»Natürlich haben Sie die nicht.«

»Sie glauben, dass ich unter DIS leide. Zumindest haben Sie das Lina getextet. Das heißt, ich bin nicht ich selbst. Zumindest nicht immer.«

Steinlein schüttelte langsam den Kopf. »Ich glaube, dass Sie in den letzten Jahren eine dissoziative Störung entwickelt haben, ja. Ich möchte nicht so weit gehen wie andere«, er deutete mit einem Nicken auf die Tür zum Gang, wo Walkowiak stand, »und behaupten, dass Sie von einem der Killer aus Ihren Büchern besessen wären, aber nun ja, die Tatsachen sprechen eine ziemlich deutliche Sprache. Dazu kommt die Methode der Morde, die ziemlich genau der aus ihrem letzten Buch entspricht, wenn auch mit einigen Abwandlungen. Glückwunsch übrigens dazu, ich war so frei, es zu lesen. Was man hört, hat es die Bestsellerlisten mittlerweile im Sturm erobert. Und zwar alle.«

Herzog starrte den Psychologen an. »Glauben Sie im Ernst, dass mich das jetzt auch nur einen Scheißdreck interessiert?«

Steinlein zuckte mit den Schultern. »Entschuldigung, ich wollte nicht unsensibel sein. Und ich gehöre auch nicht zu den vielen Leuten, die hinter der Aktion einen genialen Marketinggag Ihres Agenten vermuten.«

»Wie bitte?«

»Ich sage nur, was die derzeit vorherrschende Meinung der breiten Masse ist. Mediengesteuert und verblödet, wie sie nun mal ist, was erwarten Sie da?«

Herzog starrte den Psychologen an, der ihn unverwandt anlächelte. So, als unterhielten sie sich gerade zwanglos über seinen letzten Sommerurlaub.

»Was nun Tommy betrifft«, sagte Steinlein, »so glaube ich, dass er ein großes Talent zur Abstraktion besitzt, zumindest für sein geistiges Alter. Ihm war sofort klar, dass in Ihnen zwei Persönlichkeiten wohnen. Deshalb malt er die Männchen mit zwei Köpfen. Sehen Sie?«

Herzog warf einen weiteren Blick auf die Zeichnung. Es stimmte, auf dem Rumpf saßen zwei Köpfe. Einer, dessen Mund zu einem erschrockenen O aufgerissen war. Und einer, dessen Augen von einer schwarzen Acht umgeben war.

Böse Augen?, dachte Herzog. Oder nein, das ist eine

»Er hat das mit angesehen?«, murmelte Herzog wie zu sich selbst, doch Steinlein antwortete ihm dennoch.

»Das hat er. Sind Sie jetzt stolz auf sich, Herzog?«

»Was? Ob ich …« Das Bild verschwamm vor seinen Augen, und Steinleins Worte drangen nur wie von fern an sein Gehör. Herzog blinzelte seine Tränen fort und eine davon platschte auf das Bild, wo sie einen großen Wasserfleck hinterließ. Nein, dachte Herzog beiläufig.

Das ist eine Maske, grübelte Herzog, und dann begriff er.

Ich habe das Bild nicht verschwommen gesehen. Zwei Köpfe. Tommy hat zwei Köpfe gemalt. Zwei Köpfe und vier Beine, und jedes Paar endet in roten Sneakers. Wer Tommys Zeichnungen nicht kennt, mag das für ein Hosenbein halten, aber Tommy malt niemals zwei Striche für ein einzelnes Bein. Ein Bein, ein Strich. Ein Körper, der in Wirklichkeit

Er hob den Blick und begegnete dem Steinleins, der ihn höhnisch durch die Gläser seiner rot umrandeten Designerbrille musterte

der in Wirklichkeit zwei Körper ist. Einer mit einem schreienden Gesicht (ich, als ich Sabine fand), und einer, ein maskierter, der sich von hinten anschleicht. Und beide tragen dieselben Klamotten. Dieselben Klamotten, aber sie sind nicht dieselbe Person. Nein, es

und eine Pistole auf ihn gerichtet hielt.

es soll nur den Anschein erwecken, dass sie dieselbe Person sind, eine Person mit zwei Gesichtern. Aber das stimmt nicht. Das ist nicht das, was Tommy gezeichnet hat. Tommy hat gezeichnet, was sich wirklich abgespielt hat in Sabines Wohnung. Es gab nur einen Menschen, der bei ausreichend klarem Verstand war, um Tommys Zeichnung richtig zu verstehen. Und der hat alles unternommen, sie umzudeuten. Sie in seinem Sinne auszulegen.

»Steinlein!«, stieß Herzog hervor und ignorierte dabei völlig die auf ihn gerichtete Pistole.

»Ja«, bestätigte der und setzte sich lässig auf die Tischkante. »Zwei Personen, das war mir sofort klar. Eine sind Sie und eine nun ja. Wie gut, dass wir die gleiche Körperstatur haben, nicht wahr?«

»Aber wieso?«, fragte Herzog. Er brachte kaum mehr als ein Wispern hervor.

»Hm, gute Frage«, sagte der Psychologe, und aus seinem Lächeln wurde ein amüsiertes Grinsen, das beinahe etwas Spitzbübisches hatte. »Wieso, weshalb, warum …«, sang er leise die bekannte Melodie aus der Sesamstraße. »Haben Sie eine Antwort darauf, Herzog? Sie, der Sie so detailliert über die Psyche Ihrer Killer schreiben, Ihrer psychopathischen Massenmörder, die Sie aus anderen Romanen klauen oder bestenfalls neu erfinden. Sie, die Sie die Geister Ihrer Leser mit all dieser Scheiße vollstopfen, bis sie selbst losrennen und Amok laufen. Haben Sie eine Antwort darauf?«

Herzog schüttelte langsam den Kopf.

»Ich habe schon vor einer ganzen Weile damit begonnen. Mit dem Morden, meine ich«, sagte Steinlein.

Es kommt ihm ohne das geringste Zögern über die Lippen, dachte Herzog, und nun nahm er die Pistole bewusst wahr. Starrte zwischen dem nachtschwarzen Loch der Mündung und Steinleins Gesicht hin und her, das bleich wirkte im Schein der unbarmherzigen Bürolampen. Bleich, und seine Augen darin wie schwarze Knöpfe hinter seiner feschen Brille. Kalt und hart wie Kohlen, die man in den Kopf eines Schneemanns gesteckt hat.

»Ich will Sie nicht mit den Details langweilen, aber es ist einfacher, als Sie denken. Aber das wissen Sie ja vermutlich inzwischen. Es ist immer nur soviel Drama, wie Sie draus machen, verstehen Sie? Irgendwann entdeckte ich Ihre Bücher. Ich war von Anfang an fasziniert, ehrlich. Ich bin einer Ihrer größten Fans, sozusagen. Habe jeden Schnipsel gejagt, der sich über Sie finden ließ. Das meiste davon war Promoschrott, den Ihr Agent oder der Verlag verzapft hatten. Der Herr Autor zog es ja vor, zurückgezogen in seiner kindischen Spukvilla zu leben. Wenn er sich nicht gerade die Nase gehörig zuzog, um sich durch seine weiblichen Fans zu vögeln. Kommt das in etwa hin?«

Herzog schwieg.

»Irgendwann bemerkte ich auch, warum Ihre Bücher so verteufelt gut sind. Sie verstehen die Seele eines Mörders. Sie atmen mit ihm, wenn Sie Ihre menschlichen Monstren von der Leine lassen. Sie werden zu ihm. Nun, ich schätze, da wurde die Idee geboren. Ich wollte Sie teilhaben lassen, verstehen Sie?«

Er schien zu überlegen.

»Eigentlich sollten Sie mir dankbar sein. Jetzt sind Sie wirklich in der Lage, aus erster Hand zu berichten, wie sich ein dissoziativ gestörter Killer fühlt. Wenn er plötzlich neben einer Leiche erwacht, sich aber nicht daran erinnern kann, dass er es war, der sie so zugerichtet hat. Das können Sie jetzt nachfühlen, oder?«

* * *

Herzog nickte langsam. Sah auf die Waffe, Steinleins Gesicht, sein hohles Grinsen. Die schwarzen, gefühllosen Kohleaugen. Seine Lippen, die sich bewegten und Unfassbares hervorbrachten.

