stift ins Loch. Senta und Peter saßen in der Küche am Tisch und schoben ein Glas zwischen sich hin und her. Darin schwamm eine Kaulquappe, vielleicht auch zwei, Nadja wollte es nicht sehen. Sie stellte Brot auf den Tisch und schnitt Schinken und saure Gurken, sie goß Milch in vier Becher, und Anton stand in der Küchentür und sagte: »Wir essen nicht mehr, wir fahren.«
»Ich weiß nicht, wo du hinfährst«, sagte sie, »aber ich esse jetzt was.«
»Siehst du, Papulja«, sagte Senta laut zu ihrem Vater, »dann muß ich also doch nicht meinen Frosch hierlassen.«
»Meine Frosch«, versuchte sich Peter in seiner noch rudimentären Sprache.
Anton verließ die sichere Umrandung der Tür und wagte sich aufs offene Feld. Er hatte Augen, die an einen Hund erinnerten, der wagemutige Menschen aus den Bergen rettete, sein Haar war – wie Nadja fand – durch seinen vorauseilenden Gehorsam ausgedünnt, seine Schultern schmal, vielleicht schmaler als der Mittelpunkt seines Körpers, er hatte mehr Gewicht unten als oben am Hals, er sog seine Lippen ein und holte Luft durch die Nase. »Wir könnten ein paar Brote brauchen, das schon.«
Sie trank ihren Becher leer, wischte mit ihren Fingern die Mundwinkel aus. »Du kannst sie gebrauchen«, sagte sie, »nur du hast dich von diesem Wahn anstecken lassen.«
»Waren sie im Theater?«, rief er, wieder im Flur.
»Nein«, rief sie und biß von ihrem Brot ab. Die Kinder zogen die Köpfe ein, Peter schob mit dem Finger Krümel auf dem Tisch hin und her, Senta starrte das Glas mit dem Tier an. Nadja schluckte das Zerkaute und etwas Salziges herunter, einen Kloß, sie goß Milch hinterher, sie schob ihren Kindern die Teller hin.
Peter folgte ihrer Aufforderung. Senta schien sich vom Anblick ihres Frosches zu ernähren. Ein halbfertiges Wesen, das jetzt gerade mit seinen Lippen am Glas klebte, als küsse es dies.
Ihr Mann ging in vorgetäuschter Betriebsamkeit wieder und wieder an der Küchentür vorbei, er stapelte die Koffer in Türnähe. Dabei schien er jedesmal einen Blick in die Küche erhaschen zu wollen. Sie biß von ihrem Brot ab und kaute es durch, wie sie noch nie ein Brot durchgekaut hatte. Sie schnitt sich eine weitere Scheibe ab, schmierte sie, nahm den Schinken, hielt alles fest. »Papulja«, sagte Peter. »Ja, und wohin?«, fragte sie ihren Sohn auf Russisch und mit einer wütenden Arroganz, die ihr selbst wehtat. Im Gesicht ihres Kindes sah sie hilflose Angst.
»Berlin«, antwortete Senta stellvertretend und auf Deutsch. »Und in ein paar Wochen sind wir wieder hier.«
»Wenn wir gehen, dann kommen wir nie mehr zurück.«
»Nie mehr und nie wieder, das gibt’s gar nicht«, sagte Senta.
»Wer sagt das?«
»Du.«
»Dann war das gelogen.«
Ihre Tochter hatte ihre geflochtenen Zöpfe gegriffen und hielt sie mit einer Hand unter ihrem Kinn zusammen. Sie zog an ihren Zöpfen wie an dem Band eines Hutes. Die andere Hand lag ausgestreckt auf dem Tisch, nah beim Glas mit der Kaulquappe.
»Wenn du lügst, warum soll ich dir dann glauben?«
Eine kurze, seltsame Freude über die Spitzfindigkeit ihrer Vierjährigen – in einem anderen Moment, unter anderen Umständen, hätte sie gelacht und mit Senta weitergescherzt: Was ist lügen? Wenn man etwas erfindet, was es nicht gibt? Sind alle Märchen Lügen? Nein, Mama, den bösen Wolf gibt es wirklich.
»Ich gehe mit Papulja«, sagte Senta und stand auf. Sie nahm ihr Glas, und Nadja hörte hinter ihrem Rücken, wie ein Deckel aufgeschraubt wurde. Dann rutschte Peter vom Stuhl, umrundete Nadja weiträumig, als wäre sie ein Tier, das jederzeit nach ihm schnappen konnte.
»Mach lieber ein Loch in den Deckel«, sagte sie, »sonst stirbt dein Frosch, bevor er einer geworden ist.«
Im Mantel, mit Hut, die Brosche am Revers gerichtet, als ginge sie in die Oper. Sie nahm keinen Koffer. Anton schleppte vier, zwei unter den Armen, zwei in den Händen. Er zog sein linkes Bein, das von einer Kinderlähmung geschwächt war, kaum nach. Senta umarmte ihre Tasche vor dem Bauch, Peter trug einen Pappkoffer, die kleine Hand am Blechgriff, ein Kinderreiseutensil, in das ein Spielzeug, ein Buch, ein Stück Kreide paßten. Nadja wartete die Prozession ab, zog die Tür hinter sich zu und schloß nicht ab. Sie hielt ihr Kinn hoch, den Hals gerade. Als Anton mit einem knappen Kopfnicken auf seine Manteltasche deutete, darin der Schlüssel, ging sie an ihm vorbei die Treppe hinunter. »Mami«, rief Senta, »Tür zuschließen.«
»Wozu«, entgegnete sie, »wenn wir bald wieder da sind«, und ging Stufe für Stufe dem Ausgang entgegen.