Linas Stimme:

»Es ist okay. Tommy geht es gut. Sie fahren weiter.«

Herzogs Stimme:

»Ja, ich fahre weiter, ja. Da ist Sabines Haus. Ich parke, steige aus. Beinahe hätte ich die Tasche vergessen, aber im letzten Moment fällt sie mir wieder ein. Ich nehme sie mit und balanciere in der anderen die Geschenke für Tommy. Für Bine habe ich auch etwas, aber das ist in der Sporttasche. Es schneit nicht mehr. Ich schlüpfe durch das Gartentor. Auch die Haustür ist offen, das ist praktisch, weil ich ja so beladen bin. Ich laufe die Treppe hoch. Dann stehe ich vor Sabines Wohnungstür. Ich will klingeln, dabei fällt mir beinahe eins der Pakete runter, und ich versuche mich an der Wohnungstür abzustützen. Aber die ist ebenfalls nur angelehnt. Sabine muss mich wohl erwartet haben. Jetzt freue ich mich doch, dass ich hergekommen bin und Tommy sehen werde.

Also stolpere ich mit meinen Paketen in die Wohnung, kicke die Tür hinter mir zu und schlüpfe aus meinen Schuhen. Das heißt, ich versuche es, aber es geht nicht. Ich muss die Pakete absetzen, und die Tasche. Ich ziehe meine Schuhe aus und rufe ‚Hallo!’, doch sie antworten mir nicht. Vielleicht ist es ein Spiel. Verstecken spielt Tommy am liebsten. Als ich die Schuhe von den Füßen habe, laufe ich ins Wohnzimmer. Ich sage »Na, wo ist denn mein Großer?«, weil ich immer noch glaube, dass Tommy Verstecken spielt.

Da mein Fuß bleibt an etwas hängen, ich sehe zu Boden. Erst begreife ich überhaupt nicht, was das ist. Vielleicht eine Kuchenschaufel, denke ich. Aber dann kapiere ich, dass es ein Messer ist, an dem irgendetwas klebt. Ich schüttele den Kopf. Ich werde mit Sabine schimpfen müssen. Es ist verantwortungslos, so etwas hier in der Wohnung herumliegen zu lassen, wie leicht könnte Tommy das finden und sich dran schneiden. Manchmal ist sie so unachtsam, es ist zum Aus-der- Haut-fahren.

In dem Moment höre ich das Poltern.

Etwas, das gegen Holz schlägt.

Pock! Pock! Pock!

Das Wohnzimmer ist leer. In der Ecke beim Bücherregal steht ein kleiner Weihnachtsbaum, ein echter, ich kann seinen Duft riechen. Sie haben eine Lichterkette und jede Menge von diesen bunten Kugeln reingehängt. Viel zu viele, die Äste biegen sich unter ihrem Gewicht richtig durch. Ich muss lächeln und schüttele den Kopf. Das muss Tommys Idee gewesen sein. Dann ist da plötzlich wieder die Sorge.

Keine Antwort und sie sind nicht in der Wohnstube.

Wo sind sie?

Keine Spur, weder von Sabine noch von Tommy. Da ist wieder dieses Pock! Pock! Das kommt aus Tommys Zimmer. Panik steigt in mir hoch, was, wenn nun doch irgendwas mit Tommy ist? Sabine hätte ihn doch nie allein gelassen.

Oder?

Ich haste in das Zimmer hinüber. Ich renne einfach da hinein, das Messer immer noch in der Hand. Ich reiße die Tür auf, und da sitzt Tommy in seinem Rollstuhl. Als ich reinkomme, ruckt sein Kopf hoch und er starrt mich an, aus entsetzt aufgerissenen Augen. Er sagt keinen Ton. Jetzt sehe ich, dass er das Geräusch verursacht und auch, wie er es macht. Er lässt seinen Rollstuhl gegen den Schrank fahren, immer und wieder. Er kann sich nicht anders verständlich machen, denn über seinen Mund ist ein breiter Streifen Klebeband gelegt. Er weint, und er ist furchtbar blass. Ich spüre, dass die große Unruhe in ihm ist. Wie manchmal, wenn er dabei ist, einen seiner richtig heftigen Anfälle zu bekommen. Ich kapiere überhaupt nicht, was er hier macht, und wie Sabine so etwas zulassen kann. Vorsichtig versuche ich, den Klebestreifen von Tommys Mund zu entfernen, aber er wehrt sich. Schüttelt vehement den Kopf und zuckt vor mir zurück. Sein Arm erwischt mich und verpasst mir eine schwache Ohrfeige. Dann kapiere ich es erst. Er zeigt auf eine Tür. Die Tür zum angrenzenden Raum. Sabines Schlafzimmer.

Wie in Trance stolpere ich auf die geschlossene Tür zu, denn inzwischen ist mir klar, dass irgendetwas nicht stimmt, ganz und gar nicht stimmt. Ich habe Angst ... um Sabine .. Furchtbare Angst.

Dann kommt die Panik.

O Gott!

Ich stoße die Tür auf, taumele ins Zimmer, und da ist sie. Bine. Es ist furchtbar. Sie ist ans Bett gefesselt und geknebelt, mit demselben Klebeband wie Tommy, und sie trägt nur noch ihr T-Shirt und einen Slip. Ihre Haare stehen ab und sind ganz ... ganz stumpf, ihre Augen riesengroß und voller Tränen, und dann schreit sie gegen den Knebel an, aber es kommt nur ein gedämpftes Stöhnen heraus. Ich breche vor ihr in die Knie, das Messer poltert zu Boden. Sie ist am Metallrahmen des Bettes festgebunden, die Arme weggespreizt wie ... Jesus am Kreuz, denke ich. Ja. Unbeweglich. Ausgeliefert. Da beginnt sich das Zimmer zu drehen. Immer schneller und schneller.

Schlag mich, ruft sie. Schlag ganz fest zu, damit ich mich wieder spüren kann.

Nein! Wie kann sie das rufen, wo sie doch den Knebel im Mund hat?

Alles ist nur ein Wischen von Farben, wie ein Karussell, dass sich viel zu schnell dreht.

Nein, ich will das nicht!

Ich Bine!

Da, urplötzlich, stoppt es.

Denn da erblicke ich es. Im Spiegel am anderen Ende von Sabines Bett. Der Spiegel am Kopfende, der sich leicht schräg stellen lässt, damit man sich dabei zuschauen kann, während man Sie hat ihn nicht abgenommen seit damals, denke ich noch, und dann passiert es.

lte, urplötzlich. Wie ein Luftzug, aber es ist kein Fenster auf.

Da ist noch jemand im Zimmer.

Ist die ganze Zeit über hier gewesen, wartend, lauernd. Er war die ganze Zeit da und er o mein Gott!

Ich, das bin ich. Im Spiegel am Kopfende. Ich Ein Schatten ragt über Sabines Kopf auf, ein Kerl in einer Winterjacke und Handschuhen und und dann kapiere ich, dass ich dieser Kerl bin. Dass das blitzende Ding das Messer in meiner Hand ist, und dass ich mir selbst im Spiegel zusehe, auf die Beine gerissen wie von einer fremden Macht. Ich will schreien und mir die Hände vors Gesicht reißen, diesem Grauen nicht länger zusehen müssen, aber ich kann nicht. Ich kann überhaupt nichts machen. Dann hebt dieses Ding dieses andere Ich die Hand oh, es ist schlimm. Sehr schlimm. Es hat kein Gesicht. Da, wo sein Gesicht sein müsste, ist nur ein schwarzer Fleck, da ist überhaupt nichts. Es holt aus, ich hole aus, und schon saust das Messer in meiner Hand herab, ich kann es genau sehen, im Spiegel. Wieder und wieder fährt es auf Sabines zuckenden Körper herab und dann ist da plötzlich überall Blut. So viel Blut ... ich kann es nicht ... nicht stoppen.

Es kommt immer mehr … Blut … überall. Und jetzt die Dunkelheit! Oh, diese schreckliche Finsternis!«

Herzog schnappt panisch nach Luft, und Lina beeilt sich zu sagen:

»Ist gut, Sie sind nicht mehr im Zimmer, beruhigen Sie sich, bitte. Es ist gut!«

Aber Linas Stimme zittert, als sie es sagt.

Herzog: »Doch, ich muss hierbleiben, denn da ist noch etwas. Aber ich bin nicht mehr in Sabines Wohnung ...«

»Ja?«, fragt Lina mit bebender Stimme. »Was ist da noch?«

Herzog: »Ich fahre. Schaue durch die Scheibe nach draußen. Da sind Bäume, ich bin in einem Wald, fahre einen Waldweg entlang. Ich ich kenne diese Gegend, ich ...«

Lina: »Woher, wo ist das? Welche Gegend?«

Herzog: »Kind. Ich war als Kind oft hier. Das ist der Hartholzwald, in der Nähe des ehemaligen Truppengeländes der Wehrmacht. Wir durften nicht hier spielen wegen der Bomben, die angeblich immer noch im Boden liegen. Aber das stimmt nicht, es gibt keine Bomben. Das haben sich bloß die Eltern ausgedacht, damit wir nicht hier spielen, wo sie uns nicht sehen können. Aber wir spielen trotzdem hier, und ... ja, hier geht es zu dem alten Lagerschuppen, wo wir. Wir ...«

Herzog verstummt abrupt.

