Im Belorusskij-Bahnhof wogte ein Meer aus Menschen, begrenzt von Mauern, einmal darin, bekam man schwer Boden unter die Füße. Überall Rücken in graubraunen Mänteln, Pelzkragen, die Oberwasser hatten, Hutränder, straffes Haar unter Kopftüchern. Der Geruch von nasser Wolle, zu lieblichen Veilchenparfüms und verbrannten Kohlen. Dazwischen die Stakkatostimmen, die eiligen Rufe des Aufbruchs. Und dann ging alles unter, als die Luft zu vibrieren begann und ein Zug einfuhr. Das Quietschen, kurz bevor die Lok zum Stehen kam, zerriß die Halle in zwei Teile. Nadja hatte ihre Kinder im Blick, die sich vor ihr durch die Menge schoben und ihrem Vater folgten, der noch vor ihnen dreien als Bug das Wasser teilte.
Er und seine vier Koffer. Unaufhörlich stieß er mit Passanten zusammen, mit anderen Reisenden und ihren Gepäckstücken, empfing Flüche, entschuldigte sich, machte sich schmaler, als er schon war, drehte sich immer wieder nach seinen Kindern um, bedachte Nadja nicht eines Blickes. Sie blieb stehen, sofort umschlossen von den wogenden Menschen, sie sah ihre Kinder darin verschwinden, dann ihren Mann, blieb weiterhin stehen, schloß die Augen und machte etwas, das sie seit Jahren, vielleicht Jahrzehnten, vielleicht, seit sie Kind war, nicht mehr gemacht hatte. Sie schickte einen Wunsch ins hohe Dach des Bahnhofes, in diese Kathedrale des Aufbruchs, sie spürte förmlich, wie ihr kleines Gebet in den gemurmelten Hoffnungen aller anderen unterging.
Kein Gott hier, noch wer anderes, sie blieb stehen. Schultern rempelten sie an, kantige Körperpartien schubsten sie, vor und zurück. Sie drehte sich um, so weit sie konnte, sie sah das obere Hell des offenen Ausgangs, der auch Eingang war, durch den sie gekommen war und zurückgehen konnte, jederzeit. Zurück in ihr Haus, in ihre Wohnung, ins Theater, die Bohlen von der Tür reißen, weitermachen. Nicht aufgeben. An Stalin schreiben, an Stalin glauben, für die gemeinsame Sache kämpfen, mit ihrer Kunst. Ihre Kinder waren nicht mehr zu sehen, das Meer hatte sie verschluckt. Auch ihr Mann, längst verschwunden. Eine Erleichterung, vielleicht war es für Anton wirklich eine Erleichterung, er mußte ihre Launen nicht mehr ertragen, die abweisende Kälte, zu der sie fähig war. Wie reizbar und verschlossen sie werden konnte, wenn sie zu lange nicht auf einer Bühne stand. Vielleicht war doch die Einsamkeit die Rüstung, die sie zum Leben brauchte. Alles andere nur eine Einbildung. Daß sie für eine Familie gemacht war? Sie sah Anton vor sich, seine genügsame Lebenstauglichkeit, sein verläßliches Funktionieren am Tag, bis er in einen – von durch und durch pragmatischen Träumen – erfüllten Schlaf fiel. Oder war es schon Gleichgültigkeit? Während sie ihren Körper, ihre Stimme, ihre Kraft auf der Bühne verstreut und nicht mehr das Gefühl hatte, daß da noch etwas übrig war für ihn. Aber dann erinnerte sie die Wärme ihrer Kinder, wie sie sich mit allem, was sie waren, anschmiegten, wie ihre Tochter manchmal zu ihr sagte, vollkommen selbsterstaunt: Mama, ich lieb dich so. Doch ein Trug, allein sein zu können, schon jetzt spürte sie den Wunsch, Senta und Peter in den Arm zu nehmen. Sollten die beiden nur von Anton durchs Leben gebracht werden? Er würde das können, ohne Zweifel. Was bliebe, bei den Kindern, war vielleicht nur eine diffuse Sehnsucht nach einer Frau, die wie sie roch. War es so? Sie waren noch klein, es gab doch kaum Erinnerung. Anton wollte sechs, sieben Kinder, er sollte sie haben können, mit einer anderen Frau, in Berlin, mit einer, die gerne Kinder bekam, deren Bestimmung es war, sie zu pflegen, aufzuziehen, bei ihnen zu sein. Eine andere Frau, die ihr Leben hingab für ihre Kinder. Wie sie das bewunderte, wenn eine das konnte. Sie konnte es nicht.
