»Und anderer teurer Dinge, stimmt’s?«
»Ja. Ich schrieb tage- und nächtelang ohne Pause, bis ich vom Stuhl kippte. Schrieb eine Woche, und las das Manuskript dann, als ob ich es vorher noch nie gesehen hätte. Anschließend machte ich tagelang Party. Ich begann Kokain zu nehmen, weil ich mich zunehmend ausgebrannt fühlte. Leer. Und weil ich mir das Koks leisten konnte. Ich kaufte mir auch Frauen. Noch mehr Kokain, Spaß, Party, Sex. Und dann von vorn … bis die Kohle schließlich alle war.«
»Sie kauften sich Frauen?«
»Jede Menge. In jeder Ausführung, Größe und Zusammensetzung.«
»Wow, klingt spaßig. Wie fand denn Sabine Ihren neuen Lebenswandel?«
»Wir hatten unsere Differenzen deswegen.«
»Echt? Kann ich mir kaum
vorstellen.«
»Ja, aber dann kam Tommy.
Mein Sohn. Er wurde mit Trisomie 21 geboren. Ich nehme an, Sie
wissen, was das ist?«
»Ja.«
»Er hat außerdem eine autistische Spektrumsstörung. Es war … ist nicht leicht.«
Lina nickte.
»Danach habe ich, Arschloch, das ich bin, Sabine verlassen. Ich bin einfach davongelaufen, wollte dem Ernst des Lebens nicht ins Gesicht schauen. Habe weitergemacht mit den Drogen, den Mädels, als hätte sich überhaupt nichts geändert. Gelegentlich habe ich sogar geschrieben. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe mich nie um Tantiemen gedrückt oder so. Zu Geburtstagen und an Weihnachten habe ich Tommy jeweils tausend Euro extra überwiesen, Jahr für Jahr. Aber diesmal waren es nur fünfhundert, weil ich noch nicht wusste, wie das Buch laufen würde.«
Lina schenkte ihm einen nachdenklichen Blick. »Ehrlich gesagt macht Sie das auch nicht gerade sympathischer.«
Herzog schwieg und starrte geradeaus durch die Scheibe, genau wie Lina. Er spürte, wie etwas Feuchtes in seinen Dreitagebart rann und dort versickerte. Mit einer beiläufigen Bewegung wischte er es weg.
»Ich weiß«, sagte der Schriftsteller leise. »Seitdem ging es schleichend abwärts. Ohne Sabine an meiner Seite fehlte mir irgendwie die … ich weiß nicht, die Inspiration?«
Das kleine Telefon klingelte und Herzog nahm es vom Armaturenbrett.
»Urbaniak«, sagte er. »Mein Agent. Vermutlich ist er jetzt bei dieser Studentin.«
»Ann-Marie? Ihrer Eroberung aus dem Zacherl?«
»Ja. Aber vor allem ist das Mädchen momentan der einzige Strohhalm, nach dem ich greifen kann. Ich bete zu Gott, dass mein Blackout darauf zurückzuführen ist, dass wir gemeinsam Zeit verbracht haben, und sie mein Alibi bestätigt.«
Lina grinste. »Dann muss sie ja eine echte Granate sein im Bett, wenn Sie sich nicht daran erinnern können.«
Herzog schien gar nicht mehr zuzuhören. Er runzelte die Stirn und drückte die kleine, grüne Taste auf Linas Telefon.
* * *
Schwanthaler Straße im Münchner Westend
»Mannomann«, flüsterte Urbaniak in den Hörer und ließ seinen Blick über die verfallene Fassade des Hauses streifen. Der Putz hatte sich größtenteils schon vor Jahren verabschiedet, die Fenster mit ihren verquollenen Holzrahmen, an denen sich die Reste einer Lackierung noch erahnen ließen, wirkten nahezu antik. Ein seltenes Bild hier in München. »Da hast du dich ja richtig in der High Society herumgetrieben, wie?«
»Ich habe mich überhaupt nicht herumgetrieben, Karsten«, krächzte Herzogs Stimme aus dem kleinen Lautsprecher. »Sie ist Studentin.«
»Ja, schon klar. Entschuldige. Ich meine halt bloß, die Kleine war nicht ganz deine finanzielle Liga, oder? Wenn ich mich hier so umsehe …«
»Ich wollte mir kein Geld von ihr leihen, okay?«
»Hm. Im Zacherl sah sie gar nicht aus, als ob sie in so einer Gegend wohnen würde.« Urbaniak warf einen flüchtigen Blick die Straße entlang und dann auf seinen Mercedes SLK, den er vor dem baufälligen Gebäude geparkt hatte. Der Kontrast hätte nicht größer sein können.
»Das müsste sie auch nicht. Ihr Vater ist irgendein Bankdirektor oder sowas. Ziemlich hohes Tier.«
»Is’ nich wahr!«
»Doch. Sie hat nur gerade diese Phase. Du weißt doch, wie Studenten so sind. ‚Geld ist Scheiße’, ‚Nieder mit dem Kapital’, ‚Reichtum für Alle!’ und all das. Ist doch kein Wunder, wenn man so jemanden zum Vater hat.«
»Vermutlich nicht. Ich wundere mich nur, dass sie trotzdem auf deine Masche mit dem Porsche angesprungen ist, unsere kleine Revoluzzerin.«
»Sehr witzig. Schon mal überlegt, dass sie vielleicht auf mich angesprungen sein könnte? Und jetzt hol sie mir bitte ans Telefon.«
»Klar«, sagte Urbaniak und machte einen weiteren Schritt auf das Haus Nummer 46 zu. »Okay«, sprach er dann in das Telefon, nachdem er einen Blick auf die Klingelschilder geworfen hatte. »Wir haben ein Problem.«
Er beugte sich zu den Klingelschildern, die meisten davon handgeschrieben und über alle Maßen verwittert. Die wenigen Namen, die Urbaniak entziffern konnten, ließen auf eine von zwei Möglichkeiten schließen: Entweder gab es in dem Haus überwiegend Wohngemeinschaften oder die Mieter hatten ihre Bleibe öfter gewechselt als ihre Unterhosen. Von dem Eingang führte eine Durchfahrt bis an ein massives Eisentor, in das eine kleinere Tür eingelassen war. Die ging vermutlich auf einen Innenhof hinaus, den sich das Haus mit ein paar weiteren verkommenen Anwesen teilte. Rechts vom Klingelschild führten drei Stufen in den eigentlichen Hauseingang. Der allerdings mit einer schweren Holztür verschlossen war. Urbaniak klinkte und rüttelte daran herum, ohne eine Reaktion seitens der Tür.