Lina:

»Ja? Was für ein Schuppen ist das, können Sie ihn beschreiben, wo ist das? Welcher Wald?«

Herzog: »Es ist so dunkel ... alles ist wieder dunkel, da ist nichts mehr. Gar nichts mehr. O Gott. Nur Dunkelheit.«

Lina: »Gut, alles ist gut, Sie sind nicht in Gefahr. Was ... was passiert als nächstes?«

Herzog: »Dunkelheit. Sehr lange. Ich liege, es ist kalt. Aber ich weiß nicht, wo ich bin, ich ich schlafe. Sehr lange.«

Lina: »Dann erwachen Sie jetzt, gehen Sie in Ihrer Erinnerung vorwärts bis zu der Stelle, wo Sie wieder zu sich kommen.«

Herzog: »Ja, okay. Als ich erwache, ist es ... ich muss die Augen zusammenpressen. Licht, es ist so hell. Hell und furchtbar kalt, ja. Schnee, da ist überall Schnee und es schneit wieder. Mein Wagen, kaputt, ein Unfall, total verbeult, nur noch Schrott. Ich muss einen Unfall gehabt haben. Ich stemme mich hoch, bin überrascht, dass es geht. Ich schaue an mir herab, bewege meine Arme und Beine. Sie sind etwas steif, aber es funktioniert. Ich stehe auf, ganz langsam. Bin ganz benommen. Alles ganz langsam ... in meinem Kopf. Aber mir ist kalt, furchtbar kalt und ich muss hier weg. Hilfe, ich brauche Hilfe. In der Ferne sehe ich durch das Schneetreiben Lichter blinken. Lichter sind gut. Lichter bedeuten Menschen, und Wärme. Hilfe, ich brauche dringend Hilfe.«

»Sie wachen auf.«

Linas Stimme war anzuhören, welche Mühe es sie kostete, die Kontrolle zu behalten.

»Sie wachen jetzt auf.«

Herzogs Stimme:

»Es hat nicht geklappt, oder?«

* * *

»Wenn Sie erlauben, Herr Kommissar, erspare ich Ihnen die Details. Steht ja alles in meinem ausführlichen Bericht.«

»Ich bitte darum«, sagte Walkowiak.

»Okay, dann hier nur das Wichtigste. Ann-Marie Werle starb in der Nacht vom 26. auf den 27. Dezember. Genauer kann ich es nicht sagen, weil die Wohnung durch eine offene Balkontür völlig ausgekühlt war, nachdem das Feuer im Kachelofen niederbrannte.«

»Mehr als genug Zeit also für Herzog, sich aus dem Staub zu machen.« Walkowiak nickte befriedigt.

»Und seinen Porsche gegen einen Baum zu setzen, anstatt mit Vollgas zu fliehen?«, gab Steinlein zu bedenken, worauf Walkowiak lediglich mit den Schultern zuckte.

»Der wahrscheinliche Todeszeitpunkt von Sabine Neuhaus dagegen ist der vierundzwanzigste Dezember«, fuhr Dr. Hansbacher fort, »später Nachmittag oder früher Abend, würde ich sagen.«

»Das deckt sich mit der Aussage der Nachbarn, dass Tommys Schreie in der Wohnung von Sabine Neuhaus gegen siebzehn Uhr begonnen haben«, sagte Walkowiak.

»Ja«, bestätigte Steinlein. »Der Täter hat ihn mit einem Klebeband geknebelt und ihn zusehen lassen, bis er mit Sabine fertig war. Nach seinem Verschwinden hat sich Tommy von den Fesseln befreit und sich den Knebel vom Mund gerissen. Dafür dürfte er etwa zehn Minuten gebraucht haben, vielleicht auch länger. Er ist recht geschickt trotz seiner Beeinträchtigung, aber für ihn ist das immer noch eine erstaunliche Leistung.«

»Schön. Was noch?«, fragte Walkowiak.

»Sabine Neuhaus wurde, genau wie Ann-Marie Werle, ans Bett gefesselt. Ob sie das freiwillig mit sich haben machen lassen oder ob der Täter sie dazu gezwungen hat, können wir nicht sagen. In jedem Fall geschah es ziemlich unsanft, und danach gibt es natürlich keine Spuren eines aktiven Kampfes mehr«, erläuterte Dr. Hansbacher.

»Was, wenn er ihnen versprochen hat, sie nicht zu töten, wenn sie keinen Widerstand leisten?«, warf Steinlein ein.

»Durchaus möglich. Wir haben zumindest keine Spuren gefunden, die auf einen Kampf hindeuten. Keine Haut, kein Blut unter den Fingernägeln, keine stumpfe Gewalteinwirkung außer der, die der Täter vorgenommen hat, als sie bereits ans Bett gefesselt waren. Er hat sie mit einem herkömmlichen Wäscheseil gefesselt, genau wie Tommy. Das ist allerdings ein wenig ungewöhnlich.«

»Wieso ist das ungewöhnlich?«

»Die meisten greifen inzwischen zu moderneren Methoden wie Handschellen oder Kabelbindern. Aus einem Wäscheseil kann sich das Opfer unter Umständen wieder herauswinden. Aber in diesen Fällen war das beinahe egal.«

»Wegen der Spreizung der Arme?«, vermutete Steinlein.

»Genau«, freute sich Dr. Hansbacher und machte vor, was er meinte. »Die Arme waren in Schulterhöhe zu beiden Seiten abgespreizt, die Handgelenke an den Bettpfosten befestigt, hier und hier, ganz außen. Es würde enorme Kraftreserven brauchen, sich aus dieser Position zu befreien. Außerdem dürfte die Blutzirkulation recht schnell verringert worden sein, und dann hat es sich mit der Gegenwehr, was die Arme betrifft.«

»Die Arme schlafen ein«, sagte Walkowiak.

»Genau. Sie werden taub und dann können Sie überhaupt nichts mehr damit anstellen, sind dem Täter hilflos ausgeliefert. Damit ist es auch beinahe egal, aus welchem Material die Fesseln bestehen.«

»Aha«, grunzte Walkowiak. »Das bedeutet, dass dieser Irre von vornherein alles im Detail geplant hat. Bis zu der Art und Weise, wie er sie fesselt.« Ein Anflug düsterer Freude huschte über das Gesicht des Kommissars. »Das bedeutet Vorsatz und Planung. Herzog wandert hinter Gitter, und diese Fahrt wird für ihn eine ohne Rückfahrtschein.«

»Nun, das herauszufinden ist Ihr Job«, sagte Dr. Hansbacher. »Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir erst mal ganz allgemein bei ‚der Täter’ bleiben könnten. Es gibt da nämlich noch ein paar Details, die vielleicht ganz interessant sind.«

»Und zwar?«

»Das Seil, das der Täter benutzt hat, ist in beiden Fällen das gleiche.«

»Na also!«

»Ja, aber von dieser Art werden im Jahr tausende Meter produziert und verkauft. Es ist ein Indiz, höchstens. Doch wenn es hart auf hart kommt, kein Beweis.«

»Aber die Art und Weise, wie er beide zugerichtet hat.«

»Hmm, ja, die Verletzungen sind ähnlich. Nach der Fesselung hat er ihnen mit einer sehr scharfen Klinge relativ wahllos Schnittverletzungen zugefügt, er hat förmlich auf sie eingehackt. Er muss sich richtig in seine Wut hineingesteigert haben. Ich kann mir zumindest keinen anderen Grund für dieses barbarische Vorgehen vorstellen. Die Schnittwunden weisen alle unterschiedliche Tiefe und Intensität auf. Deshalb kann ich auch nicht zweifelsfrei bestätigen, dass sie bei beiden Opfern mit der gleichen Waffe ausgeführt wurden, auch wenn ich es für wahrscheinlich halte. In jedem Fall wurde die Tatwaffe anschließend wieder vom Tatort entfernt. Vermutlich hat sie der Täter zusammen mit den Resten des Seils mitgenommen, und zusammen mit den Augen seiner Opfer, wie Sie ja schon festgestellt haben.«

»Oh, Scheiße.«

»Ja, wir haben es also mit einem klassischen Trophäensammler zu tun. Eine typische Verhaltensweise schwer gestörter Serienmörder«, warf Steinlein ein.

»Vermutlich bedeutet es, dass der arme Herzog als Kind immer mit Streichhölzern gespielt und anschließend ins Bett gemacht hat?«, fragte Walkowiak gehässig.

Steinlein musterte den Kommissar nachdenklich. »Nein. Es bedeutet, dass er nicht wollte, dass seine Opfer ihm bei seinen Taten zusehen. Wenn ich raten müsste, würde ich eher darauf tippen, dass er selbst als Kind unfreiwillig Zeuge eines erschütternden Erlebnisses wurde, das ihn tief geprägt hat.«

»Natürlich. Der arme Kerl«, spöttelte Walkowiak.

»In der Tat«, erwiderte Steinlein. »Aber natürlich sind das momentan nichts als vage Vermutungen. Das Sammeln von Trophäen kann vielfältige Gründe haben. Im Allgemeinen dienen sie dem Täter dazu, sich später wieder in den rauschhaften Zustand seiner Morde zurückversetzen zu können, um die Erinnerung an jedes Detail der Tat lebendig zu halten. Insbesondere bei sexuell motivierten Morden.«

Hansbacher nickte. »Glaube ich auch. Der Täter ist mit großer Wahrscheinlichkeit männlich, wenn man die Wahl der Mordwaffe und den Tathergang in Betracht zieht, und er ist heterosexuell. Er vergeht sich bisher ausschließlich an Frauen. Ausgesprochen attraktiven Frauen.«

»Und das mit dem mit diesem Ding im Mund von Ann-Marie Werle?«, fragte Walkowiak. Allein bei der Vorstellung wurde ihm wieder speiübel.