Sie machte einen Schritt vor den nächsten, sie setzte ihre Ellenbogen ein, sie trat auf Füße, ohne sich zu entschuldigen. Bis sie den Mantelkragen ihrer Tochter entdeckte.
»12«, hörte sie die Stimme ihres Mannes rufen, wiederholt von Senta, »12«. »Das Gleis«, rief er dann. »Das Gleis«, wiederholte ihre Tochter. Das Glas mit der Kaulquappe hielt sie über ihrem Kopf. Nichts von allem – Glas, Tier, Tochter – war ausgestattet für diese wankende Welt. Gleis 12. Der größere Teil der Menschen verschwunden. Berlin, stand am Zug. Dickbäuchige Lettern auf weißem Grund. Sie wollten zackig aussehen, hatten aber die Anmutung einer Bratwurst, die sich als Ballerina versuchte.
Ich bin keine Deutsche, sagte Nadja, jetzt erst zu dem Nahesteher, der Hohestirn und dem Leninbart, in Gedanken, zu dieser im Grunde doch nicht wirklich bedrohlichen Troika. Ich bin Russin, ich bleibe Russin, warum soll ich nach Deutschland?
»Mama, Mima«, rief Senta, »wir sind hier.«
Die Lok, mattschwarz, der Rauch, den der Schornstein ausstieß, und ein Fauchen, das unter dem Trittbrett des Waggons herausdrang, eine Zunge, die an ihren Fußgelenken leckte. Der eiskalte Griff am Einstieg, von dem sie sicher war, er würde ihr die Haut abreißen, wenn sie ihn losließe. Sie stieg mechanisch ein – das dunkle Holz, Holz einer Kaschemme, einer Spelunke, dahinter saßen die Fratzen. Sie bestieg eine Attrappe, die wie sie nur vorgab vorhanden zu sein.
Ich erklär’s dir noch mal, sagte Nadja zum Leninbart, jetzt, in der Ferne, im anderen Licht, bekam er mehr von den freundlichen Zügen des großen Vaters, mit ihm konnte man doch reden. Schon der Zar hat die Eltern hierhergeholt, um unser Land aufzubauen, Gasleitungen in der Stadt zu verlegen, so war es. So, so.
Der Nahesteher war Kulisse, das sah sie nun deutlich, X-beinig und dünn wie die Holzvertäfelung. Die Hohestirn auch, Pappkameraden, und sie war vor ihnen zurückgewichen. Da griff wieder diese Wut nach ihr, die sie gut kannte, wenn etwas ungerecht war, wenn ein Mensch einen anderen demütigte, dann brach in ihr dieser Eifer aus, ein durch und durch ernster Gerechtigkeitssinn. Wie bei einer beginnenden Grippe, so verspannte sich ihre Nackenmuskulatur, begannen die Schläfen zu pochen. Sie versuchte, sich ihren Opportunismus kleinzureden: natürlich, die Angst. Sie wandte sich heftig um, drängte an den im Einstieg gestapelten Koffern vorbei. Ein Widerstand in ihrer Körpermitte, der Gürtel ihres Mantels schnürte in ihren Magen, Antons Stimme, von gar nicht mal fern, »Was für ein Theater. Vor den Kindern«, und ihre, die erwiderte: »Ein Irrtum, es kann nicht sein, ich muß es klären.«
Er griff fester nach ihr. Er umklammerte sie, hielt sie im Arm, aber es war der Griff eines Mannes, der sich beherrschen mußte und nicht mehr genau wußte, wie das zu schaffen war. Er zitterte in der Umarmung. Dann stieß er sich von ihr los, wohl selbst überrascht von der Heftigkeit seines Griffes, gepaart mit dem Wunsch, ihr weh zu tun. Er ließ mit der gleichen Kraft von ihr ab, mit der er sie umschlossen hatte.
