Unterwegs mit Franz Schubert
An dem Tag, von dem hier die Rede sein wird, regnete es ein wenig in Zürich. Als ich am Morgen noch einmal schnell am See entlanglief, hing ein zart grauer Schleier über der großen Wasserfläche, verdeckte den Blick auf das gegenüberliegende Ufer der Limmat, ließ den Dom mit den schmalen, gleich Fingern emporgereckten Fenstern mit den goldgrünen Vitragen von Marc Chagall nur ahnen, verhüllte die Gäßchen der Altstadt, die Bahnhofstraße mit den feinen Geschäften, das wuchtige Gebäude des Hauptbahnhofs mit all seinen Rolltreppen und Unterführungen an ihrem Ende; in knapp zwei Stunden sollte ich von hier abfahren.
Vor vielen Jahren war ich zum ersten Mal in diese Stadt gekommen. Damals lag überall Schnee. Ich war mit dem Zug quer durch Deutschland in die Schweiz gefahren, hatte mit einem Gemisch aus Widerwillen und Grauen durch das Wagenfenster die blutroten Fahnen mit dem schwarzen Hakenkreuz in der Mitte an den Häusern in der glitzernden Winterlandschaft betrachtet, hielt die Lippen fest zusammengepreßt, als ob jedes Wort, ja selbst ein flüchtiger Gruß verraten könnte, warum ich diese Reise unternahm und wen ich in Zürich treffen wollte.
Nachdem ich glücklich angekommen war, an demselben Bahnhof, allerdings noch ohne Rolltreppen und Unterführungen – und mit dem Schauspieler Wolfgang Langhoff und seiner Frau Renate, dem Schriftsteller Ludwig Renn und einigen neuen Freunden in der Wohnung des Ehepaars Langhoff am Mythenquai am Kaffeetisch saß, wich meine nervöse Spannung. Die Entdeckung einer neuen Stadt, das ganze Abenteuer dieser Reise ergriff von mir Besitz, begann wie ein Schluck guten Weins in mir zu prickeln. Zürich war damals der Zufluchtsort von im Reich verfolgten und aus dem Reich geflohenen Künstlern, vornehmlich Schauspielern und Literaten. Wie ungewöhnlich sind doch diese Menschen, dachte ich respektvoll, und was hatten sie nicht schon alles hinter sich! Dem schlanken Langhoff hatte man im Konzentrationslager Esterwegen die Zähne eingeschlagen (». . . und jetzt versuch deinen Quatsch von der Bühne zu verzapfen . . .«), und von dort hatte er das Lied der Moorsoldaten mitgebracht, das bald zu einer Art Hymne aller Antifaschisten wurde. Der bebrillte und ältere Hagestolz Ludwig Renn mit der leisen Stimme, der als Arnold Friedrich Vieth von Golßenau auf die Welt gekommen ist, war nach Haft und geglückter Flucht erst vor wenigen Tagen aus Deutschland eingetroffen. Renate erzählte, wie ihr Hans Otto während ihrer Krankheit geholfen hatte, als sie in Deutschland allein geblieben und ihr Mann hinter Stacheldraht gefangen war. Dieser hochbegabte Schauspieler ist dann selbst durch die Nazis umgekommen.
Ich war zum ersten Mal in Zürich, nur für wenige Tage, und begierig, möglichst viel von dieser – wie mir schien – geruhsamen Stadt in dem so unruhigen Europa der dreißiger Jahre kennenzulernen. Wenn ich am Seeufer spazieren ging und über mir die Möwen kreischten, hätte ich am liebsten vergessen, warum ich hergekommen war. Es gab damals Pläne für die Errichtung eines antifaschistischen deutschen Theaters in Prag, nachdem ein ähnliches Vorhaben in Moskau am bürokratischen »Njet!« und dem unverständlichen und unerhörten Vorgehen des Polizei- und Justizapparates gegenüber den schon angereisten deutschen Schauspielern gescheitert war. Wolfgang Langhoff hatte vor kurzem während eines Aufenthaltes in Prag initiativ und mit vollem Einsatz seiner Erfahrungen an diesem Plan mitgezimmert. Ihm sollte ich in dieser Sache Verschiedenes bestellen. In meinen wenigen Schweizer Tagen wollte ich tunlichst auch nicht an die winzigen Heftchen auf hauchdünnem Zigarettenpapier in meiner Reisetasche denken, die ich hierher gebracht und, wie vorgesehen, weitergegeben hatte. Sie waren für den Widerstand in Deutschland bestimmt. All das hätte ich jetzt gern ein wenig vergessen. An all das mußte ich dennoch fast unentwegt denken. Und doch war ich hier glücklich und mit meinen Freunden vergnügt.
Wenn ich mit diesen Menschen im Café Pfauen hinter dem Schauspielhaus saß, ging es bei dem lebhaften Gespräch immer wieder auch darum, was man gegen das schreckliche Geschehen im Hitlerreich tun sollte. Niemand in dieser Runde dachte daran, sich mit dem Schicksal Deutschlands – es war ja auch das künftige Schicksal Europas, das war allen bewußt – abzufinden. Langhoffs Buch »Die Moorsoldaten« lag bereits, übersetzt in viele Sprachen, in den Buchhandlungen verschiedener Länder auf dem Ladentisch. Der Autor war inzwischen auf die Bühne zurückgekehrt, war wiederum Schauspieler.