»Der Dildo? Diente wohl hauptsächlich als Knebel. Ich gehe davon aus, dass er da schon mit dem Schneiden seines Opfers begonnen hatte. Irgendwann ist sie ihm wohl zu laut geworden, da hat er sich das Erstbeste gegriffen, das er finden konnte und es ihr in den Mund gestopft. Mit einiger Gewalt, muss man sagen. Er hat ihr dabei zwei Schneidezähne abgebrochen. Das Ding ist aus Gummi.«

»Scheiße«, stöhnte Walkowiak.

»Ja. Bei Sabine Neuhaus ist der Täter ähnlich vorgegangen, allerdings hat er ihr ein Tuch in den Mund gestopft. Eins von diesen Schaltüchern. Mit großer Wahrscheinlichkeit gehörte es ihr und fiel ihm ebenfalls spontan in die Hände. Zusätzlich benutzte er Klebeband, dasselbe übrigens wie bei Tommy. Er hat die Rolle anschließend liegenlassen.«

Walkowiak verschränkte die Arme vor seiner massigen Brust und musterte Dr. Hansbacher. Er musste einfach grinsen. »Sie versuchen mir im Ernst zu verkaufen, dass es sich hier um verschiedene Täter handelt?«

»Ich versuche Ihnen überhaupt nichts zu verkaufen, Herr Kommissar, außer den Ergebnissen meiner Untersuchungen. Was Sie damit anfangen, liegt bei Ihnen. Aber man sollte das Sperma in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen.«

»Das Sperma?«

»Ja. Ich habe welches in Ann-Marie Werle gefunden.«

»Ach, wo genau denn?«

»Vaginal und rektal. Allerdings recht kleine Mengen.«

»Na, wundervoll. Da hat er es ja ordentlich krachen lassen. Aber das Sperma ist schon von Herzog, ja?«

»Ja. Wir haben es mit dem Blut vom Unfallort verglichen und die DNA ist hinreichend übereinstimmend. Allerdings …«

»Ja?«

»Allerdings erwähnte ich ja schon, dass Ann-Marie Werles Wohnung ziemlich ausgekühlt war.«

»Ja, und?«

»Deshalb kann ich nicht genau bestimmen, von wann das Sperma stammte.«

»Aber das ist Quatsch. Wenn Herzog sie schon vor längerer Zeit gevö … Verkehr mit ihr gehabt hätte, dann wäre es doch längst aus ihrem Körper verschwunden.«

»Nicht unbedingt. Wie gesagt handelt es sich um ungewöhnlich kleine Reste. Von ihrem Mageninhalt war zu schließen, dass sie, nun ja, dass sie kaum etwas zum Verdauen in sich hatte.«

»Oh, magersüchtig war sie also auch noch?«

»Nicht unbedingt. Kokainkonsumenten verspüren oft tagelang keinen Hunger. Ann-Marie Werle hat in jener Nacht definitiv Kokain geschnupft, das haben wir herausgefunden, auch wenn sie vermutlich keine regelmäßige Konsumentin war.«

»Na schön, dann haben sie also richtig Party gemacht, unser Herr Autor hat sich ein bisschen zu viel von dem Stoff ins Nasenloch gezogen und sie anschließend ebenfalls umgebracht. Und was haben Sie bei seinem ersten Opfer, Sabine Neuhaus herausgefunden?«

»Das eben ist ja das Seltsame. Auch sie hatte Geschlechtsverkehr. Bei ihr bin ich mir ganz sicher, dass dieser relativ kurz vor ihrem Tod stattfand. Eine, allerhöchstens zwei Stunden.«

»Na, dann ist doch alles klar.«

»Eben nicht.«

»Nicht?«

»Nein, Herr Kommissar. Denn das Sperma in der Vagina von Sabine Neuhaus stammt definitiv nicht von Herzog.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« Walkowiaks Faust sauste auf den Obduktionstisch herab, dicht neben dem zugedeckten Kopf der Leiche. Hansbacher starrte ihn aus aufgerissenen Augen an.

»Von wem stammt es denn dann, verdammt nochmal?«

Vermutlich lachte Hansbacher sich insgeheim gerade ins Fäustchen, weil er sich dieses kleine Bonbon bis zum Schluss aufgehoben hatte.

»Kann ich nicht sagen. Schließlich liegt mir nur Herzogs Blut vom Unfallwagen zum Vergleich vor. Haben Sie denn noch jemanden als Verdächtigen im Auge, einen Komplizen möglicherweise? Dann können wir das Blut vergleichen.«

»Oh ja«, sagte Walkowiak finster. »Das habe ich.«

Er wandte sich zu Steinlein um.

»Dann werden wir mal einem ganz bestimmten Agenten einen Besuch abstatten. Mann, diese Künstler, was?«, fügte er grinsend hinzu. »Einer so verrückt wie der andere.«

Dann wandte er sich grinsend zum Gehen. »Kommen Sie, Steinlein?«

»Ja«, sagte der mit gerunzelter Stirn. Urbaniak, Herzogs fadenscheiniger Agent (und auf den ersten Blick ein regelmäßiger Kokainkonsument, darauf hätte Walkowiak seine Pension verwettet), schien ihm offenbar ebenfalls nicht ins Konzept zu passen. Schon wieder. Erst war es Herzog nicht, und nun Walkowiaks nächster Verdächtiger. Aber diesmal würde Walkowiak ihm zeigen, dass Logik und eine Spürnase aus über fünfzehn Jahren Dienst dem Psychogewäsch dieses Wunderheilers immer noch haushoch überlegen waren. Nun, freute sich Walkowiak und spürte augenblicklich, wie sich der Knoten, der angeblich sein Magen war, ein wenig lockerte. Vielleicht war dieser Tag ja doch nicht so schlecht.

* * *

»Ich brauche jetzt einen Kaffee. Du auch?«, fragte Herzog, nachdem das Band abgeschaltet hatte.

Lina nickte. Herzog stand auf und ging in die Küche, um den Kaffee zu kochen. Er bemerkte, dass das schwarze Pulver in der Metalldose demnächst zur Neige gehen würde, und machte sich halbherzig auf die Suche nach Nachschub. Nachdem er ein paar Schranktüren ergebnislos geöffnet hatte, gab er es auf. Derweil lief das Wasser durch die Maschine, und der Duft nach nicht mehr ganz so frischem Kaffee breitete sich in der Küche aus. Nur ein kleines bisschen Alltag in dem wirbelnden Chaos, in das sich sein Leben in rasender Geschwindigkeit verwandelt hatte. Da griff man eben nach jedem Strohhalm.

»Uns geht allmählich der Kaffee aus«, sagte Herzog bei seinem Zurückkommen und stellte wortlos eine Flasche Wein auf den Tisch. Noch ein bisschen Alltag, das er dem Wirbeln entgegenzustellen gedachte. Mal sehen, mit welchem Erfolg.

»Ist es nicht ein bisschen früh dafür?«, fragte Lina.

Herzog zuckte mit den Schultern und legte den Korkenzieher neben die Flasche, den er ebenfalls aus der Küche mitgebracht hatte. Keine Gläser, wozu auch? Lina starrte auf den Korkenzieher. Dann auf das Diktiergerät, mit dem sie Herzogs Hypnosesession aufgezeichnet hatte. Plötzlich fröstelte sie, trotz des gemütlichen Feuers im Kamin und des dicken Kapuzensweatshirts, das sie trug. Sie senkte den Blick, und Herzog bemerkte eine Träne, die an ihrer Wange herablief. Herzogs unruhige Hände schnappten sich den Korkenzieher und begannen, damit herumzuspielen.

»Haben Sie Angst, Lina?«, fragte er.

»Eigentlich nicht, nein. Aber …«

»Ja?«, fragte Herzog und legte den Korkenzieher energisch zurück auf die Tischplatte. Blöde Idee.

Tränen, die sich in ihren Augen gesammelt hatten, brachen sich an ihren langen Wimpern und liefen ihre Wangen hinab. Es war, als wäre ein Damm gebrochen, aber sie wandte den Blick nicht mehr ab, als sie schluchzte: »Können Sie es bitte schnell machen, und mir nicht weh tun?«

»Wie bitte?« Herzog starrte sie entgeistert an, »Sie glauben doch nicht, dass dass ich ?«

Wut mischte sich in ihre Angst. »Sie haben die Aufnahme doch gehört, oder? Blöderweise habe ich sie ebenfalls gehört. Der Mann im Spiegel. Das waren Sie!« Ruckartig fuhr ihr Kopf hoch und sie starrte ihn aus diesen unsagbar dunklen Augen an, in denen sich jetzt zu gleichen Teilen Wut und Angst spiegelten, und Abscheu. Vor ihm.

»Lina!«, sagte Herzog, lauter nun. »Das ist Blödsinn! Ich habe niemanden umgebracht. Schon gar nicht Sabine. Ich bin gelinkt worden. Ich war nicht der Mann im Spiegel. Da war jemand anderer mit mir im Raum …«

»Jemand, der exakt so aussah wie Sie?«

»Ja! Nein. So war es nicht. Das Gesicht ich habe es nicht erkennen können. Es war nur, er war mir irgendwie ähnlich seine Klamotten, die Schuhe Ach, Scheiße!«Es war zum Verrücktwerden. Falls man es nicht schon war.

Lina starrte ihn an. Lange, aufmerksam. Der Ausdruck in ihren Augen veränderte sich nicht, aber vielleicht kam jetzt ein wenig Hoffnung dazu, nur ein klitzekleiner Funken.

