6
BUDAPEST, UNGARN
Die Stadt war fremd, als wäre Hanna mehrere Jahre fort gewesen, statt nur einige Monate. Über allem lag Fremdheit wie ein düsterer Nebel. Es musste an ihren eigenen trostlosen Gedanken liegen, dass ihr selbst der zweite Bezirk grau und verloren vorkam, als watete sie durch Dunkelheit. Man konnte nicht einmal erkennen, ob die Sträucher in den Gärten grün waren, und wie hätten die Bäume Schatten spenden können, wenn die Sonne nicht schien?
Auch die hell gestrichene Villa der Familie Szigethy hatte ihre Strahlkraft eingebüßt und wirkte um Jahrzehnte älter. Durch den Garten huschte ein dunkler Schatten, sie glaubte beinahe, sie hätte einen Wolf gesehen. Schlichen jetzt auch hier die Wölfe durch die Straßen wie in Magyria? Gab es denn nirgends mehr eine Zuflucht? Hanna schüttelte sich. Morbide Gedanken waren im Moment nicht gerade hilfreich. Entschlossen streckte sie die Hand aus und klingelte am Tor. Für die Kamera brachte sie ein mühsames Zähnefletschen zustande. Mit einem sanften Schnurren schwang das Gitter auf.
Réka wartete an der Haustür. Trotz ihrer sechzehn Jahre sah sie keinen Tag älter aus als zwölf. Der schwarze Spitzenkragen um ihren Hals verlieh ihr etwas Puppenhaftes.
»Wo ist Mattim?«, fragte Hanna. »Verdammt noch mal, wieso bist du einfach mit ihm verschwunden, ohne mich mitzunehmen?«
»Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte Réka. Sie klang müde, wie nach einem langen, anstrengenden Tag. »An deiner Stelle würde ich so weit wie möglich von hier weggehen. Kehr zu deiner Familie zurück, zu deinen Eltern. Sei froh, dass du überhaupt welche hast.«
»Lass mich rein.« Hanna drängte sich an ihr vorbei in den Flur, als könnte Mattim ganz entspannt im Wohnzimmer sitzen und den Kopf darüber schütteln, dass sie sich Sorgen gemacht hatte.
Natürlich war er nicht dort. Dafür fielen Hanna sofort die Veränderungen auf. Die Stille. Das fehlende übliche Sammelsurium an Schuhen unter dem großen Spiegel. An der Garderobe hingen nicht so viele Jacken wie sonst.
»Wo sind sie denn alle?«
»Weg.«
»Wie, weg?«
»Meine Eltern haben sich getrennt, und meine dämliche Mutter ist auf und davon. Mit meinem Bruder.«
Davon hatte Réka bislang kein Wort erzählt. Es war, als hätte sich die ganze Stadt verändert, als wären alle Fixpunkte ins Wanken geraten. Aber Hannas Mitleid hielt sich in Grenzen, denn das war abzusehen gewesen.
»Setz dich erst mal.« Réka wandte das Gesicht ab, vermied jeden Blickkontakt. Sie schien Kraft zu sammeln, um eine schlechte Nachricht zu überbringen. »Sie ist von einem Tag auf den anderen abgehauen. Das tut man doch nicht als Mutter, oder? Sie hat Attila mitgenommen. Mein Vater war so was von wütend, aber er hat seinen Anwalt eingeschaltet. Er bekommt ihn zurück, du wirst sehen. Sie kann nicht einfach verschwinden und entscheiden, dass er bei ihr bleibt. Ich meine, das muss doch das Gericht klären, oder?«
Réka hatte eine Weile Hannas Gefühle geteilt, ihre Sehnsucht nach Mattim, ihre Ängste und ihre Liebe. Hanna hatte ihrer Gastschwester einen Teil ihrer Seele geschenkt, denn das war der einzige Weg gewesen, sie aus ihrem Dasein als Schatten zurückzuholen. Es hatte nicht geklappt. Réka war zwar wieder ein normaler Mensch geworden, hatte jedoch nicht damit leben wollen, einen Teil von Hannas Seele zu besitzen. Sie hatte es daher rückgängig gemacht, obwohl sie damit erneut zum Vampir geworden war. Seitdem waren sie auf eine Weise verbunden, die keine von ihnen recht definieren konnte, und wenn Hanna litt, musste Réka mitleiden.
