23
BUDAPEST, UNGARN
Das Licht im Treppenhaus schaltete sich ab, und sofort versank die Tür im Dunkeln. Es war schwer, durch den Schatten zu gehen, das wusste Hanna, zudem hatte sie es schon länger nicht versucht. Außerdem war da dieses dunkle Gefühl in ihrer Brust, als hätte sie heute einen Schritt weiter in die Nacht getan, weiter auf Kunun zu. Sie berührte die Tür und merkte, wie ihre Fingerspitzen durch das lackierte Holz drangen wie durch Wasser. Es war das erste Mal, dass es klappte.
Sie tauchte ganz hinein und fand sich in der Wohnung wieder. Die Leuchtziffern des Radioweckers strahlten rot. Mónika schlief unruhig, sie seufzte im Schlaf. Attila dagegen schlummerte tief und fest, den Kopf ins Kissen gepresst. Hanna beugte sich über ihn und lauschte seinen tiefen Atemzügen. Er war ein gutes Stück gewachsen, fiel ihr auf. Am liebsten hätte sie sich auf die Bettkante gesetzt und ihm eine Geschichte erzählt, so wie früher.
Was tue ich hier eigentlich? Das ist nicht meine Familie. Das ist nicht mein kleiner Bruder. Warum muss ich dann nachsehen, ob mit ihm alles in Ordnung ist, ob er auch schon von einem Ziegelstein getroffen oder einem Baum erschlagen worden ist?
Vielleicht war sie hier, um Abschied zu nehmen, um ein für alle Mal zu erkennen, dass es in ihrem Leben nicht mehr um Menschen ging. Nicht um Mattim, nicht um Attila – um keinen von ihnen. Es ging nicht um Gefühle, nicht um Freundschaft oder das, was sich so leicht mit Liebe verwechseln ließ. Sie gehörte zu Kunun, und wenn er diese Welt in eine Welt der Schatten verwandeln wollte, wer war sie, sich ihm in den Weg zu stellen? Sollten seine Träume nicht auch ihre sein? Sie liebte es, ein Schatten zu sein, warum um alles in der Welt konnte sie sich dann nicht wünschen, dass ihre Freunde verwandelt wurden? Dass Magyria über Budapest hereinbrach mit der Gewalt von Wurzeln und Bäumen, die hier nicht hingehörten, mit dem Geruch von frischem Blut und uraltem Entsetzen?
Sie beugte sich über Attila und küsste ihn auf die Wange. Er roch nach Kaugummi, vielleicht klebte noch irgendein Rest in seinen Haaren. Eine solche Zärtlichkeit überkam sie, dass sie darüber erschrak.
Wenn sie Kunun liebte, durfte sie keinen Menschen lieben. Nur an seiner Seite war das Glück zu finden. Warum konnte sie dann nicht aufhören, dieses Kind zu lieben? Er war nicht mal ihr Bruder. Er war … gar nichts. Als Schatten hätte sie darüberstehen müssen.
»Hanna?«, flüsterte der Junge. »Bist du das?«
Kaum zu glauben, dass diese Stimme einem Kind gehörte, für das Schreien die normale Lautstärke war.
»Ja«, wisperte sie zurück.
»Bleibst du jetzt bei uns?« Er setzte sich auf und schlang beide Arme um sie. Weder fragte er, wie sie hier reingekommen war, noch wo sie gesteckt hatte.
»Nein«, sagte sie, »nein, ich kann nicht. Ich wollte nur … Richtest du Mattim etwas von mir aus? Im Park, morgen, zur selben Uhrzeit.«
»Klar, mach ich«, versicherte er.
»Leb wohl, Attila«, flüsterte sie und verließ die Wohnung, wie sie gekommen war, durch den Schatten.
Mattim zu helfen war Verrat, aber sie hatte keine andere Wahl, denn wie konnte sie zulassen, dass dieses Kind in einer Stadt des Schreckens aufwuchs?
Um Längen überragten die fremden, gigantischen Bäume alle anderen Parkbäume. Ein vergeblicher Wunsch, sie mochten einfach von selbst verschwunden sein. Wenigstens das Blut und die Leichenteile waren fort, und jemand hatte ein Absperrband um die Stämme geschlungen, als könnte das etwas nützen.