Sie wollte glauben, dass er unschuldig war. Nicht ihretwegen, über diesen Punkt war sie längst hinaus. Seinetwegen.

»Okay, betrachten wir das Ganze einmal logisch. Wenn ich wirklich der Täter wäre, dann hätte ich mich deiner doch längst … äh, entledigt, nicht wahr?«

Lina überlegte. »Vermutlich, ja. Aber die Gestalt im Spiegel …«

»Ja, das habe ich gesagt. Aber du musst genau hinhören. Ich sagte, dass ich vor Sabine zusammengebrochen bin. Ich lag dort auf den Knien, als die Gestalt im Spiegel erschien. Ich kann es nicht gewesen sein. Ich habe den Mann hinter und über mir gesehen.«

»Der Mann, dessen Gesicht Sie nicht beschrieben haben.«

»Nein. Ich sagte so etwas wie: Da war nur Schwärze’, nicht wahr? Und so war es. Da, wo sein Gesicht hätte sein soll, war nur ein schwarzer, unscharfer Fleck, in dem seine Augen schwammen.«

»Schwammen?«

»Ja, besser kann ich es nicht beschreiben. Diese schrecklichen Augen in dieser gesichtslosen Schwärze. O Mann Was glauben Sie, was das bedeuten könnte?«

»Keine Ahnung.« Lina dachte nach. »Eine Maske vielleicht?«

»Ja!«, rief Herzog. »Eine schwarze Wollmaske, zum Beispiel. Vielleicht auch nur eine tief ins Gesicht gezogene Kappe oder so etwas. Es erfüllt den gleichen Zweck. Auf einen flüchtigen Blick sieht man nichts als die Augen. Und dann muss mich dieser Kerl von hinten ausgeknockt haben.«

»Aber Sie hatten das Messer in der Hand …«

»Das er zuvor auf den Boden gelegt, nein, platziert hatte. Dass ich es aufhebe, war von Anfang an Plan des Ganzen. Oder auch nur das i-Tüpfelchen. Er hätte mir das Messer schließlich genauso gut in die Hand drücken können, sobald ich bewusstlos war.«

»Aber warum? Nehmen wir mal an, dass es stimmt. Dass Sie jemand am Tatort erwartet hat, damit es so aussieht, als seien Sie der Täter. Warum sollte jemand diesen Aufwand betreiben? Hätte es nicht genügt, sagen wir mal, die Tatwaffe in Ihrem Kofferraum zu platzieren und dann die Polizei zu rufen oder so was?«

»Ja, vermutlich. Ich weiß nicht. Aber ich glaube, es ging dem Täter um etwas ganz anderes.«

»Nämlich?«

»Er wollte, dass ich selbst glaube, ich hätte es getan.«

»O Mann.«

»Ja, ich weiß, wie das klingt.«

»Ziemlich abgefahren.« Lina schniefte leise. Aber sie weinte schon länger nicht mehr. Sehr gut. Ausgezeichnet. Denn immerhin improvisierte Herzog hier auf einem Drahtseil, und unter ihm, am Boden des Zirkuszelts, befand sich kein Sicherheitsnetz. Die Clowns hatten wohl vergessen, eins aufzuspannen. Da war nur der knallharte Boden, mit ein bisschen Stroh drauf, und das würde bei einem Aufprall gar nichts nützen.

»Aber zumindest würde es eine Sache erklären«, sagte Lina.

»Was denn?«

»Ihr seltsames ‚Tattoo‘. Den Satz auf Ihrem Unterarm.«

Herzog zog den Ärmel seines Strickpullies hoch. Die Schrift war inzwischen kaum noch zu entziffern.

Du warst es nicht.

»Ja«, sagte er und nickte bedächtig. Es war gut, dass sie das erwähnt hatte, ohne dass er ihre hübsche Nase hatte darauf stoßen müssen. Schlaues Mädchen. »Ich muss wohl irgendwann während des nachfolgenden Schocks mal für einen Moment aus meiner Umnachtung erwacht sein, und da habe ich mir das auf den Arm gekritzelt. Als Erinnerung.«

»Vermutlich«, sagte Lina. »Es tut mir leid. Ich meine, dass ich Sie verdächtigt habe. Ist alles auch ein bisschen stressig für mich.«

»Du hast mein vollstes Verständnis«, sagte Herzog und betrachtete versunken die Weinflasche. »Für mich ist es ebenfalls nicht leicht.«

»Natürlich«, sagte sie und stand auf. »Ich komme gleich wieder.«



Nach einer Weile kam Lina aus der Küche zurück, mit zwei Bechern und der Kanne Frischgebrühtem, die Herzog angesetzt hatte. Als sie ihn noch für einen Killer gehalten hatte. Dennoch war sie auch da nicht geflohen oder hatte sich nach einer Waffe umgesehen. Als ob es ihr tief im Inneren egal gewesen wäre, dachte Herzog. Tief im Inneren war ihr vielleicht wirklich alles egal.

»Genießen wirs, solange wir es haben«, sagte sie mit einem matten Lächeln und schenkte die Becher voll.

»Gute Einstellung«, meinte Herzog, lehnte sich zurück und nippte an seinem Kaffee.

»Ich habe mir etwas überlegt«, sagte Lina, während sie löffelweise Zucker in ihren Kaffee schaufelte und ihn anschließend verrührte.

»So?«, fragte Herzog über den Rand seiner Kaffeetasse hinweg, »Was denn?«

»Ihr Agent«, sagte Lina und starrte auf den Kaffeelöffel, mit dem sie den Inhalt ihrer Tasse umrührte. »Der könnte es gewesen sein.«

»Was?« Beinahe hätte Herzog sich an seinem Kaffe verschluckt. »Urby? Wie kommen Sie denn auf diese absurde Idee?« Bloß dass die Idee gar nicht so absurd war, wie sie auf den ersten Blick erschien. Auf den ersten Blick nämlich war Urby ein anständiger Bursche. Mit einem Hang zu gewissen Wachmachern, zugegeben, aber schließlich hatte auch Herzog so seine Schwächen. Auf den zweiten Blick jedoch

Das Schattengericht, erinnern Sie sich? Dieser Kerl, der einen Killer engagierte, um die Sache dann dem Liebhaber seiner Frau in die Schuhe zu schieben? Dem Liebhaber seiner Frau.

Was, wenn doch?

Herzog schüttelte energisch den Kopf, doch Lina ließ nicht locker.

»Ich weiß natürlich nicht, ob er für die Tatzeit ein Alibi hatte, denn das würde ihn sofort entlasten. Aber Sie wissen schließlich auch nicht, wo er zur Tatzeit war, oder?«

»Nein«, sagte Herzog zögernd.

»Okay. Nehmen wir also einmal an, er hatte keins. Er wusste aber, soweit ich das mitbekommen habe, dass Sie vorhatten, zu Ihrer Exfrau zu fahren.«

»Na ja … das hätte wohl jeder leicht herausbekommen können. Immerhin war Weihnachten.«

»Ja. Aber die näheren Umstände lassen darauf schließen, dass der Täter Sie ein bisschen genauer kannte als jeder x-Beliebige, der den Wikipedia-Artikel über Sie gelesen hat. Wie Sie selbst sagten, wollte er Sie glauben machen, dass Sie die Tat selbst begangen hätten. Dazu muss man ziemlich gut über Sie Bescheid wissen, nicht?«

»Na, ich weiß nicht …«

»Und er hatte ein Motiv.«

»So?«

»Ja. Geld.«

»Was? Wie kommen Sie denn darauf? Wenn das eines nicht war, dann ein Einbruchdiebstahl.«

»Stimmt. Aber so meine ich es auch gar nicht. Ich meine keinen Raub, sondern Geld im großen Stil. Das er mit Ihnen verdient. Immerhin besitzt er die Rechte an Ihren Büchern. Eine Einnahmequelle, die funktioniert, und zwar unabhängig davon, ob Sie in der Lage sind, weitere Thriller zu schreiben oder nicht.«

»Er besitzt die Rechte zur Vermarktung, das stimmt. Aber …«

»Sehen Sie? Nehmen wir einmal an, er hatte Ihren kleinen Trick mit dem alten Manuskript durchschaut. Wenn Sie es ihm nicht selbst verraten haben, und auch diese Möglichkeit haben Sie ja bereits eingeräumt. Nehmen wir weiter an, er hatte Angst, dass seine ertragreichste Quelle demnächst versiegen würde. Sie nämlich …«

»Ach Gott, das neue Buch lief ja ganz gut an. Aber es wird kaum reichen, um damit großes Geld zu machen. Das wäre erst der Fall, wenn der Verlag die alten Bücher nochmal aufsetzt, und momentan sieht es nicht so aus, als ob …«

»Eben.«

Herzog starrte das Mädchen an. »Du meinst …«

»Genau. Er treibt die Marketingaktion zum neuen Buch ein wenig weiter als eigentlich vorgesehen. Wenn ich mich nicht irre, dürften die Verkäufe Ihres neuen Buches bereits in die Höhe geschossen sein, als bekannt wurde, dass Sie nach dem Mord an Sabine verschwunden sind. Inzwischen dürfte auch der Presse bekannt sein, dass Sie zu den Hauptverdächtigen zählen. Ich weiß es natürlich nicht mit Sicherheit, aber ich glaube, Ihr neues Buch verkauft sich im Moment wie geschnitten Brot, verzeihen Sie den Vergleich.«

»Oh, verdammt. Aber das wäre … absolut irre. Sogar für Urbys Maßstäbe. Ich meine, eine Lesung am dreiundzwanzigsten zu organisieren und dann das hier dazwischen liegen doch Welten!«

»Vielleicht ja, vielleicht nein«, Lina zuckte mit den Schultern. »Es ist ja auch nur eine Theorie.«

»Nein.« Herzog schüttelte entschieden den Kopf. »Da gibt es noch etwas, das mir Urby gestanden hat, als wir am dreiundzwanzigsten im Zacherl unterwegs waren. Er war wohl ebenfalls schon einigermaßen hinüber. Ich war es ganz bestimmt, und so führte wohl eins zum anderen …« Herzog starrte versonnen auf die Weinflasche. Sehnsüchtig.

