16

BUDAPEST, UNGARN

Nichtsahnend trat Hanna aus der Wohnung und wurde sofort gegen die Wand gedrückt. Einen Moment lang durchfuhr sie panische Angst. Ich werde überfallen! Dann erinnerte sie sich daran, dass sie ein Schatten war. Sie hatte nichts zu befürchten. Mit einem Biss konnte sie jeden Angreifer außer Gefecht setzen.

»Hanna.« Es war Mattim.

Natürlich, dieser Verrückte. Sie hätte sich denken können, dass er es weiter versuchte.

»Du quetschst mich ein«, knurrte sie. Sie überlegte, ob sie ihn einfach beißen sollte, mitten in die warme Hand, die auf ihrer Schulter lag.

»Das ist Kununs Werk«, sagte er. »Er hat dich manipuliert, hypnotisiert. Irgendetwas hat er mit dir gemacht. Genau wie mit Adrienn. Auch sie war nicht mehr sie selbst. Erinnerst du dich wenigstens daran?«

»Du leidest an Verfolgungswahn«, sagte sie freundlich. »Wenn du bitte einen Schritt zur Seite machen könntest …?«

Er dachte nicht daran, sondern blieb so dicht vor ihr stehen, dass er und sie und die Wand beinahe eine Einheit bildeten. Wenn sie sich einfach durch die Mauer hätte fallen lassen können, nur um des verblüffenden Effekts willen! Obwohl es dunkel genug dafür gewesen wäre, versuchte sie es gar nicht erst. Sie bekam es nicht hin, durch den Schatten zu gehen, sooft sie es auch schon probiert hatte.

»Er darf uns nicht auseinanderbringen«, sagte Mattim. »Du hast dir deine Erinnerungen bisher immer zurückgeholt, du kannst es auch diesmal tun. Komm mit.« Er packte sie am Arm und zog sie mit sich.

Hanna überlegte, bis zu welchem Punkt sie auf seinen Wahnsinn eingehen sollte. Von den übrigen Schatten war zum Glück nichts zu sehen, denn sie wollte nicht, dass irgendjemand glaubte, sie müsste gerettet werden. Mit einem Menschen konnte sie auch allein fertigwerden. »Wohin?«

»Fahr einmal mit mir im Fahrstuhl, Hanna. Bitte.«

»Wozu?«

Er antwortete nicht. Ohne sie loszulassen, drückte er auf den Knopf, der den Lift herbeirief, als hätte er Angst, sie könnte verschwinden. Oder die Treppe hinunterlaufen und um Hilfe schreien.

Hanna versuchte, es mit Humor zu nehmen. »Wenn dir das Spaß macht, warum nicht? Meinetwegen können wir den ganzen Abend rauf- und runterfahren. Aber ich muss noch in die Stadt. Auf die Pirsch. Du weißt genug über die Schatten, um zu verstehen, was ich meine.«

»Das tue ich«, sagte er gepresst.

Als die Tür sich öffnete, schob er sie hinein. Im grellen Neonlicht wirkte sein Gesicht blass, fast weiß, und seine Augen waren dunkel und zornig. Hanna überlegte, ob sie wohl Angst vor ihm gehabt hätte, wenn es umgekehrt gewesen wäre: sie ein Mensch und er ein Schatten. Wahrscheinlich schon. Er war ein Soldat, hatte Kunun gesagt, ein Truppenführer, der Eroberer von Akink. Sie versuchte sich Mattim in irgendeiner Art von Uniform vorzustellen, selbstbewusst und gefasst, aber sein verrücktes, furchteinflößendes Lächeln machte das Bild zunichte. Kein Heerführer hätte sie so angeblickt, als wollte er einen Bann über sie legen. Eher noch ein Zauberer.

Er streckte die Hand aus und berührte die Stopptaste. Der Fahrstuhl hielt an.

»Was soll das denn jetzt?«

»Kommt dir diese Situation nicht irgendwie bekannt vor?«

»Nicht dass ich wüsste. Warum?«

Er lehnte den Kopf gegen die Glasscheibe und schloss die Augen. Sie konnte förmlich fühlen, wie er um Fassung rang. Nach seinem Ausbruch neulich im Hof zu schließen, schien er ein Typ zu sein, dem das außerordentlich schwerfiel.

»Du und ich«, sagte er leise. »Wie kann das alles weg sein? Ich verstehe es nicht. Fühlst du nichts, rein gar nichts? Kannst du mich wirklich ansehen und behaupten, dass du mich nicht kennst? Dass ich dir überhaupt nichts bedeute?«

Sie tat ihm den Gefallen und betrachtete ihn. Trotz der äußerlichen Ähnlichkeit war kaum zu glauben, dass er mit Kunun verwandt war. Kunun machte seinem leicht asiatischen Aussehen alle Ehre; er wirkte immer so gesammelt. So … heiter, weise und gelassen. Dagegen kam ihr Mattim wie eine tickende Zeitbombe vor, die jederzeit explodieren konnte.