Hanna wandte den Blick ab und ging hastig weiter. Zuerst dachte sie, er hätte sie sitzenlassen, und Zorn strömte durch ihre Adern. Vor der Bank, auf der sie und Mattim so lange verweilt hatten, standen ein paar Fremde. Es waren fünf Männer zwischen zwanzig und vierzig, die sich herumschubsten, allesamt Schatten und aggressiv. Sie beschloss, einen weiten Bogen um sie zu machen. Dann fiel ihr auf, dass die Ausstrahlung eines Menschen fehlte. Wen hatten sie da vor sich, wenn kein Opfer?
Sofort rannte sie auf die Gruppe zu. Die hungrigen Vampire umringten einen jungen Mann mit blondem Haar, der angesichts der Bedrohung bemerkenswert ruhig blieb.
Merkten sie denn nicht, dass er nicht das wunderbare, sonnengeflutete Leben in sich trug wie die anderen Menschen hier, sondern dass die Aura, die ihn umgab, seltsam still und dunkel war, schattengrau, als wäre er eine einsame Sonne, von Wolken verhüllt? Dabei konnte er leuchten wie ein Stern, wenn er glücklich war.
»Das ist unsere Beute«, sagte einer und entblößte seine ausgefahrenen Fangzähne. »Geh weiter, Mädchen.«
»Lass nur.« Mattim ließ seine Gegner auch beim Sprechen nicht aus den Augen. »Mit denen werde ich schon alleine fertig.«
»Er gehört mir.« Hanna drängte sich zwischen die Männer und legte Mattim besitzergreifend eine Hand auf die Schulter.
»Es verstößt gegen die Regeln, sich in die Jagd anderer einzumischen«, sagte einer. »Oder lässt du immer andere die Vorarbeit leisten?«
Hanna hätte den Schatten verraten können, dass sie sich ausgerechnet den Bruder des Königs für ihre nächtliche Mahlzeit ausgesucht hatten. Sie hätte sie daran erinnern können, dass sie ganz bestimmt keinen Ärger mit Seiner Majestät haben wollten. Aber es stand zu befürchten, dass Kunun dann erfuhr, dass sie sich heimlich mit Mattim traf. Nein, diese Angelegenheit musste ganz unauffällig geregelt werden, ohne dass irgendjemand etwas mitbekam.
Sie musste dem Grüppchen nur deutlich machen, wer hier die Oberhand hatte. In Hanna erwachte etwas, von dem sie nicht gewusst hatte, dass es in ihr wohnte. Aus ihrer Brust stieg ein tiefes Grollen auf, alle ihre Sinne waren geschärft. Der Duft des bevorstehenden Kampfes lag in der Luft, bitter und wild, und das Raubtier in ihrer Seele fuhr die Krallen aus. Sie zog die Oberlippe hoch und entblößte ihre Fangzähne. Die Zähne fletschen, springen, beißen … Hanna hatte keine Zeit, die beunruhigenden neuen Gefühle zu analysieren oder auch nur darüber zu erschrecken. Der Wunsch zu kämpfen loderte in ihr auf, stark und überwältigend wie ein Sturm, und dennoch war sie noch so sehr Herrin ihrer selbst, dass sie den Männern die Möglichkeit bot, sich ohne ihr Gesicht zu verlieren zurückzuziehen.
»Es ist zwar eure Jagd, aber die falsche Beute. Ihr seid vielleicht noch nicht sehr lange dabei, sonst wüsstet ihr, dass man sich nicht an den Besitztümern anderer Schatten vergreift.«
»Hey, reg dich ab. Das konnten wir ja nicht ahnen.«
»Kommt«, sagte einer zu seinen Freunden, »es gibt noch genug andere Menschen in der Nähe.«
Möglichst lässig schlenderten die fünf weiter.
»Was war das denn?«, fragte Mattim.
»Vergiss es!«, fuhr sie ihn an. Noch immer wallte der Zorn durch ihre Adern, duckte sich die Bestie in ihr, bereit zum Sprung.