»Wie hieß deine Prinzessin
für eine Nacht noch
mal?«
»Ann-Marie, das
sagte ich dir doch schon.«
»Ja«, erwiderte Urbaniak. »aber ihren Nachnamen hast du nicht zufällig erfahren, oder? Seltsamerweise steht hier nämlich nirgends Ann-Marie, die Tochter des Bankdirektors, dran. Du erwartest hoffentlich nicht, dass ich hier bei allen klingle. Mich beschleicht das Gefühl, dass Herr S. Koroljow im ersten Stock zum Beispiel das überhaupt nicht witzig fände.«
»Nein, Urby. Ihren Nachnamen kenne ich nicht.«
»Toll. Und nun?«
»Wie wär’s, wenn du … warte! Ist die Tür zum Innenhof offen?«
»Moment.« Urbaniak ging hin und rüttelte an der Klinke. Die war eingerostet und ließ sich keinen Millimeter bewegen. Aber das war auch gar nicht nötig. Die ebenfalls völlig verrostete Eisentür schwang praktisch von allein auf, begleitet vom ohrenbetäubenden Quietschen der Scharniere. »Scheiße, jetzt weiß das ganze Haus, dass ich hier bin. Wenn dieser S. Koroljow ein junger Russe ist, der mir meinen SLK klaut, bezahlst du mir das Teil, Herzog.«
»Du bist ein bekackter Rassist, Urby. Und ein Kleingeist. Geh in den Hof, und dann links.«
»Okay, ich bin jetzt im Innenhof. Sieh an, hier hat’s mal einen Spielplatz gegeben. Vor etwa hundert Jahren, schätzungsweise, bevor jemand den Innenhof in eine Mischung aus Schlachtfeld und Müllhalde verwandelt hat. Ziemlich erfolgreich übrigens. Mann, das stinkt vielleicht. Hier vergammelt doch irgendwas!«
»Siehst du die Balkons, gleich links hinter der Kurve?«
»Ja?«, fragte Urbaniak zögernd. »Du erwartest doch nicht etwa von mir, dass ich …«
»Doch. Urby, Herrgott, hier geht’s um meinen Arsch, wenn du dich bitte erinnerst! Du musst doch bloß an die Scheibe klopfen oder dich irgendwie bemerkbar machen. Komm schon!«
»Welcher Balkon ist es denn? Ich kann da nicht hochklettern, Herzog! Ich habe Höhenangst und ...«
»Beruhige dich, Urby. Es ist der im Erdgeschoss. Gleich der erste links.«
»Oh, Mann. Das zieh ich dir alles von den Tantiemen ab. Warte, ich stecke dich kurz ein.« Urbaniak ließ das Handy in der Tasche seines Wintermantels verschwinden. Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über die grauen Fassaden der Gebäude schweifen, die den Innenhof umgaben. Alle Häuser starrten ihn aus schwarzen, blinden Fensterscheiben an. Nirgends regte sich etwas. Urbaniak ergriff eine Metallstange des Balkons, setzte einen Fuß an der Mauer an und hatte sich ein paar Sekunden später über die Brüstung geschwungen. Er nestelte das Telefon wieder aus der Tasche.
»Okay«, sagte er, presste eine Hand an die Glasscheibe der Balkontür und spähte ins Innere der Wohnung. »Hier brennt nirgendwo Licht. Vermutlich ist sie gar nicht …. Whoa!« Die Balkontür gab unerwartet unter seinem sanften Druck nach, und er stolperte förmlich in die Wohnung. »Scheiße!«
»Scheiße
was, Urby?«, wollte Herzog
wissen. »Ist sie
da?«
»Die
… die
Balkontür war offen.
Ich, äh … ich bin
drin.«
»Oh!« Herzog klang, als erinnere er sich gerade an ein peinliches Erlebnis. »Ich fürchte, das war ich. Ist mir gerade wieder eingefallen. Wir haben im Stehen … äh, na, jedenfalls ist dabei das Schloss der Balkontür kaputtgegangen. Aber ich hab ihr versprochen, für den Schaden aufzukommen.«
Urbaniak flüsterte unwillkürlich: »Du hast es ihr im Stehen besorgt, Alter? Mann, ich beneide dich echt um …«
Aber er kam nicht dazu, auszusprechen, worum er Herzog beneidete. »Oh, Fuck!«, flüsterte er.
»Was? Ist sie nicht da? Sag schon!«
Urbaniak beschlich eine Unruhe und später wurde ihm klar, dass dies der Moment gewesen war, in dem die bisher geflissentlich ignorierten Anzeichen mit aller Macht in sein Bewusstsein drängten. »Schnee, Herzog! Hier ist überall Schnee. Diese Scheißtür muss seit ein paar Stunden offengestanden haben.«
»Kann nicht sein«, entgegnete Herzog. »Wir haben die Tür noch an dem Abend repariert, mit Klebeband, damit die Wohnung nicht auskühlt. Sah nicht schön aus, aber es hat gehalten.«
»Dann habt ihr aber echt schlampig gearbeitet«, flüsterte Urbaniak und fasste sich dann ein Herz. »Hallo?«, rief er halblaut in die Wohnung. Seine Stimme verhallte gespenstisch in den hinteren Räumen. »Sie ist nicht hier, Mann. Und ich würde auch gern verschwinden, wenn dir das nichts ausmacht, Herzog. Was ich hier treibe, nennt man Einbruch. Soweit ich weiß, ist so was strafbar.«
»Geh nur noch in die
Küche, okay? Vielleicht
findest du da einen Zettel oder so was mit ihrer Telefonnummer
drauf«, beharrte
Herzog.
»Was? Warum sollte die denn ihre eigene
Telefonnummer aufschreiben, das ist doch
totaler …«
Doch es war zu spät. Urby hatte einen Raum gefunden, der das Schlafzimmer sein musste. Denn es wurde von einem übergroßen Himmelbett mit einem weiß lackierten Metallrahmen eingenommen, an dem etliche Roststellen sichtbar waren. In dem Raum mochten auch Kleiderschränke gestanden haben, und vielleicht hingen an den Wänden Bilder. Vielleicht stand auch Davids Michelangelo in einer Zimmerecke. Urbaniak vermochte es auch später nicht zu sagen, denn seine gesamte Aufmerksamkeit wurde von dem Anblick in der Zimmermitte beansprucht. Es dauerte eine Weile, bis er das, was er vorfand, als die Überreste des Mädchens erkannte, das er zuletzt vor zwei Tagen in Herzogs Begleitung im Zacharias gesehen hatte. Bis er es überhaupt als die Überreste eines Menschen erkannte.
Ann-Marie war ohne jeden Zweifel tot. Das, was den zerfetzten Himmel ihres Himmelbettes und einen Großteil der Wände bedeckte, war keine gewagte abstrakte Malerei. Genausowenig waren die dunklen Flecken auf dem weiß lackierten Bettgestell Rost.
Es war ihr Blut.
»Herzog.« Er hatte kaum noch Luft, um zu sprechen. »Sie ist … ans Bett gefesselt, und ihre Augen … oh mein Gott, da ist etwas in ihren Augen«, stöhnte Urbaniak in sein Telefon, bevor es seinen kraftlosen Fingern entglitt und auf dem eiskalten Parkettboden des Schlafzimmers von Ann-Marie Werle aufschlug.