»Wir waren hier eingeschlossen, in einem gläsernen Fahrstuhl. Die Zeit lief ab. Sobald die Sonne aufgegangen wäre, hätte ich sterben müssen. Ich hatte kein Blut getrunken, ich wollte nicht. Ich wollte keinen Menschen verletzen. Das tut das Licht nicht. Wir kämpfen für die Unschuldigen, wir fallen nicht über sie her, um ihnen das Blut auszusaugen. Wie hätte ein Biss mein Herz verwandeln können, wenn ich das nicht zuließ? Ich war entschlossen zu sterben. Aber du hattest keine Angst. Du hast dir meine Geschichte angehört. Du hast mich trinken lassen. Ich hielt dich in meinen Armen … und danach konnte ich nicht aufhören, an dich zu denken. Ich hätte nie zu hoffen gewagt, dass es dir ähnlich ging. Wir haben uns wiedergefunden. Da ich dein Blut getrunken hatte, konntest du mich ausfindig machen. Vielleicht war unsere Liebe nicht echt. Am Anfang dachte ich, es wäre nur die Anziehungskraft zwischen Täter und Opfer, dass dein Blut uns verbunden hat, dein Leben. Ich habe mich nach der Sonne in deinem Blut gesehnt. Durch dich hatte ich das Licht wiedergefunden! Ich habe mir gesagt, es kann nicht echt sein. Doch du …«

»Jetzt mal ganz langsam.« Hanna hatte ihm geduldig zugehört, aber es reichte ihr allmählich. »Mattim, was du dir da einbildest – diese Momente hat es nie gegeben. Kunun hat mir gesagt, ich soll nachsichtig mit dir sein, und das war ich. Bitte mach die Tür wieder auf. Ich werde jetzt gehen, und du lässt mich in Zukunft in Ruhe.« Sie hatte einen beruhigenden Tonfall angeschlagen, wie für ein wildes Tier, das sich in die Ecke gedrängt sah. Trotzdem schrak sie zusammen, als er auf sie zusprang.

»Du musst dich erinnern!«, rief er. Dann versuchte er sie zu küssen, aber sie drehte das Gesicht weg und stieß ihn von sich. »Ich will, dass du wieder du bist! Dafür gebe ich dir einen Teil meiner Seele!«

Sie kämpfte gegen ihn. Er war erstaunlich stark, aber sie war ein Schatten.

»Hanna – oh nein, oh beim Licht! Hanna!«

»Lass mich endlich in Ruhe!«, schrie sie.

»Du bist nicht mit Kunun zusammen. Du liebst mich!«

Gegen ihren Willen bekam sie es mit der Angst zu tun. Er schien wirklich an das zu glauben, was er da von sich gab. Ein Wahnsinniger, der sie für seine Freundin hielt, schlimmer als jeder Stalker. Sie war ein Schatten, doch er war überraschend schnell, und sie erinnerte sich an alles, was Kunun über ihn gesagt hatte.

Ausgebildet zum Soldaten, mein Truppenführer, der Eroberer von Akink Dass sie ein Schatten war, machte sie nicht zur Kämpferin. Die Männer draußen in der Stadt, von denen sie sich ihr Blut holte, waren ahnungslos und deshalb leichte Beute. Dieser Mann hier war anders, er würde sich nicht so einfach überrumpeln lassen. Er war selbst ein Schatten gewesen, er wusste genauestens Bescheid. Wie hatte sie nur so dumm sein können, mit ihm in diese Fahrstuhlkabine zu steigen? Man konnte sie sehr wohl verletzen. Oder ihren Zustand zwischen Leben und Tod sehr eindeutig und unwiderruflich auf die Seite des Todes verschieben.

»Mattim«, sagte sie leise und bemühte sich, die Angst aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Sofort wurde er ruhig. Fast zu ruhig. »Du … du bist wieder da?«, flüsterte er.

Sie trat auf ihn zu und legte ihm die Hände auf die Schultern. Dann biss sie zu.

Als Magyrianer hätte er sich in einen Wolf verwandeln müssen, aber das tat er nicht. Kunun hatte es ihr angekündigt, trotzdem war sie enttäuscht, denn sie hätte ein solches Wunder zu gerne selbst miterlebt. Mattim fiel nicht unter ihr weg und verwandelte sich auch nicht. Stattdessen blieb er zitternd stehen. Sie roch den Duft seiner Haut und trank weiter. Sein Blut war unerwartet köstlich. Damit hatte sie nicht gerechnet.