»Ich habe Sie beobachtet, Herzog, ich habe Sie studiert. Ich habe unser Treffen arrangiert. Sie konsultierten mich, um die Psyche Ihres Killers für Ihr nächstes Buch zu recherchieren. Nun, ich gab Ihnen die Gelegenheit. Und währenddessen habe ich Sie studiert. Ihre Körpersprache, die Art Ihres Lächelns, und wie Sie über gewisse Themen sprachen. Wie Ihnen ständig die Nase zu jucken schien und Ihr Blick mehr als einmal zu meiner Whiskysammlung schweifte. Das allein bringt niemanden weiter, aber ich hatte inzwischen profunde Kenntnisse Ihrer Vorgeschichte, von Ihrer Kindheit angefangen. Vermutlich weiß ich inzwischen mehr Dinge über Sie als Sie in Ihrer eigenen Erinnerung, wie finden Sie das?

Als ich von Ihrer anstehenden Veröffentlichung erfuhr, wusste ich, dass die Zeit reif war, Sie auf eine kleine Reise zu schicken, Sie auf meinen Trip mitzunehmen. Ich war selbstverständlich auch bei Ihrer Lesung, Sie müssen mich bemerkt haben. Erinnern Sie sich an den fetten Kerl mit Bart? Vielleicht sind Ihnen seine Schuhe aufgefallen? Rote Sneakers, nicht wahr, der Marke Nike, genau wie Ihre eigenen. Ich sah Ihnen über die Schulter, als Sie Ihren Machospruch in das Exemplar der jungen Blondine eintrugen, und da wusste ich, wer Ihr zweites Opfer werden würde. Auch ich habe die Kleine im Zacherl tanzen sehen, und ich muss sagen, es war ein ganz außerordentliches Vergnügen, sie zu ficken. Auch wenn ich zugegeben ein etwas feurigerer Liebhaber war als Sie.«

Herzog sprang auf Steinlein zu, aber der deutete mit dem Lauf der Pistole in seine Richtung. Tommy gab ein erbärmlich quäkendes Geräusch von sich, Herzog hielt in der Bewegung inne und ging wieder vor dem Rollstuhl in die Knie.

»Alles gut, Tommy«, sagte er und versuchte, seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. Es funktionierte nicht so recht, aber zumindest schluchzte Tommy nun ein wenig leiser.

»Ich folgte Ihnen, als Sie den Club verließen, nachdem ich mit Hilfe des Türstehers verhindern musste, dass Sie sich bei der Kleinen schon auf dem Klo bedienen und dann vielleicht später gar keine Lust mehr auf sie haben. Ich brauchte doch ein zweites Opfer, wie es im Buche steht. In Ihrem Buch natürlich, aber auch das wissen Sie inzwischen. Natürlich waren Sie bis obenhin voll mit Koks, und das verleiht ja bekanntlich Flügel, nicht wahr? Also sind Sie und die Kleine davongerauscht und ich ließ Ihnen Ihren Spaß.«

Steinlein kicherte. »Aber ich folgte Ihnen wieder, das musste ich, um herauszufinden, wo sie wohnte. Ziemlich schäbige Gegend, muss ich sagen, speziell für die Tochter eines Bankdirektors, die Wirtschaft studiert, finden Sie nicht? Wie dem auch sei: Nachdem ich das herausgefunden hatte, konnte mich um den nächsten Schritt meines Plans kümmern. Sie!« Er deutete mit der Pistole auf Herzogs Brust.

»Ich wusste, dass Sie jedes Jahr zu Weihnachten Ihre Exfrau und unseren kleinen Tommy hier besuchen, bevor Sie sich mit einem Rucksack voller Pulverschnee irgendwo in die Berge zurückziehen, um den Plot für Ihren nächsten Thriller auszuhecken. Nun ja, ich kam Ihnen zuvor und wartete gemeinsam mit Sabine auf Sie, während ich Tommy knebelte, damit er mir nicht die Nachbarn auf den Hals jagte mit seinem Geschrei. Als Krönung des Ganzen habe ich mich als Sie verkleidet. Als treuer Fan kenne ich natürlich nicht nur Ihre Lieblingsschuhmarke, sondern weiß auch, dass Sie gern diesen seltsamen Ledermantel tragen. Ein wirklich hässliches Ding, aber sehr einprägsam. Erkennt man sogar durch eine schlechte Haustürkamera ganz ausgezeichnet. Also ließ Sabine mich natürlich ein. Sobald ich erst in der Wohnung war, war der Rest ein Kinderspiel. Ich hatte sie schon vorbereitet und ihr einen Knebel in den Mund gesteckt, damit sie Sie nicht warnen konnte. Dann habe ich mich mit Chloroform hinter der Tür versteckt, bis ich Ihre Schritte hörte. Ich musste nicht lange warten.«

»Sie haben mich .. betäubt.«

»Ganz recht. Aber das war nur der Anfang. Immerhin musste ich Sie drei Tage lang im Dämmerzustand halten. Deshalb versetzte ich Sie in eine künstliche Bewusstlosigkeit, ich durfte ja nicht riskieren, dass Sie während Ihrer kleinen Auszeit zu sich kommen, nicht wahr? Schließlich musste ich mich noch um Ihr kleines, blondes Sexspielzeug kümmern. Also habe ich Sie an einen sicheren Ort gebracht und Ihnen drei Tage Ruhe gegönnt. Ich habe an alles gedacht, und sogar Ihre Muskeln mit Reizstrom stimuliert, damit die nicht verkümmern. Es wäre eine kurze Flucht geworden, wenn Sie sich gleich zu Anfang keine drei Meter weit hätten bewegen können.«

Steinleins Augen leuchteten.

»Anschließend setzte ich mich in Ihren Porsche, fuhr ihn gegen den Baum sehr zu meinem Leidwesen, muss ich sagen, denn es war ein wirklich schöner Wagen und legte Sie daneben in den Schnee, nachdem ich Ihnen ein paar passende Wunden sowie eine Injektion verabreichte, die Sie aus Ihrem Koma holen und gleich ein wenig auf Vordermann bringen würde.«

Unbewusst streifte Herzog den Ärmel seines Sweatshirts nach oben. In seiner Armbeuge war noch immer ein verblassender roter Punkt zu sehen, wo der Arzt im Krankenhaus den Einstich entdeckt hatte.

»Ganz recht«, bestätigte Steinlein. »Das Zeug hat Sie zurück ins Leben geholt. Zumindest ausreichend, damit Sie zum nächsten Dorf gelangen und den Plan ins Rollen bringen konnten. Keine Angst, ich war die ganze Zeit in Ihrer Nähe. Hätten Sie es nicht bis zum Dorf geschafft, wäre ich vielleicht aufgetaucht und hätte Sie persönlich ins Krankenhaus gefahren in Verkleidung natürlich. Aber das musste ich dann ja doch nicht. Sie erwiesen sich als der zähe Bursche, für den ich Sie von Anfang an gehalten hatte.«

»Und dann?«

»Dann endete der vorbereitete Teil der Aktion, der Plot, wenn Sie so wollen, und der improvisierte Teil begann. Ab da waren alle Würfel im Spiel, ich musste nur noch zuschauen, wie Sie sich hielten und entsprechend darauf reagieren. Was Sie unternehmen würden, um aus der Sache herauszukommen. Eigentlich wollte ich durch die Medien über Sie auf dem Laufenden bleiben, aber letztlich musste ich das gar nicht. Kersten, der Vorgesetzte unseres geschätzten Kommissars Walkowiak da draußen, hat mich zu dem Fall hinzugezogen. Sie verstehen mein Amüsement, als er mir diese Nachricht überbrachte. Ich war sogar dabei, als die Polizei Urbaniaks Büro stürmte. Und die Kokainreste in seiner Schreibtischschublade leider als nicht wesentlich für den Fall einstufte. Ich dagegen wusste sofort, wo ich ihn finden würde. In der Nähe der Quelle nämlich. Klaus Markhart …«