Die schlimmen Erfahrungen ließen sich jedoch nicht so schnell abschütteln. Eines Nachts begann Ludwig Renn fieberhaft aus dem Gedächtnis die Gedichte niederzuschreiben, die er während seiner Gefangenschaft verfaßt hatte. Mit einem Mal überfiel ihn die Angst, er könnte sie vergessen.
Ich kam aus Prag und nahm erregt an allem teil, das mir hier geboten wurde, insbesondere an dem so selbstverständlichen Zusammensein guter Freunde, von denen mancher den anderen erst vor wenigen Wochen oder gar nur Tagen kennengelernt hatte. Jetzt war auch ich ein Teilchen dieser Gemeinschaft, so jung und unerfahren ich auch war. Ich bemühte mich ehrlich, die Fülle der Einfälle und Pläne, die mich umschwirrten, in meinem Kopf festzuhalten. Bei all dem ruhelosen Treiben, der Geschäftigkeit in und um das Theater, den literarischen Diskussionen, die ich begierig anhörte, und den mitunter halb geflüsterten illegalen ins Dritte Reich zielenden Vorhaben, fand man noch Zeit, sich ein wenig um mich zu kümmern.
So führte man mich z. B. eines Abends in das Cabarett Cornichon. Hier imponierten mir der junge Robby Trösch und seine ebenso jungen Kollegen ungeheuer mit ihrem frechen und dabei immer künstlerischen Draufgängertum. Ein andermal zeigten mir die deutschen Emigranten in der Spiegelgasse das Haus, wo der russische Emigrant Lenin und seine Frau Krupskaja in ihrer Exilzeit monatelang gewohnt hatten. In der Froschgasse durfte ich in der Buchhandlung Pinkus nach Herzenslust in den vollgepferchten Regalen stöbern. Ich wurde auch zu einem Besuch beim Verleger Emil Oprecht mitgenommen. Bislang war er für mich ein oft erwähnter Name gewesen, jetzt nahm er handfeste Gestalt an.
All das war der Einblick in eine Welt, für die sich jedes Risiko lohnte, nicht nur eine Reise durch das gefährliche Deutschland. Ich bewunderte diese entschlossenen Menschen, die, so schien es mir, gleichzeitig mit einem Auge zu lachen und mit dem anderen zu weinen verstanden, ich wollte so entschlossen sein wie sie, wollte nichts Geringeres, als mit ihnen eine bessere Welt zu schaffen.
Aber vorerst genoß ich Zürich, diese Stadt, die in vielerlei Hinsicht ganz anders war als mein Prag. Wenn ich hier durch die Straßen schlenderte, staunte ich, daß alles so sauber, ordentlich und wohlgeregelt wirkte, die Menschen, die blau-weiß angestrichenen, gigantischen Milchkannen ähnelnden Trambahnen, selbst der silbrig schimmernde See. Bis dann eines Abends plötzlich ein Schneesturm ausbrach, den Verkehr in der ganzen Stadt im Nu völlig lahmlegte, die Menschen von den Straßen jagte und den so lieblichen See zu ungeahnter Wildheit aufpeitschte. Am nächsten Tag stapfte ich durch Schneeverwehungen zum Bahnhof.
Diesmal regnete es an meinem Abfahrtstag. Eine Freundin brachte mich zum Zug. »Du fährst mit dem Franz Schubert«, sagte sie, als wir, das Gepäckwägelchen vor uns schiebend, den richtigen Bahnsteig suchten.
»Wie bitte?«
»Das hast du noch nicht festgestellt?« fragte sie lachend.
»Der Vormittagszug Zürich-Wien trägt den Namen Franz Schubert, der Abendzug heißt Wiener Walzer.«
»Wien bleibt Wien«, antwortete ich, nun gleichfalls lachend.
»Hat es das zu deiner Vorzeit noch nicht gegeben?« erkundigte sich meine Freundin.
»Ich glaube nicht. Als ich in den dreißiger Jahren herzukommen pflegte, hat es hier allerhand noch nicht gegeben, was heute gang und gäbe ist.«
»Zum Beispiel?«
»Jugendkrawalle. Oder die Bummelstraße mit den Mädchen in schwarzen Strumpfhosen und weißen Kurzpelzchen rings um die vielen neuen Lokale. Wahrscheinlich hat sich das damals anderswo und auch etwas anders abgespielt. Dann gibt es jetzt viele neue Galerien, und wahrscheinlich ist in der Kultur überhaupt mehr los.«
»Man behauptet allerdings, daß die dreißiger Jahre in Zürich eine Art Blütezeit der Kultur waren«, bemerkte meine Freundin.
»Das stimmt ja auch. Obwohl es damals gar nicht einfach war, in der Schweiz Asylrecht zu erhalten. Selbst bekannten Persönlichkeiten wurde es oft verweigert. Aber am Schauspielhaus war eine ganze Reihe großartiger Schauspieler engagiert, die Giehse, Langhoff, Paryla, an alle kann ich mich gar nicht mehr erinnern.«
Inzwischen hatten wir meinen Wagen gefunden, auch das Abteil und meinen durch eine Platzkarte reservierten Fenstersitz. Nachdem ich mich installiert hatte, kehrte ich zu meiner Begleiterin auf den Bahnsteig zurück, wir plauderten noch ein bißchen, erst als das Abfahrtszeichen gegeben wurde, stieg ich wieder ein und nahm an meinem Fenster Platz.