Die pulsierende Lebendigkeit der Menschen ihrer Welt war anders. Es war wichtig und notwendig, und zu trinken stillte den Durst. Aber das hier … dieses Blut war weder notwendig noch wichtig, es diente zu gar nichts. Dennoch konnte sie nicht aufhören. Es war voll und würzig, wie ein seltener, kostbarer Wein, wie flüssige, dunkle Schokolade, wie … Sie hatte keine Ahnung, was es war, sie wusste nur, dass sie mehr davon wollte. Ob es der Wahnsinn war, der so gut schmeckte? Oder die Nacht, die in seinem Blut wohnte? Es störte sie kein bisschen, dass er ihr so nah war, dass er die Arme um sie legte. Moment mal! Er legte die Arme um sie?

Sie befreite sich aus der Umarmung und wischte sich über den Mund. Mattim war blass und wirkte verstört. Verdammt! Es tat seiner geistigen Gesundheit sicher nicht gut, dass sie sich so viel genommen hatte.

»Bist du okay?«, fragte sie.

Ein normaler Mensch hätte ohnmächtig werden oder wenigstens entkräftet zusammensacken müssen. Mattim starrte sie bloß an. Immerhin hatte ihr Plan funktioniert. Jetzt sah er nicht mehr ganz so gefährlich aus.

»Du erschreckst mich«, sagte er leise. »Du benimmst dich wie ein wildes Tier.«

Genau so fühlte sie sich auch, wie ein Raubtier, das seinen Hunger stillt, wie eine Wölfin, die Beute in den Fängen. Bloß dass sein Blut weder ihre Gier linderte noch ihr dabei helfen konnte, die Sonne des nächsten Tages auszuhalten. Nur die Sehnsucht wurde neu angefacht, ihn in den Armen zu halten. Dass jemand anders ihn auch nur anfassen könnte, die Vorstellung war ihr unerträglich. Am liebsten hätte sie weitergemacht, doch wie sollte sie das erklären? Sie konnte ja schlecht sagen: weil du so wunderbar schmeckst. Dunkel und bitter, süß und salzig zugleich.

Aber wenn es niemand erfuhr? Was für ein verlockender Gedanke: sich diesen Gefühlen ganz hinzugeben, ohne befürchten zu müssen, dass jemand etwas von diesem fremdartigen, verbotenen Hunger ahnte.

»Glaubst du an die Liebe?«, fragte er leise. »An zwei Menschen, die für den Rest ihres Lebens zusammengehören?«

Kein Mädchen, das auch nur halbwegs bei Verstand war, würde darauf hereinfallen. »Du meinst jetzt aber nicht uns beide, hoffe ich. Das klingt reichlich übertrieben, weißt du das? Schließlich kennst du mich kaum.«

»Stell dir vor, ein Mädchen und ein Junge begegnen sich. Sie haben sich nie gesehen, trotzdem ist da sofort etwas zwischen ihnen. Etwas Unvergleichliches.«

»Na toll. Es funkt also. Und dann? Dann gehen sie auseinander und sehen sich nie wieder.«

»Sie verbringen eine Nacht miteinander. Nicht im Bett, sondern eingeschlossen in einem Fahrstuhl. Sie haben nur einen Mantel für sie beide. Todesgefahr schweißt zusammen, weißt du? Es ist eine Nacht, die ihr Leben verändert.«

»Hör auf, bitte. Nicht schon wieder! Wenn du das tust, kann ich dich wirklich nicht mehr leiden.«

Sie drückte auf den Knopf, der die Tür öffnete. »Du solltest ein Pflaster drauf tun«, sagte sie freundlich und ging.

»Warte!« Er hielt sich an der Wand fest und presste die Hand gegen seinen Hals. »Bitte warte, nur einen Moment!«

Gegen ihren Willen blieb sie stehen und drehte sich um. Er hatte so gut geschmeckt, das zumindest war sie ihm schuldig.

»Ich muss nach Magyria«, krächzte er.

»Leg dich lieber ins Bett«, empfahl sie. »Du siehst ziemlich fertig aus.«

»Bringst du mich durch die Pforte? Durch die im Keller?«

Sie seufzte ungeduldig. Was war sie, eine Türsteherin? Aber er schaute sie so flehend an, dass es ihr schwerfiel, nein zu sagen. »Warum sagst du das denn nicht gleich?«

Sie kehrte in die Kabine zurück und drückte die Tasten.