* * *
»Was hat er gesagt?«, fragte Lina.
Herzog starrte auf das Display des Telefons, von dem gerade Urbaniaks Nummer verschwunden und durch die Mitteilung »Anruf beendet« ersetzt worden war. Das letzte, das Herzog seinen Agenten hatte sagen hören, hatte verdächtig nach »Sie ist gefesselt«und »Ihre Augen, etwas ist mit ihren Augen!«geklungen, aber Herzog hatte die Stimme am anderen Ende kaum verstehen können. Das, was folgte, aber schon. Es gab einen lauten Knall und dann fummelte Urbaniak an dem Telefon herum, das ihm offenbar entglitten war.
»Hier ist irgendwer«, flüsterte der Agent, und dabei klang er, als habe er das Telefon halb verschluckt. Sein Atem ging stoßweise. Er sagte:
»Scheiße, ich verdufte«, und legte auf. Vermutlich, um genau das zu tun, um zu verduften.
»Sie ist nicht da«, antwortete Herzog mit einiger Verzögerung auf Linas Frage, die wie vom anderen Ende einer fernen Galaxie zu kommen schien. »Er hat aufgelegt.«
»Dann sollten Sie es vielleicht ausschalten.«
»Was?« Herzog begriff es nicht. Er begriff überhaupt nichts. Was um alles in der Welt hatte Urbaniak bloß gemeint, als er von Ann-Maries Augen gesprochen hatte, und dass sie ans Bett gefesselt war? Wieso hatte er ihr nicht das verdammte Telefon gegeben, damit sie mit Herzog sprechen konnte?
Ans Bett gefesselt wie …
Wie du sie ans Bett gefesselt hast, dachte Herzog.
Denn das hatte er tatsächlich. Leicht natürlich nur, mit einem Seidenschal, den sie ihm gereicht hatte — extra zu diesem Zweck. Die Fortführung ihres leidenschaftlichen Spiels, das im Flur begonnen hatte, wo sie sich gegenseitig die Klamotten vom Leib gerissen hatten. Es hatte quer durch die Wohnung seine Fortsetzung gefunden und seinen vorläufigen Höhepunkt, als er ihren schlanken Körper gegen die eiskalte Glasscheibe der Balkontür gepresst hatte — die plötzliche Kälteempfindung hatte ihr ein überraschtes Keuchen entlockt. Dann war er — mindestens so sehr zu seiner eigenen Überraschung wie zu ihrer — in sie eingedrungen, während er ihre kühlen Pobacken umklammert und sie ihre langen Beine um ihn geschlungen hatte. Nach einer angemessenen Weile hatten sie die zweite Runde im Schlafzimmer eingeläutet. Da hatte sie ihm wortlos den Seidenschal gereicht, und er war ihrer stummen Bitte nachgekommen und hatte sie kurz darauf ein zweites Mal zum Aufbäumen gebracht, während ihre spitzen Schreie zu dem schneeweißen Himmel über ihrem zerwühlten Himmelbett aufgestiegen waren.
Mein Gott, da ist etwas in ihren Augen.
Irgendetwas sagte Herzog, dass Urbaniak damit nicht ihren Blick gemeint hatte.
»…
schon
ein ziemlich altes Handy, wie Sie sehen. Ist noch nicht mal
internetfähig«,
holte Linas Geplapper ihn in die Gegenwart
zurück. »Aber wenn Sie mich fragen,
ist das ein Segen. Meine Mitbewohnerin hat ein
Smartphone, und
sie
ist den ganzen Tag damit
beschäftigt, bunte
Klötzchen auf dem Teil hin-
und herzuschieben, auf irgendwelche
blödsinnigen Kommentare zu
antworten und
auf
Facebook zu surfen. Außerdem halten die Akkus bei den Teilen kaum
mal einen Tag. Stellen Sie sich das mal vor: Sie haben ein
Gerät, mit dem Sie praktisch
einen Computer ersetzen können, aber wenn Sie nicht
innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine Steckdose finden, haben
Sie noch nicht einmal ein ganz normales Telefon. Da lobe ich mir
doch mein vorsintflutliches Nokia-Brikett. Der Akku
hält immer noch locker eine
Woche durch.«
Herzog reagierte immer noch nicht. Er starrte
weiter auf das inzwischen erloschene
Display.
»Ähm … Ich könnte mir aber vorstellen, dass wir es heute noch mal brauchen werden. Also sollten Sie es vielleicht ausschalten. Jetzt. Es ist der Knopf in der Mitte oben. Halten Sie den für ein paar Sekunden gedrückt, ja?«
Herzog tat es. Wie ein Roboter. Hätte Lina ihn in diesem Moment gebeten, die Tür des Wagens zu öffnen und hinauszuspringen, hätte er vermutlich auch das getan. Dann steckte er das Handy ein.
Gerade als er den Blick hob, bemerkte er die Abfahrt nach Irschenberg.
»Hier!«, rief er und deutete auf die Ausfahrt. »Da müssen wir raus.«
»Okay«, sagte Lina gedehnt und vollführte ein — zumindest bei den momentanen Witterungsverhältnissen — ziemlich gewagtes Manöver, um die Ausfahrt noch zu erwischen.
»Das
nächste Mal ein bisschen
früher, ja?«, bat sie Herzog und der
nickte.
»Entschuldigung. Es ist nicht mehr weit.
Allerdings …«
»Ja?«
»Wir müssen da hinauf.«
Herzog deutete auf die Bergkette, an deren Fuß sie seit einer Weile entlangfuhren.
»Da rauf? Wie weit rauf?«
»Ziemlich
weit.«
»Verstehe. Bisher war ich
davon ausgegangen, dass Sie ein kleines
Häuschen in Bayrischzell
besäßen und einfach hoffen, dass Sie keiner der hiesigen
Skitouristen erkennt, wenn Sie nur brav eine Sonnenbrille tragen
und sich einen Bart stehen
lassen.«
»Sehr witzig. Und nein, ein Haus in
Bayrischzell kann ich mir nicht
leisten.«
»Sie
können sich etwas nicht
leisten?«, fragte Lina
vergnügt. »Erstaunlich. Na ja, wie
dem auch sei. Unser Panda ist ein ziemlich
kräftiger kleiner
Bär.
Geländegängig, zumindest laut Prospekt. Ist
nämlich die 4x4-er
Ausführung. Ich wollte schon
immer mal ausprobieren, was der so im
Gelände
mitmacht.«
»Unser
Panda?«
»Eigentlich ist es eher ihr Panda. Der von Bea, meiner Mitbewohnerin.«
»Die den Wagen vermutlich jetzt schon vermisst?«, sagte Herzog und sah zu Lina hinüber.
