Zweite Landung in Mexiko

In Prag erzählt man von jeher gern Witze, die bei weitem nicht immer politisch sein müssen. Oft enthalten sie einen guten Rat, beleuchten ein verwickeltes Problem von seiner lösbaren Seite, befreien zum Lachen, wenn einem zum Weinen zumute ist, enthalten fast stets ein wunderbares Körnchen Weisheit. In den verschiedensten Lebenslagen wird bei uns – mitunter nur andeutungsweise – immer wieder der folgende jüdische Witz erzählt:

Einst lag ein weiser Rabbi im Sterben. Die angesehensten Männer der Gemeinde waren an seinem Lager versammelt und beschworen ihn, er möge nicht von ihnen gehen, ohne einen Rat zu hinterlassen, der sie im Leben weiterhin geleiten könnte.

Der Rabbi schwieg.

Sie flehten ihn an, ihnen solch einen Rat nicht zu versagen, vielmehr den Weg vorzuzeigen, auf dem sie sich in Hinkunft zurechtfinden könnten.

Der Rabbi schwieg.

Schließlich unterbrachen sie ihr inständiges Bitten und auch ihr pausenloses Gebet, und der Älteste unter ihnen erhob seine Stimme und erklärte beinahe bedrohlich: »Rabbi, du darfst deine ganze Weisheit nicht mit ins Grab nehmen. Wir wollen ja nicht alles wissen, wie es dir gegeben war, hinterlaß uns nur das Wichtigste.«

Da schlug der sterbende Rabbi endlich noch einmal die Augen auf und flüsterte: »Alles ist anders.« Und verschied.

Ich weiß nicht mehr, wann ich diesen Witz zum ersten Mal gehört habe, vielleicht als Kind aus dem Mund meiner Großmutter, die ansonsten durchaus nicht zu scherzen pflegte. Vielleicht als ich von ihr wissen wollte, warum sie immer in schwarzer Kleidung umhergehe, was andere alte Damen nicht so strikt taten, oder warum sie meiner Mutter den Namen Franziska gegeben hat, der mir recht altmodisch vorkam, warum . . . Es spricht für meine Großmama, daß sie auf meine lästigen, endlos vorgebrachten Fragen mit einem Witz antwortete, der beinahe eine kleine rätselhafte Geschichte war und mir zu denken gab: Alles ist anders?

Es kann jedoch auch sein, daß ich diese Anekdote von jemand anderem mitbekommen habe. Später, wenn sich in meinem Leben Begebenheiten im Gegensatz zu meinen Vorstellungen oder Wünschen entwickelten, war der kluge Stoßseufzer: »Alles ist anders!« oft geradezu tröstlich, bewahrte mich vor sinnlosem Trotz. Es konnte jedoch passieren, daß dieses »anders« unvorhergesehen, unerwartet, ja ungeahnt und überraschend wunderbar sein konnte. Zum Beispiel, als ich nach fast einem halben Jahrhundert mein großherziges Asylland Mexiko, ungeahnt und unerwartet, wiedersehen durfte.

Weil ich aus derselben Stadt komme, in derselben Straße wohnte, im Exil während der deutschen Besetzung meiner Heimat und dem zweiten Weltkrieg in denselben Ländern Zuflucht fand, zum engen Kreis seiner Freunde gehörte und ihn überlebte, also von ihm erzählen kann, werde ich oft in Zusammenhang mit dem klassischen Reporter und Prager Schriftsteller Egon Erwin Kisch gebracht. Eines seiner Bücher, das weltweit Aufsehen erregt hat, heißt »Landung in Australien«. Er wollte dort an einem Weltkongreß gegen den in Europa um sich greifenden Faschismus teilnehmen, und als man ihm die Landung verweigerte, erzwang er sie, indem er vom Deck des Schiffes, mit dem er angekommen war (man stelle sich die Höhe eines etwa mehrstöckigen Hauses vor), kopfüber in den Hafen hinuntersprang. Er bezahlte diesen Sprung nur mit einem Beinbruch und kurzer Haft. Wie er mir viel später erzählte, hatte er damit gerechnet, sich dabei das Genick zu brechen, habe jedoch in seiner Erregung dieses Risiko auf sich genommen.