»Der Türsteher des Zacharias.«

»Richtig. Ein gemeinsamer Bekannter von mir und Urbaniak. Vor einiger Zeit habe ich ihn wegen seiner Aggressionsprobleme privat behandelt, er war ganz aufgelöst, seine Frau wollte sich scheiden lassen von dem armen Kerl, bloß weil er sie mit einem Stuhlbein erwischt hatte. Ach, Eheprobleme. Meine Therapie war bei Herrn Markhart recht erfolgreich, muss ich sagen, mittlerweile ist er doch ein ganz umgänglicher Bursche. Allerdings nicht umgänglich oder dumm genug, um einem von der Polizei gesuchten mutmaßlichen Mörder Koks zu verkaufen. Also sprang ich in die Bresche und verschaffte Urbaniak sein letztes Meeting mit dem weißen Gold. Allerdings ein bisschen anders, als er sich das vermutlich vorgestellt hat.«

»Sie haben ihn umgebracht.«

»Schon, ja, na klar. Aber erst, als ich durch das Telefonat mit Lina — übrigens auch ein überaus attraktives Mädchen, wie machen Sie das bloß immer, Herr Herzog? herausgefunden hatte, wo sich Ihr kleines Berghüttenrefugium denn genau befindet. Bayrischzell, wer konnte das ahnen? Anschließend wartete ich, bis Sie sich bei Urbaniak meldeten natürlich über Linas Handy, denn Ihr eigenes ist ja bedauerlicherweise während Ihres Autounfalls kaputtgegangen wie ich sehr wohl wusste, denn ich hatte es selbst zerstört. Allzu einfach wollte ich es Ihnen nun auch nicht machen.«

»Sie haben auch die SMS von Urbys Handy geschrieben.«

»Ja!«, freute sich Steinlein, »sehr gut! Ich war es, der Sie zum Hotel Adler geschickt hat, um in Ruhe mein Werk in der Hütte beginnen zu können. Und da haben Sie mir ja eine gewaltige Überraschung bereitet. Ich fand Lina gefesselt auf dem Bett! Was sollte denn das werden, Herzog? Hatten Sie mit der Kleinen ganz nebenbei ein paar Fesselspielchen laufen, während Sie auf der Flucht waren? Ich muss schon sagen, das beweist erstaunliche Nerven für einen einen Schriftsteller! Wie dem auch sei, ich betäubte Lina und legte Urbaniak an ihre Stelle. Mit dem machte ich ganz schnell, ich habe ihn noch nicht mal aus der Betäubung geholt, als ich Sie wissen schon.«

»Sie haben ihn aufgeschlitzt wie ein Schwein!«, flüsterte Herzog und rutschte auf die Knie.

»Ja«, fuhr Steinlein fort. »Aber das war ohnehin eher eine Frage der Notwendigkeit. Leider stehe ich überhaupt nicht auf Männer, und Urbaniak war nicht mal ein besonders attraktives Exemplar. Ich war mir allerdings sicher, dass dies den Ausschlag für Sie geben würde. Dass Sie nun einhundertprozentig davon überzeugt sein würden, all diese Leute ermordet zu haben. Dass Sie das einzig Vernünftige tun und die Flucht antreten würden.«

»Wo …«, flüsterte Herzog, »ist Lina?«

»Mal überlegen«, sagte Steinlein und starrte Herzog unverwandt an. »In Sicherheit, würde ich sagen. Noch. Verstehen Sie? An einem Ort, den Sie gut kennen. Oder auch wieder nicht, schließlich haben Sie Ihren gesamten Aufenthalt da verpennt.«

Das, was sich in diesem Moment in Herzogs Kopf abspielte, war nicht wirklich ein Begreifen. Vielmehr war es nur ein kleiner Funke des Erkennens, ein Lichtsplitter in einem fast gänzlich dunklen Inneren eines Kaleidoskops von wirbelnden Gedanken. Winzig nur, doch umso deutlicher in der Finsternis, und zigfach zurückgeworfen von den Spiegeln am Rande des Vergessens.

Wo Sie Ihren Aufenthalt verpennt haben.

Steinlein stand auf, ging auf Herzog zu und drückte ihm mit ausgestrecktem Arm den Lauf der Pistole auf die Stirn.

»Dabei war Ihr Weg doch frei, Mann! Alles, was Sie tun mussten, war, sich in Linas Auto zu setzen und zu verschwinden. Ich bin sicher, einem Mann von Ihrem Planungstalent wäre etwas eingefallen, wie Sie auch künftig hätten untertauchen können. Vielleicht hin und wieder ein kleiner Mord, nur um sich abzureagieren, oder der alten Zeiten wegen. Vielleicht hätte ich Sie irgendwann mal ausfindig gemacht. Wir hätten uns austauschen können, Herzog, wie früher! Oder vielleicht …«

Steinlein hockte sich neben Herzog auf den Boden, die Pistole nach wie vor auf dessen Gesicht gerichtet. »Oder vielleicht hätte ich Sie irgendwann zu meinem Schüler gemacht. Wir hätten gemeinsam arbeiten können.«

Herzog hob langsam den Kopf, sah am Lauf der Pistole vorbei und Steinlein mit überlaufenden Augen ins Gesicht.

»Das war Ihr Plan, Steinlein?«, fragte er, »das war alles? Sie wollten sehen, ob ich zum Mörder werde? Nur dafür mussten drei Menschen sterben?«

»Ein Plan ist nur so gut, wie er flexibel ist. Das sollten Sie doch wissen als Schriftsteller. Man setzt die Startbedingungen für die Figuren fest, setzt ein paar Parameter für den Plot und der Rest ist das, was wir freien Willen nennen, nicht wahr?«

»Freier Wille? Nennen Sie das freien Willen? War es vielleicht eine freiwillige Entscheidung, was Sie Sabine angetan haben und «

»Hm«, machte Steinlein. »Ich weiß, Sie halten das für eine berechtigte Frage. Aber denken Sie mal nach: Sabines Herz war gebrochen, seit Sie sie verlassen haben. Sie war früher Model und zuletzt sah sie aus wie eine drogensüchtige Hure, hat sich gehen lassen. Gemalt hat sie auch nicht mehr, nur noch stundenlang in den Fernseher gestarrt. Wie Sie ja wohl wissen. Glauben Sie im Ernst, sie hätte sich das noch angetan, wenn Tommy nicht gewesen wäre?«

Schlag mich, Herzog, ganz fest

»Oder nehmen Sie Ann-Marie Werle. Ihr Leben war ein einziger Widerspruch. Daddys reiche Prinzessin, die einen auf gewählte Armut macht. In ein, zwei Jahren, spätestens, hätte sie die Nase voll gehabt vom Revoluzzerleben und wäre in die bedeutungslosen Fußstapfen ihres finanzkräftigen Herrn Papa getreten, um ein Leben in Überfluss und Langeweile zu leben, auf Kosten unzähliger anderer. Oder Urbaniak, der schon nicht mehr leben wollte, wenn man ihn länger als ein paar Stunden vom Kokain fernhielt. Sie begreifen, worauf ich hinauswill?«

»Wer«, sagte Herzog, »macht Sie denn zum Richter über diese Menschen? Wieso glauben Sie, entscheiden zu können, wer leben darf und wer nicht? Sie sind ein «

»Na, na, na!«, unterbrach ihn Steinlein lächelnd und hielt ihm zur Erinnerung die Pistole vors Gesicht. »Begreifen Sie es denn immer noch nicht, Herzog? Die Gemeinsamkeiten zwischen allen diesen Menschen? Das sind Sie! Ja, Sie! Sie haben denen alle Illusionen geraubt und sie zu dem gemacht, was sie zum Schluss waren. Benutzt und weggeworfen von Ihnen, dem großen Herzog, dem bedeutendsten literarischen Genie seit Ernest Hemingway. Sie haben die alle umgebracht. Ich war nur der Vollstrecker.«

»Das ist nicht wahr!« Herzog weinte nun ungehemmt wie ein Kind. »Es ist nicht wahr«, schluchzte er, »ich habe diese Menschen geliebt!«

»Liebe, Herzog? Im Ernst? Wollen Sie mir etwas von Liebe erzählen? Ich glaube, diese Farce können wir uns sparen, oder?«

Herzog schwieg mit gesenktem Kopf, hielt die dünnen Beine seines Sohnes umklammert und weinte leise. Er hörte, wie Steinlein aufstand.