»Ach nein. Die ist bei ihren
Eltern über die Feiertage. Es ist
okay, wir nutzen das Auto praktisch abwechselnd. Ich zahle ihr
sogar einen Teil der Versicherung und so. So ist es einfach
praktischer
für uns beide.
Und …«
»Ja, ja, schon gut. Sie
wird es also in den
nächsten Tagen nicht
vermissen?«
»In den nächsten Tagen? Wie lang wollen Sie sich denn verstecken? Glauben Sie nicht, dass die Polizei …«
»Solange«, antwortete Herzog mit einem tiefen Seufzen, »solange, wie es nötig ist, damit ich mir sicher bin.«
»Dass Sie es nicht getan haben?«
»Ob ich es nicht getan habe«, sagte Herzog düster.
* * *
Herr Koroljow, stellte sich heraus, war weder jung noch ein Russe. Und Urbaniaks SLK zu klauen, wäre ihm im Traum nicht eingefallen. Koroljow war vielmehr ein überaus rüstiger Mittsechziger mit einem ausgesprochen guten Personengedächtnis.
»So ein langer Kerl in einem schwarzen Mantel«, sagte er gerade zu Kommissar Walkowiak, »sah irgendwie teuer aus. Wie ein Geschäftsmann, verstehen Sie? Ich dachte, es ist vielleicht der Vermieter, der sich mal wieder blicken lässt oder irgend so ein Miethai, der in einer leeren Wohnung Feuer legen will. Hat man ja alles schon mal gehört, nich wahr? Und dann sitzen Sie mit einem Mal auf der Straße und …«
»Zur Sache, Herr Koroljow«, lenkte Walkowiak den Redefluss des Alten wieder in die gewünschte Richtung. »Sie haben also verdächtige Geräusche in der Wohnung unter sich gehört. Was für Geräusche genau?«
»Zuerst klang es, als ob einer im Hof herumsteigt, also bin ich zum Fenster, um nachzusehen. Aber da muss er wohl schon drin gewesen sein in der Wohnung. Durch den Balkon eingestiegen oder so. Laden ja förmlich dazu ein, die Dinger. Totale Fehlkonstruktion, wenn Sie mich fragen …«
»Herr Koroljow, bitte!«
»Ach so, ja. Also habe ich mal ein Ohr riskiert, und da habe ich gehört, wie er durch die Wohnung von der jungen Dame schlich. Da wurde mir gleich ganz anders. Ich meine, es ist ja nicht so, dass die junge Dame nie Besuch gehabt hätte, und da konnte es manchmal schon recht laut werden, wenn Sie verstehen. Aber ich bin da nicht so, ich sage, sollen sich die jungen Leute an der Liebe freuen, solange sie noch schön ist. Ich dagegen …«
Diesmal genügte ein strafender Blick des Kommissars.
»Ähm, na jedenfalls dachte ich mir, Besuch kann das nicht sein, denn der hätte ja geklingelt und wäre durch die Vordertür hereinzukommen, anstatt sich über den Balkon zu schleichen. Also habe ich meine Tür aufgemacht, nur einen Spaltbreit. Aber genau in dem Moment war wieder Ruhe. Also ging ich ein Stück weiter und schaute die Treppe runter. Sehen Sie, so«, er machte es vor, »von hier aus kann ich die Tür der jungen Dame sehen. Und plötzlich, mir nichts, dir nichts, gibt es ein Rumpeln als ob irgendetwas umfällt, die Tür fliegt auf und dieser Kerl stürmt raus, mit wehendem schwarzen Mantel. Ich hab ihm noch hinterhergerufen, und er hat sich erschrocken, als wär ich ein Geist oder so was. Der hat sich in die Hosen gemacht, aber richtig! Wie der mich angestarrt hatte, war er ganz weiß im Gesicht gewesen, und seine Augen sind ihm fast rausgefallen.«
Walkowiak hielt dem Alten ein Foto hin.
»Ja«, sagte der und tippte stürmisch auf die Fotografie. »Der könnt’s gewesen sein, da bin ich mir fast sicher.«
»Fast?«
»Es war ja schon düster und im Erdgeschoss brennt kein Licht im Flur, die Birne ist kaputt schon seit Ewigkeiten, und der Vermieter weigert sich, einen neue einzusetzen.«
»Aber Sie würden bezeugen, dass es dieser Mann war, Herr Koroljow?« Koroljow starrte nochmals lange auf das Foto des Agenten.
»Ja. Der war es. Und er ist in so eine Bonzenkarre gestiegen und dann auf und davon. Einer von diesen Sportwagen. Kaum war er durch die Tür, bin ich durch meine Wohnung gehastet und hab zum Küchenfenster rausgeguckt. Hab gerade noch gesehen, wie er in seinen Silberpfeil gestiegen ist und ab ging die Post, von Null auf Hundert in Nullkommanix.«
»Erinnern Sie sich zufällig an das Modell?«
»Nee. Aber vorn war ʼn Stern drauf. Vielleicht haben Sie ja ’ne Idee?« Koroljow grinste schief.
»Da sind Sie also sicher? Dass es ein Mercedes war?«
»Ja, sag ich doch, und irgend so ein Sportmodell, lange Schnauze und alles. Verteufelt schnell war der auch. Hatte es wohl echt eilig, der Kerl im Mantel.«
»Die Farbe des Wagens?«
»Silber. Ganz sicher silber. So wahr ich hier stehe.«
»Das war ganz schön mutig von Ihnen, Herr Koroljow.«
»Wie man’s nimmt. In diesem Haus haben die Leute schon immer zusammengehalten, sonst gäb’s das Haus nämlich längst nicht mehr, verstehen Sie? Ist eine Selbstverständlichkeit, dass ich mich ein bisschen um die nette, junge Dame da unten kümmere. Wenn der einer was wollte, die wüsste doch gar nicht, wie sie sich zur Wehr setzen sollte.«
Walkowiak spürte, wie sich irgendetwas in seinem Magen schmerzhaft zusammenzog. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Vielleicht wurde es allmählich wirklich Zeit, dass sich das mal ein Arzt ansah. Vielleicht genügte es aber auch, wenn er sich damit erst das nächste Jahr versaute.
»Und dann haben Sie die Polizei gerufen?«
»Ja. Ich meine, ein Kerl, der zum Balkon einsteigt und dann zur Vordertür rausrennt, als wären alle Teufel hinter ihm her … Hat der denn was mitgehen lassen?«
Walkowiak warf der Streife einen Blick zu, die nach Koroljows Anruf hier eingetroffen war. Einer der jungen Burschen hatte sich im Badezimmer von Ann-Marie Werle dreimal übergeben, während der andere Verstärkung angefordert hatte. Jungvolk, aber was wollte man machen.