»Eins, fünf, null, zwei«, murmelte Mattim. »Kununs geheimer Code. Du kennst ihn noch.«

»Natürlich«, sagte sie. »Es war ein unvergesslicher Tag.« Wie sie mit Kunun hinuntergefahren war … wie er so zärtlich mit ihr gesprochen hatte. Der Schal um ihren Hals, seine Hände, jede Berührung ließ sie erschauern …

Mattim beobachtete ihr Gesicht. »Ich war draußen im Hof, als ihr nach unten gefahren seid«, flüsterte er. »Als er dich wieder nach oben gebracht hat, warst du völlig durcheinander. Du hattest alles vergessen. Aber du hast deine Erinnerung wiedergewonnen. Das hast du bisher immer hinbekommen. Das war das Einzigartige an dir, dass du es jedes Mal geschafft hast, dich wieder zu erinnern. Du kannst es auch diesmal, Hanna, du musst nur darum kämpfen!«

Die Fahrstuhltür öffnete sich in den finsteren Keller. Vor ihnen lag die Pforte in den Wald von Magyria, auf der östlichen Seite des Flusses.

»Hör auf damit. Du warst nicht im Hof, jetzt weiß ich, dass du lügst. Ich hätte dich durch die Glasscheibe gesehen, oder? Ich werde dir nur helfen, wenn du aufhörst, mich zu ärgern. Versprich mir, dass endlich Schluss ist mit diesem ganzen Unsinn, sonst bringe ich dich nicht nach drüben.«

»Na gut«, flüsterte er.

Warum half sie ihm überhaupt? Kunun würde das nicht gutheißen, das wusste sie. Aber sie musste auf ihre Weise mit diesem aufdringlichen Verwandten fertigwerden. Familie war wichtig, und wenn Kunun einen missratenen Bruder hatte, musste sie ihm mit Humor und Nachsicht begegnen. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so schamlos an seinem Blut bedient hatte.

»Hier ist die Pforte.« Sie griff nach seiner Hand, und im nächsten Moment standen sie unter den Bäumen. Ein kühler Wind rauschte in den Blättern und Zweigen. In Budapest war Sommer, hier war es merklich kühler, und in der Ferne heulten die Wölfe. Der Wald gehörte Mattim. Sobald sie durch die Pforte gegangen waren, schien sein Gesicht heller zu werden, und seine Augen leuchteten.

»Pass lieber auf dich auf«, riet sie ihm, ließ ihn los und kehrte in den Keller zurück. Hoffentlich passierte ihm nichts. So lästig er war, es wäre dennoch schade um ihn gewesen.

Mattim brauchte eine Weile, bis sich seine Augen an das schummerige Dämmerlicht gewöhnt hatten. Der Geruch von Magyria, dieser vertraute Geschmack auf der Zunge umfingen ihn wie immer. Er atmete tief ein und streckte die Hand nach dem nächsten Baum aus, um sich zu vergewissern, dass er nicht träumte, dass auch diese Welt wirklich da war. Der Blutverlust hatte ihn geschwächt, und er fühlte sich erschöpft und schwindlig. Nicht in seinen schlimmsten Albträumen wäre er auf die Idee gekommen, dass Hanna ihn beißen könnte.

So viel hatte er sich von dem Moment im Fahrstuhl erhofft. Dass sie wieder zu ihrem alten Ich zurückfand, dass sie ein Déjà-vu hatte und ihr alles wieder einfiel … Beim Licht, sie war viel schlimmer dran, als er sich jemals hätte vorstellen können. Durch und durch ein Schatten. Das war nicht gespielt. Am liebsten hätte er sie geschüttelt, um sie dazu zu zwingen, sich normal zu verhalten und diese Farce zu beenden – aber sie wirkte ehrlich erstaunt über sein Verhalten, als würde sie ihn tatsächlich nicht kennen. Wie war es möglich, dass sie ihn vergessen hatte, vollständig, so wie alles, was sie miteinander erlebt hatten? Wie um alles in der Welt hatte das passieren können? Was hatte Kunun getan?

Plan A war gescheitert: Mattim konnte Hanna nicht zurückverwandeln. Nicht wenn sie sich dagegen sträubte, ihn auch nur anzufassen. Solange sie ihn nicht liebte, brauchte er es gar nicht erst zu versuchen. Es war an der Zeit, einen Plan B zu entwerfen.

Mattim musste sich dazu zwingen, seine Aufmerksamkeit auf den Wald zu richten, durch den er wanderte. Die genaue Stelle zu finden, die dem Standort des Gerbaud in Budapest entsprach, war so gut wie unmöglich, dennoch wollte er mit offenen Augen auf alles achten, was anders war als früher. Hatte der Duft des Waldes sich verändert? War er herbstlicher geworden, modriger, roch er mehr nach Feuchtigkeit und Zerfall? Woher stammten die duftenden Blumen und die fremdartigen Schlinggewächse mit den großen Blättern? Es war, als hätte er einen völlig anderen Wald vor sich, einen fremden Dschungel, der aus der Nacht herauswuchs und den früheren lichten Wald überwucherte.