Gleichzeitig mit mir betrat ein älteres Ehepaar das Abteil. Die Frau war unscheinbar, in einem beigefarbenen Kostüm, der Mann schmalgesichtig, mit schütterem, leicht angegrautem Haar und einer Hornbrille auf der Nase. Sie hockten still wie zwei große graue Vögel in ihrer Ecke an der Tür, schlugen sofort irgendwelche illustrierten Zeitschriften auf und zeigten nicht das geringste Interesse für die Landschaft, die der Zug nunmehr durcheilte. Auch zwei weitere Mitreisende waren nicht weiter auffallend.
Geräuschlos federnd fuhr der Eilzug Franz Schubert den See entlang, der jäh in hellem Sonnenlicht erstrahlte, blank und einladend, mit blühenden Bäumen bis hinunter zum Wasser und schlohweißen Wolkenseglern über den imposanten Bergmassiven. Es war Frühling, und ich freute mich auf die Fahrt durch die Alpen.
Wenn man in den siebziger Jahren aus meinem Land, der Tschechoslowakei, kam, war man auf strikte Grenzprozeduren vorbereitet. Nichts dergleichen gab es zwischen der Schweiz und Österreich. Jemand steckte einen mit einer Uniformmütze bedeckten Kopf in unser Abteil, die Pässe wurden schnell gestempelt, kein Gepäckstück mußte auch nur verrückt werden. Dann wechselten die Uniformen der Schaffner, und man befand sich in Österreich.
Franz Schubert, dachte ich, dieser Zug trägt deinen Namen offenbar zu Recht, saust geradezu liebenswürdig beschwingt durch die Gegend.
Die Alpen lagen noch unter Schnee. Die bekannten Wintersport- und Luftkurorte, die der Zug passierte, wirkten trotzdem schon ein wenig verschlafen. Nur ab und zu schoß ein einsamer Skiläufer einen Hang hinab. Vor einem Hotel saßen einige Frauen in Strecksesseln, vermummt in großkarierte Decken, und hielten ihre hübschen Gesichter der Sonne entgegen. Im Ötztal lieferten sich Kinder in lustigen Wollmützen eine Schneeballschlacht hart an der Bahnstrecke.
Ich geriet beinahe in Ferienstimmung, so angenehm ließ sich diese Reise an. Im Ötztal war ich nie gewesen, aber meine Mitschülerinnen aus gutsituierten Prager Familien verbrachten mit ihren Eltern fast jedes Jahr die Ferien im Salzkammergut. Einmal wurde ich von den Eltern einer Schulfreundin nach Alt-Aussee mitgenommen. In meiner Erinnerung blieb eine eiskalte flaschengrüne Wasserfläche, die einem erst den Atem benahm und dann wie ein Brausebad wirkte. Alle, auch die Prager Mädchen, liefen hier im Dirndl herum und wetteiferten um die Gunst der braungebrannten einheimischen Jünglinge beim sonnabendlichen Polsterltanz im Wirtshaus. Dann habe ich auch noch einen älteren untersetzten Mann mit dunklen Augen im Gedächtnis, den ich meistens auf einer Bank vor seinem Haus sitzen sah, den Schriftsteller Jakob Wassermann, dessen Bücher wir damals verschlangen.
Meine Mitreisenden wechselten. Eine Zeitlang saß mir eine üppige Brünette gegenüber, zwei junge Männer kamen und gingen wieder. Nur das still in der Ecke hockende Ehepaar, die beiden grauen Vögel, rührte sich kaum. Der Mann döste ein wenig, die Frau hob den Blick nicht von ihren Zeitschriften mit den internationalen Schönheiten auf den Titelseiten.
Abermals hielt der Zug. Ein paar Menschen stiegen aus, andere kletterten in die Wagen. Die Tür unseres Abteils ging auf. Ein älterer Mann, nicht groß und nicht klein, ohne Gepäck, blickte sich um, sagte »Grüß Gott!« und steuerte auf den Fensterplatz mir gegenüber zu, den die üppige Brünette vorher eingenommen hatte. Es war mir entgangen, daß sie schon ausgestiegen war. Der Mann knöpfte seinen kurzen Hubertusmantel auf, verstaute den Hut mit Gemsbart im Gepäcknetz und ließ sich mit einem Seufzer der Erleichterung auf die Polster fallen. Dabei streifte er mich mit einem flüchtigen Blick.
Weiß Gott, warum ich dabei erschauerte. Der Fremde hatte doch, als er das Abteil betrat, höflich gegrüßt, nichts an ihm war ungewöhnlich oder sonst wie auffallend. Ein gutmütiger Onkel vom Land. Wahrscheinlich ein Rentner, der Briefmarken sammelt oder Blumen züchtet. Er könnte auch einen Hund haben, mit dem er morgens, mittags und abends um den Häuserblock läuft. Bloß der Blick . . .
Er war übrigens nur ganz kurz, nicht prüfend und nicht beurteilend. Ein Blick, der über mich hinwegging und nur ein klein wenig stockte, als ob der Mann mit Blitzesschnelle etwas an mir erkannt und registriert hätte. Er traf mich nicht, dieser flitzende Blick, er ätzte. Wie der Spritzer aus einer Giftflasche.