»Ich wäre mit ihnen allein fertiggeworden«, sagte er. »Das weißt du genauso gut wie ich … oder nein, wahrscheinlich nicht, denn du hast mich ja angeblich nie kämpfen sehen. Das kleine Intermezzo mit Mirontschek zählt nicht.«
»Du solltest Budapest verlassen«, sagte sie. »Im Ernst. Wenn du ein Mensch bleiben willst, ist es hier zu gefährlich für dich.«
»Ich werde mich nicht noch einmal verwandeln.«
»Ausgesaugt werden willst du bestimmt auch nicht!« Sie musste ihre Stimme gewaltsam dämpfen. »Manche Schatten hören nicht rechtzeitig auf. Ich will nicht, dass dir etwas passiert.«
Er lachte leise. Soldat, Truppenführer, Eroberer von Akink, der die Nacht über Magyria brachte … Oder doch nur ein Mann, den sie für sich alleine haben wollte?
»Wie auch immer, danke schön. Ich fühle mich geehrt.«
Da erkannte sie, was sie störte: das Aufblitzen von Triumph in seinen steingrauen Augen. Mattim hatte sich weder gefürchtet, noch war er ihr wirklich dankbar. Er genoss es nur, dass sie bereit gewesen war, für ihn zu kämpfen.
Ihr ganzer Körper kribbelte, ein Schauer lief über ihre Haut, die Kampfbereitschaft wollte immer noch nicht abebben. »Oh, ich hasse dich!« Sie hob die Hand, um ihn zu schlagen, doch er packte sie am Handgelenk und hielt sie fest. Leider entdeckte sie keine übermenschlichen Kräfte in sich, um ihn zu Boden zu schmettern.
Plötzlich starrte er sie verblüfft an. »Was ist mit deiner Schramme passiert?«
Hanna befühlte ihr Gesicht. »Sie ist weg. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Überrascht betrachtete sie ihre Arme, die unversehrte, glatte Haut. »Vielleicht haben wir uns geirrt, und Wunden von Schatten heilen doch. Vielleicht tut uns die Dunkelheit gut, vielleicht ist alles anders, wenn wir in unserem Element sind.«
Mattim runzelte die Stirn. »Darf ich jetzt auch erfahren, warum du mich herbestellt hast? Auf jeden Fall hat sich die Aufregung gelohnt, denn du hast den anderen gesagt, dass ich dir gehöre. Dein Eigentum, bitte sehr, jetzt und für alle Zeit.«
Er stand so dicht vor ihr, dass ihre Wut in Hunger umschlug. Sie krallte die freie Hand um seinen Nacken und zog ihn näher zu sich heran.
Seine glatte Haut duftete nach Mensch und doch nicht nach Mensch, dunkel und doch nicht nach der seelenlosen Leere eines Schattens. Er zuckte zusammen, als sie die Zähne in die warme, einfach perfekte Haut schlug, als das köstliche, dunkle Blut ihren Mund füllte.
»Es reicht«, sagte Mattim nach einer Weile. »Du musst aufhören, Hanna.«
Mit Mühe löste sie den Mund von seiner Haut und leckte sich die Lippen. Sie hielt ihn immer noch eng an sich gepresst, und aus irgendeinem Grund war es ihr unmöglich, ihn loszulassen. Als wären Menschen nur dafür da, um sich an ihnen festzuhalten. Ihr Mensch.
»Das ist also die Art, wie du jagst? Du bestellst deine Beute zu dir?« Statt in ihren Armen dahinzuschmelzen, war er wütend. »Dann kann ich jetzt gehen, ja? Ich hab noch andere Dinge zu tun, und da du mir nicht helfen willst, muss ich mich wohl selbst darum kümmern.«
»Wer hat gesagt, dass ich dir nicht helfen will?« Sie hielt seine Hand fest, und nach einem kurzen Moment des Widerstrebens ließ er sich neben ihr auf der Bank nieder. »Du schmeckst nach Magyria, wusstest du das? Nach dem Wald und dem Gras und Träumen im Licht. Es ist anders als das Blut der Menschen hier. Besser, viel, viel besser.«
Was hätte Kunun dazu gesagt, wenn er gewusst hätte, dass sie mehr Zeit mit Mattim verbrachte als mit ihm? Mattim war wie eine Droge, eine äußerst gefährliche Droge, von der sie nicht loskam. Aber nicht aus diesem Grund war sie hier.