Als ich 1941 zum ersten Mal und 1993 zum zweiten Mal in Mexiko landete, mußte ich weder vom Schiff, noch aus dem Flugzeug springen. Beide Male durfte ich nicht nur ganz unbehindert an Land gehen, ich wurde sogar erwartet, man hieß mich willkommen – alles war ganz anders.

Bei der Postausgabe im französischen Frauenlager Rieucros, wo ich in den ersten Kriegsjahren interniert war, zählte ich immer zu den Ungeduldigen. Merkwürdigerweise hatten wir dort den Status von Kriegsgefangenen, und so konnte ich ab und zu eine Postkarte aus dem von Deutschland besetzten Prag mit den regelmäßigen Schriftzügen meiner Mutter und mit den krakelig hingekritzelten verschlüsselten Botschaften und Grüßen meiner jüngeren Schwester in Empfang nehmen. Eines Tages wurde mir jedoch zu meiner Überraschung ein blau-rot gerändertes Luftpostkuvert mit dem Stempel der USA ausgehändigt. Meine Mitgefangenen behaupteten, ich sei dabei erst errötet und dann auch noch blaß geworden. Das mag sein, ich weiß jedoch, daß meine Verblüffung, Erregung und Erwartung mit einem plötzlichen, unbeirrbaren Gefühl gepaart war: Mit diesem Brief wird alles ganz anders. Und in der Tat. Mein einstiger Chefredakteur, der Prager Schriftsteller Franz Carl Weiskopf teilte mir kurz und sachlich mit, man sei dabei, mir ein Visum für Mexiko sowie die notwendige Schiffskarte zu besorgen. »Man« war die League of American Writers, ich war eine völlig unbekannte Journalistin im ersten Anfangsstadium, ein Mädchen aus Prag, das Weiskopf und Kisch unter ihre Fittiche genommen hatten und mit Hilfe amerikanischer Kollegen und weiterer Freunde, so lange es noch möglich war, aus dem kriegsverseuchten Europa retten wollten.

In der folgenden Nacht lag ich wie in jeder anderen in der überfüllten, zugigen und dennoch stickigen Baracke auf meiner schmalen Pritsche und konnte nicht einschlafen. Rings um mich wurde gestöhnt, geschnarcht, geweint, »Ruhe!« gezischt, Mäuse raschelten, Holzpantinen knarrten, wenn sich eine der Frauen auf den felsigen Weg in die Latrine aufmachte, draußen pfiff der Wind, bellte ein Hund, ließ sich die versoffene Stimme des Lagerobersten, Polizeikommissar Vessambert vernehmen. An all das war ich längst gewöhnt. Aber nun steckte unter meinem Kopf in den Falten meiner grobfasrigen Gefangenenkluft der Luftpostbrief mit der Nachricht: Wir holen dich nach Mexiko. Der ließ mich nicht schlafen.

Wird es gelingen? Werde ich rechtzeitig wegkommen? Und wünsche ich mir das überhaupt? Bis ans andere Ende der Welt, während meine Mutter und Schwestern . . . Mexiko. Schon dieses Wort klingt wie ein Abenteuer. Wie würde ich in solcher Ferne allein . . .

Als es dann eines Tages wirklich so weit war, als man mich aus Rieucros entließ, nach Marseille transportierte, dort im Hotel Bompard, einem zu einem Polizeigefängnis umorganisierten einstigen Bordell internierte, von wo aus ich meine Abreise betreiben konnte, war von Schlaf wiederum keine Rede, obwohl der Strohsack hier schon auf einem eisernen Bettgestell lag und nicht auf einem Bretterboden. Das Visum war bereits da und wurde mir vom Generalkonsul der Vereinigten Staaten von Mexiko, Señor Gilberto Bosques, persönlich in den Paß gestempelt. Aber die Schiffskarte ließ auf sich warten. Werde ich ins Lager zurück müssen? Werde ich fortkommen, ehe die Deportationen nach Hitlerdeutschland auch in Marseille voll einsetzen? Kann eine so unverhoffte, so unwahrscheinliche Chance überhaupt wahr werden?

Das war allerdings nur ein Teil meiner beharrlichen Sorgen. Aber auch ein anderen Teil meiner Befürchtungen ließ sich nicht ganz abwehren. Wie lebt man in Mexiko, der Heimat von Indianern, dem Land mit Vulkanen und Pyramiden? Wie werde ich dort zurechtkommen und wovon werde ich leben?