»O Mann, jetzt seien Sie doch nicht so eine Heulsuse. Warum mussten Sie auch alles verderben? Ich hatte Ihnen schließlich alles vorbereitet, Ihr neues Leben war so voller Chancen. Und was machen Sie, hm? Rufen Walkowiak an und legen ein volles Geständnis ab. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als Walkowiak mich kontaktierte, um mir diesen Brüller zu erzählen, ehrlich!«

Herzog erwiderte nichts. Er hatte aufgehört zu weinen, sammelte sich. Er wandte seinen Blick nach oben und versuchte in Steinleins Gesicht eine menschliche Regung neben diesem grotesken Grinsen auszumachen vergebens. Er blickte in das Gesicht eines Wahnsinnigen. Eines Wahnsinnigen, der ein Meister der Verstellung war.

»Und Sie setzten sich ins Auto wie ein Roboter und fuhren hierher. Ins Revier. Zu mir!«

»Ich musste Tommy sehen.«

»Sie mussten Tommy sehen? Ihren Sohn? Diesen entschuldigen Sie den Ausdruck Rundumkrüppel? Und dafür wären Sie wegen dreier ach nein, wegen vierer Morde für alle Zeiten ins Gefängnis gegangen? Nur, um dieses Ding in seinem Rollstuhl noch einmal zu sehen?«

»Mit Freuden«, sagte Herzog. Dann ließ er sich zur Seite fallen. Die Bewegung kam so überraschend, dass Steinlein für einen Augenblick mit offenem Mund ins Leere starrte, bevor er herumfuhr, um Herzog nachzusetzen. Blind vor Wut machte er einen Schritt nach vorn und stieß mit dem Schienbein gegen das metallene Gestänge von Tommys Rollstuhl, kurz bevor Herzogs ausgestrecktes Bein ihn am Knie traf, und zwar mit solcher Wucht, dass dass alle drei Steinlein, der Rollstuhl und Tommy r einen Moment in der Luft zu hängen schienen wie ein groteskes Kunstgebilde, bevor alles mit einem Krachen auf die Seite kippte. Die Waffe entglitt Steinleins Hand. Noch im Fallen wollte er danach greifen, doch sie entzog sich erneut seinem Griff, flutschte weg wie ein feuchtes Stück Seife und knallte seitlich auf den Boden. Sie drehte sich um ihre eigene Achse und blieb schließlich liegen.

Die beiden Männer schlugen ungefähr gleichzeitig auf dem Boden auf. Steinlein rappelte sich sofort auf die Knie und warf sich in Richtung der Pistole, doch Herzogs gefesselte Hände schossen vor. Seine Finger erwischten ein Büschel von Steinleins Haar und gruben sich mit unnachgiebigem Griff hinein. Herzog zerrte mit aller Kraft Steinleins Kopf wurde zurückgerissen, während er seine Arme verzweifelt in Richtung der Waffe ausstreckte. Herzog, zwischen dessen geballten Fingern immer noch Steinleins Haarbüschel hervorragte, rammte dem Psychologen das Knie in die Seite, dieser krümmte sich stöhnend zusammen, was ihn wieder ein paar Zentimeter von der Waffe entfernte. Noch im Fallen schlug er blindlings aus und erwischte Herzog im Gesicht. Herzog hörte, wie seine Nase mit einem hohlen Knacken brach. Augenblicklich schoss Blut in einem breiten Strahl auf den Boden Für einen Moment drohte Herzog erneut das Bewusstsein zu verlieren, doch dann rappelte er sich auf die Knie, wo er auf gleicher Höhe dem hassverzerrten Blick des Psychologen begegnete.

Wie einstudiert ruckten die Köpfe beider Männer in perfekter Synchronisation zu der Zimmerecke herum, in der die Waffe lag.

Dann warfen sich Herzog in einer letzten, verzweifelten Kraftanstrengung nach vorn.

* * *

Als er den Schuss von jenseits der Tür hörte, setzte Walkowiaks Verstand aus.

Er rannte einfach.

Erst in dem Moment, als die Tür herumschwang und der Kommissar mit vorgereckter Waffe in den Raum stürmte, wurde ihm dunkel bewusst, dass dies so ziemlich der dümmste Anfängerfehler war, den man beim Stürmen eines Raumes machen konnte. Dann stand er im Türrahmen, und das waren gleich zwei Fehler auf einmal. Erstens bot er somit ein ideales Ziel für einen etwaigen Schützen innerhalb des Raumes und zweitens versperrte er den Polizisten hinter sich jede Sicht. Damit nahm er ihnen die Möglichkeit, mit ihren eigenen Waffen einen Schuss abzufeuern, bei dem er nicht als Kugelfänger fungieren würde.

Wenn das ein Western wäre, dachte Walkowiak fast beiläufig, während er mit Adrenalin vollgepumpt in den Raum stürmte. Wenn das ein Western wäre, dann wärst du jetzt schon tot.

Aber es war keiner, und Walkowiak stürmte weiter. Alle blauen Bohnen, die in diesem Western fliegen würden, hatten ihr Ziel bereits gefunden, das erfasste Walkowiak auf den ersten Blick. Steinlein lag am Boden, rührte sich nicht und der Irre Herzog starrte auf die Waffe in seiner Hand. Vielmehr in Steinleins Hand, bemerkte Walkowiak beim Näherkommen, die Herzog seinerseits umklammert hielt. Der Rollstuhl war umgekippt und Herzog presste den behinderten Jungen an sich, der seine Arme um den Hals des Verrückten geschlungen hatte.

Der Rest war Tunnelvision.

Walkowiak sah nur noch Herzog.

Der soeben einen Polizeimitarbeiter erschossen hatte. Er stürmte auf den am Boden Knienden zu, entsicherte seine Waffe und hielt sie Herzog aus nächster Nähe an den Kopf. Der schien davon gänzlich unbeeindruckt, er rührte sich nicht. Lediglich Steinleins schlaffe Hand, in der immer noch die Pistole lag, entglitt seinem Griff, und die Waffe polterte zu Boden. Walkowiak kickte sie mit der Spitze seines Schuhs weg, ohne Herzog aus den Augen zu lassen.

Der behinderte Bengel begann zu quäken und klammerte sich noch fester an seinen Vater, aber auch das bekam Walkowiak nur am Rande mit. Seine gesamte Aufmerksamkeit war auf Herzog fokussiert. Allmählich dämmerte ihm, wer für dieses Fiasko zur Rechenschaft gezogen werden würde. Wer dem Psychologen erlaubt hatte, sich ohne Begleitung mit Herzog dort hineinzubegeben.

Ich habe einen Waffenschein, hatte dieser Narr getönt und nun? Das hatte es ihm eingebracht. Walkowiaks Blick zuckte zu dem Psychologen hinüber, der soeben von einem der beiden Polizisten umgedreht wurde. In seiner Brust klaffte ein dunkelrotes Loch, etwa vom Durchmesser einer kleinen Münze. Drumherum, auf seinem weißen Hemd, erblühten rote Blütenblätter wie bei einer Blume in einer Zeitrafferaufnahme. Der Psychologe starrte mit verklärtem Blick auf Herzog, und er schien zu lächeln, während er starb. Seine Lippen bewegten sich, als murmelten sie eine letzte, stumme Botschaft an seinen Patienten. Walkowiak glaubte zu verstehen.

» … weißt du wie es ist«, schwappten die Silben kraftlos über Steinleins Lippen. »Das Töten.«

Herzog erwiderte diesen Blick, sein Gesicht schreckensstarr und beinahe so kalkweiß wie das seines Opfers, sah man von einer breiten Blutspur ab, die aus seiner Nase lief und seine Lippen und sein Kinn bedeckte wie eine seltsame Kriegsbemalung. Das blutbeschmierte Gesicht eines Killers. Eines gnadenlosen Mörders, der in den letzten Sekunden seines Lebens in Freiheit noch ein Opfer gefunden hatte. Ausgerechnet in dem Mann, der ihn im Laufe der Ermittlungen ständig in Schutz genommen hatte. Ihm diese Begegnung mit seinem Krüppel von einem Sohn erlaubt hatte und mit dem Leben dafür bezahlt hatte.