Ein Schattenwolf löste sich aus der Dunkelheit – Bela. Die anderen Wölfe hielten sich im Hintergrund, während Mattim ihn begrüßte. Schmerzlich vermisste er die Fähigkeit, mit dem Rudel eins zu sein. Er war ein Wolf gewesen, aber jetzt war er viel zu sehr Mensch, um anders als mit Worten zu seinem Bruder zu reden. Dennoch spürte er, dass Bela nervös war. Das war nicht nur die Wiedersehensfreude, nein, irgendetwas beunruhigte ihn; auch die Wölfe spürten die Veränderung.

»Wenn du bloß sprechen könntest! Und wo ist eigentlich Wilder?« Es fühlte sich nicht richtig an, dass er von ihnen getrennt war. Er hätte sich in einen Wolf verwandeln müssen, wenigstens für kurze Zeit, und es frustrierte ihn, dass es nicht möglich war.

Bela schob Mattim mit dem Kopf dorthin zurück, von wo er gekommen war. Die Geste war eindeutig: Verschwinde lieber.

»Du meinst es gut, aber ich kann nicht zurück«, sagte Mattim. »Nicht ohne einen Schatten. Was ist hier los? Wisst ihr es? Dass ihr es spüren könnt, ist mir klar.«

»Wie lächerlich, dass du mit einem Tier sprichst, das dir nicht antworten kann.«

Kunun trat zwischen den Stämmen hervor, dunkel und aufrecht wie ein Baum.

»Was machst du denn hier?«, fragte Mattim.

»Was wohl? Ich bin unterwegs in mein Haus. Die Frage ist doch wohl eher, was du hier tust? Diesmal habe ich dich nicht eingeladen. Fürchtest du dich nicht vor Atschorek, die regelmäßig auf die Jagd geht?«

»Atschorek wird langsamer«, sagte Mattim. »Ist dir nie aufgefallen, wie sie den Kopf hält und horcht? Wie sie die Füße aufsetzt, wenn sie durch den Wald schleicht? Sie ist keine Bedrohung für mich.«

»Atschorek wird eine Wölfin? Du lügst«, sagte Kunun verächtlich. »Das hätte ich gemerkt. Ich sehe es kommen, ich sehe es immer kommen. Sie ist genauso weit davon entfernt wie ich.«

»Sie zögert, mich anzugreifen, genau wie jeder Wolf in Magyria. Dich dagegen mögen die Wölfe nicht, ist dir das schon aufgefallen? Ich nenne das Instinkt. Jedes lebende Wesen schreckt vor dir zurück.«

Kununs Stimme war nur an der Oberfläche freundlich. Sie klang kalt und herrisch. »Willst du mir etwa wieder etwas vorjammern, wegen Hanna?«

Er würde ihm nicht zeigen, wie sehr er litt. Darauf konnte Kunun lange warten. Nie wieder wollte Mattim ihm diesen Gefallen tun.

»Ich habe von Bäumen gehört, die an Plätzen auftauchen, wo sie nicht gepflanzt wurden. Von Mauern und Steinen, die … verschwinden.«

Kununs Miene blieb verschlossen und rätselhaft. »Bist du fertig?«

»Kunun, was geht hier vor sich? Antworte mir!«

»Warum sollte ich etwas darüber wissen?«, fragte der König der Schatten zurück. »Weder Häuser noch Bäume können durch Pforten gehen, und man kann sie auch nicht mitnehmen.«

Damit durfte Mattim sich nicht zufriedengeben. »Willst du die Menschen erschrecken? Ist es das? Reicht es dir nicht, dass du sie einen nach dem anderen in Schatten verwandelst, willst du unbedingt noch mehr Verwirrung stiften?«

Kunun musterte ihn eine Weile unbewegt. »Du irrst dich«, sagte er kalt. »Ich habe damit nichts zu tun. Es geschieht einfach. Das ist erst der Anfang. Es gefällt dir nicht? Niemand fragt danach. Will ich es? Nein. Will ich es aufhalten? Ebenfalls nein. Was kommt, das kommt, und nun, da es so weit ist, trage ich es mit Fassung. Das solltest du auch einmal versuchen, kleiner Bruder, die Dinge mit Fassung zu tragen. Magyria stirbt, und du kannst seinen Untergang nicht aufhalten.«

Er wandte sich zum Gehen, doch Mattim sprang vor und packte ihn am Ärmel. Mit einem heftigen Ruck riss Kunun sich los und stieß seinen Bruder gegen einen Baumstamm. Der Schmerz setzte den jungen Prinzen für einen Moment außer Gefecht.