»Señorita«, sagte mir Generalkonsul Bosques, als ich meinen Paß mit dem Visum zwar freudig, aber offensichtlich nervös entgegennahm, und ein beruhigendes Lächeln erhellte die männlich kräftigen Züge in seinem Gesicht, »Señorita, nun wird alles gut, Mexiko freut sich auf Sie.«

Diese Worte brachten mich beinahe noch mehr aus der Fassung. Nach fast zwei Jahren Gefängnis und Lager, ständiger Unsicherheit und Bedrohung, mit einem Mal – Mexiko freut sich auf Sie!

Es ergaben sich jedoch weitere Hindernisse. Als die Schiffskarte endlich da war, konnte ich das mit Flüchtlingen aus den vom Krieg heimgesuchten Ländern Europas überfüllte französische Schiff mit dem amerikanischen Namen Wyoming besteigen, das uns zur Insel Martinique bringen sollte, von wo aus die Fahrt zum amerikanischen Kontinent weitergehen sollte. Aber wir kamen nur bis Casablanca. Der Krieg hatte uns eingeholt, hielt uns hier fest. Mein erstes Abenteuer auf diesem neuen Abschnitt meines Lebens wurde auf diese Weise die Bekanntschaft mit der Sahara. Geradenwegs vom Schiff wurden wir in das Wüstenlager Oued-Zem verfrachtet. Bislang war es ein Standort der Fremdenlegion gewesen, jetzt wurden hier verschreckte Flüchtlinge und allerorts verfolgte Antifaschisten interniert, und die Fremdenlegionäre avancierten zum Wachpersonal. Die Hitze war niederdrückend, Wasser gab es kaum, jeden Tag starb jemand. Von hier mußt du weg, sagte ich mir, laß dir etwas einfallen. Am Tag des Überfalls Hitlers auf die Sowjetunion marschierte ich aus dem Brutkasten der Wellblechbaracke in das steinerne und somit etwas kühlere und mit Ventilatoren bestückte Gebäude des Kommissariats. Ich ließ mich beim Lagerkommandanten melden, und es gelang mir in der Tat, diesen französischen Offizier dazu zu bewegen, mir als Tschechoslowakin – also einer verbündeten Nation angehörend – einen Urlaubsschein für 48 Stunden zu erteilen. Mehr brauchte ich nicht, Oued-Zem sah mich nie wieder.

Es folgte ein fast halbjähriger Aufenthalt in Casablanca. Ich hatte keine Ausweispapiere für Marokko, besaß neben einem warmen Kostüm und Pullover nur ein Kleid für die afrikanische Hitze, hatte keine Arbeitserlaubnis und kein Geld, war ganz allein – eine verzweifelte Lage? Es war alles ganz anders.

Ich kannte niemanden, und schon gar nicht aus Prag, dem es geglückt war, Afrika kennenzulernen. Man reiste in jener Zeit nicht so wie heute, und jetzt war auch noch Krieg. Ich war jung und lebenshungrig! Und so lief ich in Casablanca umher, im arabischen Viertel Medinah und im jüdischen Mellah, schaute Schlangenbeschwörern zu, hörte zweimal am Tag die seltsamen Rufe der Muezzins, lebte nicht von Brot und Wasser, sondern vorwiegend von Tee und billigem mehligem arabischem Brot; an zwei Tagen in der Woche gestattete ich mir den Luxus eines klebrigen Kuchens, der mir geradezu köstlich schmeckte. Die Polizei ließ mich so ziemlich in Ruhe, ab und zu tippte ich für einen tschechischen, hier längst angesiedelten Unternehmer etwas ab und bekam dafür ein paar Franken. Dann begab ich mich auf einen kurzen Ausflug nach Rabat, der Residenzstadt des Sultans, ließ mich von der einzigartigen Lage auf einer schmalen, ins Meer auslaufenden Landzunge und der fremdartigen Blumenpracht in den gepflegten Gärten bezaubern und vergaß beinahe, daß ich doch eigentlich ein gestrandeter Flüchtling war. Mein mexikanisches Visum war abgelaufen, ich brauchte auch eine neue Schiffskarte. Da geschah ein Wunder: Als sich mir endlich die Möglichkeit einer Weiterfahrt eröffnete, kam alles rechtzeitig an, das erneute Visum, eine neue Schiffskarte, und ich war gerade mit einer ziemlich unangenehmen Gelbsucht fertiggeworden. Was hatte mir Gilberto Bosques in Marseille versprochen? »Nun wird alles gut, Señorita!« Diesmal kam es zum Glück nicht anders.