»Ich fürchte«, murmelte Walkowiak, mehr zu sich als zu Koroljow gewandt, »er hat ein bisschen mehr gemacht als nur das.«
* * *
Alpenstraße nahe Bayrischzell, oberbayerische Alpen
Der Fiat leistete gute Dienste. Tapfer kämpfte sich das kleine Auto die eingeschneiten Serpentinen hinauf, bis sie noch knapp einen Kilometer von ihrem Ziel entfernt waren. Dann war auch der Allradantrieb des Panda am Ende seines Lateins angelangt, der Wagen versank im Tiefschnee und blieb endgültig stecken.
Sie hatten die vorbildlich gestreute Hauptstraße des idyllischen Ferienortes Bayrischzell nur für einen halben Kilometer nutzen können, bevor Herzog auf einen Weg zu ihrer Linken gedeutet hatte, der kaum noch als solcher zu erkennen war. Lediglich ein Wegweiser, der so zugeschneit war, dass er seinen Zweck beinahe gänzlich verloren hatte, deutete darauf hin, dass sich oben, am Ende dieses Weges, irgendetwas befand.
»Berghotel Adler«, erläuterte Herzog. »Ungefähr da müssen wir hin, allerdings noch ein Stückchen weiter nach oben. Bis zum Hotel wird der Weg wohl einigermaßen befahrbar sein, aber dann dürfte es ziemlich schwierig werden.«
»Okay«, sagte Lina, wendete den Wagen und steuerte den Panda auf einen kleinen Parkplatz auf der anderen Straßenseite.
»Was tun Sie?«, fragte Herzog.
»Wenn wir da rauf wollen, sollten wir uns ein bisschen vorbereiten, finden Sie nicht? Glücklicherweise bin ich vorbereitet, ganz vorbildlich sogar.« Lina parkte den Wagen und machte Anstalten, auszusteigen. »Möchten Sie mir vielleicht helfen? Immerhin wollen wir Ihretwegen da rauf, oder?«
»Ja, klar«, sagte Herzog und stieg ebenfalls aus. Die Kälte biss sich auf der Stelle durch den dünnen Stoff seiner Anzughose. »Scheiße, ist das kalt«, fluchte er.
»Oh, keine Sorge, gleich wird Ihnen warm«, grinste Lina und reichte ihm ein Paar Schneeketten aus dem geöffneten Kofferraum. Zwei Minuten später schwitzte Herzog trotz der beißenden Kälte, aber dann hatten sie die Ketten auf die Räder des Pandas gezogen.
Dreißig Minuten später passierten sie das Berghotel.
»Keiner da, wie?«, meinte Lina beim Anblick des verlassen daliegenden Gebäudes. Inzwischen hatte sich eine sanfte Dunkelheit über den Schnee gelegt, aber im Inneren des Hotels brannte kein einziges Licht. Dennoch war der Weg bis hier hoch erst vor wenigen Stunden geräumt worden, ebenso der Parkplatz, auf dem jedoch kein einziges Auto parkte.
»Seltsam«, murmelte Herzog und deutete dann auf einen Weg, der vom Parkplatz abzweigte. »Da müssen wir hinauf. Jetzt sind es höchstens noch fünf Kilometer.«
Die hätten sie vermutlich auch ohne Probleme geschafft, wenn nicht in diesem Moment der Schneefall mit aller Heftigkeit wieder eingesetzt hätte.
»Scheiße«, kommentierten Herzog und Lina unisono.
»Jetzt wird’s spannend«, sagte Lina und drosselte die Geschwindigkeit. Sie schaltete in den zweiten Gang, dann runter in den ersten und die kettenbewehrten Räder des Fiat fraßen sich gehorsam in den zentimeterhohen Schnee. Sie rutschten weg, fanden wieder Halt, drohten, sich einzugraben, nur um im letzten Moment doch noch einen Ausweg aus der Kuhle zu finden, die sie im Tiefschnee hinterließen. Unaufhaltsam bahnte sich das kleine Gefährt seinen Weg durch den Schnee.
Bis sie plötzlich vor einer regelrechten Schneewand standen.
Lina trat auf die Bremsen. Zum Glück machte sie nicht den Fehler, das allzu heftig zu tun. Dadurch versenkte sie zwar die Schnauze des Wagens im weichen Schnee, verhinderte aber auch, dass der Panda ausbrach und sie kopfüber den kleinen Abhang hinunterbeförderte.
»Bis hierher, oder?«, sagte sie, als der Wagen zur Ruhe gekommen war.
»Tut mir leid, Lina, ich dachte, der Weg
würde geräumt sein. Normalerweise
macht das Gerber, der Hausmeister des Adler. Aber er muss wohl
gedacht haben:
‚Wozu die
Mühe, wenn heuer eh keiner
in der Hütte
ist?‘«
»Nichts
passiert«, antwortete
Lina. »Allerdings bezweifle ich,
dass ich den Wagen hier so schnell wieder rausbekomme. Jedenfalls
nicht, bevor es
gänzlich dunkel ist. Ist es
die kleine
Hütte
dort unten?«
Sie
deutete an der Schneewand vorbei hinab in das baumumstandene
Tal.
»Ja. Aber es ist nicht meine Hütte. Sie gehört einem Freund. Ich passe nur hin und wieder darauf auf.«
»Wie auch immer. Können Sie da drin Kaffee machen und vielleicht … irgend so was wie Makkaroni aus der Dose?«
Herzog musste grinsen. »Betrachten Sie sich als mein Gast. Aber ich glaube, vor diesem Marsch da runter ins Tal würde ich mich diesmal lieber umziehen.«
»Tun Sie sich keinen Zwang an«, grinste Lina ihn an und machte keine Anstalten, den Blick abzuwenden.
»Äh …«
»Ja, ja, schon gut.« Sie kicherte und stieg aus, während Herzog sich in aller Eile des klammen Sommeranzugs entledigte und in die Second Hand-Klamotten schlüpfte, die Lina ihm besorgt hatte. Eine Jeans aus einigermaßen dickem Stoff. Nicht unbedingt hübsch, aber wesentlich besser für die Witterung geeignet als die Anzugshose des alten Kämpen Heintze. Herzog stieg aus, nachdem er den Anzug des Alten unter dem Fahrersitz verstaut hatte.
»Wow«, sagte Lina, und musterte ihn von der mit falschem Pelz besetzten Mütze bis zu den unförmigen Winterstiefeln mit ihrem neongrünen Überzug. »Total Neunziger. Cool. Entschuldigen Sie, es gab leider keine roten Winterschuhe in Ihrer Größe.«
»Ich glaube, die hier sind mir sogar ausnahmsweise mal lieber.«
Da sie querfeldein gingen — über etwas, das im Sommer als Kuhweide diente, wenn Herzog sich recht entsann — kamen sie schneller voran, als auf dem Weg, der in einer großen Schleife am Waldrand vorbei zur Hütte führte. Allerdings zu dem Preis, durch hüfthohen Schnee stapfen zu müssen, in den sie immer wieder einsanken.