Weil Herzog angeblich krank war. Nicht Herr seiner Taten. Nun, wie auch immer die Psychologen und Sachverständigen und dieser ganze Haufen Theoretiker später vor Gericht entscheiden würden das hier war jedenfalls vorsätzlicher Mord, aus nächster Nähe, vor den Augen eines Kindes, seines eigenen Kindes, und soweit Walkowiak das beurteilen konnte, hatte sich Herzogs Persönlichkeit dabei kein Stück verändert oder aufgespalten oder sonst was.

Steinlein bäumte sich ein letztes Mal auf. Aus seinem Rachen drang ein widerliches Glucksen und Blut, das in einem breiten Strom aus seinem Mund quoll, ergoss sich auf sein Hemd.

Dann war es vorbei.

Steinlein war tot.

Einer der Polizisten versuchte derweil, Steinlein mit einer Herzmassage wiederzubeleben, aber außer einem Schwall dunklen Blutes, das über die fahlen Lippen des Psychologen quoll, brachte er nichts zuwege, während der andere über Funk einen Notarzt anforderte.

»Ja, sagte er. »Hier im Revier. Es gab einen Schusswechsel. Ein Mann ist schwer verletzt, und wir haben einen Jungen, der mit seinem Rollstuhl umgefallen ist. Den sollte sich auch jemand ansehen, schätze ich.«

Schwer verletzt, dachte Walkowiak, na klar. So schwer, dass er sich bestimmt nicht davon erholen wird.

Aber dann war auch dieser Gedanke vorbei, und es gab nur noch Herzog. Der stumm vor ihm kniete. Sein verfluchter Schädel nur Zentimeter vom Lauf von Walkowiaks Waffe entfernt. Es wäre so einfach

Walkowiak trat zu. Er konnte nicht anders. Herzog flog nach hinten, auf die Seite, schlidderte gut einen halben Meter über den glatten Parkettboden. Während ihn die beiden Polizisten entsetzt anstarrten, setzte Walkowiak nach, packte Herzog am Kragen seiner Winterjacke, riss den Oberkörper des Mannes hoch und drückte ihm die Pistole in die Wange.

»Nennen Sie mir einen Grund, warum ich nicht abdrücken sollte«, flüsterte er. »Nur einen Grund.«

»Mein Angebot«, presste Herzog hervor. Blut rann aus seiner Nase, wo Walkowiaks Stiefel ihn getroffen hatte. »Es gilt immer noch. Ich führe Sie zu Lina Bittner. Danach können Sie mit mir anstellen, was Sie wollen.«

* * *

Walkowiak winkte den Polizisten zu sich heran, der unschlüssig neben Tommys Rollstuhl herumstand, und sagte dann: »Also. Folgendes ist passiert. Wir haben Herzog in Empfang genommen, und dann hat Steinlein plötzlich eine Waffe gezogen. Herzog reißt sie ihm aus der Hand und nimmt ihn als Geisel. Er stürmt in den Raum, wir hinterher, aber da ist es schon zu spät. Er hat ihn erschossen, bevor irgendeiner von uns etwas dagegen tun konnte. Ist das klar?«

»Also ich weiß nicht recht«, wandte einer der Polizisten ein, »eigentlich …«

»Ist das klar, Seidel?«, brüllte der Kommissar.

»Ja, okay, von mir aus. Ist ja nicht so, dass das jetzt noch etwas ändern würde.«

»Genau. Und das ist auch haargenau, was Sie erzählen werden, wenn der Notarzt und die anderen hier eintreffen.«

»Und Sie?«

»Wir fahren jetzt mit diesem Stück Scheiße hier«, er stieß seine Schuhspitze in Herzogs Rippen, ohne die Pistole von dessen Kopf zu nehmen, »zu dem Versteck, in dem er Lina Bittner gefangen hält.«

* * *

Es dämmerte, als sie den nördlichen Stadtrand von München erreichten. Es war ein grauer, matschiger Morgen, der ein grauer trostloser Tag zu werden versprach. Walkowiak hatte Herzogs Hände inzwischen auf dessen Rücken gefesselt und sie mit einer Fußfessel verbunden, was Herzogs Bewegungsfreiheit auf ein absolutes Minimum einschränkte. Nicht, dass der irgendwelche Anstalten gemacht hätte, zu fliehen. Walkowiak allerdings war nicht in der Verfassung, irgendwelche Risiken einzugehen. Seine Dienstwaffe war nach wie vor auf Herzog gerichtet, nicht auf seinen Kopf jetzt, sondern auf seinen Bauch. Das war ein wenig unauffälliger und würde ihm im Fall eines Falles wenigstens noch ein paar Minuten verschaffen, um ihn zu fragen, wo Lina war, sollte der Schriftsteller tatsächlich etwas Abenteuerliches versuchen. Herzog würde sie zu seinem letzten Opfer führen, oder zumindest hoffte Walkowiak das.

Gnade ihm Gott, wenn er Lina irgendetwas angetan hatte. Oder, überlegte Walkowiak, gnade ihm Gott, Punkt. Wenn Lina Bittner erst befreit war, können jede Menge seltsamer Dinge geschehen. Zum Beispiel könnte Herzog dann versuchen, zu fliehen. Zum Beispiel.

»Da vorn links, glaube ich«, hustete Herzog.

»Glauben Sie?«, fuhr Walkowiak ihn an.

»Ja, ja. Da lang.« Herzog nickte zur Bekräftigung.

Gnade ihm Gott, wenn er uns an der Nase herumführt. Dann wird er keinen Richter mehr brauchen. Und wir sparen Vater Staat ein hübsches Sümmchen für seine Unterkunft. Bitte gib, dass er es versucht. Dass er versucht, uns auszutricksen. Dass er nochmal nach der Waffe greift, irgendetwas.

Beinahe wünschte sich Walkowiak, er habe Herzog nicht ganz so arg verschnürt.

»Das ist der Hartholz-Wald, Herzog. Ehemaliges Truppengelände. Haben Sie sich hier versteckt?«

Herzog schwieg. Macht nichts, dachte Walkowiak, in ein paar Minuten würden sie die Wahrheit ohnehin erfahren. Im Moment gab es Wichtigeres.

»Also, wo ist Lina Bittner?«

Herzog blickte angestrengt zum Fenster hinaus, während die Straße sich in einen matschigen Feldweg verwandelte. Börner fuhr unverdrossen weiter.

»Ist sie hier draußen? Im Wald?«

»Ja«, sagte Herzog leise. »In den Wald, wir müssen in den Wald. Hier!«

So fuhren sie, während Börner Herzogs Anweisungen folgte und Walkowiak die Waffe unverwandt auf den Autor richtete, zunehmend ungeduldiger werdend.

»Wenn Sie uns an der Nase herumführen …«, drohte er.

Herzog ignorierte ihn. Starrte weiter angestrengt hinaus. Nicht wie einer, der einem Weg folgt, den er schon öfter befahren hat. Eher wie einer, der sich gerade eine Story zusammenschustert. Scheiße. Und er, Walkowiak, hatte sich auch noch auf diesen bescheuerten Handel eingelassen. Inoffiziell, natürlich. Aber das bedeutete eben: Keine Hubschrauber. Und keine Verstärkung.

»Wenn hier irgendetwas schiefgeht, sterben Sie als Erster, Herzog«, sagte er und fing sich einen erschrockenen Blick von Börner aus dem Rückspiegel ein.

»Etwas schiefgeht?«, fragte Herzog und es klang, als würde ihn das sogar ein bisschen amüsieren. »Was sollte denn hier wohl schiefgehen, Herr Kommissar?«

Walkowiak ersparte sich eine Antwort und drückte die Waffe fester in Herzogs Seite.