Während der gut vier Wochen auf dem portugiesischen Flüchtlingsschiff Serpa Pinto (Rosa Schlange) zwischen Casablanca und Veracruz versuchte ich Spanisch zu lernen. Das war nicht ganz einfach. Die Sprache gefiel mir und schien auch nicht sonderlich schwierig zu sein. Aber ich lebte und schlief wie auch viele meiner Mitreisenden auf dem Deck unter freiem Himmel, weil ich in den überfüllten Tiefen der einstigen, jetzt zu Schlafstellen zurechtgezimmerten Lagerräume des Schiffes keine Luft bekam. Zum Lernen gab es auf dieser Fahrt nicht eine ruhige Minute.

Drei Menschen starben unterwegs, zuerst ein Kind, und wurden vom Deck der Rosa Schlange ins Meer versenkt. Wenige Tage vor unserer Ankunft in Mexiko überfiel Japan die amerikanische Flotte im Hafen von Pearl Harbour, der Krieg griff auf den amerikanischen Kontinent über. Die Europaflüchtlinge auf dem Schiff gerieten in Panik.

Ich lehnte an der Reling, auf meinem Gesicht prickelte die salzige Meeresluft, und ich wehrte mich mit aller Kraft gegen die allgemein um sich greifende Aufregung. Die Freiheit, die mir so lange entglitten war, lag jetzt schon in Reichweite. Bald sollte dieser Traum zur Wirklichkeit werden. Das wollte ich mir nicht nehmen lassen. Nun kam mir zugute, was ich im Gefängnis gelernt hatte. Ich holte tief Atem und flüchtete in meine innere Welt.

Als ich noch ein ganz kleines Mädchen war, besaß ich ein Kinderbuch, dessen Titel und Autor mir inzwischen entfallen sind, das ich jedoch besonders liebte und bis heute nicht vergessen habe. Es erzählte von Tieren in einem Dschungel, die sich untereinander in menschlicher Sprache verständigten. Wenn sich z.B. Urwaldjäger näherten, dann rief der Tiger dem Äffchen und der Löwe dem Kakadu und der wiederum anderen Freunden zu: »Menschen, Menschen sind im Walde!« Und dieser Warnruf wurde von Bananenstaude zu Kokospalme ins tiefste tropische Dickicht weitergegeben: »Menschen, Menschen sind im Walde!« Ich habe ihn als Kind aufgenommen und vermeine ihn auch heute noch mitunter zu hören.

An anderer Stelle wurde in meinem Lieblingsbuch eine Liane geschildert, übersät von rosa und pfirsichfarbenen Blüten. Auf einem ihrer hauchdünnen Blätter saß ein winziges, bunt schillerndes Vögelchen. Aus dem Buch erfuhr ich, daß dieses kleinste Vöglein Kolibri heißt.

Diese Beschreibung habe ich wohl ungezählte Male gelesen. Ist so etwas überhaupt möglich, grübelte ich, kann es ein so unvorstellbar kleines Wesen irgendwo in Wirklichkeit geben?

Anfang Dezember 1941 landete ich an Bord der Serpa Pinto zum ersten Mal in Mexiko. Sah zum ersten Mal den tiefblauen und dabei leuchtenden Himmel über mir, die von Schnee bedeckten, am Abend rötlich erglühenden Gipfel der gigantischen Vulkane Popocatepetl und Ixtaccihuatl, von denen der erste eine männliche Gestalt und der zweite eine dahingestreckte Jungfrau verkörpern soll. Zum ersten Mal biß ich in eine heiße Tortilla, nahm meinen ersten Schluck Tequila, hörte zum ersten Mal die Melodien einer durch die Straßen streifenden Mariachi-Kapelle, wurde allerorts gastlich aufgenommen, stieß überall auf hilfsbereite Hände, fand meine Freunde wieder, auch meinen lieben Prager und Versailler Nachbarn Egon Erwin Kisch. Verklärt meine Erinnerung diese ersten Stunden und Tage im Land der Azteken? Wohl kaum.