Anton hatte zwei Koffer in die Netze geschoben und zwei auf den Boden gelegt, damit die Kinder ihre Beine darauf ausstrecken konnten. Das Fenster war zur Hälfte heruntergezogen, und noch waren die zwei weiteren Plätze in ihrem Abteil leer. Nadja stand in der Tür, bis Anton den Griff zu sich zog und sie entweder einen Schritt auf ihn zu oder von ihm weg machen mußte. In dem Augenblick sah sie an seinem Gürtel den Beutel.
»Den willst du nicht wirklich mitnehmen.«
»Hör auf«, sagte er. Seine Wangen waren gerötet, die Haut darunter fahl. »Ich trage ihn«, sagte er in einem Tonfall, als habe der Beutel am schwersten von allem gewogen.
Sie verbarg nicht, wie lächerlich sie das fand. Der Unmut darin war noch die Antwort auf ihre Rangelei eben an der Tür. Ihr Wunsch, er wäre ihr nicht so überlegen mit seiner Gefaßtheit, seiner Besonnenheit, seinem Wissen, was zu tun war und was nicht.
»Was ist das, Papulja?«, fragte Senta.
»Erde.«
»Wie wunderbar, für unseren Berliner Balkon«, sagte Nadja und setzte sich auf den freien Platz neben ihren Sohn. Der zwirbelte einen Knopf seines Mantels zwischen zwei Fingern, als übe er das Öffnen eines Tresors.
»Ja, wir werden eine schöne Wohnung mit Balkon finden«, entgegnete Anton.
»Entscheide dich wenigstens«, zischte sie mit der Unnachgiebigkeit einer Frau, die gerade gegen ihre Wünsche handelte, »ob du dieses Land hinter dir läßt oder dich im ewigen Heimweh einrichtest.«
Sie schwiegen, bis der Zug sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, das Stampfen und Vibrieren unter ihnen in die Sitzpolster eindrang und die Wände der Bahnhofsburg in Fluß gerieten, aus dem Fensterausschnitt rutschten, den Blick auf Häuserwände, Innenhöfe, Straßen, Oberleitungsbusse, Alleen, schließlich Wiesen freigab. Sie fuhren einige Kilometer unterhalb des Gebiets vorbei, wo die Datscha war, der Nachbar, das Pferd, im letzten Winter, der See, der Wald, die Einsamkeit und ihre Schönheit, die Ruhe der Welt. Sie schwiegen, und irgendwann schienen sie das Unangenehme der Stille zu vergessen, zumindest war sich Nadja sicher, daß es Anton so erging. Sie wandte ihren Blick ab, versuchte, ihre ganze Aufmerksamkeit aus dem Abteil abzuziehen und an die vorbeihuschenden Dinge zu heften, die weißen Strümpfe der Birkenwälder, die endlos gereihten rötlichen Stelen der Kiefern. Aber je länger der Zug fuhr, um so beharrlicher galoppierten ihre Gedanken zurück durch die Wälder, über den See, über die Wiesen, durch die Alleen, an den Oberleitungsbussen vorbei durch die Straßen, Innenhöfe, hinein in den Belorusskij-Bahnhof. Was wäre, wäre sie stehengeblieben.
Sie bemerkte erst nach Stunden, daß ihre Finger ihre Lippen berührten, in unterschiedlichen Positionen. Mal lagen drei zusammengelegt über ihrem Mund, als müßten sie Worte vom Aus-dem-Mund-Fallen abhalten, mal alle fünf, als forme sie einen Tintenfisch. Eine von Ottos Gesten, zusammen mit einer anderen, die er oft machte, wenn er das Spiel während einer gemeinsamen Probe kritisierte oder einen Gedanken beim Reden verfaßte. Dann stellte er die Fingerspitzen aneinander, die Daumen und kleinen Finger wie Querbalken fast, ein Spitzdach, das er vor seinem Mund errichtete und durch das hindurch er sprach. Ein Haus für das Wort, die Ellenbogen auf die Stuhllehne gestützt. Manchmal brachte er diesen Stuhl zum Kippen, das Spitzdach des Hauses aber blieb unverrückbar vor seinem Mund. In seiner Nähe zu sein war manchmal, wie in einem Schwarm Stechmücken zu stehen. Sie hatte das nie als Bösartigkeit empfunden, wie manche andere, sondern immer als Herausforderung, und die Traurigkeit dahinter gekannt. Sie wollte keine bösartige Frau werden, die sich schweigend an allen rächte für etwas, für das sie allein die Verantwortung trug. Das nicht. Und dennoch spürte sie, wie dieses Unbenennbare, dieser Schwarm Bösartigkeit, näher kam.