Ich blickte von neuem aus dem Fenster. Berge, Wälder im Nebeldampf, da und dort ein gischtiger Wasserfall, immer weniger Schnee. Mit einem Mal fühlte ich mich müde. Ich war ja auch frühzeitig aufgestanden und jetzt schon ein paar Stunden unterwegs. Ich verkroch mich hinter meinen Mantel und versuchte einzuschlafen. Vergeblich. Da fiel mir ein, daß der Franz Schubert gewiß auch einen Speisewagen mitführte. Mit einem Schlag verspürte ich geradezu unbändigen Kaffeedurst. Das war es! Ich brauchte einen Kaffee. Ich langte nach meiner Handtasche und begab mich in das fahrende Restaurant.
Nur wenige Tische waren besetzt, ich fand einen angenehmen Platz in der Fahrtrichtung. Zwei Jugoslawen in grellbunten Pullovern am Tisch hinter mir unterhielten sich ungeniert über Frauen und im Zusammenhang damit über die vor kurzem beendete Wintersportsaison. Ich bestellte Kaffee und Kuchen und konnte der Versuchung nicht widerstehen, dem Gespräch hinter mir eine Weile zuzuhören. Es machte mir Spaß, daß die beiden Männer glaubten, völlig unter sich zu sein, weil sie natürlich nicht wissen konnten, daß ich ihre serbisch geführte Unterhaltung verstand. Ein älterer Italiener links von mir lächelte mir, der einzigen Frau im Wagen, galant zu und machte sich dann gleich wieder mit offenkundigem Vergnügen über seine Schinkenomelette her. Der Kaffee schmeckte schon ein wenig nach Wiener Kaffeehaus, ebenso wie die fast schwarze Schokoladentorte mit einer Haube aus steifer Schlagsahne. Schubertsche Liebenswürdigkeit auch im Speisewagen!
Vor dem Fenster zog Österreich vorbei. Kinder auf Fahrrädern, flinke kleine Autos und anspruchsvolle Transportkarren, Frauen und Männer im Lodenkostüm. Das erinnerte mich an den Hubertusmantel meines Gegenübers in unserem Abteil.
Wahrscheinlich war der Mann ein durchaus harmloser Reisender, dem ich einen ungewöhnlichen Blick zuphantasiert habe. Generationsbedingte Belastung, das weiß ich doch. Schließlich ist man nicht immer und überall von Feinden umstellt. Jahrzehnte nach dem Krieg und der ganzen Katastrophe. Nur dieser Blick . . .
Ich zahlte und kehrte in mein Abteil zurück.
Die Zusammensetzung der Fahrgäste hatte sich dort inzwischen wieder ein wenig verändert. Zwischen dem schweigsamen Ehepaar und meinem Gegenüber saß nun eine fröhlich um sich blickende, etwa fündunddreißigjährige Frau im klassischen Kostüm, auf dem Schoß eine Tüte mit Bonbons, an denen sie pausenlos knabberte. Als ich eintrat, grüßte sie mich freundlich und hielt mir sogleich ihre Süßigkeiten entgegen. Ich dankte und merkte dabei, daß meine Rückkehr offenbar eine Unterhaltung unterbrach. Um nicht weiter zu stören, verdrückte ich mich schnell in meine Ecke.
»Also mir hängt das alles schon zum Hals raus«, erklärte denn auch in diesem Augenblick die Bonbons lutschende Blondine und setzte ein kleines Schmollmündchen auf. »Wollens net von was anderem reden? Schauns, ich hab bei meiner neuen Wohnung einen kleinen Garten. Könntens mir nicht lieber raten, was ich dort jetzt am besten als erstes anpflanzen soll? Ihre Frau hat doch gesagt . . .«
»Ach, das weiß mein Mann viel besser«, sagte die Frau mit den Zeitschriften, die nun auf ihrem Schoß lagen, fast erschrocken. »Richard, willst du die Dame nicht beraten, wir haben ja immer so gepflegte Rabatten.«
Der Mann namens Richard nahm seine Hornbrille ab, holte aus der Rocktasche ein grau-grün gestreiftes Taschentuch hervor, begann seine Augengläser zu putzen und schien sich auf eine längere Rede vorzubereiten. Aber noch ehe er anhob, ließ sich mit einem Mal mein Gegenüber vernehmen.
»Sie waren doch auch im Krieg«, sagte der Mann zu dem grauen Vogel in der Ecke in einem Ton, der nicht im geringsten auf den Wunsch der jungen Mitreisenden einging und ganz deutlich auch keinen Widerspruch duldete, »wo hat Sie denn das Ende erwischt?«
Die Frau mit der Bonbontüte verzog ihr Schmollmündchen, schüttelte mißbilligend den kunstvoll arrangierten Lockenkopf, sagte aber nichts.
Das graue Männchen bei der Tür war jedoch von dieser Frage wie von einem Zauberstab berührt. Die Hornbrille sauste mit einem Schwung auf die Nase zurück, das Taschentuch verschwand in der Rocktasche, und mit völlig veränderter, beinahe kraftvoller Stimme antwortete es:
»Also das war in Böhmisch Budweis, bei General Schörner. Da bin ich in Gefangenschaft geraten. Gott sei Dank bei den Amerikanern und nicht beim Russen.«
Habe ich mich nicht verhört? Die Truppen General Schörners haben in den ersten Maitagen des Jahres 1945 versucht, den Aufstand der Prager Bevölkerung zu liquidieren. Wie die Liquidationsabsichten des Generals aussahen, besagen viele, allzu viele Gedenktäfelchen an gefallene Barrikadenkämpfer, aber auch an ermordete Frauen und Kinder vor allem in den südlichen Außenbezirken von Prag. Aber da war mein Mitreisender wohl schon in Gefangenschaft, Gott sei Dank bei den Amerikanern und nicht beim Russen.