Ich habe einen stummen Zeugen dafür. Vor dem Eintreffen der Flüchtlingsgruppe von der Serpa Pinto haben unsere Freunde in der mexikanischen Hauptstadt eine »Kleiderkammer« eingerichtet. Schon längere Zeit im Land angesiedelte und inzwischen gut installierte Emigranten halfen bei der Sammlung eines Vorrats an verschiedenen, nicht neuen, aber gut erhaltenen Kleidungsstücken, die uns nun zur Verfügung standen.

Mir war diese ganze Aktion nicht geheuer. Im Frauenlager Rieucros war auch eines Tages aus der Schweiz oder den USA eine Sendung mit gesammelten Kleidungsstücken eingetroffen. Als die Kartons geöffnet wurden, kamen Stöckelschuhe und Abendkleider zum Vorschein, nur ganz wenige brauchbare Sachen, die meisten waren in unserer Lage völlig unnütz. Aber etwas hatten wir doch davon: Einige Frauen setzten zu ihrer Gefangenenkluft einen eleganten Hut auf, andere rissen sich um seidene Nachtwäsche – ein paar Stunden lang glich Rieucros einer Karnevalsstadt. Dann griff die Kommandantur ein.

Daran mußte ich denken, als ich die mexikanische »Kleiderkammer« betrat. Die war allerdings von erfahrenen Emigranten vernünftig zusammengestellt. Zu meinem einzigen Kleid kamen nun zwei weitere hübsche hinzu, auch ein brauchbares Nachthemd . . . auf einmal fiel mein Blick auf einen langen Rock aus schwarzem Taft. Zum Spaß probierte ich ihn an.

»Der steht Ihnen aber großartig, wie für Sie geschneidert«, bewunderte mich eine der Frauen, die bei der Verteilung halfen.

»So etwas brauche ich aber nicht«, sagte ich und schlüpfte mit leichtem Bedauern aus dem schönen Ding wieder heraus.

»Unsinn«, meinte die gute Frau, »nehmen Sie den Rock, er paßt Ihnen wirklich wunderbar. Es wird sich schon eine Gelegenheit finden, ihn auszuführen.«

Ich ließ mich nur allzu gern überreden, ohne ahnen zu können, daß ich nur wenige Wochen später in der tschechoslowakischen Exilbotschaft arbeiten und bei verschiedenen Anlässen in der Tat ein solches Glanzstück benötigen würde.

Der schwarze Rock, von dem ich nie erfahren habe, wer ihn vor mir getragen hat, war das Prachtstück meiner Garderobe in Mexiko. Nach Kriegsende hat er mich nach Jugoslawien begleitet, war dabei, als ich in der diplomatischen Vertretung der Tschechoslowakei in Belgrad plötzlich dem legendären Parisanenführer Tito gegenüberstand und verblüfft den walnußgroßen Diamant anstarrte, der an einem Bändchen um seinen kräftigen Hals baumelte. Der gute Rock kehrte schließlich mit mir nach Prag heim, zeigte Ausdauer und blieb mir treu. Als meine Tochter heranwuchs, fand sie das immer noch leidlich erhaltene Stück sehr kleidsam, führte es gern bei Studentenbällen aus. Der brave Rock ließ all dies über sich ergehen. Wenn ihn meine Anna jetzt aus ihrem Schrank in London hervorholt und gegen das Licht hält, weist er zwar schon eine Reihe winziger Schadstellen auf, aber meine heranwachsende Enkelin findet ihn lustig und bekleidet sich manchmal gern mit ihm. Eigentlich sollten wir dem »Mexikaner«, wie er bei uns heißt, schon seine verdiente Ruhe gönnen, und wäre er nicht inzwischen mit einer geradezu familiären Legende behaftet, hätten wir das wohl bereits getan. So aber fällt uns die Trennung von solch einem treuen Weggefährten schwer.

Aber zurück zu meiner ersten Landung in Mexiko. Konsul Bosques hatte mir in Marseille versprochen, alles wird gut. Meine Ankunft, meine ersten Eindrücke und Erfahrungen in seinem von meiner Heimat so fernen Land bestätigten seine tröstlichen Worte. Es war wirklich so und nicht anders.