»Wow!«, machte Lina, als sie näherkamen. »Gar nicht schlecht, Ihr Versteck. Sieht gemütlich aus.«
Die Wände der Blockhütte, die Herzog so salopp als Versteck bezeichnet hatte, waren aus massiven Baumstämmen gefertigt. Eine dicke Schneeschicht bedeckte das Dach. Die kleinen Fenster waren von schweren Läden verschlossen — beinahe, als schliefe das Häuschen.
»Innen ist es wesentlich gemütlicher«, sagte Herzog. »Und vermutlich schweinekalt. Aber es gibt einen Kamin.«
»Echt, einen Kamin? Das ist ja voll romantisch, ich hatte noch nie …« Sie unterbrach sich, als sie Herzogs schockierten Blick bemerkte. »So hatte ich es nicht gemeint. Hab nicht nachgedacht, tut mir leid. Manchmal plappere ich einfach so vor mich hin.«
Herzog nickte und sie setzten ihren Weg fort, bis sie vor der Eingangstür der Hütte standen. Die, wie alle anderen Außenwände, etwa einen halben Meter hoch von Schnee zugeweht war.
»Dann heißt es wohl graben«, sagte Lina und begann, mit beiden Händen den Schnee wegzuschaufeln. Herzog tat es ihr gleich und nach ein paar Minuten hatten sie den Eingang freigelegt. »Ich hoffe, Ihr Kaffee ist gut. Oder zumindest heiß«, sagte Lina und rieb ihre Handflächen aneinander.
»Kein Sorge«, antwortete Herzog und fummelte auf der Oberseite des massiven Asts herum, der den Türsturz bildete.
»Aha!«, rief er und hielt triumphierend einen Schlüssel hoch, den er in das Schloss der Eingangstür steckte. Nach einer kurzen, kältebedingten Diskussion gab das Schloss schließlich nach und Herzog schob die Tür auf.
* * *
Professor Steinlein traf zeitgleich mit dem Team der Spurensicherung in Ann-Marie Werles Wohnung ein. Der Psychologe bat die Kriminaltechniker in seiner unnachahmlich charmanten Art, ihm und Walkowiak ein paar Minuten allein am Ort des grausamen Geschehens zu geben, bevor sie mit ihrer Arbeit begannen. Wunziger, der Chef der Kriminaltechnik, warf Walkowiak einen fragenden Blick zu, den dieser mit einem Schulterzucken beantwortete. Dann zog er wortlos zwei weitere der weißen Schutzanzüge aus einem mobilen Schränkchen hervor, in die Steinlein und Herzog sich hinein zwängten. Dann betraten sie das Schlafzimmer.
Insgeheim bewunderte Walkowiak die Gelassenheit, welche der Polizeipsychologe an den Tag legte, und bemühte sich nach Kräften, eine ebenso gefasste Haltung zur Schau zu stellen, was in seinem Fall allerdings nur teilweise gelang. Da der Anzug keine Taschen hatte, in die er seine zitternden Hände hätte stopfen können, verschränkte er sie hinter dem Rücken und umklammerte sein linkes Handgelenk dann mit der Rechten. Das ging so lange gut, bis der Schmerz in seiner Magengegend ein weiteres Mal aufflammte und hitzige Finger des Schmerzes durch seinen Körper sandte. Er würde zum Arzt gehen, nahm sich Walkowiak vor, während ihm der Schweiß ausbrach, gleich als erstes im neuen Jahr. Wirklich.
Der Psychologe stützte ihn, als er drohte, gegen den Türrahmen zu taumeln. Dabei griff er so geschickt nach Walkowiaks Arm, dass sein Körper die Aktion vor den Kollegen im Flur verbarg.
»Alles in Ordnung, Herr Kommissar?«, flüsterte er und warf Walkowiak einen besorgten Blick zu. Zum ersten Mal empfand der Kommissar so etwas wie Sympathie für Steinlein.
»Ja«, flüsterte er zurück und schenkte Steinlein ein gequältes Lächeln. »Es geht schon. Zu wenig Schlaf und zu viel Kaffee. Das schwere Weihnachtsessen.«
»Verstehe«, sagte der Psychologe, nun etwas lauter. Vermutlich, damit die neugierigen Kollegen im Gang sich nicht zu fragen begannen, was die beiden Ermittler da zu tuscheln hatten.
Sie betraten den eigentlichen Tatort. Jemand hatte zwei grelle Strahler aufgestellt, die das Schlafzimmer bis in den kleinsten Winkel ausleuchteten, und bei Gott, Walkowiak wünschte, sie hätten das nicht getan.
Steinleins Blick wanderte nicht durchs Zimmer, vielmehr hatte Walkowiak den Eindruck, der Psychologe scanne seine Umgebung systematisch ab, Millimeter für Millimeter. Vermutlich fertigte er dabei in seinem Kopf eine präzise Skizze an, die mindestens so akkurat war wie die Fotos, die die Jungs von der Kriminaltechnik hier gleich schießen würden. Dann ging der Psychologe ein paar Schritte auf den Leichnam zu.
»Hier hat er gestanden«, erklärte er, als er noch etwa eine Armlänge von dem zerfetzten menschlichen Wesen entfernt stand, dessen ausgebreitete Arme an die obere Querstange des metallenen Bettgestells gefesselt waren. »Sie war gefesselt, als er begonnen hat zu … sie zu schneiden.«
Schneiden, fand Walkowiak, war hier wohl die Untertreibung des Jahhunderts. Vielmehr hatte der Täter mit einem langen und zweifellos sehr scharfen Messer auf sein wehrloses Opfer förmlich eingehackt. Das Blut war infolge dieser Behandlung bis an die umliegenden Wände und sogar an den Stoffhimmel des Bettes gespritzt, Laken und Bettdecke waren blutgetränkt. Aber das war noch nicht das Schlimmste.
»Es sieht so aus, als habe sie noch gelebt, als er damit begonnen hat«, fuhr Steinlein fort. »Ich vermute sogar, dass sie sich anfangs freiwillig hat fesseln lassen. Vielleicht hat er ihr versprochen, sie am Leben zu lassen, wenn sie es ohne Widerstand geschehen lässt.«
»Was geschehen lässt?«, fragte Walkowiak und spürte, wie mit dem Entsetzen die Wut in ihm aufstieg. Dieses Mädchen war knapp über zwanzig gewesen, wenn überhaupt. Dieses Vieh hatte ihre Angst genutzt, um sie …
»Nun, um sie zu fesseln. Vermutlich werden Sie auch Spuren einer sexuellen Attacke finden, höchstwahrscheinlich erfolgreich.«Er deutete auf die blutbesudelten Wände des Raums. »Diese Art von Kontrollverlust während der Tat ist geradezu typisch für sexuell motivierte Tötungsdelikte.«
Tötungsdelikt, wie wunderbar harmlos das klang. Beinahe wie eine kleinere Verkehrssünde. Irgendetwas in der Größenordnung von Parken auf dem Behindertenparkplatz oder einer geringfügigen Geschwindigkeitsübertretung. Aber Herr Kommissar, es war doch nur ein klitzekleines Tötungsdelikt! Bloß dass nichts an dieser Sache hier klein war oder etwas, das die Bezeichnung ‚Delikt‘ verdient hätte. Hier hatte ein grausames Blutgericht stattgefunden!