»Was soll das heißen, Magyria stirbt? Du lügst! Der Wald wehrt sich gegen die Dunkelheit. Er bringt neue Wesen hervor, er verändert sich, er wächst. Ja, er ist fremd, er ist mir unheimlich, aber das ist immer noch Magyria. Man kann Magyria nicht töten!«

»Weißt du denn nicht, was Magyria ist?«, fragte Kunun.

»Das Land, aus dem die Träume kommen«, antwortete Mattim. »Man kann es nicht auslöschen. Vielleicht kannst du es in einen Albtraum verwandeln – aber es wird sich anpassen. Immer neu. Irgendwann kommt das Licht zurück. Magyria kann darauf warten, genau wie ich.«

Die Dunkelheit verbarg Kununs Fratze. »Das Land der Träume? Du irrst dich, Bruder. Das war einmal. Ich dachte, wenn wir nach Akink zurückkehren, wird alles heil. Licht heilt die Wunden, die die Finsternis aufgerissen hat. War das nicht alles, woran ich geglaubt habe? Doch dem ist nicht so. Licht und Finsternis löschen sich gegenseitig aus. Am Ende bleibt nur das Nichts übrig. Du denkst, wir sprechen über Träume? Magyria ist der Schrecken der Nacht und das Entsetzen, wenn man entdeckt, dass Dinge geschehen sind, die nie wiedergutzumachen sind. Magyria ist Wahnsinn. Es ist ein Geschwür, das sich durch die Wirklichkeit frisst.«

Mattim konnte nicht fassen, was er da hörte. »Du bist wahnsinnig, nicht dieses Land. Du bist der König! Es ist deine Pflicht, es zu lieben. Alles zu tun, um es zu retten!«

»Wenn der Fluss erlischt, wird alles auseinanderbrechen«, sagte Kunun.

In seiner Stimme lauerte ein Gefühl, das Mattim nicht einfangen konnte. War es letztendlich doch Bedauern?

»Wenn Magyria nicht mehr existiert, wird endlich Ruhe einkehren. Du solltest dich darauf einstellen. Es handelt sich nur noch um wenige Wochen oder Tage … Müsstest nicht gerade du froh darüber sein? Alles, was du willst und was du brauchst, ist drüben in der anderen Welt. Magyria ist die Finsternis, die deine Seele verschlingt. Magyria ist der Wahnsinn, der dich von einer aussichtslosen Schlacht in die nächste treibt. Die Zeit der Märchen ist vorbei, Bruderherz. Lass mich einmal im Leben etwas Gutes tun. Wir entfernen dieses wuchernde Krebsgewächs aus dem Universum.«

»Nein«, widersprach Mattim. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, er war wie erstarrt vor Entsetzen. Kunun musste sich irren. Das hier konnte nicht das Ende bedeuten. Nicht von ganz Magyria! Aber Kunun irrte sich selten. »Nein. Nein!«

»Die Sache wird nicht besser, wenn du dich wiederholst.«

»Nein!«, rief er noch einmal. »Das lasse ich nicht zu. Wir müssen das Licht wiederbringen, bevor es zu spät ist. Das Licht kann alles heilen, was bereits zerstört ist.«

»Magyria ist gefährlich, das weißt du. Menschen werden zu Schatten oder Wölfen. Aus hoffnungsvollen jungen Prinzen werden solche Gestalten wie du und ich, Feinde, die nicht aufhören können zu kämpfen. Lass uns die Zeit genießen, die uns noch bleibt, kleiner Bruder. Wer soll den Tod hereinbitten, wenn nicht wir? Wir werden ihm einen grandiosen Empfang bereiten. Der Wahnsinn lächelt in die Runde. Und was am Schluss übrigbleibt, ist hell und klar und leer.«

»Nein«, beharrte Mattim. »Nein und nochmals nein.«

»Du kannst nichts dagegen machen«, sagte Kunun. »Einmal wenigstens will ich erleben, dass du Stolz und Würde besitzt.«

Mattim wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, und als er sie wieder öffnete, war sein Bruder bereits verschwunden.

»Mattim«, flüsterte es im Gestrüpp. »Mattim …«

Er wandte sich um. »Wer ist da?«, fragte er scharf.

»Stolz und Würde.« Der ehemalige König von Magyria lachte leise, während er sich aus seinem Versteck herausarbeitete. »Als ob es darauf ankäme.«

»Vater!« Mattim bog einen Ast zur Seite und half seinem Vater heraus. »Stolz und Würde, in der Tat. Über diesen Punkt sind wir weit hinaus, mein Sohn. Ich bin vor ihm davongerannt, weil ich ihn nicht besiegen konnte. Und du? Was wirst du tun?«

»Er hat Hannas Gedächtnis ausgelöscht, und nun ist er dabei, Magyria zu vernichten! Es ist viel schlimmer, als ich dachte. Dabei soll ich gelassen zusehen? Nicht mit mir.«

»Meine Getreuen und ich können leider nicht viel ausrichten«, sagte Farank. »Hin und wieder retten wir einen Menschen vor ihm und seinen Jägern. Jede weitere Pforte schmiedet unsere Welt enger an die andere, kettet sie aneinander, bis sie am Ende beide in den Abgrund trudeln.«

»Wir brauchen eine Armee«, sagte Mattim. »Wie viele Rebellen hast du hier im Wald?«

»Nicht genug. An die zweihundert.«

Das war mehr, als Mattim erwartet hatte, doch sein Vater hatte recht. Mit zweihundert Schatten konnten sie Akink nicht zurückerobern.