»Hier!«, rief Herzog plötzlich. »Es muss einen Weg geben, der sich gabelt. Ja, da vorn. Dort nach links.«

Inzwischen waren sie tief in den Hartholz-Wald vorgedrungen, ein ehemaliger Truppenübungsplatz und jetzt ein beliebtes Ausflugsziel für Wanderer und Touristen, zumindest im Sommer und zumindest entlang der Hauptwege. Doch es gab jede Menge dichten Wald, in den vermutlich seit Jahren kein Mensch einen Fuß gesetzt hatte. Und genau dorthin führte sie Herzog. Börner gab sich alle Mühe, damit der Passat nicht in einer der unzähligen, schlammigen Pfützen steckenblieb. Vor ein paar Minuten, bemerkte Walkowiak, hatten sie zum letzten Mal die ausgewaschenen Reifenspuren eines Forstfahrzeugs gesehen. Herzog führte sie tiefer in den Wald, abseits der Wege. Dorthin, wo es auch die orientierungslosesten Touristen nur äußerst selten verschlug, wenn überhaupt. Was sollten sie hier?

* * *

Die Schmerzen waren mittlerweile unerträglich. Nein, das stimmte nicht, unerträglich waren sie schon seit einer ganzen Weile, und davor waren sie richtig schlimm gewesen. Und davor

Lina wusste es nicht mehr, wollte es nicht mehr wissen, wollte sich nicht erinnern. Die Zeit spielte längst keine Rolle mehr. Der vergebliche Versuch, die Ereignisse des Lebens in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen. Ihnen eine Bedeutung zu verleihen. Eine Illusion, mehr nicht. Die einzige Zeit, die Lina nun noch kannte, waren die exakt dreihundert Sekunden bis zum nächsten, stärkeren Stromstoß, der durch die Pads in ihren Körper fuhr. Diese Zeit konnte Lina mittlerweile beinahe perfekt abschätzen, zumindest dann, wenn sie zwischendurchzum nächsten Stromstoß nicht in Ohnmacht fiel. Falls das passierte, riss sie die nächste Folter augenblicklich zurück ins Leben. Ihre Brustwarzen, ihr Bauch und die Innenseiten ihrer Oberschenkel fühlten sich an, als habe jemand sie zu Hackfleisch verarbeitet. Ihre Muskeln, die der Strom in rascher Folge bis zum Maximum anspannte und wieder losließ, schienen nur noch aus einer steinhart verkrampften Masse zu bestehen, und oft wurde sie zwischen den Stromattacken von heftigen Zuckungen heimgesucht, die sie vor Schmerzen aufbrüllen ließen. Die schlimmsten Pads befanden sich jedoch an ihren äußeren Schamlippen. Auch das hatte der Irre ihr nicht erspart, um ja bloß im vorgegebenen Rahmen des Romans zu bleiben, den er sich als Vorbild für Linas Folterung erwählt hatte.

Dreihundert Sekunden, fünf Minuten, in denen sie den gnadenlosen Verlockungen des Knopfes ausgesetzt war. Des freundlichen Knopfes, der sich nur wenige Zentimeter neben ihrer rechten Hand befand. Den sie nur zu drücken brauchte. Dann würde es vorbei sein innerhalb weniger Sekunden, wie er ihr versprochen hatte. Der Knopf würde den Verschluss des Tropfs öffnen und eine tödliche Infusion in ihre Vene leiten. Vermutlich ein scharfes Reinigungsmittel oder etwas Ähnliches, denn er hatte von großen Schmerzen gesprochen. Aber wie groß konnten diese Schmerzen schon sein im Vergleich dazu, bei lebendigem Leibe gegrillt zu werden?

Doch die Zeit war gut bemessen. Sie genügte gerade, um sich die Schmerzen als erträglich einreden zu können, um genug Lebenswillen zu schöpfen, es nicht zu tun. Es auszuhalten, eine Hoffnung wieder jeder Vernunft zu schüren, eine Glut zu suchen, wo doch längst nichts als Asche war.

Der nächste Stromstoß ließ Linas Zähne krachend aufeinanderprallen, und ein kleines Stück ihres Schneidezahns brach ab. Die Kraft der Elektrizität hieb auf sie ein wie eine gigantische Faust, sie schüttelte ihren Körper und Lina hörte eine Stimme in ihrem Kopf brüllen. Oder war sie es, die brüllte? Schwer zu sagen, der Strom hieb jeden bewussten Gedanken aus ihrem Kopf, wie ergleichzeitig alle Lebenskraft aus ihrem Körper drosch. Als es schließlich aufhörte, so abrupt wie es begonnen hatte, spürte Lina ihren Körper nicht mehr. Aber sie roch das verbrannte Fleisch. Ihr Fleisch, und den metallischen Gestank des Stroms. Dort, wo die Pads saßen, fühlte sich ihr Körper an, als habe jemand glühende Stangen in sie hineingebohrt und zöge diese nun genüsslich langsam heraus.

Bevor er sie wieder hineinstoßen würde, in etwas weniger als fünf Minuten. Kräftiger als das Mal zuvor, und dann noch kräftiger und dann

Lina tastete nach dem Knopf. Ihre Fingerspitze, beinahe taub von den anhaltenden Schmerzen, die ihren Körper durchzuckten, erreichten das Plastikgehäuse des Knopfes, dann den Knopf selbst. Als sich der nächste Krampf in ihrem zerstörten Oberschenkel ankündigte, rollten die letzten Tränen schmerzhaft über Linas heiße Wangen, rollten in ihren Mund, schmeckten salzig. Vertraut. Vielleicht war ein wenig Vertrautheit nicht das schlechteste, um das hier zu beenden.

Lina drückte den Knopf.

* * *

Nichts passierte.

Sie drückte nochmals darauf, kräftiger nun. Nichts. Drückte, und drückte, aber nichts geschah. Hastig blinzelte sie die Tränen fort. Gleich würde der nächste Stromstoß kommen. Ihre Augen suchten den Tropf in der absoluten Dunkelheit. Sie streckte ihren Hals, bis es knackste, und dann sah sie es. Das kleine Licht, und direkt daneben das Rad, das von dem kleinen Plastikkästchen aus gesteuert wurde. Im Schein der kleinen LED sah sie sogar das Rädchen, von dem die Drähte abgingen. Drähte wie die, die mit den Pads auf ihrem Körper verbunden waren.

Verzweifelt drückte sie auf den kleinen Plastikknopf, und immer, wenn sie das tat, blinzelte ihr das Lämpchen verschwörerisch zu. Hey, alles klar, Kumpel?

Nein, nichts war klar.

Sie drückte noch einmal.

Das Rad bewegte sich, sie sah es ganz deutlich. Hörte, wie es den Verschluss des Tropfes öffnete, sah, wie die Flüssigkeit hindurch lief.

Dann hörte sie es.

Nur ganz leise, kaum wahrnehmbar. Flüssigkeit, die auf den Boden tropfte.

Immer dann, wenn sie den Knopf drückte.

Lina begriff die eigentliche Perfidität, den wahren Plan des Monsters. Der Knopf, den sie in ihrer rechten Hand hielt, war eine Attrappe, denn der Schlauch aus dem Tropf war überhaupt nicht mit der Kanüle verbunden, die der Mann in ihren Unterarm gerammt hatte. Der freundliche Knopf würde kein Gift in ihre Venen leiten, so oft sie ihn auch drückte. Nichts würde ihr Leiden vorzeitig beenden können, sie würde hierbleiben bis zum Schluss. Bis das letzte bisschen Menschlichkeit aus ihr gewichen war.

Und dann, pünktlich auf die Millisekunde, kam der nächste Stromstoß, heftiger als alle zuvor. Aber Lina brüllte nicht mehr, als sie diesmal die Kontrolle über ihren Körper verlor.

Sie hatte keine Kraft mehr dazu.

* * *

»Was soll das werden, Herzog?«, brummte Walkowiak sichtlich ungehalten. »Da hinten meinten Sie nach links und jetzt fahren wir ich weiß nicht, im Kreis?«

»Still«, sagte Herzog, »Ich muss mich konzentrieren.«

»Scheiß drauf, was Sie glauben, tun oder lassen zu müssen. Ich lasse mich nicht verarschen. Und wenn Sie glauben …«

»Wollen Sie Lina nun finden oder nicht?«, zischte Herzog und starrte weiter mit zusammengekniffenen Augen durch das Wagenfenster in den Wald.