»Du hattest recht, mit dieser Welt geschieht etwas, das nicht passieren sollte.« Sie verschränkte die Finger, betrachtete ihre Hände, die ihr so vertraut waren und auf einmal doch so fremd. Hände, bereit zum Kämpfen. »Abend und Morgen«, sagte sie leise. »Mittagssonne und die Nacht voller Sterne. Das hast du gesagt, gestern. So sollte Magyria sein – und auch diese Welt. Ich bin ein Schatten, doch ich will nicht, dass es bald für immer dunkel ist.«
»Natürlich nicht. Das Licht zieht die Schatten an wie eine Lampe die Motten.«
Sie blickte ihn nicht an, während sie weitersprach. »Und dass alle Menschen zu Schatten werden, das will ich auch nicht.«
»Gönnst du es ihnen nicht?«, fragte er spöttisch. »Vor kurzem erst hast du mich gefragt, warum ich auf all diese Segnungen und Talente verzichtet habe. Unsterblichkeit, unterlegt mit Schlaflosigkeit und Durst, nicht zu vergessen die schönen neuen Zähne.«
»Ich genieße es, das gebe ich zu. Aber …«
Auf einmal hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. »Es gibt ein Aber? Du überraschst mich.«
»Ich will atmen«, flüsterte sie. »Ich will, dass mein Herz schlägt. Ich will hinaus in die Sonne. Ich komme mir vor wie eine Gefangene in der Nacht. Ich will frei sein. Und ich will nicht, um nichts in der Welt, dass dieses Schicksal den Menschen aufgezwungen wird, die ich liebe. Nicht Mónika, nicht Attila. Er ist noch ein Kind, er hat das Recht darauf, erwachsen zu werden. Ich will sehen, wie er ein Jugendlicher wird, ein Mann. Schon einmal habe ich eine ganze Welt für dieses Kind verraten, und ich tue es wieder, wenn es sein muss.«
Mattim blinzelte ungläubig. »Du meinst es wohl ernst, wie? Du bist hier, um Kunun zu verraten?«
»Nein«, sagte sie. »Nein und ja. Es ist wie bei seiner Mutter. Ich glaube nicht, dass er Elira jemals wehtun wollte. Außerdem denke ich, dass ich ihm auch in dieser Sache am besten helfe, indem ich ihn aufhalte. Ich liebe ihn viel zu sehr, um tatenlos zuzusehen.«
Mattim öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, überlegte es sich jedoch anders. »Gut«, meinte er. »Um seinetwillen möchtest du mir also helfen? Na, das ist besser als nichts. Was genau hast du dir vorgestellt?«
Das Schlimmste war geschafft. Hanna lehnte sich etwas entspannter zurück. »Wir müssen diesen Zerfall aufhalten, sofern das überhaupt geht. Ob Kunun es wohl könnte, wenn ich ihn dazu überrede?«
»Kunun kann die Ereignisse auch nicht aufhalten. Das kann nur das Licht. Allein das Licht kann die Wunden heilen, die die Dunkelheit aufgerissen hat. Es gibt zu viele Pforten, zu viel Bewegung zwischen den beiden Welten. Alles wird aufgeweicht. Dass Kunun diese Blutfeste abhält, trägt bestimmt auch dazu bei. All die Menschen in Magyria, die als Schatten in diese Welt zurückkehren oder gebissen werden und einen Teil ihres Lebens dort zurücklassen, sehnen sich nach Magyria, ohne zu wissen, dass meine Welt existiert. Das alles ist falsch.«
Hanna dachte über seine Worte nach. »Wenn es wirklich Heilung für die Schatten gibt, ist dies vielleicht eine wunderbare neue Welt für uns.« Immer noch ungläubig betrachtete sie ihre Arme.