»Die Kinder haben in den Kesseln geschlafen, Papulja, das war so«, kam irgendwann einmal Sentas Stimme in ihren Gedanken vor.
»Sie haben kein Zuhause.«
»Aber in Kesseln, warum da?«
Die einfache Neugier in der Stimme ihrer Tochter ließ sie einen Moment lang milder werden. Sie wandte sich der vorbeirasenden Landschaft zu. Sentas Stimme, die weiter erörterte: »Wie können sie auf dem Teer schlafen, der am Tag auf die Straße gegossen wird, der ist doch noch ganz heiß. Nicht mal die Arbeiter treten da drauf.«
»Die Kessel sind leer in der Nacht, Liebes. Der Teer liegt auf den Straßen. Aber in den Kesseln ist es noch warm. Deshalb schlafen die Kinder darin.«
»Aber wie kann er das zulassen?«, fragte Senta.
»Sch«, machte Anton, und Nadja, die gerade mit drei Fingern an ihre Lippen klopfte, hielt inne und sagte: »Daran sind natürlich die Faschisten schuld.« Sie sah das schiefe Lächeln auf dem Gesicht ihres Mannes und das Nichtbegreifen im Gesicht ihrer Tochter, dann sah sie, wie Anton knapp nickte, immer weiter nickte, als schien er sich darin des Schrecks zu entledigen, den das Wort Faschisten in ihm ausgelöst hatte. Sie fuhren ins Land der Faschisten. Ja, dort fuhren sie hin.
»Er läßt das nicht zu«, sagte Anton nach einer Weile, seinen Blick nur auf seine Tochter gerichtet, »Und wenn’s passiert ist, wird’s nie wieder passieren.« Dann begann er, Sentas Hand zu tätscheln, eine seltsame Geste, etwas, das er sonst nie machte, eine hilflose Bitte an seine Tochter, einfach nichts mehr zu sagen oder zu fragen, denn auf nichts schien es eine einfache Antwort zu geben, nichts war mehr unverfänglich und erklärbar.
Sie schliefen in der Nacht. Die Beine verzwirbelt, Sentas rechter Arm lag über Peters angewinkelten Knien. Antons Kopf war nach vorne gefallen, abgeknickt, daß er auffuhr im Schlaf und sich zurechtrückte, als ließe er es selbst im Unbewußten nicht zu, haltungslos zu erscheinen.
Sie waren durch Warschau durch, und Nadja saß immer noch aufrecht in ihrem Sitz, den Mantel geschlossen wie im Flur der Wohnung, ihre Füße in den halbhohen Schuhen, ihren Wollrock glatt und faltenfrei bis zur Wade. Die Brosche am Revers, die Hände gefaltet im Schoß. Die Augen auf einen Punkt weit hinter der Abteilwand, weit bis ans Ende des Zuges gerichtet. Ihre stolze Sturheit im Blick, nur etwas Müdigkeit am Rand, wie ein Schatten. Sie hatte sich ihren Tuchschal um den Kopf gebunden.
Anton schob den Mantel in sein Hohlkreuz und machte das, was er in schwierigen Lebenssituationen am liebsten machte, er lenkte sich mit hoffnungsvollen Gedanken ab. »Eine Wohnung am Park«, sagte er leise zu sich, »zumindest, vielleicht, in der Nähe. Nein, am Park. Wo übrigens meine Großeltern mütterlicherseits schon gewohnt haben.«
»Und unsere Sachen?«, fragte Senta, gerade aufgewacht.