Walkowiak schwieg.

»Da, dort ist es. Halten Sie an, das muss es sein.«

Der Fahrer trat auf die Bremse und Herzog rutschte auf dem Sitz nach vorn, da er sich nirgends festhalten konnte. Sein Knopf knallte gegen die B-Säule des Wagens, was Walkowiak mit einiger Befriedigung zur Kenntnis nahm, genauso wie den giftigen Blick, den er sich dafür von Herzog einfing. Walkowiak wartete, bis der Fahrer ausgestiegen war und seinerseits die Waffe auf Herzog richtete, während er ihm beim Aussteigen behilflich war. Dann kletterte er selbst aus dem Wagen hinaus in die schlammbraune Trostlosigkeit, in die sich der Wald verwandelt hatte.

* * *

Es war eine kleine Chance, nur der Anflug einer Chance, dessen war er sich durchaus bewusst, aber es war seine einzige. Insofern war es keine Wahl, sie zu ergreifen, sondern schlichte Notwendigkeit. Steinlein selbst hatte ihm den entscheidenden Hinweis gegeben. Steinlein und Linas Hypnosesession, natürlich. Eine der Erinnerungen hatte nicht gepasst. Nicht zu seiner Fahrt zu Sabine, wo ihn Steinlein betäubt hatte, nachdem er ihn gerade genug vom Tatort hatte sehen lassen, damit er an seine eigene Schuld glauben konnte. Die Gegend passte auch nicht zu dem Unfall und Herzogs Wiedereintritt ins Leben, nachdem Steinlein ihn für drei Tage mit Hilfe des künstlichen Komas von der Bildfläche hatte verschwinden lassen - inklusive seiner eigenen Bildfläche, sozusagen. Denn da war alles voller Schnee gewesen, eine weiße Pracht, durch die er sich auf das Dorf zugekämpft hatte, Schritt für Schritt, bis er dort auf dem Bürgersteig zusammengebrochen war, woraufhin einer der gutherzigen (oder ängstlichen) Menschen der Nachbarschaft den Krankenwagen geholt hatte.

Doch diese eine Erinnerung war anders gewesen. Sie war von einem schmutzigen Braungrün. Ein Wald, das hatte Herzog sofort verstanden, und er hatte ihn durch halb geschlossene Augen vorbeifliegen sehen, durch die Windschutzscheibe eines Wagens hindurch, Steinleins Wagen, um präzise zu sein. Die tiefhängenden Zweige der entlaubten Bäume, die sich unter der Last des Schnees durchbogen, dazwischen Nadelbäume, ebenfalls von Schnee bedeckt, der es aufgrund des dichten Baumbestandes nur als weiße Inseln bis auf den Boden schaffte. Dazwischen matschige Wege, die schwarze Furchen durch den Lehm gruben. Die Gegend war ihm sofort bekannt vorgekommen, aber er war einfach nicht draufgekommen, wieso. Bis er diesen Pfad in Gedanken weitergegangen war und sie gesehen hatte: Die ausgebrannte Ruine eines alten Hauses, das in Herzogs Kindheit eine beliebte Wandergaststätte gewesen war. Damals, als Herzog viel Zeit in diesen Wäldern verbracht hatte. Meist hatten sie nicht hier gespielt, sondern etwas weiter nördlich, fernab der beliebteren Wanderwege. Dort, wo der alte Armeestützpunkt gestanden hatte, von dem schon in Herzogs Kindheit kaum mehr als ein paar verrostete Reste eines Maschendrahtzauns übrig gewesen waren, der einst das gesamte Areal abgesperrt hatte. Sie hatten nach Patronenhülsen gesucht und gehofft, scharfe Munition und vielleicht sogar ein paar Handgranaten zu finden. Was natürlich ausgemachter Quatsch war (außer einer rostigen Hülse hatten sie überhaupt keine Schätze bergen können), aber es hatte trotzdem ein ordentliches Theater gegeben, als Herzogs Mutter von den Ausflügen ihres Sohnes in das ehemalige Sperrgebiet erfahren hatte.

Genau dorthin war er in Steinleins Wagen unterwegs gewesen, während der ihn in Narkose glaubte.



Von dem Bunker hatte Herzog seiner Mutter nie erzählt. Der Bunker war sein ganz persönliches Geheimnis, von dem noch nicht mal seine Freunde erfahren hatten. Niemand hatte davon gewusst, außer Herzog selbst, und er hatte das Geheimnis irgendwann vergessen. Wie man die Geheimnisse der Kindertage eben irgendwann vergaß, die guten, die schlechten und die bösen (die man nie wirklich vergaß, man glaubte es nur ein Erwachsenenleben lang). All das war verschüttet gewesen, tot und begraben ganz tief in Herzogs Erinnerung. Zumindest so lange, bis Steinleins Schilderungen die Erkenntnis über ihn gebracht hatten wie eine religiöse Erleuchtung. Das Ironische an der Sache war, dass Herzog bis zu diesem Moment fest daran geglaubt hatte, den Wagen durch den Wald gesteuert zu haben, er selbst oder sein böses Alter Ego, sein Mister Hyde. Dass sein wirkliches Bewusstsein zufällig einen Blick erhascht hatte auf das, was dieser Mister Hyde da trieb, und dass dieses Monster, dieser andere Herzog, unterwegs war zu einem Ort, den er aus Kindertagen kannte. War es denn nicht logisch, wenn Herzog versuchte, an die Stätten seiner Kindheit zu gelangen? Dort, wo er sich unbeobachtet glaubte, in Sicherheit unentdeckt von fremden Augen? War es demnach nicht auch logisch, dass er Lina ebenfalls an diesen Ort gebracht haben musste, nachdem er sie in der Berghütte als potenzielle Gefahr eingestuft und gefesselt hatte?

Ja, all das hatte geradezu verlockend logisch und folgerichtig geklungen.

Also hatten sie es geglaubt: Walkowiak und sein Team, Lina und zum Schluss auch Herzog selbst.

Als er das begriffen hatte, war ihm klar geworden: Linas einzige Chance bestand darin, dass er sich der Polizei stellte und sie an diesen Ort führte. Denn wer konnte sagen, was passierte, wenn sein Alter Ego zwischenzeitlich wieder die Oberhand gewann und Lina etwas antat, bevor er seine Flucht fortsetzte, getrieben von einem unstillbaren Killerinstinkt? Er hatte Steinlein alles geglaubt.

Bis ihn der Psychologe in Tommys Zimmer mit einer Waffe bedroht hatte in dem Vorhaben, ihn »in Notwehr«zu erschießen, weil er sich weigerte, Teil seines irren Plans zu werden. Nachwuchs, Kinder, ein Thronerbe, darum war es Steinlein gegangen. Kinder, immer wieder Kinder zahllose Variationen über das gleiche, egomanische Thema. Selbsterhaltung, zum Selbstkult getrieben. Eine tote Farce der Unsterblichkeit.



In winzigen Tippelschritten bewegte Herzog sich auf das verfallene Gebäude zu. Das Dach, das in den goldenen Zeiten seiner Kindheit noch existiert hatte, war inzwischen eingefallen, das Gebäude war eine Ruine. Aber immerhin stand es noch, und das war das Entscheidende. Obwohl die Fußfesseln seine Bewegungsfreiheit empfindlich einschränkten, rannte Herzog nun beinahe. Walkowiak und der andere Polizist hielten mühelos mit ihm Schritt, die Waffen im Anschlag, Walkowiaks Pistole war unverwandt auf Herzogs Kopf gerichtet.

»Sie verarschen uns doch, Herzog!«, brummte der Kommissar. »Was soll hier sein, außer einer blöden Ruine?«

»Es ist nicht das Haus«, antwortete Herzog, »Sondern ein Bunker. Ein paar Meter weiter. Ich muss versuchen, mich zu erinnern.«

»Was soll der Quatsch, Mann?«, fuhr ihn Walkowiak an. »Sie haben Lina Bittner hierher gebracht, und jetzt können Sie sich plötzlich nicht mehr erinnern? Wenn Sie versuchen, auf Zeit zu spielen, dann ist das eine ganz und gar beschissene Idee. Meine Geduld ist am Ende, ich … «

»Ich bin krank«, antwortete Herzog, »Haben Sie Steinlein denn nicht zugehört?«

Der Kommissar musterte ihn argwöhnisch, ließ sich aber zu keinem weiteren Kommentar herab. Der andere Polizist war inzwischen vorsichtig weitergegangen.