Seither sind viele Jahre vergangen. Der große Krieg ist längst vorbei. Hatten wir freilich gehofft, nach einer solchen Katastrophe werde die Menschheit diese Plage nun endgültig los, so kam es leider wieder einmal ganz anders. Hätte ich mir z.B. je vorstellen können, daß ich, die einzige Überlebende meiner Familie, die einzige in unser Prag Zurückgekehrte, hier, in meinem Land und nach dem Sieg des vermeintlichen Sozialismus, dem ich mich seit meiner frühen Jugend mit Haut und Haar verschrieben habe, daß ich durch die auf absolute Macht gestützte Willkür und den Stumpfsinn einer auf den Kopf gestellten Ideologie zum Feind eben dieses Sozialismus erklärt, abermals im Gefängnis landen würde? Ein Schicksal, dem Tausende wehrlos ausgesetzt waren.

Auch diese schlimme Zeit fand ihr Ende. Und eines Tages war es wiederum ein Brief, der mir ein zweites Mal den Weg nach Mexiko erschloß. Und von neuem, ungeachtet all der Jahre, die inzwischen vergangen waren, und all der Erfahrungen, die ich inzwischen an guten und bösen Tagen gesammelt hatte (Menschen, Menschen sind im Walde!), befiel mich die Sorge: Wie werde ich dort . . .

diesmal war ich zu einer internationalen Konferenz über die kulturelle Tätigkeit deutschsprachiger europäischer Emigranten in Mexiko während des zweiten Weltkriegs eingeladen. Schon der zeilenlange Titel dieser Zusammenkunft jagte mir einen leichten Schrecken ein. Einberufen wurde sie von der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko und dem dortigen Goethe-Institut. Auf dem Programm standen Namen von Professoren, Historikern, Literaturwissenschaftlern aus verschiedenen Ländern Europas und des amerikanischen Kontinents. Ich gehöre zu keiner dieser Kategorien. Aber als ich zu Hause an meinem Schreibtisch saß, vor mir den Brief mit der unverhofften, wunderbaren Einladung, da fiel mir plötzlich ein: Mein Spezialfach kann man an keiner Hochschule studieren. Man kann es nur sein. Ich bin ein Zeitzeuge, wie man jetzt zu sagen pflegt, ein lebender Zeuge jener widerspruchsvollen Epoche. Von diesem Augenblick an zerstoben meine kleinlauten Ängste und Befürchtungen allmählich, standen meiner ständig wachsenden Vorfreude nicht mehr im Weg. Laß deine Sorgen getrost zu Hause, ermahnte ich mich, wollte sich meiner ab und an von neuem nervöse Unruhe bemächtigen, es kommt ja ohnehin alles ganz anders.

Bei dieser zweiten Mexiko-Reise bestieg ich kein Schiff, diesmal flog ich. Zuerst von Prag nach Frankfurt a. M. Meine Freunde und Emigrationsgefährten, das Ehepaar Walter und Lotte Janka aus Berlin, wurden gleichfalls zu der Konferenz erwartet. In der voll besetzten Abflughalle in Frankfurt hielt ich gespannt nach ihnen Ausschau. Es muß die älteren Herrschaften, die da mit Foto- und Filmkameras behangen, zum Teil schon nahezu tropisch bekleidet und sonnenbebrillt die Aufforderung zum Besteigen des Flugzeugs erwarteten, ein wenig merkwürdig berührt haben, daß sie von einer eher untouristisch ausgerüsteten, gleich ihnen älteren Dame eingehend gemustert wurden, daß sie wiederholt um sie herumstrich und ihnen dabei recht unverblümt ins Gesicht starrte. So etwas gehört sich doch nicht, noch dazu in diesem Alter! Ich ließ mich jedoch durch ihre mißbilligenden Blicke nicht anfechten. Ich suchte die Jankas, die ich etliche Jahre nicht gesehen hatte, suchte sie beharrlich, aber vergebens.