»Oh«, sagte Lina. »Was denn?«

»Karsten hatte ein Verhältnis mit Sabine.«

* * *

Der Vogel war ausgeflogen. Natürlich. Dafür flatterte seine Sekretärin umso mehr herum. Wie ein aufgeregte Amsel um das Nest mit ihren Jungen, zum Beispiel.

»Sie können hier nicht einfach hereinstürmen wie ein Überfallkommando und alles auf den Kopf stellen«, behauptete sie lautstark. »Herr Urbaniak ist ein angesehener Literaturagent. Er vertritt namhafte Künstler. Wenn bekannt wird, dass die Polizei sein Büro stürmt, dann Das ist Rufschädigung! Ich kann nicht zulassen, dass Sie hier so einfach eindringen, ich …«

»Sie«, sagte Walkowiak kühl, »setzen sich am besten da auf Ihren Stuhl und trinken einen Kaffee oder so was. Und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie in der nächsten Zeit nicht telefonieren würden. Es sei denn, Sie möchten sich wegen Komplizenschaft verantworten.«

»Ich, aber …« Das Telefon klingelte. »Ich muss da rangehen«, sagte sie beinahe trotzig. »Es ist mein Job.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Herzog, griff sich den Apparat, hob den Hörer auf und legte gleich wieder auf. Das Klingeln verstummte. Dann gab er das Gerät der völlig verdatterten Vorzimmerdame zurück.

Walkowiak trat durch die Tür in den angrenzenden Raum, wo ein halbes Dutzend Beamter dabei war, Urbaniaks Büro auf den Kopf zu stellen, seine Akten und Bücher die zum Großteil aus verschiedenen Ausgaben von Herzogs Werken, einige davon sogar in mehreren Sprachen, bestand in beschriftete Kisten zu packen und sie zu den Transportern zu bringen, welche sei ins Kriminaltechnische Labor abtransportieren wollten. Walkowiak seufzte angesichts der zu erwartenden Überstunden bei der Sichtung von all diesem Zeugs. Aber es würde sich lohnen. So oder so. Die Fahndung nach Urbaniak war raus und Walkowiak hatte dem Chef heute morgen schon voller Stolz seine neueste Spur präsentiert. Herzog oder Urbaniak oder, und das hielt Walkowiak momentan für die wahrscheinlichste Möglichkeit, beide zusammen.

Es war eine Frage der Zeit, bis sie die beiden Kaputten fassen würden. Mit etwas Glück würden sie sogar das Mädchen, diese Krankenschwester, noch heil aus der Sache rausholen. Na gut, das war vielleicht tatsächlich ein bisschen viel verlangt. In dem Fall: Pech für sie, falsche Zeit, falscher Ort. So etwas passierte leider hin und wieder, und dann vergaßen die Leute allzu oft, dass es nicht die übermüdeten Beamten waren, die Leute entführten und umbrachten. Alles, was die Polizei tun konnte, war, dafür zu sorgen, dass solche Verbrechen nicht zur Tagesordnung wurden — alles andere war illusorischer Quatsch. Die meisten Richter hatten das inzwischen verstanden, nur die Bürger ließen in dieser Hinsicht noch zu wünschen übrig. Denen war das alles nämlich herzlich egal, solange es irgendwelche anderen Leute betraf. Und wenn der schwarze Peter dann doch mal auf ihrem Tisch landete, dann war ihr Fall eine himmelschreiende Ungerechtigkeit und alle Polizisten dumm und unfähig und grundsätzlich gemeingefährlich. Schon klar.

Walkowiak schlenderte zu einem Kleiderschrank hinüber, wo ein Beamter bereits damit beschäftigt war, die Gipsabdrücke, die sie vor Ann-Marie Werles Balkon in der feuchten Erde gefunden hatten, mit einem Paar Schuhe zu vergleichen, das dort im Schrank stand.

»Und?«, fragte Walkowiak den Kriminaltechniker.

»Die gleiche Größe. 46. Ziemlich groß und daher recht selten.«

»Na also«, sagte der Kommissar und sah sich nach Steinlein um. Steinlein schaute mit gerunzelter Stirn einem anderen Kriminaltechniker über die Schulter, der sich gerade mit einer der externen im Schreibtisch neben dem Computer gefundenen Festplatten beschäftigte.

»Damit dürfte wohl feststehen, dass Urbaniak an beiden Tatorten zugegen war«, wandte er sich an den Psychologen, der ihn allerdings keines Blickes würdigte, sondern weiter auf den Bildschirm starrte. Walkowiak tat es ihm gleich.

»Ach du Scheiße …«, entfuhr es ihm, als er erblickte, worauf die beiden anderen Männer seit ein paar Minuten starrten. Der Kriminaltechniker hatte die Bilder so auf dem großen Bildschirm des Computers angeordnet, dass man eine Matrix von kleineren Bildern sehen konnte, fünf mal sechs, um genau zu sein. Er scrollte langsam durch das Grauen, das sich ihnen bot.

Grauen aller Art, um genau zu sein. Und alles davon war echt.

Urbaniak musste einen erheblichen Teil seiner Zeit damit verbracht haben, diesen ganzen Kram aus dem Internet zusammenzusuchen. Nichts, an das nicht auch jeder andere Nutzer des weltweiten Netzes gekommen wäre, aber so gehäuft erweckten die Bilder einen wirklich verstörenden Eindruck. Bilder von Leichen, Schwarzweißfotos von Tatorten und Waffen, die vermutlich aus Polizeiberichten stammten, einige im körnigen Schwarzweiß einer schlechten Faxkopie, andere hochauflösende Fotos, die mit Blitz geschossen waren jedes grausame Detail der zerschmetterten Gliedmaßen und Gesichter erbarmungslos eingefangen. Fotos von Obduktionsberichten, allerlei Wunden aus medizinischer Fachliteratur, Aufnahmen von Verkehrsunfällen und es nahm einfach kein Ende.

»Oh, Mann …«, hauchte Walkowiak, doch dann riss er sich zusammen. »Was meinen Sie dazu, Steinlein?«

Der Psychologe drehte sich langsam zu ihm um. »Der Mann hatte ein recht spezielles Faible, keine Frage.«

»Hat er das benutzt, um sich auf die Morde vorzubereiten?«

»Das kann ich so nicht sagen, wirklich nicht. Ich meine, er hatte mit Krimiautoren zu tun. Außerdem hieß der Ordner, in dem sich die Bilder befanden, bezeichnenderweise Herzog. Er hat sich nicht mal die Mühe gemacht, ihn zu verstecken oder zu verschlüsseln. Er könnte die Bilder auch mit Herzog ausgetauscht haben, im Rahmen irgendeines Buchprojektes. Sehen Sie hier: Die Dateien sind einzelnen Unterordnern zugeordnet. Engel‘, ‚Schatten‘, ‚Spiel, das klingt alles nach Publikationen von Andreas Herzog. Vermutlich stellen diese Bilder die Inspiration für die Morde in den Büchern dar. Eine Art reale Vorlage für die fiktiven Grausamkeiten in Herzogs Büchern, genau wie die Bilder auf dessen Rechner, und die entsprechende Fachliteratur.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ich glaube schon. Ich war so frei, mir ein paar von Herzogs Büchern durchzulesen. Es geht stellenweise schon recht heftig zur Sache.«

»Oh, na hoffentlich haben Sie nicht allzu viel Geld dafür ausgegeben.«

Steinlein ignorierte den bissigen Einwurf des Kommissars und sagte: »Nun, der Mann nimmt seine Recherchen eben ernst. Insbesondere, was die Störungen seiner Täter betrifft. Soweit ich das einschätzen kann, gibt er sehr realistische Beschreibungen der Symptome ab. Paranoia, Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen, die ganze übliche Palette. Es wirkt so realistisch, weil er sich in die Gedankenwelt des Mörders hineinversetzt. Er tischt seinen Lesern auch mitunter einmal Lügen auf, aber nur solche, von denen der Täter selbst glaubt, dass sie real sind.«

»Weil seine Mörder allesamt schizophrene Irre sind. Wie originell. Wie passend.«

»Nicht immer. Aber gelegentlich schon, ja. Besonders in seinen letzten Büchern: Ich bin noch nicht durch, zwei habe ich noch vor mir. Inklusive seines neuesten.«

»Vielleicht sollten Sie sichs von ihm bei Gelegenheit signieren lassen. Zum Beispiel, wenn wir ihn und seinen gestörten Komplizen Urbaniak festnehmen.«

»Wozu wir die beiden erst mal finden müssten, nicht wahr?«

»Sie haben echt Talent, einem den Tag zu versauen, Steinlein. Aber da machen Sie sich mal keine Sorgen. Die kriegen wir schon.«

Steinlein starrte ins Leere. Er schien zu überlegen. Dann schaute er auf seine Uhr.