»Wo ist Mattim? Es ist auch in deinem Interesse, dass ich ihn finde.«
Réka schüttelte den Kopf. Sie schien völlig durcheinander, ein ganz anderer Mensch als noch vor wenigen Stunden, kurz bevor sie zu Kununs Krönung unterwegs gewesen waren. Das Drama in ihrer Familie konnte nicht erst heute Nachmittag geschehen sein, trotzdem ging es irgendwie auch darum, das konnte Hanna fühlen.
Sie zwang sich zur Geduld. »Du lebst hier.« Vorsichtig schickte sie die Worte voraus, tastend. »Im Tageslicht?«
»Ja«, sagte Réka trotzig. »Soweit man überhaupt noch von Tageslicht sprechen kann. Im Moment können wir einigermaßen ohne Blut leben, wenn wir aufpassen, wo wir hingehen. Wir trinken es bloß zum Vergnügen.« Sie leckte sich provozierend über die Lippen.
Am liebsten hätte Hanna sich die Frage verkniffen, aber sie musste es wissen. »Sind sie deshalb gegangen, Mónika und Attila?«
Empört sprang Réka auf. »Du glaubst, ich hab ihn gebissen? Meinen kleinen Bruder? Was denkst du von mir? Sie sind nicht vor mir geflohen, klar? Das hat überhaupt nichts mit mir zu tun! Ich bin doch nicht schuld, wenn meine Eltern sich streiten, oder? Bin ich das? Meine Mutter hat zu viel getrunken, mein Vater hat sie betrogen. Vielleicht auch umgekehrt. Oder beides. Habe ich sie dazu gezwungen, oder was? Du bist so was von unfair, Hanna. Und du? Wo warst du die ganze Zeit? Als du dich mit deinem Freund verkrochen hast, da war es dir doch total egal, was mit uns ist! Hast du dich auch nur ein einziges Mal gemeldet oder wenigstens angerufen? Nichts, gar nichts. Wie kommst du dazu, ausgerechnet mir Vorwürfe zu machen?«
Hanna musterte Réka nachdenklich. Das Mädchen hatte sich verändert. Warum hatten sie es nicht schon gestern gemerkt, als Réka angeboten hatte, Mattim durch die Pforte zu bringen? Die wenigen Wochen hatten gereicht, um aus ihr eine Fremde zu machen.