»Wir bekommen neue«, erklärte Anton und räusperte sich, »wir mieten sie mit der Wohnung mit. Praktisch, nicht?«
»Auch Mamas Klavier?«
Anton schaute Nadja an, Nadja schien sich auf ihre gefalteten Hände zu konzentrieren. Da erst bemerkte er die Veränderung unter dem Schal.
»Mamas Klavier wird genauso wie ein Schrank und ein Tisch in der Wohnung stehen. Auf einem Teppich, im Wohnzimmer, zusammen mit einem runden Hocker, wie sie es am liebsten hat.« Er versuchte, noch einmal einen Blick auf ihre Haare zu erhaschen.
»Ich will ein Aquadrium«, sagte Senta.
»Ich verstehe.«
»Da soll mein Frosch rein.«
»Mal schauen, was sich da machen läßt.«
»Ich will nicht mit Peter in einem Zimmer schlafen.«
Anton versuchte ein Lachen, es klang sorgenvoller, als er sich eigentlich fühlte. Die Kinder schauten ihn an.
»Auch da werde ich tun, was sich tun läßt.«
»Mama?«, fragte Peter, ohne fortzufahren.
Nadja hob den Blick, schaute ihren Mann an, ihren Sohn, das vorsichtige Lächeln, das Aufmunternde, Peters leicht geneigten Kopf, sein Warten auf eine Reaktion. Sie holte Luft durch die Nase, griff nach ihrer Handtasche, zog ihr in Chinaseide eingeschlagenes Notizbuch hervor und malte auf eine der hinteren, noch leeren Seiten den Grundriß einer Wohnung mit sechs Zimmern, einem Wohnzimmer mit Flügel und Bibliothek, einem Mädchenzimmer, zwei Balkonen, einer Abseite, sie malte mit ihren resoluten Händen ein resolutes Bild, sie malte sogar Fische in ein raumfüllendes Aquarium hinein, und skizzierte damit die Aufgabe, die Anton zu bewältigen hatte.
Senta staunte.
Nadja meinte zu hören, wie er seine Backenzähne aneinander rieb.
»Wir werden auch eines dieser unbezahlbaren Autos bekommen, da bin ich mir sicher, und viel Geld dazu, weil Deutschland so froh ist, daß es uns wiederhat. Hitler kann gar nicht erwarten, daß wir zurückkommen, es ist gut möglich, daß eine Blaskapelle am Bahnhof steht und spielt, wenn wir den Zug verlassen.«
Anton schickte die Kinder auf den Gang, sie sollten sich ein bißchen die Beine vertreten. Senta hielt für Peter die Tür auf, sie warf noch einmal einen Blick auf ihr Froschglas, nahm es aber nicht mit.
»Straf mich nur ab«, sagte Anton, als die Kinder verschwunden waren.
Nadja schaute ihn an.
»Aber darf ich dich daran erinnern, daß nicht ich mir das hier alles ausgedacht habe.«
»Ich wüßte nicht, was Stalin damit zu tun hat«, entgegnete sie mit einer trotzigen Härte, einem unbedingten, kindlichen Verlangen nach Widerspruch.
»Egal«, sagte Anton leise, »es ist mir egal. Mach mich dafür verantwortlich. Schieb es mir in die Schuhe, daß wir hier sitzen, daß wir in einer Hinterhauswohnung hausen werden, daß du auf keiner Bühne stehen wirst. Egal, mach es einfach.« Er schaute demonstrativ aus dem Fenster in die vorbeiziehende polnische Landschaft.
Sie hörten die Kinder draußen im Gang reden und laufen. Eine Sekunde nur gesellte sich zur Fremdheit eine Feindschaft, aber Anton vermied es, Nadja anzuschauen, um die Kluft nicht noch zu vergrößern. Er legte den Kopf in den Nacken. Betrachtete das Gepäck unter der Decke. Rieb mit den flachen, feuchten Innenflächen seiner Hände über die Polster der Armlehnen. »Sch«, zischte er, eher unbewußt, verbunden mit einem Ausatmen.
»Ich mach keinen Mucks mehr«, sagte Nadja.
»Gut.«
»Freut mich, wenn wir uns einig sind.«
Die Kälte tat ihm weh.