»Die meisten von ihnen sind ehemalige Flusshüter, ein Teil von ihnen war Brückenwächter. Diese Leute wissen, wogegen sie kämpfen, sie haben Zeit ihres Lebens nie etwas anderes getan. Sie wissen, dass der Kampf noch nicht vorbei ist.« Farank schauderte. »Wenn Schatten gegen Schatten kämpfen, was wird das für ein Gemetzel? Aber wir haben keine Wahl. Das ist deine Armee, mein Sohn. Eine Handvoll Krieger gegen eine ganze Stadt. Was wirst du tun, Mattim?«

Sein Vater bot ihm nicht an, der kleinen Rebellenarmee beizutreten, er übergab ihm das Kommando.

»Warum ich?«, fragte er leise. »Du bist der König von Magyria.«

»Ich habe damals nicht weit genug gedacht, und daran sind wir gescheitert. Du dagegen hast die Schatten von Anfang an durchschaut. Ich habe dich für töricht gehalten, für leichtsinnig, doch du hattest mit allem recht. Du hast erkannt, wer sie waren, was sie vermochten. Du hast Akink schon einmal erobert, du kannst es ein zweites Mal tun.«

»Jetzt bist du selbst ein Schatten, Vater.«

»Ich habe mich vor Kunun gebeugt, Mattim. Ganz Akink hat es gesehen. Selbst wenn ich meinen Thron zurückerobern könnte, wäre mein Ansehen irreparabel beschädigt.«

»Ich habe mich auch vor ihm gebeugt.«

»Das ist etwas anderes. Du hast ihn getäuscht. Du hast für ihn gekämpft und gegen ihn, du hast immer das getan, was nötig war. Du bist auf eine Weise frei, wie ich es nie sein könnte. Dies ist dein Kampf, Mattim. Alle wissen es, glaub mir. Jeder Flusshüter, der hier auf meiner Seite steht, ist sich darüber im Klaren, dass wir für dich kämpfen.« Er legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter. »Sogar Kunun weiß es. Hat er nicht deshalb Hanna an seine Seite geholt? Sie ist der einzige Grund, warum du zögern würdest.« Er machte eine Pause. »Und«, fragte er dann, »würdest du dich davon bremsen lassen? Kannst du gegen Akink marschieren, gegen Kunun, solange Hanna bei ihm ist? Kannst du sogar gegen Hanna kämpfen, wenn es sein muss?«

Für Réka hatten sie damals Akink erobert und es den Schatten überlassen. Würde er für Hanna seinen Krieg aufgeben? Würde er ganz Akink und Magyria der Dunkelheit überlassen, die in der Nacht wucherte? Vielleicht hätte er diese Frage noch vor kurzem bejaht. Doch vor wenigen Augenblicken hatte Kunun ihm eröffnet, was wirklich auf dem Spiel stand. Es ging nicht nur darum, wer auf dem Thron saß. Die Zukunft von ganz Magyria war in Gefahr, möglicherweise würden sie sogar Hannas Welt in Mitleidenschaft ziehen.

»Die Hanna, die ich gekannt habe, ist stark. Sie würde ihr Leben geben für das, was sie liebt«, sagte er leise. »Für ihre Familie, sogar für ihre neue Budapester Familie. Niemals würde sie zulassen, dass jemandem etwas zustößt, nur damit sie in Sicherheit bleibt. Ich würde mich selbst für sie opfern, aber nicht die ganze Welt. Nicht das Leben von Unschuldigen.« Seine Stimme klang fest und sicher, und dahinter versteckte er, wie elend er sich fühlte. »Diese Marionette an Kununs Seite ist nicht Hanna. Diesmal lasse ich mich nicht erpressen. Der Kampf geht weiter.«

»Gut«, sagte Farank, obwohl sie beide wussten, dass nichts gut war.