»Für dich ist immer alles so einfach«, knurrte Réka. »Du weißt ja gar nicht, wie es ist, kein Mensch mehr zu sein. Alle halten mich für einen normalen Teenager, aber ich bin mehr. So viel mehr.« In ihren Augen glomm etwas auf. »Du hasst die Schatten. Du verurteilst uns, dabei hast du nicht die geringste Ahnung.«
»Ich hasse sie nicht. Das müsstest du wenigstens wissen.«
Die Augen des Schattenmädchens verengten sich. »Du meinst Mattim? Mach dir doch nichts vor. Du hast gehasst, was er ist. Ich habe deine Gefühle gespürt, vergiss das nicht. Du wolltest ihn zwar, aber was er war … das hast du in Kauf genommen. Wie eine Krankheit, eine unheilbare Krankheit, für die du ein Heilmittel gesucht hast. Weil du immer alles heilen willst. Verrätst du mir, warum du dein Medizinstudium abgebrochen hast? Nur zu gern würdest du aus uns allen das herausoperieren, was dich stört.«
Hanna war blass geworden. »Das ist nicht wahr. Und jetzt sag mir endlich, wo Mattim ist!«
»Du hast nie begriffen, was die Schatten sind«, stieß Réka hervor. »Ich habe mich verwandelt. In etwas Wunderbares, Einzigartiges, und du sitzt hier und bedauerst mich, du schaust mich an wie jemanden, der gestorben ist. Am liebsten würdest du mir die Hand schütteln und mir dein Beileid aussprechen.«
»Aber …«
»Willst du wissen, wie es ist? Na, was ist? Willst du? Du brauchst es nur zu sagen. Hier sitzt du an der Quelle, du kannst alles erfahren, was du wissen möchtest. Glaub mir, Mattim hat dir bestimmt nicht alles verraten. Er wollte dich schonen. Wie mir diese ganzen Gutmenschen auf die Nerven gehen! Willst du die Wahrheit hören?«
»Was muss ich denn deiner Meinung nach wissen, bevor du mir erzählen kannst, wo Mattim ist und was du getan hast?«
»Es ist kalt«, flüsterte Réka. »So kalt, dass du glaubst, du würdest erfrieren. Und still. Das Blut rauscht nicht mehr in deinen Ohren. Stille herrscht in deiner Brust. Nichts als Stille. Als wärst du unten im Fluss und das ganze kalte Wasser fließt über dich hinweg. Genau so ist es, Hanna. Wie ertrinken. Du schnappst nach Luft, doch du kannst nicht atmen. Irgendwann hörst du einfach auf damit. Dann weißt du, dass du wirklich ertrunken bist. Dass du tot bist. Es ist total lustig, weil sonst niemand merkt, wie tot du bist.« Sie kicherte leise. »Unerkannt schleichen wir durch eure Straßen und durch eure Träume, und niemand weiß es. Wir sind alle verloren, und die Menschen sind es auch, aber wir alle tun so, als wäre nichts. Wir leben eine einzige große Lüge, wir alle.«
»Das ist … traurig«, sagte Hanna leise.
Réka seufzte. »Ja, das ist es. Und das Schlimmste ist, dass die Schatten sich von mir fernhalten.« Etwas Dunkles zog über ihr Gesicht. »Das ist unerträglich«, flüsterte sie. »Niemand spricht mit mir. Keiner! Nicht einmal er. Obwohl er es versprochen hat! Sie schicken mich wieder weg wie ein lästiges Kind.« Réka hob stolz das Kinn, ihre Augen funkelten wütend. »Als wäre ich eine Aussätzige! Als würde ich ihn nicht mehr lieben, nur weil er … weil er nicht mehr so aussieht wie früher. Dabei ist mir das so was von egal.« Ihr Zorn war schlagartig verraucht. »Komm«, sagte sie unvermittelt. »Was stehen wir hier noch rum? Willst du etwas trinken?«
Sie zog Hanna in den Wintergarten. Hinter der Glasscheibe stand der Wolf und spähte mit runden Augen hinein. Vorhin hatte sie ihn nicht erkannt, doch obwohl sein Fell in dem fahlen Licht grau wirkte, war kein Zweifel möglich.
»Wilder?«, fragte Hanna überrascht. »Er ist hier? Warum lässt du ihn nicht rein?«
»Setz dich«, befahl Réka. »Und der Wolf bleibt draußen. Ich will nicht, dass er hört, wovon wir sprechen. Sie haben Mattim, und ich konnte nichts dagegen tun. Es war Mattims Idee, dass ich ihn erst einmal allein zu ihnen bringe, um die Lage zu überprüfen. Er hat es dir nicht erzählen wollen, weil du nicht damit einverstanden gewesen wärst.«
»Réka, bleib bei der Wahrheit. Mattim wollte mich mitnehmen, er hätte es mir gesagt, wenn nicht. Du hast meine Hand im letzten Moment losgelassen. Das riecht für mich nach Verrat.«
»Du traust mir also nicht?« Rékas Stimme zitterte, ihre Augen so groß und dunkel und flehend.