»Und vorher?« wollte mein Gegenüber weiter wissen. Fragte ganz gemütlich, zugleich aber auch jetzt wieder mit unüberhörbarem Nachdruck.
»Wie es halt so kam«, lautete die bereitwillige Antwort. »Zuerst hat es mich nach Rumänien verschlagen und dann nach Preßburg und Znaim. Hatte Schwein, war nie an der Ostfront. Der Schluß kam dann, wie ich schon sagte, bei Schörner in Böhmisch Budweis. Und Sie?«
Der Mann auf dem Fensterplatz gegenüber ließ sich nicht lange bitten.
»Also ich war zum Glück bei der SS«, sagte er vergnügt, hob den Arm und klopfte mit der Hand leicht in seine Achselhöhle, wo die Totenkopfträger der Sturmstaffeln bekanntlich das Zeichen für ihre Blutgruppe eintätowiert hatten. Schließlich waren sie eine Elitetruppe.
Ich starrte ihn an. Da saß mir gegenüber, kaum einen Meter entfernt, ein Mann, der Jahrzehnte nach Kriegsende in einem internationalen Eilzug ohne die geringste Hemmung, ja sogar mit unverhohlenem Stolz bekanntgab, daß er »zum Glück« bei der SS gewesen war. Soll ich etwas sagen, bohrte es in meinem Kopf, oder ihn lieber weiterreden lassen? Was wird er uns, um Himmels willen, noch erzählen? Ich könnte ihn ja zum Beispiel fragen, ob er mit seinem SS-Kommando nicht zufällig meiner kleinen Schwester in Ravensbrück begegnet war oder meiner älteren Schwester mit ihrem achtjährigen Söhnchen in Auschwitz. – Meine Mutter – o Gott, mit meiner Mutter war ich doch als kleines Mädchen im Prager Neuen Deutschen Theater bei einer Aufführung des Dreimäderlhauses und habe mit Herzklopfen das bittersüße Liebesspiel um Franz Schubert verfolgt –, meine Mutter hat in Theresienstadt Uniformen bügeln müssen, ehe sie nach Birkenau transportiert wurde. Vielleicht war seine darunter. Soll ich ihn fragen?
Ich schwieg.
»Sie müssen wissen, ich bin Invalide«, fuhr inzwischen mein durchaus rüstig aussehender Zugnachbar in seinem Bericht fort. »Ich war nämlich auch noch beim Endspiel in den Ardennen dabei. Habe dort einen Lungenschuß abbekommen. Seither trage ich allerhand alliierte Splitter als Souvenir in beiden Flügeln der Lunge mit mir herum, ha, ha.«
»Da müssen Sie sich aber schonen«, mahnte die Frau mit den Zeitschriften mitfühlend.
»Na ja, wir halten schon was aus, war ja auch kein Kinderspiel unser Feldzug.«
Das war er nun wirklich nicht.
Ich hüstelte ein wenig, weil mir der Hals ausgetrocknet war. Die Blondine hielt mir sogleich von neuem mit liebenswürdigem Lächeln ihre Bonbontüte hin.
»Nehmens doch bitte und lutschens langsam, das hilft.«
Absurd. Das Ganze kann nicht wahr sein. Meine Phantasie gaukelt mir wohl nur etwas vor. Ich muß mich zusammennehmen, das ist alles.
Ich steckte dankend ein Himbeerbonbon in den Mund und blickte dem Mann gegenüber voll ins Gesicht. Er streifte mich abermals mit seinem spitzen Blick.
»Ja und dann?«
Die Brillengläser seines Kameraden in der anderen Ecke blitzten, das ganze Männlein zappelte vor ungeduldiger Wißbegierde. Was war das doch damals für eine große Zeit!
»Na dann begann ja die große Scheiße«, fuhr der Befragte, immer gemütlich, fort. »Bei Ingolstadt haben mich die Amerikaner gefangengenommen. Sie sagten es, war auf jeden Fall besser als beim Russen. Obwohl, von Ordnung und Organisation hatten die auch keinen blassen Dunst. Denken Sie nur, wir waren hübsch ein paar tausend Mann. Da haben die uns doch auf einer Wiese oder einem abgebrannten Acker – bei dem Durcheinander konnte man das ja nicht richtig feststellen –, die haben uns dort also alle zusammengepfercht, einen Strick rundherum gespannt und bitte sehr! Das war bei denen ein Kriegsgefanenenlager!«
»Und Sie noch dazu mit Ihrer Verwundung!« bemerkte die Frau in der Ecke gefühlvoll und glättete kopfschüttelnd ihre Zeitschrift.
Mein Gegenüber machte bloß eine wegwerfende Handbewegung.
Wie viele Menschen pflegte die SS in einem Viehwagen zusammenzupferchen? Allerdings perfekt organisiert; von einem Verschluß mit Stricken war da keine Rede, auch die Bewachung funktionierte verläßlich.