»Die Zeit drängt, und noch sind wir zu wenige, um uns Akink zurückzuholen. Wir brauchen das Licht, dann werden sich uns weitere Schatten anschließen. Allerdings kann ich ohne Hanna nicht leuchten, und sie ist jetzt ein Schatten. Wenn sie mich nicht liebt, kann ich sie nicht zurückverwandeln. Was ist mit dir? Wo ist meine Mutter? Wenn sie noch immer ein Mensch ist, könnte sie dir dann nicht das Licht zurückgeben?«

Farank verzog schmerzlich das Gesicht. »Genau das hatten wir vor, nachdem wir uns wiedergefunden hatten. Sie war hier bei mir – aber dann ist sie verschwunden, und ich fürchte, Kunun hat sie in seiner Gewalt.«

Das waren schlimme Neuigkeiten.

»Ich habe Solta den Auftrag erteilt, sie zu suchen, nur deshalb ist er in der Burg geblieben. Bislang ist ihm jedoch der Erfolg versagt geblieben.«

»Warum?«, fragte Mattim. »Kann er denn nicht durch Wände gehen? Für einen Schatten sollte es keine Verstecke und keine Geheimnisse geben.«

»Leider kann nicht jeder Schatten so leicht durch Mauern gehen wie du. Für die meisten von uns sind Wände und Türen immer noch Hindernisse. Außerdem muss Solta sehr vorsichtig sein. Beim kleinsten Verdacht, dass wir darauf aus sind, Elira zurückzuholen, wird Kunun sie verwandeln lassen. Wenn er es nicht schon längst getan hat.«

Mattim nickte. »Wir werden sehr viele Risiken eingehen müssen, wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, diesen Krieg zu gewinnen. Ich werde mir etwas ausdenken, um Mutter zu finden. Das ist unser nächstes Ziel.«

Und Hanna, fügte er stumm hinzu. Er hatte nicht gelogen, als er versprochen hatte, die Rebellen gegen Akink zu führen, selbst wenn das bedeutete, dass er gegen Hanna kämpfen musste. Doch bevor es so weit war, würde er um sie kämpfen. Damals hatte sie ihm ihre Liebe geschenkt, ohne Gegenleistung, ohne dass er etwas dazu tun musste. Diesmal würde er wahrscheinlich ein wenig nachhelfen müssen. Sie hatte sich schon einmal in ihn verliebt – warum sollte das nicht ein zweites Mal möglich sein?

Farank wartete, bis sein jüngster Sohn gegangen war, dann winkte er seine Getreuen zu sich heran. Sie alle trugen das dunkle Grün der Flusshüter und verschmolzen fast mit dem Wald. Wenn sie wollten, waren sie nahezu unsichtbar.

»Ihr habt alles mit angehört?«, fragte er. »Goran, deine Meinung?«

Die junge Frau nickte. »Er wird kämpfen, ich glaube ihm. Sogar gegen Hanna. Kleiner Bruder bringt den Sieg. Diesmal für uns.«

»Was meinst du?«, wollte er von Wikor wissen, einem mächtigen Hünen, der Mattim schon zu seiner Zeit als Flusshüter gern auf die Füße getreten war.

»Das Risiko ist zu groß. Wir können nicht zulassen, dass Kunun Geiseln hat. Wir müssen das Problem beseitigen, solange noch Zeit ist. Wir sollten es so aussehen lassen, als wäre es Kunun selbst gewesen. Das wird Mattims Hass derart anstacheln, dass er gar nicht anders kann, als alles zu geben, um Hanna zu rächen.«

»Wenn er es herausfindet, könnte er sich gegen uns wenden«, gab Goran zu bedenken. »Dann könnte er glauben, das Licht sei den Kampf nicht wert.«

»Ist das nicht längst so?«, fragte Wikor. »Das Licht besteht nur noch aus einer Ansammlung von Schatten, die von besseren Zeiten träumen. Selbst der König ist ein Schatten!«

Farank hob die Hand, und sie verstummten. »Wenn es zur entscheidenden Schlacht kommt, könnte Hanna das Zünglein an der Waage sein. Beim Licht, Mattim schien mir entschlossen, das Richtige zu tun, aber kann er sich selbst trauen, wenn es um dieses Mädchen geht? Bevor es so weit ist, müssen wir handeln. An einer einzigen Person darf unsere Mission nicht scheitern. Ich selbst werde das übernehmen. Bis dahin krümmt keiner ihr auch nur ein Haar. Habt ihr das verstanden? Hanna bleibt am Leben, nur dann wird Kunun sich sicher fühlen. Er glaubt, Mattims Gefühle in- und auswendig zu kennen, er würde nie erwarten, dass wir dem Mädchen etwas antun. Bis zum letzten Augenblick muss das so bleiben, ist das klar?«

Sie nickten. Dann schlüpften sie wieder in den Wald zurück, in den Schatten, und es war, als wären sie nie da gewesen.

Mattim atmete wieder. Lautlos wie die anderen schlich er davon.