»Haben Sie die Nummer von Lina Bittners Handy, um die ich Sie vorhin gebeten hatte?«

»Moment«, sagte Walkowiak, zog ein kleines, ehemals schwarzes Notizbuch hervor, blätterte ein wenig darin herum, bis er Linas Nummer gefunden hatte. Er gab sie dem Psychologen und sagte: »Die wird Ihnen nur nicht viel bringen. Ihr Handy ist aus, die Zentrale probiert es immer mal wieder. Ich glaube ja, dass es es inzwischen in irgendeinem Straßengraben liegt.«

»Können Sie es denn nicht orten? Soweit ich weiß, funktioniert das auch mit Handys im Standby-Modus.«

»Wenn ein GPS-Empfänger eingebaut ist, ja. Aber offenbar ist das bei ihrem Telefon nicht der Fall. Es ist ausgeschaltet, komplett tot und von der Bildfläche verschwunden. Herzog könnte es in irgendeinen See geworfen haben oder auf den Mond. Momentan wissen wir gar nichts.«

»In Ordnung«, sagte Steinlein und speicherte die Nummer in seinem eigenen Telefon ab. »Ich versuche es gleich im Anschluss nochmal. Vielleicht habe ich mehr Glück.«

»Was bringt Sie auf diese Idee?«

»Etwas, was ich in einem von Herzogs Büchern gelesen habe. Falls Lina Bittner sich überhaupt in seiner Gewalt befindet, heißt das.«

»Falls sie nicht schon tot ist, meinen Sie?«

Steinlein überlegte. »Ja, vermutlich müssen wir auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Aber selbst dann hat Herzog das Telefon vielleicht behalten.«

Walkowiak zuckte nur mit den Schultern. Die Kopfschmerzen hatten wieder begonnen.

»Okay.« Steinlein wandte sich an den Kriminaltechniker am Computer. »Können Sie mir von den Bildern eine Kopie machen, bitte? Mit der Ordnerstruktur wie hier auf dem Rechner? Dann werde ich das mal in Ruhe mit Herzogs Büchern abgleichen.«

»Kein Problem«, antwortete der Techniker und schob eine CD ins Laufwerk.

»Trotzdem, Steinlein«, sagte Walkowiak leise und zog Steinlein am Ärmel in eine Ecke des Zimmers, »für mich ist im Moment die Frage: Wer von den beiden es war, Herzog oder Urbaniak? Ich tippe auf beide.«

»Hm«, machte Steinlein und schien nachzudenken, die Möglichkeiten abzuwägen, zu einem Schluss zu kommen. »Das glaube ich eigentlich nicht.«

Walkowiak verdrehte die Augen. Natürlich nicht. Schließlich war das ja auch eine Walkowiak-Theorie. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf?«

»Nun, sexuell motivierte Serienmörder arbeiten nur äußerst selten zusammen, und wenn, dann haben sie im überwiegenden Teil eine enge Beziehung zueinander.«

»Hallo? Urbaniak ist Herzogs Agent, das ist doch wohl eine ausreichend enge Beziehung!«

»Schon«, sagte Steinlein. »Aber ich meine eher eine sexuelle Beziehung oder etwas in der Art. Ich glaube nicht, dass die beiden eine solche hatten.«

»Wer weiß«, sagte Walkowiak. Zutrauen würde er das den beiden jederzeit. nstler! Da wusste man nie. »Und weiter?«

»Sie kannten sich schon lange, über fünfzehn Jahre. Warum sollten sie plötzlich zu morden beginnen, nachdem sie sich fünfzehn Jahre lang mit dem Vermarkten von Herzogs Büchern und einer gelegentlichen Prise Koks begnügt haben?«

»Was weiß ich!«, schnaubte Walkowiak. »Vielleicht brauchten sie einen neuen Kick. Wollten wissen, wie das so ist mit dem Morden, in echt. Oder vielleicht gab es ja schon früher Morde, welche die beiden gemeinsam begangen haben und ihnen ist bisher niemand auf die Schliche gekommen?«

Steinlein schüttelte bedächtig den Kopf.

»Dann wären sie wahre Meister der Verstellung, denn bislang lag nicht mal die Spur eines Verdachts gegen die beiden vor. Und dann, urplötzlich, nach fünfzehn Jahren, begehen sie stümperhafte Verbrechen, morden im engsten Bekanntenkreis und hinterlassen überall Spuren? Nein.«

»Okay«, seufzte Walkowiak. »Ich gebe auf. Was glauben Sie also?«

»Ich glaube, dass es möglicherweise einen Dritten im Spiel gibt.«

»Einen Dritten?«

»Ja. Dieser Dritte gibt sich alle Mühe, den Autor und seinen Agenten ans Messer zu liefern. Und bislang gelingt ihm das ausgezeichnet.«

»Na, wunderbar, und wer ist dieser geheimnisvolle Dritte, der keine Spuren hinterlässt und der von keinem der Zeugen am Tatort gesehen wurde im Gegensatz übrigens zu Herzog und Urbaniak? Wer ist dieses geheimnisvolle Genie des Verbrechens?«

Walkowiak war sich jetzt sicher. Der Psychologe hasste ihn. Er zauberte diese abstrusen Theorien nur zu dem Zweck aus dem Hut, ihm nicht bei den seinen zustimmen zu müssen. Der ‚Dritte Mann war allerdings Steinleins groteskester Einfall bisher. Ausgemachter Quatsch.

»Also, wer ist es?«, fragte er den Psychologen und konnte sich ein gehässiges Grinsen nicht verkneifen. »Wen haben wir also mein zwölfköpfiges Team und ich Ihrer Meinung nach bisher so geflissentlich übersehen, während Ihnen natürlich schon von Anfang an alles klar war?«

Der Psychologe nickte düster.

»Stimmt, ich hatte meine Vermutungen, als ich die Tatorte begutachtet haben«, sagte er. »Aber jetzt, nachdem ich diese Bilder gesehen habe, bin ich mir fast sicher.«

Walkowiak hing förmlich an den Lippen des Psychologen. »Wer ist es denn nun?«

»Ich denke«, sagte Steinlein, »unser dritter Mann ist Andreas Herzog.«

* * *

Es dauerte geschlagene zwei Minuten, bis Walkowiak sich von seinem Lachanfall soweit erholt hatte, um wieder so weit sprechen zu können, ohne die Angst, dass ihm ein allzu früher Tod durch Schnappatmung zuteil werden würde.

»Steinlein«, japste er, »der war wirklich gut. Andreas Herzog ist der unbekannte Dritte! Herrlich!«

Steinlein verzog keine Miene. Er wartete auf die nächste Frage des Inspektors. Die kam auch prompt.

»Also, wie meinen Sie das denn bitte? Sind Sie nun doch von Herzogs Schuld überzeugt? Prima, das habe ich ja von Anfang an geglaubt, wenn es nun auch so aussieht, als sei er dabei kräftig von Urbaniak unterstützt worden. Können Sie mir nicht einfach recht geben, ohne diesen ganzen mysteriösen Kauderwelsch aus Herzogs Büchern?«

»Aber diese Bücher sind ja gerade der Schlüssel, Mann!«

Walkowiak stutzte. Er schien die Geduld des Psychologen strapaziert zu haben, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Die Beamten, die Walkowiak aufgrund seines spontanen Lachanfalls mit skeptischen Blicken gemustert hatten, wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Packten Zeug in Kisten und transportieren es ab. Durchwühlten Schränke und Computer. Fleißige, kleine Ameisen. Grundlage jeder vernünftigen Ermittlung. Die vermutlich längst abgeschlossen sein könnte, wäre da nicht dieser nervtötende Psychoonkel mit seinen sich im Kreise drehenden Theorien.

»Okay«, sagte Walkowiak und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Die Bücher sind der Schlüssel. Aber der Schlüssel wozu?«

»Zu Herzogs Psyche. Der Psyche eines schwer kranken Mannes. Er hat darüber geschrieben, in seinen Büchern, besonders in dem vorletzten und dem davor. Ich habe es nur nicht kapiert, den Zusammenhang nicht verstanden. Bis jetzt.«

»Aber das sind doch gar keine seiner üblichen Brutalokrimis, wie ich gehört habe? Ich habe mich extra durch seine Seite auf Wikipedia gewühlt.«

»Richtig. Es geht darin um sehr persönliche Themen. Kindheitserinnerungen, Episoden aus dem Erwachsenwerden. Ich denke, die sind teilweise autobiografisch. Hauptsächlich geht es darin um Entfremdung. Der Held in beiden Romanen ist ein älterer Mann, der sich in Gedanken auf eine Reise zu den Stationen seines früheren Lebens macht. Einer Suche nach dem Selbst, nach seiner Identität. In beiden Romanen stellt ihn diese Suche immer nur vor neue Rätsel, ohne dass er eine Lösung dafür findet. Die Charaktere in beiden Büchern zerbrechen an dieser Suche, auch wenn es ein sehr stilles Zerbrechen ist, das im starken Gegensatz zu den Brutalitäten in den Romanen steht, mit denen er bekannt geworden ist.«

»Das scheint mir jetzt aber relativ harmlos gegenüber dem Zeug, das er sonst so schreiben soll.«

»Mag sein. Aber ich glaube, diese beiden Bücher waren ihm selbst wichtig, auch wenn das sein Stammpublikum natürlich nicht verstanden hat, das einfach den nächsten Nervenkitzel erwartet hatte anstatt der rührseligen Erinnerungen eines alten Mannes. Für ihn sollte es eine Art Katharsis werden, eine Läuterung, und daran ist er gescheitert. In den Büchern und wohl auch in der Realität.«

Walkowiak nickte, aber seine Zweifel standen ihm ins Gesicht geschrieben.