»Von wegen Verwundung«, sagte der Mann und lachte kurz auf. »In einer solchen Lage hat man andere Sorgen. Habe mich bald mit ein paar Kameraden abgesprochen, und eines Nachts gingen wir los. Na und einmal draußen, da haben mir die Menschen überall geholfen. Es genügte, daß ich den Arm hob«, und er hob ihn auch jetzt und klopfte wieder leicht an seine Achselhöhle, »und alles ging wie am Schnürchen. Obwohl die armen Luder selbst schon kaum etwas hatten. Eine Frau gab mir einen Rock von ihrem gefallenen Mann, hat ihn ja auch nicht mehr gebraucht, zumindest damals noch nicht.« Und er schmunzelte und zwinkerte vielsagend der Blondine neben sich zu.
»Hätte ihn aber preiswert verklopfen können«, warf der Mann mit der Hornbrille ein, wollte auch wieder etwas zu dem interessanten Gespräch beitragen.
Mein Gegenüber streifte ihn bloß mit einem verächtlichen Blick. »Ich war doch von der SS«, bemerkte er nur.
Bin ich feige, müde, oder ist es richtig, wenn ich mir das alles nur schweigend anhöre? Hätte es überhaupt einen Sinn, vor diesem Alten im Lodenmantel unterwegs mit Franz Schubert etwa Auschwitz zu erwähnen? Las ich doch gerade heute Morgen beim Frühstück in der netten Züricher Pension in der Zeitung, daß SS-Obersturmbannführer Walter Rauff, der für die Ermordung von neuntausendsiebenhundert Juden in mobilen Gaskammern verantwortlich gemacht wird, »in seinem Haus im vornehmen Stadtteil Las Condes der chilenischen Hauptstadt Santiago friedlich entschlummert ist«. Neuntausendsiebenhundert sind nur ein Bruchteil von sechs Millionen, nur ein Bruchteil. Zweiundneunzigtausend Frauen sind allein im Konzentrationslager Ravensbrück umgekommen. Was waren sie für Menschen, der SS-Obersturmbannführer Walter Rauff und seinesgleichen, die solches fertigbrachten und dann friedlich in eigenen Häusern und vornehmen Stadtteilen weiterlebten? Was kann man tun, wenn man durch einen verrückten Zufall mit einem Mal jemandem von dieser Sorte begegnet? Mein Gegenüber war gewiß nur ein kleiner Fisch – aber dennoch.
»Am meisten hat mir eine Frau geholfen«, fuhr der kleine Fisch soeben in seinem Tatsachenbericht fort. »Das war schon hier, bei uns in Österreich. Wo wollen Sie denn hin, hat sie mich gefragt, als ich über unbestellte Felder und unwahrscheinlich zerstampfte Wiesen auf ein paar Felsen zusteuerte. Dort gehen Sie ja nicht hin, sagte sie, da oben ist Mauthausen, die dort sind ganz wild. War ja auch wahr. Und dann hat sie mich selbst auf Umwegen um dieses Mauthausen herumgeführt.«
Die Blondine hatte inzwischen fast alle ihre Bonbons verzehrt, rutschte auf ihrem Sitz unruhig hin und her, traute sich jedoch anscheinend nicht, das Gespräch noch einmal zu unterbrechen, zumal auch sie den Abenteuern meines Gegenübers jetzt mit wachsendem Interesse lauschte.
Mauthausen. Mauthausen mit der berüchtigten Höllentreppe im Steinbruch. Ich kannte ein paar Menschen, die sie überlebt haben. Sie sprechen nur selten darüber.
Um mein Gegenüber nicht anblicken zu müssen, wandte ich mich dem Fenster zu, sah aber nichts, weil es draußen mittlerweile ziemlich dunkel geworden war.
Wie wohl die Frau ausgesehen hat, die den flüchtenden SS-Mann vor der Wildheit der kaum befreiten, halb verhungerten Konzentrationslagerhäftlinge in Mauthausen bewahren wollte? Der Mann war damals jung, vielleicht war sie es auch. Was denkt sie heute, falls sie noch lebt? War sie verheiratet? Hatte sie Kinder, wiegt sie jetzt Enkelkinder auf ihrem Schoß? Und falls sie Töchter gebar, wie hat sie sie erzogen? Was mag die Mutter einer Ingeborg Schulte ihrem kleinen und später auch größeren Mädchen von ihren Jugenderlebnissen aus der Nazi- und Kriegszeit erzählt haben, daß sich die junge Frau veranlaßt sah, gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Hans-Günther Fröhlich ein Spiel mit dem Titel »Jude, ärgere dich nicht« auszuhecken. Sie zeichneten ein Spielfeld in Form eines Davidsterns, dessen Ecken die Vernichtungslager Treblinka, Buchenwald, Auschwitz, Mauthausen, Maidanek und Dachau darstellten. Von dort aus sollten die Figuren in die Gaskammern des Zielpunktes gewürfelt werden. Gewinner war, »wer zuerst seine sechs Millionen Juden-Figuren in der Gaskammer hat«; so war es in den Spielregeln der beiden jungen Leute zu lesen. Ingeborg Schulte mußte für ein paar Monate ins Gefängnis, weil sie dieses Spielchen eigenhändig gemalt hat und vervielfältigt zum Versand brachte. Ihr Freund, der die ganze Sache offenbar »nur« ausgedacht hat, kam ungeschoren davon.
Kann man so etwas im Franz Schubert zwischen Zürich und Wien überhaupt erwähnen? Ich konnte es nicht.