Sie öffnete die verschlungenen Enden des Schals unter ihrem Kinn, hob ihn sich vom Kopf.
»Deine Haare«, sagte er nur knapp.
»Hätte ich mir noch eine Frisur machen sollen, bevor wir losgerast sind?«
Er antwortete nicht, preßte nur die Lippen aufeinander.
Sie stand auf, verließ das Abteil, ging den Gang hinunter, zog die Tür zur Waggontoilette auf und sah eine Frau, die sie selbst im ersten Augenblick nicht erkannte. Sie griff in ihre Haare, sie schob sie nach vorn, nach hinten, schaute jenseits ihres Scheitels, drehte sich, sah überall nur das gleiche melierte Grau, zog an allem, was sie zu fassen bekam, als sei es eine Perücke, die nur besonders gut festgesteckt war, sie zog und riß, sie riß sich Büschel ihrer Haare aus, sie starrte die Haare in ihrer Hand an, hielt sie sich wieder an den Kopf, sie ließ das Gewirre los, und die Haare segelten leichtfüßig auf den Boden der Zugtoilette.
Sie kehrte ins Abteil zurück, die Kinder waren noch nicht da.
»Marie Antoinette soll das auch passiert sein«, sagte Anton leise, und während er es sagte, wußte er, daß es besser gewesen wäre, zu schweigen. Er versuchte ein Lächeln. Seit sie zurückgekehrt war, fühlte er sich erleichtert, sein Optimismus war ein unerschütterlicher und treuer Weggefährte, selbst im Zug nicht abzuhängen.
Nadja setzte sich auf ihren Platz, wieder aufrecht, faltete die Hände im Schoß, stellte beide Füße nebeneinander, die Knie im klassischen Winkel. Nach einer Weile sagte sie: »Verschon mich mit deinem Halbwissen. Ich bin erst neunundzwanzig.«
Er beugte sich vor, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. Sie schien sich in den Sitz zu drücken. »In meinen Augen«, begann er.
»Soll ich davon leben, was ich in deinen Augen bin?«
»Ich werde eine Arbeit finden, in irgendeiner Redaktion, zur Not als Korrektor, als der Mann für die Überschriften, als Laufbursche. Ich spreche zwei Sprachen, ich bin rumgekommen in der Welt. Zumindest zwischen Berlin und Moskau. Deutschland und die Sowjetunion sind freundschaftlich miteinander verbunden. Es gibt sogar eine russische Schule in Berlin, vielleicht kann ich als Lehrer – man sucht Arbeitskräfte, ich bin mir sicher, wir finden eine Wohnung am Volkspark, vielleicht auch in Schmargendorf, in Friedenau, in Steglitz.« Er bemerkte das Wohlklingende der Namen.
»Es wird Krieg geben.« Ein Tonfall wie eine doppelte Linie, an das Ende einer Aufrechnung gesetzt.
»Es steht alles auf Wachstum. Prosperität. Freundschaftsverträge. Kein Krieg.«
»Du bist wirklich der letzte Mensch.«
»Ja«, sagte er mit fester Stimme, »wenn du meinst.«
Er schloß die Augen, die Sehnsucht nach Harmonie durchzog ihn, wie ein Sommerwind ein schattiges Zimmer durchzieht. Er wußte längst, wie dieses Bedürfnis ihn steuerte, wie er bereit war, sehr vieles dafür zu tun –, vor allem, zu lassen. Aber was sie hier begannen, war, ihre Feindschaft zu konservieren, an der Grenze zur Kriegserklärung. In rasender Fahrt standen sie still, richteten ihre Waffen aufeinander, blieben sitzen und täuschten sich in der Geschwindigkeit des Zuges über ihren Instinkt zur Flucht hinweg.
»Diese Gerüchte«, murmelte Anton, »hier eins, dort eins. Uns interessieren nur Gerüchte, die wollen wir hören, wen kümmert schon die Wahrheit. In Wahrheit wird es keinen Krieg geben.«
In einer einzigen rasanten Bewegung griff Nadja nach dem Froschglas, riß das Fenster herunter und schleuderte es hinaus. In einem weiten Bogen jagte es den Weg zurück und zerschellte irgendwo abseits auf den Steinen der Trasse. Mit einem heftigen Schub knallte sie das Fenster wieder zu.