»Ich denke, dass wir uns auf das Thema Identität konzentrieren sollten«, fuhr Steinlein fort. »Herzog war, sozusagen von Berufs wegen, interessiert an psychischen Krankheiten. Seine Mörder sind auch immer Opfer, aber das ist nichts Neues, das passiert in vielen Romanen des Genres. Sie leiden unter Verfolgungswahn, hören Stimmen, und das alles verknüpft Herzog geschickt mit einer glaubwürdigen Darstellung seiner Charaktere, sodass der Leser nur selten weiß, ob er gerade die Realität erlebt oder nur die gestörte Wahrnehmung eines Serienkillers im Blutrausch. Aber dennoch sind Herzogs Krimis in gewisser Weise konstruiert, sie folgen einem kriminalistischen Aufbau. Sie entstammen Herzogs gedanklichem Baukasten, und auch das ist mir nicht entgangen enthalten häufig genug Versatzstücke oder Anleihen aus anderen Krimis. Ich vermute, das ist ein wichtiger Bestandteil seiner Inspiration. Ein bisschen Genius, ein bisschen Handwerk und ein bisschen geschicktes Abschreiben von den Kollegen.«

»Na gut, wundervoll, er klaut hin und wieder. Nur, wie bringt uns das in unserem Fall weiter?«

»Nun, ich glaube, Herzog leidet selbst an der Krankheit, die er so ausführlich in seinen Krimis beschreibt, und auf die er auch in seinen beiden anderen Romanen eingeht.«

»Und welche Krankheit wäre das?«

»Ich glaube, er verlor in den letzten Jahren zunehmend den Kontakt zu sich selbst, zu seiner Identität. Und jedesmal, wenn er das tat, übernahm eine andere Persönlichkeit seinen Körper, wenn Sie so wollen. Er sieht dann immer noch aus wie Andreas Herzog, aber er nimmt sich selbst als jemand anderer wahr. Seine dunkle Seite, wenn Sie so wollen.«

»Er ist also schizophren, so wie Jekyll und Hyde? Ist das Ihr Ernst?«

»Schizophrenie hat damit nichts zu tun. Um es einmal ganz laienhaft auszudrücken: Wenn Sie schizophren sind, dann hören Sie Stimmen in Ihrem Kopf. Die Ihnen Ideen einflüstern oder Sie anbrüllen und verlangen, dass Sie Dinge tun, die Sie eigentlich nicht tun wollen. Sie sehen vielleicht Dinge aus den Wänden kommen, aber Sie sind sich zu jeder Zeit Ihrer selbst bewusst.«

»Klingt mir verrückt genug«, knurrte Walkowiak. »Und was ist es dann, das Herzog hat?«

»Ich meine eine dissoziative Identitätsstörung. Jemand übernimmt seinen Körper. Jemand mit einer gänzlich anderen Persönlichkeit. Das Tragische ist, dass viele Kranke jahrelang keine Ahnung haben, wer diese Persönlichkeit ist, und dass sie ihren Körper mit ihr teilen. Während diese andere Person übernimmt, wird ihr ursprüngliches Bewusstsein komplett verdrängt. Es ist, als ob sie schlafen würden.«

»Er bekommt davon nichts mit?«

»Nun ja, normalerweise klagen Patienten anfangs über Kopfschmerzen, Mattigkeit und dass sie manchmal an Orten aufwachen, ohne zu wissen, wie sie dahin gekommen sind.«

»Wie ein Schlafwandler?«

»So ähnlich, ja.«

»Nur können sie sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein.«

»Ja, auch wenn sie mitunter erst sehr spät zu dieser Erkenntnis gelangen. Das Gehirn hat erstaunliche Fähigkeiten, sich die Erinnerungen im Nachhinein zurecht zu biegen.«

»Sie meinen, diese Leute, diese Gestörten, belügen sich selbst?«

»In gewisser Weise, ja. Paranoia ist dann fast eine natürliche Folge. Sie halten sich für hilflose Spielfiguren in irgendeinem großen Plan, den sie nicht durchschauen, der aber gegen sie gerichtet ist. Mitunter entwickeln diese Menschen richtiggehende Verschwörungstheorien inklusive ihrer eigenen Verschleppung.«

»Durch die grünen Männchen zum Beispiel«, schnaubte Walkowiak verächtlich.

»Zum Beispiel, ja. Aber die sind grau.«

»Hä?«

»Die Männchen. Angeblich sind sie nicht grün, sondern grau.«

Walkowiak starrte den Psychologen an, als hätte der nun ebenfalls den Verstand verloren.

»Haben Sie nie Akte X geschaut?«, fragte ihn Steinlein und schenkte ihm den Anflug eines amüsierten Lächelns, für das Walkowiak ihm gern ein bisschen an die Gurgel gegangen wäre.

»Wenn Sie es mal aus der Sicht des Täters betrachten, ist das alles nur folgerichtig. Jemand verfolgt Sie, stellt Experimente mit Ihnen an und lässt Sie Dinge tun, an die Sie sich nachher nicht erinnern können. Die natürliche Reaktion ist, dass sich solche Leute zurückziehen, eine Abneigung gegen öffentliche Behörden entwickeln, die Polizei im besonderen, aber auch Ärzte, von denen sie befürchten, unter Drogen gesetzt zu werden. Das Problem dabei ist, dass sie deshalb im Großteil aller Fälle völlig unerkannt bleiben. Zumindest solange, bis sie auffällig werden.«

»Auffällig? Wie denn?«

»Indem sie sich wochenlang zu Hause verschanzen, zum Beispiel. Oder ihre Nachbarn angreifen, weil sie glauben, die stecken ebenfalls mit in der Verschwörung.«

»Das hat Herzog nie gemacht. Oder ich habe es nicht erfahren.«

»Nun ja, sein Job als Schriftsteller erlaubt ihm da gewisse Freiheiten, nicht wahr? In welchem Job sonst könnte er seiner Paranoia in aller Abgeschiedenheit in Ruhe frönen, und aus seinen paranoiden Fantasien noch Kapital schlagen?«

»Verdammt, das stimmt. Das heißt, er war schon eine ganze Weile irre, und niemandem ist es aufgefallen.«

»Nicht ganz. Es gab ja schon Menschen, die mit ihm in Kontakt gekommen sind. Sabine Neuhaus, sein Agent Urbaniak …«

»Und Ann-Marie Werle«, fiel Walkowiak dem Psychologen ins Wort. »Und dann ist er durchgedreht. Zu viel Kokain, oder was weiß ich, und der böse, paranoide Herzog kam zum Vorschein. Heilige Scheiße!«

»Nun ja, im Moment ist das nur eine vage Theorie.«

»Aber wenn sie stimmt …«

»Wenn sie stimmt, haben wir vielleicht einen Ansatzpunkt, wo wir nach Herzog suchen könnten.«

»Ach was, wo denn?«

»An einem abgelegenen Ort, fernab der Öffentlichkeit. Einem Ort, den er gut kennt. Einem Rückzugsort.«

»Na toll, das schränkt die Auswahl auch nicht gerade ein.«

»In gewisser Weise schon, weil es bedeutet, dass er vielleicht näher ist, als Sie denken. Und zwar an einem Ort, den er schon öfter früher aufgesucht hat.«

»Haben wir schon überprüft«, brummte Walkowiak zerknirscht. »Er besitzt kein Sommerhaus am Bodensee oder so was. Erstaunlicherweise, wo er doch so einen Haufen Geld verdient. Noch nicht mal eine Gartenlaube. Nur seine Villa, und ich bezweifle, dass er in nächster Zeit dahin zurückkehren wird.«

»Ich auch. Aber vielleicht gibt es einen Ort, den wir noch nicht kennen? Vielleicht gehört ihm das Gebäude auch gar nicht, oder er wohnt da zur Miete ohne einen richtigen Mietvertrag. Es gäbe da schon so einige Möglichkeiten.«

»Ja«, gab Walkowiak zu. »Und der Einzige, der uns das vermutlich verraten könnte, von Herzogs toter Ehefrau abgesehen, ist leider ebenfalls flüchtig. Oder verschwunden. Je nach Theorie.«

»Vielleicht«, sagte der Psychologe geheimnisvoll. »Vielleicht aber auch nicht.«

Dann ging er aus dem Zimmer und ließ Kommissar Walkowiak inmitten des Chaos aus Möbelstücken und Gedanken zurück.

* * *

»Er hatte ein Verhältnis mit Ihrer Frau?«, fragte Lina entsetzt. Amüsiert stellte Herzog fest: Das schockierte sie mehr als die vermeintliche Erkenntnis, dass sie möglicherweise einem irren Psychokiller gegenübersaß.

»Finden Sie das etwa lustig?«, fragte sie, wohl, weil er ein wenig gelächelt hatte.

»Nein, Lina«, antwortete Herzog, »Durchaus nicht. Aber Sabine war eine freie Frau, sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Und mit wem.«

»Aber Ihr Agent?«

»Und bester Freund. Oder zumindest dem am nächsten, was ich als einen Freund bezeichnen würde. Ich habe damals vermutet, dass zwischen ihnen mal etwas lief, aber das haben die beiden immer vehement bestritten. Sie seien einfach nur gute Freunde, sagten sie, und damit war die Sache für mich vom Tisch. Und vermutlich stimmte das damals auch, anfangs.«

»Na toll.«

»Ja. Wie gesagt, habe ich Urby ja erst durch Sabine kennengelernt. Die beiden kannten sich schon von früher, wissen Sie? Aus der Zeit, als Sabine noch als Künstlerin aktiv war. Durchaus erfolgreich, möchte ich ergänzen. «

»Und das hat sie aufgegeben, weil ?« Linas schockierte Miene war einem Ausdruck mildem Unverständnisses gewichen.