»Also überlegst du es dir doch anders?«
Auf einmal war die Entscheidung schwerer, als sie gedacht hatte. Aber ein einziger Gedanke an Attila reichte aus, um ihren Entschluss zu festigen. »Wir brauchen das Licht. Es bleibt dabei, ich helfe dir. Dafür verlange ich, dass du dich mit Kunun versöhnst und ihn als König anerkennst.«
»Na großartig«, murmelte er. »Das werde ich ganz gewiss nicht tun.«
»Hör mir zu«, meinte sie. »Es geht um viel mehr als um deinen Ehrgeiz. Bevor auch hier alles dunkel wird …«
»Nein«, unterbrach er sie, »du solltest mir zuhören. Ich lasse mir keine Bedingungen aufdiktieren, von niemandem, auch nicht von dir. Was du hier tust, schmeckt dir zu sehr nach Verrat? Dann koste den Geschmack aus, denn genau das ist es. Du willst mir helfen, Magyria zu retten? Dann wirst du tun, was ich dir sage, denn diesen Kampf führe ich an.«
Sie rutschte von ihm weg und funkelte ihn wütend an. »Wenn das so ist, kann ich auch wieder gehen!«
»Dann geh doch!«
Wie konnte er es wagen, so mit ihr umzuspringen? War er am Ende gar nicht in sie verliebt und hatte nur so getan? Aber wenn er darauf aus war, sie zu täuschen, warum ging er dann nicht zum Schein auf ihre Forderungen ein?
»Es ist Verrat«, sagte Mattim. »Kununs Träume sind dir nicht völlig egal, zugleich sind dir deine eigenen zu wichtig, um auf die seinen Rücksicht zu nehmen. Du hast dich gar nicht so sehr verändert, Hanna. Du hast schon einmal den Mann verraten, den du geliebt hast, um Attila zu retten. Du hast sehenden Auges dein Leben riskiert, das Licht aufs Spiel gesetzt und in Kauf genommen, dass derjenige, der dich geliebt hat, sich von dir abwenden könnte.«
»Ich weiß nicht recht, wovon du sprichst.«
»Beim Licht, ich spreche davon, wer du bist, Hanna! Du würdest niemals an der Seite eines Mannes für Ziele kämpfen, die du nicht selbst vertrittst.«
Sie dachte eine Weile darüber nach. »Stimmt«, sagte sie schließlich. »Genau deshalb werde ich nicht in deine Dienste treten. Du hast gesagt, du warst nie Kununs Untertan, selbst wenn du scheinbar für ihn gearbeitet hast. Genauso wenig werde ich mich deinem Befehl unterstellen. Wenn du möchtest, dass ich etwas tue, musst du mir schon genau erklären, warum. Ich muss wissen, was du planst und was du damit erreichen willst. Wenn ich der Ansicht bin, dass du zu weit gehst oder Kunun gefährdet wird, werde ich einen Schlussstrich unter unsere Zusammenarbeit ziehen. Ich werde dir ganz gewiss nicht auf den Thron helfen. Ich will nur, dass in beiden Welten alles an seinem Platz bleibt.«
Sie streckte die Hand aus.
Er sah ihr in die Augen, lange, als suchte er darin nach etwas. Vielleicht hatte er es gefunden, denn er schlug ein.