Vielleicht hätte Hanna Mitleid gehabt, wenn es nicht um Mattim gegangen wäre. »Du hast ihn verraten. Du hast uns beide verraten. Spar dir die Mühe, von wegen, du musst Rücksicht auf meine Gefühle nehmen. Du wolltest bloß, dass Kunun dich wieder beachtet.«
Réka wandte das Gesicht ab.
»Und?«
»So einfach ist es nicht«, flüsterte das Mädchen. »Ich habe gegen die Regeln verstoßen, gegen das Gesetz des Königs. Das musste er bestrafen, ganz egal, was er für mich empfindet, sonst würde ihn niemand mehr ernst nehmen. Er musste mich bestrafen oder es mich wiedergutmachen lassen.«
»Du lebst nach Kununs Regeln?«
Réka hob den Blick. »Die ganze Stadt lebt nach seinen Gesetzen. Du warst nicht da, du hast ja keine Ahnung. Die Dinge haben sich geändert. Es war eine Chance für mich, die ich nicht ausschlagen konnte. Warum wart ihr bloß so dämlich herzukommen? Wenn ihr nicht gekommen wärt, hätte ich ihm Mattim auch nicht bringen können.«
Hanna hatte die Fäuste geballt. Als sie es merkte, öffnete sie die Hände, doch es war so anstrengend, dass sie es kaum fertigbrachte. Noch nie hatte sie dermaßen das Bedürfnis verspürt, jemanden zu schlagen.
»Dann gehe ich jetzt«, sagte sie, ihre Stimme war von Zorn und Abscheu durchdrungen, aber eigentlich war sie nur verzweifelt.
Sie hatte keine Ahnung, wie sie nach Magyria gelangen sollte. Es war ihr früher einmal gelungen, ohne einen Schatten durch eine Pforte zu gehen. Sie hatte sich den Weg in die andere Welt erzwungen, durch ihre Verbindung zu Mattim. Dasselbe hatte Hanna versucht, bevor sie zu Réka gegangen war, aber vergeblich. In ihr wohnte die dumpfe Angst, dass es einen ganz bestimmten Grund gab, warum es diesmal nicht funktionierte. Er ist tot. Ich komme nicht hinüber, weil er tot ist …
Mit einem panischen Schrei sprang Réka auf. »Nein! Nein, geh nicht. Bitte sei nicht böse auf mich! Ich helfe dir. Wir gehen zusammen nach Magyria und finden ihn.«
»Damit würdest du schon wieder gegen Kununs Regeln verstoßen, oder etwa nicht?«
Réka strich sich das Haar aus der Stirn und zupfte nervös an einer Strähne. »Heute ist das große Fest, wegen der Krönung. Ich habe eine Einladung bekommen, weil ich gehorcht habe. Kunun wird vielleicht sogar mit mir tanzen. Ich nehme dich mit, du gehst auf die Suche und siehst dich um. Er wird gar nicht von dir erfahren. Du hast mir ein Stück deiner Seele gegeben, Hanna. Ein Teil von mir wird immer wie du sein, ob ich das nun will oder nicht. Deine Gefühle … Manchmal überlagern sie beinahe meine eigenen. Ich muss dafür sorgen, dass es dir gut geht, damit ich selbst glücklich sein kann. Sonst würde ich deine ganze Trauer abbekommen, und darauf kann ich echt verzichten. Dein Glück war das einzige Glück, das ich hatte in den vergangenen Monaten.«
Réka stand auf und spähte durch die Fensterscheiben. »Mein Vater kommt heim. Das ist nicht selbstverständlich, viele Leute gehen weg und werden nie wieder gesehen. Du bist ein halbes Jahr nicht in dieser Stadt gewesen. Du hast ja keine Ahnung … Budapest ist nicht mehr, was es früher war. Die Schatten sind überall. Sie sind gierig. Sie bedienen sich ziemlich unverschämt. Wenn man darauf achtet, kann man nachts Dinge bemerken, die«, sie senkte die Stimme, »seltsam sind. Die Menschen gehen mit Schatten mit, ohne zu merken, dass es Schatten sind. Sie schreiten durch Pforten, ohne zu wissen, dass sie diese Welt verlassen.«
»Was?«, fragte Hanna entsetzt.