»Wissens, für einen Kriegsbeschädigten sehen Sie aber gottlob prima aus«, ließ sich die Blondine vernehmen, die eine Pause in dem Redefluß ausnützte, um die Unterhaltung in zivilere Bahnen zu lenken und auf einen erfreulicheren Gesprächsstoff überzugehen. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie nicht ganz obenauf sind.«
»Ach was«, antwortete der Mann, der sich durch diese Worte anscheinend geschmeichelt fühlte, »man muß halt ein bißchen auf sich aufpassen, das ist alles. Nächsten Monat fahre ich wieder zur Kur in ein Erholungsheim für Kriegsopfer, bin dort jedes Jahr.«
Ist doch in Ordnung, beschwichtigte ich mich im Geist. Wer in den Ardennen einen Lungenschuß abbekommen hat, ist eben ein Kriegsopfer.
Und wer Mauthausen oder sonst ein KZ überlebt hat, ohne daß man es ihm heute ansieht, welches Erholungsheim ist für ihn jedes Jahr zuständig?
»Haben Sie auch einen Garten?« Unbeirrt unternahm die Blondine einen weiteren Versuch, dem Gespräch eine angenehmere Richtung zu geben. »Frische Luft ist die beste Medizin für alles.«
»Einen Garten haben wir. Es gibt ja nichts Schöneres als die zarten Blüten eines Apfelbaums im Frühling. Jetzt werden bald auch schon die Linden blühen, in ein paar Wochen sind wir soweit. Da sagt dann immer meine Frau zu mir: Nimm von dem Duft die Nase ordentlich voll, und du wirst wieder jung. Ha, ha!«
Das Gespräch plätscherte harmlos weiter. Die Blondine wiederholte ihre Frage, was sie als erstes in ihrem neuen Garten anbauen sollte. Bereitwillig und mit soliden Kenntnissen erteilten ihr die beiden Männer Ratschläge. Dann sprang die Unterhaltung auf Erfahrungen mit Autos verschiedener Marken über, und mich beschlich das sonderbare Gefühl, das ungeheuerliche Geschwätz vorher habe vielleicht überhaupt nicht stattgefunden, war nur ein Alptraum.
Ich kroch ein wenig aus meiner Fensterecke hervor und blickte meinem Gegenüber abermals voll ins Gesicht. Den Bruchteil einer Sekunde flatterte sein Blick ein wenig, festigte sich jedoch gleich wieder, wurde eiskalt und hart. Da wußte ich, daß alles Wirklichkeit war, daß ich richtig gehört habe, von der Tätowierung in der Achselhöhle bis zum Umweg um Mauthausen herum.
»Ich habe kolossale Lust auf einen Kaffee«, verkündete die Blondine in diesem Augenblick. »Kommt jemand mit in den Speisewagen?«
»Wenn es nicht unbedingt Kaffee sein muß, bin ich gleich mit von der Partie«, erklärte der Mann mir gegenüber. Auch das Ehepaar an der Tür wollte gern mitkommen.
Alle erhoben sich. In der Tür des Abteils blieb der SS-Mann stehen, wandte sich um und sagte überaus höflich: »Dürfen wir Sie bitten, gnädige Frau, inzwischen ein wenig auf unsere Sachen aufzupassen?«
Ich nickte wortlos.
Als die Tür hinter ihnen zufiel, atmete ich auf. Jetzt konnte ich wieder für eine Weile die zwanglose Freiheit des Niemandslandes zwischen dem Ausgangspunkt und dem Endziel der Fahrt auskosten, wie ich das bei längeren Reisen so gern habe. Unterwegs tritt, gewollt oder ungewollt, ein Zustand süßen Nichtstuns ein. Eine Ruhepause. Man ist weder da noch dort, kann bestenfalls ein Buch lesen oder seinen Gedanken freien Lauf lassen.
Meine Gedanken wanderten diesmal, gewollt oder ungewollt, von neuem nach Las Condes, in das vornehme Stadtviertel von Santiago de Chile, die Stadt, in der Pablo Neruda gelebt und gedichtet hat und wo dann Walter Rauff, der einstige SS-Obersturmbannführer, ein Haus besaß. Ich versuchte es mir vorzustellen, wußte ich doch, wie solche Häuser in Lateinamerika aussehen. Da gibt es zunächst einen schattigen Patio mit blühenden Oleanderbäumen in breiten Holzbottichen. Von dort gelangt man in die behagliche Wohnstube und das kühle Eßzimmer mit einem schweren, großen Tisch in der Mitte. Bei den Rauffs mag es ringsum geschnitzte Stühle geben, wie sie bei ihnen früher auch in Deutschland standen: für den Herrn und die Frau des Hauses, die Kinder, vielleicht auch die Großeltern und . . .
In den Ländern des von Indios bewohnten Kontinentes ist es üblich, bei Familienfesten auch einen Stuhl für einen lieben Toten mit an den Tisch zu stellen.