»Als Erstes«, sagte er, »müssen wir herausbekommen, ob Kunun jemals eine Lichtprinzessin hatte. Es kann immer nur eine geben, für ein ganzes Leben.«
»Bist du sicher, dass sie kommt?« Mattim fand das Versteck hinter dem großen Ohrensessel keinesfalls ideal. »Das wird alles äußerst peinlich.«
»Atschorek wird dich nicht bemerken«, versprach Mirita. »Für mich hast du jedenfalls nicht die Energieausstrahlung eines Menschen. Du bist wie ein blinder Fleck in der Wahrnehmung.«
»Aha, danke.«
Sie grinste. »Gern geschehen. Und zu deiner anderen Frage: Die beiden sind verabredet, das habe ich mitbekommen. Ich stand sozusagen direkt daneben, aber Atschorek hat mich vollkommen ignoriert, wie Höhergestellte es gerne tun.«
»Es gibt also Wächter im Schloss?«
»Wir achten heutzutage auf andere Dinge.« Mirita hätte beinahe wieder angefangen, mit ihren Haaren herumzuspielen, wie jedes Mal, wenn sie verlegen war. »Auf Leute, die sich aus dem Festsaal schleichen und Kerzenleuchter stehlen wollen, zum Beispiel. Wie auch immer, sie treffen sich heute, und zwar hier. Das Angebot steht noch, dass ich mir ihr Gespräch alleine anhöre. Es gibt keinen Grund, warum du dabei sein müsstest.«
Doch, den gab es. Mattim wusste genau, warum er Mirita diese Aufgabe nicht überlassen wollte – er war sich nicht sicher, ob sie ihm wirklich alles erzählte oder ein paar entscheidende Details für sich behielt.
»Ich will es mit meinen eigenen Ohren hören.«
»Wie du meinst. Und jetzt duck dich. Wir passen nicht beide hinter den Sessel, ich suche mir ein anderes Versteck aus.« Sie zwinkerte ihm zu. »Wie in alten Zeiten.«
Als sie davonhuschte, erlaubte Mattim es sich ein letztes Mal, die Beine auszustrecken. Mädchengespräche konnten sich endlos lange hinziehen, darauf hatte er sich eingestellt. Er fürchtete weniger, entdeckt zu werden, nein, am meisten grauste ihm vor dem, was er über Hanna und Kunun erfahren könnte. Sie war felsenfest davon überzeugt, seinen Bruder zu lieben, und er war sich nicht sicher, wie viel Schwärmerei über Kunun er ertragen konnte.
Atschorek hätte sich durchaus lautlos bewegen können, aber ihre Vorliebe für hochhackige Schuhe kostete sie diesen Vorteil. Das laute Klacken der Absätze kündigte sie bereits an, als sie noch im Nebenzimmer war. Wo sich wohl die nächste Pforte nach Magyria befand – im Garten, im Haus oder auf der Straße? Seine Schwester bevorzugte praktische Lösungen, und was konnte praktischer sein, als direkt in ihrem Flur zu landen?
»Fühl dich wie zu Hause, Hanna. Du bist ja nicht zum ersten Mal hier. Gut siehst du aus.«
Mattim ärgerte sich über sein Herzklopfen, als er vorsichtig um den Sessel herumspähte und einen kurzen Blick auf seine verlorene Liebste erhaschte. Sie trug die langen Haare offen, wie einen dunklen Schleier, und ein Halstuch, an dem ein hübscher Anhänger befestigt war. Ihre Stimme klang leicht angespannt, trotzdem wirkte sie lässig und selbstbewusst. Hanna konnte Atschorek locker das Wasser reichen.
Mattim hatte seine Schwester seit jenem Festabend nicht mehr gesehen. Bestimmt hätte sie sich zu gerne davon überzeugt, dass er litt. Wenn sie gewusst hätte, dass er hier hockte, hätte sie ihr Lächeln zweifellos wiedergefunden.
»Setz dich. Machen wir es uns gemütlich. Darf ich dir etwas anbieten? Ich nehme nicht an, dass du dir das Essen und Trinken komplett abgewöhnt hast.«
»Nein, das habe ich nicht«, sagte Hanna. »Meine Sinne sind schärfer geworden, da wäre es eine Schande, auf einen Genuss zu verzichten, der jetzt noch größer ist als früher.«
»Du sagst es«, meinte Atschorek munter. »Dieselbe Einstellung vertritt Kunun. Also, was darf es sein? Ich habe einen gut bestückten Weinkeller. Trotzdem würde ich dir eine einfache, selbstgemachte Limonade empfehlen. Die ist ganz schlicht, besteht nur aus Wasser, Zucker und frischer Zitrone. Je mehr Inhaltsstoffe ein Getränk hat, umso verwirrender für die Geschmacksknospen.«
»Dann nehme ich die Limonade, danke.«
Es dauerte eine Weile, bis das Gespräch in Gang kam. Mattim wurde langsam ungeduldig, obwohl er am liebsten stundenlang in Hannas Nähe gehockt hätte. Seine Beine begannen jedoch einzuschlafen, und auf einmal überkam ihn die irrationale Furcht, unvermittelt niesen zu müssen.