Die Kinder standen hinter der Scheibe der Tür, Senta legte eine Hand an den Griff. Anton schob die Tür von innen auf, Peter kletterte auf den Sitz neben Nadja, Senta rückte nah zu ihrem Vater.
»Also, wir haben einige Beschlüsse gefaßt«, referierte Anton. »Über meine neue Arbeit und wohin wir zuerst gehen, wenn wir in Berlin aus dem Zug steigen.«
Er schien die aufmerksamen Blicke der Kinder zu genießen.
»Wir gehen zu meiner alten Tante Ingje, sie hatte mir ja geschrieben, daß wir bei ihr wohnen können, solange wir wollen.«
»Wo ist er?«, fragte Senta.
»Tante Ingje«, sagte Anton, »hat einen großen, dunklen Laden, und in diesem Laden kannst du ganz was Besonderes kaufen. Musik. Du kannst alle Noten der Welt kaufen, alle Musik, die je geschrieben worden ist. Sie hatte einen Mann, Rudolf, als der starb, hat sie den Laden geerbt. Rudolf wußte genau, wo jede Note von jedem Komponisten zu finden ist. Er ging ans Regal, zippzapp, hatte er die gewünschte Note parat. Aber Tante Ingje weiß bis heute nicht, wo was liegt. Nur hat sie einen Trick, wie sie das findet, was der Kunde wünscht. Und wißt ihr, was ihr Trick ist?« Er griff hinter sein Ohr, rollte seine Hand ein, schloß sie zur Faust, schüttelte die andere Hand im Ärmel, verdrehte die Augen, gab fremde Laute von sich und zeigte den Kindern, was er unter Einsatz seiner Kräfte hervorgezaubert hatte. Nadjas ChinaseidenBuch.
»Wo kommt das her?«, fragte Senta.
»Fragt Tante Ingje.« Anton lächelte mit leicht nach vorn fallenden Schultern.
»Wo ist mein Frosch?«
»Ich zeig euch noch einen.«
»Wo, Papulja.«
Nadja spürte, wie ihre Tochter sich ihr zuwandte, von ihr eine Erklärung forderte, wie nur ein Kind sie fordern kann, durch beharrliches Warten. Und sie griff nach dem festen Stoff von Sentas Mantel, faltete ihren Kragen auf Kante, strich mit ihren Fingern das dünne Mädchenhaar zur Seite und hielt plötzlich inne, unfähig zu einer weiteren Bewegung, in der warmen Nähe ihres Kindes, mit dem zusammen sie in eine Welt hineinreiste, die Rudolfs dämmrigen Altherren-Antiquariat ähnelte, vollgestopft mit Ererbtem, Vergessenem, Überflüssigem. Noten, die keiner haben wollte. Ein Mausoleum, aber ohne den nötigen Glanz. Den unbedingten Glauben, daß ein Leben nach dem Tod sich lohne. Nur verschmähtes Künstlertum. Gebrochener Ehrgeiz. Unangenehm durchfärbt vom Gefühl, Rache nehmen zu wollen.
Senta wich aus, stemmte die Fäuste in ein Polster.
Anton schaute Nadja direkt in die Augen. Ihr herzmuschelverschlossener Mund. Die Mundwinkel voll wütender Trauer und Entschlossenheit. So rätselhaft wie es war, aber was war schon rätselhafter als seine Gefühle zu ihr – die Offensichtlichkeit ihres Trotzes nahm ihm die Angst. Ihr Zittern beruhigte ihn. Die Verletzlichkeit ihrer grauen Haare. Die kleine Geste, wie sie Sentas Mantelkragen gefaltet, ihr die Strähne aus dem Gesicht gestrichen hatte. Er sagte: »Ich hab ihn befreit. So ist es besser für ihn.«
Und Senta stieß, fast stellvertretend erleichternd für alle, einen Schrei aus, der wohl bis ans Ende des Zuges zu hören war, denn kurze Zeit später kam einer der Schaffner vorbei und fragte, ob mit ihnen alles in Ordnung sei.