Ich schloß die Augen und sah, wie in das schöne Speisezimmer bei Walter Rauff ganz ungebeten gleich mehrere Stühle an den Eßtisch heranrückten, die leeren Stühle seiner Opfer. Manche hinterließen häßliche schwärzliche Spuren auf den bunten Steinfliesen. Die kamen von den Verbrennungsöfen. Ich vermeinte, das erschrockene Gesicht von Frau Rauff vor mir zu sehen, als, einander schubsend, eine Menge Kinderstühlchen hereindrängten, stets zwei auf einmal. Auf ihnen mußten wohl die Zwillinge sitzen, die Walters Kollege Doktor Mengele so dringend für seine Versuche benötigte und zu diesem Zweck in ganz Europa zusammentreiben ließ. Und da quoll schon der ganze Raum von großen und kleinen, hohen und niedrigen Stühlen über. Und immer weitere schoben sich heran. Jetzt drangen sie gar schon in das Bibliothekszimmer mit den in Leder gebundenen Gesamtausgaben der Klassiker ein. Soeben hat das eine Gruppe von zweiunddreißig Lehnsesseln geschafft, wie man sie bei Schreibtischen in Studierzimmern von Gelehrten findet. Hier waren es die Stühle polnischer Ärzte, Juristen und Ingenieure, die seit dem 5. Juli 1941 leer geblieben waren. Wußtest du davon, Walter, fragt Frau Rauff mit zitternder Stimme ihren Mann. Die Antwort bleibt aus.
Und der Strom bricht nicht ab. Das ganze Haus ist schon voll, sie stehen Wand zu Wand, die leeren Stühle, auch das Treppenhaus ist bereits dicht besetzt. Im Patio drängen sich die abgewetzten Bänkchen jüdischer Kinder, die sehr wohl wissen, daß sie nicht ins Haus dürfen. Der Gehsteig der vornehmen Straße läuft allmählich gleichfalls von den leeren Stühlen über, sie gleiten in die Fahrbahn, behindern den Verkehr und nehmen kein Ende, kein Ende. Wie in dem Märchen, in dem das Töpfchen mit dem süßen Brei überfließt. Nur daß hier . . . Wieviele Stühle müßten es da wohl sein?
Im Lautsprecher über der Tür des Abteils begann es zu rauschen, und eine angenehme Frauenstimme meldete die nächste Station. Mein quälender Traum brach ab.
Draußen war es inzwischen ganz dunkel geworden. Als sich der Zug von neuem in Bewegung setzte, flitzten erhellte Fenster vorüber, bunt beleuchtete Reklametafeln an hohen Gebäuden, das Lichtergewirr einer lebhaften Straßenkreuzung. Dann wieder nichts als samtene Finsternis.
Als ich kurz vor Kriegsbeginn täglich in einen Vorort von Paris zu fahren pflegte, wo ich damals wohnte, hatte ich oft den Wunsch, mit meinem flüchtigen Blick aus dem Zugfenster etwas vom Leben der Menschen zu erhaschen, in deren Küchen und auch Schlafzimmer ich auf diese Weise ungebeten für eine Sekunde eintrat. Wie lebten die Männer und Frauen dort, was dachten sie, hatten sie Sorgen, waren sie froh oder traurig, ahnten sie, daß gerade jemand zu ihnen hereinblickte, der, obwohl aus seinem Land verjagt, im ganzen doch ebenso war wie sie?
Als ich mich nun Wien näherte, bedrängte mich mit einem Mal der Gedanke, daß in der Welt so viele Menschen leben, die – von Grund auf verschieden – einander vielleicht nie verstehen werden. Das hat es freilich immer gegeben, sagte ich mir, warum beunruhigt es mich gerade jetzt so sehr? Weil die Welt an der Scheide des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts scheinbar kleiner geworden ist? Aber das könnte doch nur zur Folge haben, daß man einander näherkommt, näher von Mensch zu Mensch. Oder weil uns nicht gelungen ist, was wir in unserer Jugend erhofft hatten. Wie haben wir, als wir jung waren, gesungen? »Wir wollen mit Tyrannen raufen . . .« und haben es damit todernst gemeint, ohne zu erkennen, wo überall ein Tyrann an den Hebeln saß. Dann überrumpelte uns der Krieg, wirbelte alles durcheinander, und wer all das überlebt hat, wird schon wieder mit neuen Kriegen und neuem Chaos konfrontiert . . .
Die Tür des Abteils ging auf. Meine Reisegefährten kamen in fröhlicher Stimmung aus dem Speisewagen zurück. Die Blondine dankte mir, daß ich das Gepäck bewacht hatte. Das Ehepaar in der Ecke begann seine Sachen zusammenzulegen, mein Gegenüber summte gut gelaunt etwas vor sich hin, hob den Arm – in dessen Achselhöhle er, wie wir schon wußten, tätowiert war – und holte aus dem Gepäcknetz eine Zigarre hervor. Er steckte sie jedoch nicht an, sondern knabberte nur an ihr.
Langsam fuhr der Zug in eine erleuchtete Bahnhofshalle ein. Im Lautsprecher erklangen liebliche Weisen. Franz Schubert hatte seine Endstation erreicht.
Ich holte mein Köfferchen herunter. Der einstige SS-Mann machte eine Bewegung, als wollte er mir helfen, tat es aber nicht. Ich ging auf die Tür des Abteils zu, wandte mich, ehe ich sie durchschritt, jedoch noch einmal um und sagte in Richtung Fensterecke: »Sie sind bei Kriegsende wohl kaum meiner Mutter und meinen Schwestern begegnet. Denen hat ja auch niemand einen Ausweg gezeigt, als sie in Auschwitz in die Gaskammer gejagt wurden.«
Dann trat ich schnell aus der Tür, kletterte aus dem Wagen und holte auf dem Bahnsteig tief Atem, obwohl die Luft hier keineswegs würzig war. Erst danach schritt ich kräftig aus.