Aber in einer Sache musste er Steinlein recht geben. Dem Irren, der das hier angerichtet hatte, war dabei fraglos einer abgegangen. Nicht nur hatte er sein Opfer vergewaltigt und getötet — er hatte es auf eine Weise getan, die es gleichzeitig erniedrigte, und das ganz bewusst. Er hatte das wimmernde Etwas zu seinen Füßen regelrecht verhöhnt, und die Krönung dieser Grausamkeit war das, was er in ihrem Mund gestopft hatte. Vielleicht, weil der Täter es ganz bewusst hinterlassen hatte. Eine gezielte Botschaft an seine Verfolger. An ihn, Walkowiak. Es war, als grinse der Gestörte ihm jetzt in diesem Moment ins Gesicht. Als mache er sich lustig über ihn, sein zerstückeltes Opfer und — nicht zu vergessen — dessen Eltern, Freunde und Angehörige.
Dreimal dürfen Sie raten, wem die Aufgabe zuteil wird, den Eltern beizubringen, was mit ihrer Tochter passiert ist, und zwar ausgerechnet während der Weihnachtsfeiertage?
»In Ordnung«, sagte Walkowiak mit matter Stimme. »Nachdem dieses Schwein sie also vergewaltigt hat, hat er sie ans Bett gefesselt und ihr versprochen, dass er sie in Ruhe lässt, wenn sie sich nicht wehrt. Und dann hat er … o mein Gott, er hat sie aufgeschlitzt wie ein … wie ein Tier auf der Schlachtbank.«
»Hmm«, machte Steinlein. »Ja und Nein. Natürlich wird das erst eine ausführliche forensische Untersuchung zeigen, aber ich tippe mal auf folgenden Tathergang: Er fesselt sie, während sie völlig verängstigt ist. Obwohl sie versprochen hat, sich nicht zu wehren, verliert sie irgendwann einfach die Kontrolle. Sie beginnt zu schreien, kann ihre Angst einfach nicht mehr beherrschen. Also stopft er ihr … das da in den Mund. Vermutlich findet er es in ihrem Nachtschrank und es erscheint ihm sofort geeignet für sein Vorhaben. Eine Art Witz, verstehen Sie? Eine Art Einstimmung auf das, was er anschließend mit ihr vorhat.«
»Haben Sie gerade ‚Witz’ gesagt?«
»Ja. Ich denke, damit hat es begonnen. Er hat ihr den Gegenstand so brutal in den Mund geschoben, dass sie davon zu bluten begann. Aber schreien konnte sie jetzt nicht mehr. Und das, genau diese Position, gab für ihn den Ausschlag. Genauso wollte er sein Opfer haben. Wehrlos, am Boden. Das hat ihm geholfen, eine ganz spezielle Situation nochmals zu durchleben. Vielleicht mit vertauschten Rollen. Ich nehme an, er befand sich einmal in einer ganz ähnlichen Lage, vielleicht als Kind. Er musste Leid erleben und es gab niemandem, mit dem er darüber sprechen konnte. Das ist natürlich reine Spekulation. Aber falls es stimmt, vertauscht er jetzt die Rollen. Er teilt aus, anstatt einzustecken.«
»Na großartig«, meinte Walkowiak. »Jemand hätte den Job damals wohl besser richtig machen sollen.«
Der Psychologe ignorierte seinen Kommentar. »Sehen Sie die Menge an Blut, das aus den Augenhöhlen geflossen ist, nachdem er die Augen entfernt hat? Das deutet ebenfalls darauf hin, dass sie noch lebte, als er das machte. Ja, ich denke, die Reihenfolge war diese: Fesseln, Mund, Augen und dann hat er völlig die Kontrolle verloren.« Steinlein deutete von dem aufgeschlitzten Körper auf die Blutspritzer überall im Zimmer. »Ganz zum Schluss hat er ein Ende gemacht, aber ich bezweifle, dass sie da noch gelebt hat oder bei Bewusstsein war. Der Schnitt quer durch den Hals, sehen Sie?«
Walkowiak hatte genug. Er wandte sich ab, während Steinlein weiter seinen aufmerksamen Blick über das Grauen schweifen ließ. Für einen Augenblick vermeinte Walkowiak, so etwas wie Faszination in den Augen des Psychologen aufleuchten zu sehen. Der Kerl liebt seinen Job. Vielleicht fast so sehr wie derjenige, der das hier angerichtet hat. Man sollte die beiden in eine Zelle stecken, damit sie ihre Erfahrungen austauschen können. Aber dann verwarf er den Gedanken rasch wieder.
»Glauben Sie, es war derselbe Täter?«, fragte er Steinlein, ohne den Psychologen anzuschauen.
»Wie bei Sabine Neuhaus?«
»Ja. Glauben Sie, es war der Schriftsteller, Herzog?«
»Das sind zwei Fragen, Kommissar Walkowiak.«
»Die vielleicht dieselbe Antwort haben?«
»Ja, vielleicht. Vielleicht haben sie das wirklich. Sehen Sie hier.«
Walkowiak drehte sich um. Der Psychologe war mit etwas beschäftigt, das auf der altertümlichen Ankleidekommode lag. Walkowiak blickte über seine Schulter. Es war ein Buch, das dort lag.
Totgespielt, von Andreas Herzog. Brandneu und ungelesen.
Steinlein zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und klappte damit den Buchdeckel auf. Auf der ersten Seite des Buchblocks stand unter dem in großen Lettern gedruckten Titel des Buches eine Widmung in einer ausladenden, maskulinen Handschrift. Falls man den Text überhaupt als Widmung bezeichnen konnte.
Wir sind dann später im Club Zacharias.
Komm doch vorbei,
ich will dich tanzen sehen, schönes Mädchen.
Andreas Herzog, München, 23. Dezember
* * *
Mit wenigen routinierten Handgriffen hatte Herzog den Kamin von der alten Asche befreit und ein paar Holzscheite zu einem kleinen Turm aufgestapelt. In die Zwischenräume stopfte er eine Art Wolle aus Holzspänen, die er anzündete. Als das Türmchen brannte, legte Herzog große Scheite nach, stand auf und klopfte sich die Hände am Hosenboden ab.
Das prasselnde Feuer begann die Hütte mit Wärme zu erfüllen, ein angenehmer Duft nach Lagerfeuer und Abenteuer durchdrang den Raum. Lina streckte die Innenflächen ihrer Hände der wärmenden Glut entgegen, während sie genießerisch die Augen schloss. Herzog betrachtete das Mädchen. In diesem Moment, als das zuckende Licht der Flammen über ihr Antlitz tanzte, war sie schön.