»Hier!«, rief er plötzlich, »hier drüben. Da ist eine Metallplatte oder so was. Bin über den verfluchten Hebel gestolpert. Ich werde sie mal aufmachen.«

»Weg da!«, rief Walkowiak. »An dieser Klappe fummelt mir keiner herum außer unserem Verdächtigen. Wer weiß, was uns aus dem Loch entgegenspringt! Wenn der hier eine Sprengladung angebracht hat oder so was! Weg da!«

Der Polizist beeilte sich, von der Klappe wegzukommen und Walkowiak schob Herzog auf den Bunker zu, trat dann selbst ein paar Schritte zurück, die Waffe auf Herzog gerichtet.

Der bückte sich und zog an dem Hebel, der den Eingang zum Bunker öffnete.

* * *

»Was soll das heißen, Sie haben keinen Schlüssel?«, fragte Walkowiak und deutete auf die durch beide Ösen gezogene schwere Eisenkette, die früher einmal Teil des Verriegelungsmechanismus des Bunkers gewesen war. Herzogs kräftiger Ruck hatte nicht weit geführt, bevor er auf Widerstand gestoßen war und kurz darauf die mit einem schweren Vorhängeschloss gesicherte Kette entdeckt hatte. Zu dem Schloss besaß Herzog selbstverständlich keinen Schlüssel, denn der steckte ja in Steinleins rechter Jackentasche. Ein Vorratsbunker oder vielleicht ein Lager für Munition, überlegte Herzog. Jedenfalls kein Bunker im eigentlichen Sinne. Nichts, das je für Menschen gedacht gewesen war. Bis vor kurzem zumindest.

»Ich habe den Schlüssel nicht, verdammt nochmal. Vielleicht habe ich ihn in einem Anfall von Wahnsinn verschluckt oder in den Wald geworfen? Was weiß ich! Welche Rolle spielt das denn jetzt? Wir müssen da rein, und zwar schnell! Jetzt schießen Sie schon endlich diese beschissene Kette auf, Walkowiak!«

»Ist es das, was Sie wollen, ja? Dass ich auf diese Kette schieße? Welche Falle wird dann ausgelöst, hm?« Walkowiak stieß Herzog an, kräftiger als er es beabsichtigt hatte, vermutlich. Herzog stolperte über seine Fußfessel und fiel auf den matschigen Waldboden, wo er liegenblieb.

»Gehts Ihnen jetzt besser? Oder wollen Sie mir vielleicht noch ein bisschen die Scheiße aus dem Leib prügeln, Walkowiak? Gott, Sie sind solch ein wandelndes Klischee, wissen Sie das?«

»Ist mir scheißegal, ob Sie mich für ein wandelndes Sonstwas halten, sie beschissener Irrer!«, tobte Walkowiak und machte einen Schritt auf den am Boden liegenden Herzog zu. »Ich werde Ihnen zeigen, wer hier …«

Ein Knall zerriss die Luft, und Walkowiaks Kopf fuhr beinahe zeitgleich mit dem von Herzog herum. Der Polizist, der am Eingang zum Bunker gestanden hatte, warf Walkowiak einen missmutigen Blick zu. Er entfernte dann kopfschüttelnd die Kette und warf sie hinter sich.

Walkowiak klappte den Mund ein paar Mal auf und zu, als wolle er etwas sagen, ließ es aber dann bleiben. Herzog nickte dem Polizisten lächelnd zu. Der lächelte für den Bruchteil einer Sekunde zurück, trotz allem. Dann griff er nach dem Rand der eisernen Luke und öffnete sie. Es sprang ihm nichts aus dem Loch entgegen. Keine automatische Selbstschussanlage durchsiebte ihn mit Kugeln, und es flog auch nicht der gesamte Bunker in die Luft. Trotzdem taumelte der Polizist wie getroffen ein paar Schritte zurück, bevor er sich schließlich fing und wieder auf die Luke zubewegte, während Walkowiak seinen Gefangenen auf die Beine zerrte und zum Eingang des Bunkers schleifte.

Der Polizist kletterte bereits die Leiter hinab, in die Dunkelheit. In das Grauen.

* * *

Durch das Licht, das durch die Luke fiel, war beinahe das gesamte Innere der unterirdischen Kammer einzusehen. Die Grundfläche des Raumes maß etwa drei mal drei Meter und die Inneneinrichtung war bestenfalls spartanisch, sah man von einer Metallpritsche ab, die offenbar aus Edelstahl bestand und eher in einen Obduktionsraum gehört hätte als hierher. An der gegenüberliegenden Wand stand ein billiges Metallregal, mit mehreren Reihen Autobatterien vollgestellt, die mit Kabeln verbunden waren. Neben dem Metalltisch befand sich ein Tropf an einem Galgenständer, von dem ein durchsichtiger Schlauch abging und ins Nichts führte. Aber all das nahmen die drei Männer erst viel später wahr.

Momentan wurde ihre gesamte Aufmerksamkeit von dem Mädchen beansprucht, das auf der Edelstahlplatte festgeschnallt war. Herzog erkannte sofort die zahlreichen Tätowierungen, die den entblößten Körper bedeckten. Am Gesicht hätte er sie nicht erkannt, denn das war zur Seite gedreht. Verfilzte Strähnen ihres schweißnassen Haares hingen ihr in die Stirn und machten die Identifikation unmöglich. Dennoch wussten alle, die sie sahen, dass sie das vor sich hatten, was von Lina Bittner noch übrig war.

Das Mädchen flüsterte irgendetwas.

»Still!«, rief Walkowiak, obwohl keiner der Männer auch nur einen Mucks von sich gab. Nein, dachte Herzog. Sie flüstert nicht. Sie hat nur keine Stimme mehr. Hat sie sich aus dem Leib gebrüllt. Und dann begriff er auch, wieso. Noch bevor er die gewisperten Worte des Mädchens verstehen konnte, entdeckte er die schwarzen Linien, die unmöglich zu ihren Tattoos gehören konnten. Es waren Drähte und sie endeten in durchsichtigen Klebepads, die man auf der Haut des Mädchens angebracht hatte. Drähte, die zu den Autobatterien führten.

»Strom!«, rief er laut. »Kappen Sie den Strom!«

Der jüngere Polizist begriff als Erster, was er meinte. Mit einem todesmutigen Sprung setzte er den Rest der Leiter hinab zu Lina. Als die dicken Gummisohlen seiner Stiefel auf dem Betonboden aufkamen, hatte er bereits ein Kampfmesser gezogen. Mit einem Hieb durchtrennte die schwere Klinge die Kabel dort, wo die einzelnen Stränge zusammenliefen. Die angeschlossene Zeitschaltuhr gab ein lautes Knistern von sich und der Gestank verschmorten Plastiks erfüllte die Luft, während der elektrische Impuls auf die Batterien übersprang.

Der Polizist setzte sein Kampfmesser erneut an den Lederfesseln an, mit denen Linas kraftloser Körper auf die Trage gebunden war, und hob sie wenige Sekunden später mühelos vom Metalltisch. Er warf sich das Mädchen wie eine Teppichrolle über die Schulter und kletterte die Stufen zum Ausgang hinauf.

Lina öffnete die Augen, und als sie Herzog erblickte, streckte sie ihre zitternden Arme in seine Richtung. Ihre Lippen formten stumm seinen Namen. Herzog riss sich von dem verdutzten Walkowiak los und drängte sein Gesicht an Linas, die es mit kraftlosen, kleinen Küssen und jeder Menge Tränen bedeckte. Herzogs Finger berührten sanft ihre brüchigen Lippen, dann brach das Mädchen endgültig zusammen.

»Eine Decke, verdammt!«, rief Herzog. »Packen Sie sie in eine Decke und fahren Sie sie in ein Krankenhaus! Schnell!«