»Als Tommy kam«, sagte Herzog, und fügte lakonisch hinzu, »und ich gegangen bin.«

»Scheiße …«, sagte Lina leise und schüttelte den Kopf, um das zu verdauen. Herzog konnte ihr das nicht übelnehmen. Er kaute selbst schon eine Weile an dem Brocken, den er in Sabines Leben zurückgelassen hatte. Jetzt war wohl wieder einer dieser Momente, da ihm klar wurde, dass er ihn noch nicht mal richtig geschluckt, geschweige denn verdaut hatte.

»Die beiden haben es trotzdem vor mir geheimgehalten, auch wenn Sabine und ich schon längst getrennte Wege gingen, als sie ihre kleine Liaison begannen. Aus Rücksicht auf meine Gefühle, oder was weiß ich. Blödsinn, freilich. Es war ja nun nicht so, dass ich mich sonderlich zurückgehalten hätte, was das andere Geschlecht betrifft. Ich …« Er blickte Lina ins Gesicht. Fragend, als suche er in ihren Augen nach Antworten. Aber natürlich fand er auch dort keine.

»Ich gehe nicht oft aus, wissen Sie. Oder überhaupt unter Menschen. Soziale Vernetzung zählte noch nie zu meinen starken Eigenschaften. Ich war als Kind und Jugendlicher schüchtern, sehr sogar. Zumindest, bis ich Alkohol entdeckte und … na ja, eben stärkere Sachen. An einem guten Abend konnte ich dann sogar tanzen, flirten, umgänglich sein. Ich war wie ausgewechselt und landete immer mit einem Mädchen in irgendeinem Bett. Mindestens mit einem dchen.«

»Hm, klingt doch nach einem angenehmen Zeitvertrieb.«

»Ist es auch. War es. Aber das ist genau die Art von Freude, die schneller schal wird als ein lauwarmes Bier. Es ist wie mit einer Droge. Wenn man die Intensität nicht ständig steigert, ist man draußen. Man fällt in ein unglaublich tiefes Loch. Da gibts nur noch Finsternis. Und weil man da nicht reinschauen will, nimmt man die nächste Dosis. Und dann immer so weiter.«

»Verstehe«, sagte Lina und stand auf. Herzog sah sie fragend an, doch sie drehte sich brüsk zu der kleinen Anrichte, die da stand.

»Was dagegen«, fragte sie, ohne sich zu Herzog umzudrehen, »wenn ich mal das Radio anschalte?«

»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Herzog verwundert.

»Nein«, sagte sie, und jetzt drehte sie sich um. Sie lächelte, aber sie sah sehr müde aus. In ihren Augen schimmerten Tränen. Herzog sah sie schockiert an.

»Ist nicht Ihre Schuld«, sagte Lina. »Ich würde nur gern wissen, wie das Wetter morgen wird.«

»Sie wollen gehen?«

»Ich glaube, das muss ich. Verstehen Sie?«

»Nein«, sagte Herzog. Es klang wütender, als er beabsichtigt hatte. Lina hatte sich schon wieder umgedreht und fummelte am Radioknopf herum. Das Gerät gab ein leises Klicken von sich und nach einer Weile ertönte die Stimme des Nachrichtensprechers. Er war noch nicht beim Wetter angelangt. Sondern noch beim anderen, aktuellen Top-Thema des Tages.

»… fahndet immer noch nach dem flüchtigen Schriftsteller Andreas Herzog, der seine Exfrau umgebracht haben soll. Im Zusammenhang mit diesem furchtbaren Verbrechen wird der ebenfalls flüchtige Literaturagent und mutmaßliche Komplize Herzogs, Karsten Urbaniak, gesucht. Inzwischen fand die Polizei eine weitere Ermordete, die zweiundzwanzigjährige Studentin Ann-Marie W.. Es besteht dringender Tatverdacht, dass auch dieses junge Mädchen von einem der beiden Männer oder beiden zusammen ermordet wurde. Eine weitere junge Frau, die Krankenschwester Lina B., gilt als vermisst, vermutlich hat der flüchtige Schriftsteller sie wegen ihres Wagens entführt. Im Zusammenhang mit beiden Verbrechen werden dringend Zeugen gesucht. Die Kriminalpolizei München hat eine Website eingerichtet, auf der sie Bilder der mutmaßlichen Täter sowie der Fluchtfahrzeuge gepostet hat, ebenso ein Foto der entführten Krankenschwester. Wer sachdienliche Hinweise geben kann, wird gebeten, sich unter …«

Herzog sprang und schaltete das Radio mit einer ruckartigen Bewegung ab.

»Ich denke wirklich, ich sollte morgen zurückfahren«, sagte Lina. Dann ging sie in die Küche und ließ einen völlig perplexen Herzog zurück. Dem allmählich die ganze Tragweite des soeben Gehörten klar wurde.

Ann-Marie war ermordet worden. Urbaniak war verschwunden. Natürlich war Urbaniak verschwunden. Waren das nicht seine letzten Worte gewesen, als er in Ann-Maries Wohnung gewesen war? Dass er verschwinden würde? Herzog begriff mit schmerzlicher Deutlichkeit, was der Agent ihm zu sagen versucht hatte:

»Da ist etwas mit ihren Augen, oh mein Gott, ihre Augen!«

Plötzlich wusste Herzog ganz genau, was mit Ann-Maries Augen nicht gestimmt hatte. Und mit denen von Sabine. Mit ihren Mündern. Er wusste, dass ihre Körper von Schnitten übersät gefunden worden waren, aufgeschlitzt, und ihr Blut in weiten Bögen an den umliegenden Wänden verteilt. Er sah es mit aller bildhaften Deutlichkeit, zu der sein Schriftstellerhirn fähig war.

Denn er hatte das alles schon einmal gesehen.

Erst da begriff er die gesamte Tragweite seiner Erkenntnis.

Er sprang auf und rannte förmlich in die Küche. Lina war gerade damit beschäftigt, die gläserne Kaffeekanne abzuspülen, als Herzog hereinstürmte. Sie fuhr herum, den Mund zu einem stummen, fragenden O verzogen. Die Kaffeekanne entglitt ihren Fingern und zersprang klirrend auf dem Küchenboden in unzählige Splitter.

Dann war Herzog in der Küche.

* * *

Andreas Herzog, »Totgespielt: Thriller«, 1. Auflage: 150.000 Exemplare

»Ich werde dir sagen, wie das hier abläuft. Wir spielen ein kleines Spiel, und wie es ausgeht, hängt ganz allein von dir ab. Und von deiner Fähigkeit, mir zu gehorchen. Verstehst du das?«

Die schwache Andeutung eines Nickens. Gut. Flatternde Augenlider, die einmal lang und schön und geschmeidig gewesen waren, jetzt blutverkrustet. Gebrochene Augen, gebrochenes Mädchen. Gute Sache.

»Also. Gehorchst du mir, bleibst du am Leben. So einfach ist das. Du möchtest doch leben, oder?«

»Ja«, nuschelte sie durch das Blut in ihrem Mund. Sein erster Schlag hatte ihre oberen Schneidezähne zersplittert, er hatte gesehen, wie die kleinen, weißen Bruchstücke auf den Boden zwischen ihren ausgestreckten Beinen geflogen waren. Ihre Hasenzähnchen, wie süß.

»Hey, bist du noch da?« Eine Ohrfeige warf ihren Kopf herum und holte sie abrupt zurück in die Gegenwart. Fragend starrte sie ihren Peiniger an.

»Also, du wirst nicht schreien, kapierst du das? Wenn du schreist, wenn du auch nur quiekst wie das kleine Ferkel, das du bist, dann werde ich dich leider auslöschen müssen. Kapierst du das?«

Sie nickte langsam, fast bedächtig. Als hätte sie Mühe, dem Klang seiner Worte so etwas wie einen Sinn zu verleihen.

»Gut, denn ich möchte dich nicht töten müssen. Wirklich nicht. Ich hätte es viel lieber, wenn du ein braves Mädchen wärst. Ein stilles Mädchen. Ein liebes, kleines, stilles Mädchen. Das wünsche ich mir von dir.«

Er wusste, dass sein Lächeln einnehmend war. Das Lächeln eines Typen, der einer alten Frau über die Straße half und ihr anschließend noch die Einkäufe bis in den vierten Stock trug. Mit genau diesem Lächeln im Gesicht. Bloß, dass seine Augen niemals mitlächelten., aber das bemerkten die Leute so gut wie nie. Seine Augen waren in solchen Momenten meist ganz woanders, weit weg. In einem Traum von braven, stummen Mädchen.

Er sah, wie sich eine Träne vom Lid ihres rechten Auges löste. Des Auges, mit dem sie noch sehen konnte. Die salzige Flüssigkeit lief in die Schnittwunde, die er ihrer Wange zugefügt hatte, und für einen Moment fragte er sich, ob auch das andere Auge weinte. Das, von dem nurmehr eine schwarze, blutverkrustete Höhle übrig war. Die Tränenflüssigkeit musste brennen wie die Hölle, aber sie presste die Lippen fest aufeinander. Tapferes Mädchen. Dabei berührte ihre Zungenspitze versehentlich die Stümpfe ihrer abgebrochenen Zähne und sie zuckte schmerzhaft zusammen. Aber sie schrie nicht.

Noch nicht.

Aber das würde er bald ändern.