»Hat Kunun nie geliebt?«, fragte Hanna plötzlich. »In all den Jahren nicht? Kein einziges Mal?«
»Ach, jetzt versteh ich den Grund für deinen Besuch.«
»Wenn er schon mal eine Lichtprinzessin hatte, könnte er mich nicht richtig lieben, ist es nicht so? Bitte sag es mir, ich muss wissen, woran ich bin.«
»Es gibt viele Arten von Liebe. Schmeckt die Limonade?«
Hanna ließ sich nicht ablenken. »Du weichst mir aus. Ist es denn so schwer für dich, über ihn zu sprechen?« Sie klang anders als früher, erwachsener und zugleich gelöster, als hätte sie sich von allen Ängsten und Sorgen freigeschwommen.
»Die Antwort wird dir nicht gefallen«, kündigte Atschorek an. »Kunun hat jemanden geliebt, in der Tat. Es gab da ein Mädchen … aber das ist lange her. Sehr lange.«
»Was ist passiert?«
»Rate mal. Was kann eine Liebesgeschichte für ein Ende nehmen, wenn er ein Vampir ist und sie ein Mensch?«
Hanna zögerte. »Er musste zusehen, wie sie alt wurde und schließlich starb? Das hat ihm das Herz gebrochen, und er hat sich geschworen, nie wieder zu lieben. Dann bin ich gekommen, und er hat diesen Entschluss über den Haufen geworfen.«
Mattim stöhnte innerlich. Sie war so süß.
»Nein.« Atschorek lachte. »Leider daneben.«
Hanna versuchte es erneut. »Sie hatte einen Unfall. Er hat ihre Hand gehalten, als sie im Sterben lag, und ihr angeboten, sie in einen Vampir zu verwandeln. Mist, das geht ja gar nicht, dafür hätte er einen Schattenwolf gebraucht. Nein, er hat sie beschworen, so lange auszuhalten, bis er den Wolf hergebracht hat. War es eure Schwester Runia? Ihr habt mir erzählt, dass sie vor vielen Jahren ums Leben gekommen ist, in Wolfsgestalt.«
»Weit daneben«, meinte Atschorek. »Sehr, sehr weit. Einmal darfst du noch raten.«
Hanna seufzte, wahrscheinlich forschte sie in ihrer Fantasie nach einem dritten möglichen Ende. »Er hat sie verlassen, weil er ihr nicht zumuten konnte, ihn zu lieben. Das war das Schwerste, was er je getan hat.«
»Oh Hanna!« Atschorek klopfte sich auf den Oberschenkel. »Du bist herrlich! Wofür hältst du Kunun, für einen Engel?«
»Jeder kann zum Engel werden, wenn er liebt.«
Mattim verdrehte die Augen. Kunun? Ja, klar.
»Und, was ist wirklich geschehen?«
»Mein Bruder bringt mich um, wenn ich es dir erzähle.«
»Bestimmt nicht«, sagte Hanna fröhlich.
»Na schön. Wie gesagt, es ist lange her. Kunun verliebt sich also in diese Schönheit – eine bildhübsche Ungarin, das kann ich dir sagen, dunkelhaarig, mit schwarzen Augen, hach! –, und sie findet ihn natürlich auch nicht übel. Ist dir aufgefallen, wie hübsch alle meine Brüder sind?«
»Oh ja«, sagte Hanna, und Mattims Herz machte einen Sprung.