»Auf Kununs Partys tummeln sich immer auch Menschen, Hanna«, sagte Réka ungewöhnlich ernst. »Viele Menschen. Da werden die Schatten dich nicht sofort bemerken, wenn wir dein Aussehen etwas verändern. Dort können wir versuchen, etwas über Mattim rauszubekommen.«
»Du willst auf eine Party gehen?« Ferenc Szigethy stand in der Wohnzimmertür und funkelte seine Tochter ungehalten an. »Ohne mich zu fragen?«
Réka schmolz zu einem kleinen Mädchen zusammen. »Aber Papa, ich will doch bloß mit Hanna …«
»Und Sie, was tun Sie hier? Sind Sie nicht längst wieder in Deutschland?«
Ihr ehemaliger Au-pair-Vater war nicht gut auf sie zu sprechen, das wusste Hanna. Er gab ihr die Schuld an Rékas Nervenzusammenbruch im letzten Jahr, womit er nicht ganz unrecht hatte.
»Ihr geht auf keine Party«, bestimmte Ferenc. »Du musst für die Schule lernen.«
Mit einem Satz war Réka bei ihm. Hanna sah nur, wie sie seine Hand packte, und hörte, wie er einen kurzen Schrei ausstieß. Als seine Tochter ihn wieder losließ, blinzelte er verwirrt.
»Oh, ich … mir geht es nicht so gut.« Er ließ sich schwer in einen Sessel fallen.
»Hallo, Papa«, sagte Réka, als wäre er eben erst eingetroffen. »Schau mal, wer zu Besuch gekommen ist.«
Oben in Rékas Zimmer stemmte Hanna die Hände in die Hüften. »Réka, du kannst doch nicht …«
Ein harter Ausdruck trat in die Augen der Sechzehnjährigen. »Und ob ich kann«, sagte sie. »Ich bin kein normaler Teenager, ich lasse mir nichts befehlen. Ich bin ein Schatten.«
Wie kann ein Biss mein Herz verändern?, hatte Mattim immer gefragt. Wie soll das gehen, wenn ich es nicht will?
Réka hatte sich definitiv verändert – oder war sie etwa schon immer so gewesen? Alle Freundlichkeit wich aus ihrem Gesicht, als sie über Hannas Entsetzen spottete.
»Tu doch nicht so. Irgendetwas Gutes muss diese Verwandlung schließlich haben. Außerdem beiße ich ihn echt nicht oft. Nur wenn wir uns gestritten haben und so.«
»Du beißt deinen Vater jedes Mal, wenn ihr euch streitet?«
»Willst du Mattim jetzt suchen oder nicht?« Sie breitete
mehrere Kleider auf dem Bett aus. »Nun sag schon. Eins davon wird dir ja wohl gefallen.«
»Wo hast du die her?«, fragte Hanna misstrauisch. Sie konnte sich zwar vorstellen, dass Ferenc relativ großzügig war, damit Réka nicht zu ihrer Mutter zog, aber so spendabel nun auch wieder nicht. Außerdem hätten die Klamotten Réka gar nicht gepasst. »Das ist ja meine Größe. Die stammen gar nicht aus deinem Kleiderschrank, stimmt’s?«
»Frag nicht so viel. Welches Kleid magst du am liebsten? Wetten, du nimmst das dunkelgraue, um nicht aufzufallen?«
Hanna zog ihre Hände, die sich automatisch nach dem schwarzen Stoff ausgestreckt hatten, schnell zurück. »Das cremefarbene ist auch nicht übel.« Sie hielt sich den Stoff vor die Brust und betrachtete sich im Spiegel. Zu ihrem dunklen Haar passte es wunderbar, aber je besser sie aussah, umso mehr würden die Leute sie anstarren, und irgendjemand könnte sie erkennen. Hanna legte das Kleid wieder aufs Bett und griff nach dem dunklen. »Du hast die Sachen hoffentlich nicht geklaut?«
»Ich hab ein paar Mal auf eigene Faust versucht rüberzugehen, deshalb bin ich ganz gut ausgerüstet.« Das Mädchen schüttete eine zweite Tüte über dem Bett aus. »Schuhe.« Dann eine dritte. »Perücken. Wir können es uns nicht leisten, dass du erkannt wirst, das ist dir sicher klar.«
»Blonde Locken?«, fragte Hanna zweifelnd.