Ich will dich tanzen sehen, schönes Mädchen.
Herzog schüttelte sich, stand auf und sagte: »Ich mache Kaffee.«
»Wundervolle Idee«, flüsterte sie und schien in Gedanken ganz woanders zu sein. Dieses Mädchen, dachte Herzog, während er in die kleine Küche hinüberging, dieses Mädchen verwirrte ihn, und zwar gehörig. Warum tat sie das alles? War sie nur ein durchgeknallter Fan, der noch nicht kapiert hatte, dass es sich bei dieser Sache nicht um einen Herzog-Roman handelte oder einen lebensechten Film? Nein, dazu war sie zu intelligent. Ganz bestimmt gehörte sie nicht zu der Sorte Mädchen, die es aus irgendwelchen Gründen für ihr Ego brauchten, wenigstens einmal im Leben mit einer Berühmtheit geschlafen zu haben, und sei es auch nur ein mittelmäßig begabter Krimischreiberling.
Der es immerhin zu einigem Geld und Ansehen gebracht hatte, nicht wahr?
Ja. Und der sich gerade auf der aussichtslosen Flucht vor einer Sonderkommission der Münchner Polizei befand, weil er seine Exfrau ermordet haben sollte.
In diesem Moment fielen Herzog wieder die letzten Worte seines Agenten Urbaniak ein, bevor dieser ziemlich überstürzt aufgelegt hatte.
Sie ist gefesselt … und … da ist etwas in ihren Augen. Sie ist …
Plötzlich wusste er, was mit Ann-Marie nicht stimmte, ganz konkret mit ihren Augen. Wieso Urbaniak so panisch geklungen hatte, bevor er aus der Wohnung der Studentin geflohen war. Ja, geflohen war das richtige Wort. Herzog kippte ein paar Löffel Kaffeepulver in die Maschine, ohne nachzuzählen. Viel zu viele vermutlich, aber scheiß drauf — einen starken Kaffee konnte er jetzt wirklich vertragen. Das konnten sie beide. Er stellte die Maschine an und das Wasser begann blubbernd durch den Filter zu laufen. Der aromatische Duft strömte in Herzogs Nase und er sog ihn tief ein. Kaffee, damit hatte alles begonnen, vor Urzeiten, so kam es ihm vor. Literweise hatte er ihn in sich hineingekippt, während er seine kruden Verse auf einem vorsintflutlichen Monster von Schreibmaschine getippt hatte. Sabine schmiegte sich an ihn, sah ihm über die Schulter und kicherte gelegentlich, woraufhin er so tat, als sei er eingeschnappt. Wohl wissend, dass Sabine diese Reaktion nur provozierte, um es »wiedergutmachen« zu können. Einmal hatte sie es mit ihrem Mund wiedergutgemacht, während er einfach weitergetippt hatte. Bis er sich nicht mehr aufs Tippen hatte konzentrieren können.
Jetzt, wie er da so über die Spüle gebeugt dastand und wartete, bis der Kaffee durchgelaufen war, kapierte er vielleicht zum ersten Mal wirklich, wie sorgenfrei diese Zeit damals gewesen war. Wie unschuldig. Wie wertvoll. Und er begann zu verstehen, dass das ganze Geld, das er anschließend verdient hatte, nie und nimmer in der Lage sein würde, dieses Loch zu stopfen. Diese Zeiten wieder herzustellen. Das war ganz ausgeschlossen. Nun und für alle Zeit.
Herzog wischte seine Tränen fort, die auf seinen Wangen kitzelten und ging in das winzige Badezimmer, das an die Küche angrenzte. Er klappte den Klodeckel hoch, pinkelte und wusch sich die Hände. Als er hochschaute, begegnete er dem Blick einer ausgemergelten, bedauernswerten Kreatur.
»Scheiße!«, entfuhr es Herzog, als er reflexartig sein Spiegelbild beiseite fegte und dabei die Spiegelwand des Arzneischränkchens erwischte, das über dem Waschbecken hing. Schmerz durchzuckte seine Knöchel, aber das Spiegelbild verschwand nicht.
Plötzlich war die Wut da, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Voller Abscheu drosch er seine Faust in die glatte Oberfläche des Spiegelschränkchens. Einmal. Zweimal. Dreimal, bis er alle Spiegelsegmente zertrümmert hatte. Wie schillernde, zerquetschte Insekten rieselten die Bruchstücke in das Becken, während Herzog auf die blutenden Fingerknöchel seiner rechten Hand starrte, wo er sich mehrfach tief geschnitten hatte. Blut, da war … überall Blut. Die unzähligen Scherben warfen es tausendfach zurück.
Die Wucht der Erinnerung ließ ihn gegen den Türrahmen taumeln, die Badtür flog auf und er stolperte in die Küche zurück — und direkt in Linas Arme.
»Mein Gott!« Ihr entfuhr ein spitzer Aufschrei des Entsetzens. »Was haben Sie denn bloß getan?«
»Ich …«, nuschelte Herzog. »Ausgerutscht.«
Dann brach das, was er bislang für die Realität gehalten hatte, zusammen — zerstob in einem diffusen Schleier aus Weiß und Rot, Fleisch und Blut, aus Schnee und Rosen und Ebenholz — dann sank Herzog hinab in die Schwärze, und deren Tiefen waren bekanntlich unergründlich.
* * *
Mörderischer Krimiautor? Polizei durchkämmt München nach flüchtigem Schriftsteller
Seit den frühen Morgenstunden läuft eine Suchaktion in und um München. Per Hubschrauber und mit erheblichem Personalaufwand sucht die Polizei nach dem flüchtigen Schriftsteller Andreas Herzog. Der »Münchner Rundblick« berichtete: Der Autor, der noch am 23. Dezember eine öffentliche Lesung in der Kranhalle abhielt, soll am darauffolgenden Weihnachtstag seine Exfrau Sabine N. grausam ermordet haben. Ein Sprecher der Polizei bestätigte, dass die Suchmaßnahmen in Zusammenhang mit dem Mordfall stehen, wollte sich aber nicht weiter zum Fortschritt der Ermittlungen äußern. Nach Informationen des »Rundblick« liegen den Ermittlern derzeit noch keine konkreten Erkenntnisse über den Aufenthaltsort des Tatverdächtigen vor, nachdem dieser nach einer spektakulären Flucht praktisch unter den Augen des Ermittlungsleiters verschwunden ist — seitdem fehlt von dem 38jährigen jede Spur. Die Fahndung nach dem tatverdächtigen Bestsellerautor wurde deshalb auf das gesamte Bundesgebiet ausgedehnt. Außerdem wüssten auch die Kollegen in Österreich Bescheid, sagte der Sprecher.
— »Münchner Rundblick« vom 27. Dezember