»Kunun war kaum wiederzuerkennen«, erzählte Atschorek weiter, »so hingerissen war er von ihr. Das waren die einzigen Monate seines Lebens, in denen er Akink beinahe vergessen hätte. Tja, und dann machte er einen kapitalen Fehler. Er erzählte ihr, wer er ist. Er dachte, sie liebte ihn so, wie er sie liebte. Er dachte, es sei für die Ewigkeit, sie und er und das Schicksal und blablabla.«
»Sie hat ihm nicht geglaubt?«
»Er hat es ihr gezeigt. Mit Beißzähnchen und allem Drum und Dran. Menschen sind leicht zu erschrecken, Hanna. Es kann nicht jeder sein wie du, mit einem Nervenkostüm aus Stahl. Die Gute hat die ewige Liebe und das ganze Gesülze so schnell vergessen, dass meinem Bruder kaum genügend Zeit blieb, sie daran zu hindern, kreischend davonzurennen.«
»Was hat er getan?«, fragte Hanna atemlos.
»Was wohl? Er hat sie gebissen. Er hat ihr alles genommen, jede Erinnerung an sich und an die gemeinsame Zeit.« Vorsichtig lugte Mattim um die Ecke. Atschoreks Blick war hart wie Stein, als sie hinzufügte: »Es war fast ein Jahr … Er hat ihr ein knappes Jahr gestohlen. Danach war sie halb tot und ihr Verstand … nun ja, schade um das arme Mädchen. Jedenfalls kann man sagen, dass sie sich nie völlig davon erholt hat.« Sie nippte an ihrem Glas. »Ja, manchmal kann die Liebe tragisch enden.«
»Von einem Kind hat Atschorek nichts gesagt«, sagte Mirita verdrossen.
Mattim massierte seine eingeschlafenen Beine und richtete sich stöhnend auf. Atschorek und Hanna waren längst fort, doch er hatte noch eine Weile gewartet, um sicherzugehen.
»Das muss nicht zwingend etwas heißen«, meinte er. »Kunun erzählt Atschorek sicherlich auch nicht alles. Er ist der Erbe von Magyria, stimmt’s? Wenn ihm etwas zustoßen sollte, ist Atschorek nach ihm die Thronanwärterin. Ein Konkurrent würde ihr ganz gewiss nicht gefallen. Kunun hätte es ihr daher vielleicht verschwiegen. Andererseits – er hat keine Angst vor ihr. Sie würde es nicht wagen, sein Fleisch und Blut anzutasten. Demnach bleibt alles Spekulation. Wir wissen nicht, ob es dieses Kind gibt.«
Auf der Straße blieb er stehen und blickte zurück zu der düsteren Villa seiner Schwester. Der Asphalt unter seinen Füßen war noch warm von der Hitze des Tages, und über den Gärten lag der schwere Duft von Gras und Staub.
»Es ist zu wenig«, sagte er, »aber es ist der einzige Plan, den ich habe. Atschorek war nicht bereit, Namen zu nennen, also müssen wir anders vorgehen. Wir brauchen eine Liste von allen Mädchen, mit denen mein Bruder mehr als flüchtig befreundet war. Da ich schlecht mit Kununs Getreuen plaudern kann, musst du dich darum kümmern. Vielleicht hat er seine Geliebten, wenn sie besonders attraktiv waren, seinen Freunden vorgeführt, um mit ihnen anzugeben? Kunun schätzt Inszenierungen sehr.«
Mirita seufzte. »Und er schätzt es ganz und gar nicht, wenn man in seinen Angelegenheiten herumschnüffelt. Aber es wird sich zweifellos lohnen.« Sie hakte sich bei ihm unter. Im gelblichen Schein der Laterne wogte das helle Haar um ihren Kopf wie Wasserpflanzen in der Flussströmung. »Wir machen das zusammen. Ich befrage die Schatten, die mit Kunun hier gelebt haben, und dann suchen wir die Frauen auf.« Leise fügte sie hinzu: »Wir beide zusammen. Weißt du noch, wie wir gemeinsam Wache geschoben haben, um herauszufinden, wie die Schatten in den Wald gelangen? Wie wir gegen den Willen des Königs Pläne geschmiedet haben? Es wird sein wie früher, als wir hinter das Geheimnis der Höhlen kommen wollten und du Kununs Pforte entdeckt hast.
»Nein«, erwiderte Mattim. »So wird es nie wieder sein.«