»Jetzt müsste sogar Mattim zweimal hinsehen. Perfekt. Mit dem richtigen Make-up bist du ein neuer Mensch.«
Es dauerte unendlich lange, bis Réka mit ihrem Werk zufrieden war. Am Ende starrte sie eine Fremde aus dem Spiegel an. Löckchen kringelten sich über ihre Stirn, zu denen die tiefdunkel geschminkten Augen einen Kontrast bildeten, der für Hannas Geschmack zu hart war. Aber darauf kam es nicht an. Sie sah nicht mehr aus wie sie selbst. Als sie sich zuwinkte, vollführte die blonde Frau im Glas erstaunlicherweise dieselbe Bewegung.
»Wilder könnte uns helfen«, schlug sie vor. »Wir sollten ihn mitnehmen.«
»Nein!« Das Mädchen rang um Fassung. Bei ihrem nächsten Satz klang ihre Stimme wieder fest und bestimmt. »Nein, Wilder bleibt hier. Er darf nicht mitbekommen, was wir vorhaben, ich will ihn nicht in Schwierigkeiten bringen. Wir machen es wie geplant: Ich lenke Kunun ab, und du schaust im Verlies nach. Dann verschwinden wir wieder.«
Merkte denn nicht jeder, dass dies nicht echt, dass es bloß eine Verkleidung war? Die Passanten in den nächtlichen Straßen hasteten vorüber, ohne Hanna besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es waren viel weniger Leute unterwegs, als sie erwartet hatte. Gut, es war spät, aber in einer Stadt wie Budapest wurden doch nie die Bürgersteige hochgeklappt. So viele stille Straßen. Dunkle Ecken. Wieder beschlich Hanna das ungute Gefühl, dass nicht alles so war, wie es sein sollte. Wo waren all die jungen Leute, die den Weg nach Hause nicht fanden? All die Betrunkenen? Und wenn sie schon dabei war, wohin waren die ganzen Bettler verschwunden?
Die Stadt war viel zu ruhig, viel zu sauber, viel zu … dunkel.
Réka blieb stehen und hielt sie am Arm fest. »Da vorne, das sind Schatten. Die Männer, die Frauen nicht.«
Hanna konnte an der Gruppe, die gerade aus einem Lokal herauskam, nichts Besonderes feststellen. Sie horchte vergebens auf ihr Gefühl, auf eine Warnung, auf irgendetwas, das ihr vertraut vorkam. »Woran erkennst du das?«
»Die Schatten kann ich nicht spüren«, sagte das Mädchen. »Die Menschen schon. Sie sind warm. Das Leuchten des Lebens ist in ihnen. Ich weiß bloß, wer ein Schatten ist, weil denen diese Ausstrahlung fehlt. Sie sind aus Magyria, und wetten, dass jeder von denen eine Einladung des Königs hat? Am besten, wir folgen ihnen. Die Pforte liegt in der Nähe der Burg.«