Als ich mich schließlich auf meinem Sitz in dem gespenstisch großen Flugzeug einrichtete, kam ich mir so ganz allein ein bißchen verloren vor. In dieser fliegenden Massenversammlung schwatzender, schmatzender, mitunter auch schnarchender Touristen und einer Anzahl bemerkenswert kinderreicher Familien, die offenbar von einem Europabesuch in ihre Heimat zurückkehrten, war ich ein farbloser Einzelgänger. Kontakt hatte ich nur mit dem kleinen Bildschirm vor meinen Augen, der mich laufend über den Ort, den wir gerade überflogen, die Flughöhe, die Innen- und Außentemperatur informierte. 70 Grad Celsius unter Null, hieß es da zum Beispiel. Donnerwetter, hier möchte ich nicht aussteigen!

Wie weit war ich nun schon von Europa entfernt? Was alles hatte ich hinter mir gelassen! Und wieviel davon schleppte ich als unkontrollierbares und zäh an mir haftendes Kopfgepäck mit! Ich selbst muß doch anders geworden sein in all den Jahren.

Unter uns zog Kanada, zogen die USA vorbei, Meere und Kontinente. War ich in diesem durch die Lüfte segelnden Ungeheuer der einzige »Zeitzeuge« jüngster mexikanischer Vergangenheit? Hatte sich vielleicht ohne mein Wissen etwas Ungreifbares und Nichtzufassendes mit mir zu dieser Reise aufgemacht? Wird es auf mich in meinem einstigen Asylland mit all seinen Lichtblicken und Schattenseiten einstürmen? In Mexiko habe ich geheiratet, in Mexiko habe ich erfahren, daß ich keine Familie mehr habe. Aus dem Freundeskreis, in dem ich dort geborgen war, lebt kaum noch jemand. In Mexiko habe ich mein Kind empfangen. Dort habe ich eine meiner ersten Erzählungen geschrieben, die dann quasi von allein durch die Welt gegangen ist und immer noch weiterlebt, die Geschichte von der Vernichtung und Ausrottung des böhmischen Bergarbeiterdorfes Lidice. Wartet das alles jetzt dort auf mich?

Ich blickte durch die winzige Fensterluke des Flugzeugs in die abendlich glühende Unendlichkeit. War es nicht müßig, im voraus wissen zu wollen, was sein wird? Wie lautet doch das Körnchen Weisheit in dem klugen Witz aus Prag? Alles ist anders.

Wir landeten zeitgerecht zu früher Abendstunde. Als im Gedränge beim Aussteigen aus dem Riesenvogel der bläulich scharfe Lichtkegel eines Scheinwerfers ausgerechnet mich ins Visier nahm, rauschte verwundertes Munkeln durch die Reihen der Touristen vor, neben und hinter mir. Wer hätte das gedacht, gerade diese unscheinbare Person!

Offen gesagt, ich war nicht minder erstaunt, zugleich aber sehr erfreut. Ach lieber Gilberto Bosques, wie hatten Sie damals im Marseiller Notausgang aus Europa doch recht! In Mexiko wurde ich eben erwartet. Und da landete ich auch schon in der begrüßenden Umarmung meines Gastgebers, des Direktors des Goethe-Instituts, wurde von einer seiner Mitarbeiterinnen, einer jungen Frau namens Gabi in Empfang genommen – hatte hier von der ersten Stunde neue Freunde.

Wie machst du das, Mexiko, ging es mir am ersten Abend durch den Kopf. Hast du die Großherzigkeit von deinen in ihrer Würde unnahbaren, aber zugleich würdevoll edelmütigen Vorfahren geerbt?

Ciudad de México, die Metropole des Staates, ist in den Jahren, in denen ich sie nicht gesehen habe, eine völlig andere Stadt geworden. Vergeblich blickte ich mich nach den strohgelben Sombreros um, die »in unserer Zeit« auf den Köpfen nahezu aller Männer durch die Straßen wogten. Über den dunkelhäutigen Gesichtern, den weißen Leinenhemden und Hosen war dieser männliche Kopfschmuck ebenso schön wie die bunten Wollfäden in den pechschwarzen Haarkronen der Mädchen und Frauen. Das war nun vorbei. T-Shirts und Jeans finde ich weniger beeindruckend.

Egon Erwin Kisch hat mit seiner Frau Gisl in der Avenida Tamaulipas gewohnt; ganz nahe, sozusagen um die Ecke, hausten mein Mann, der aus Jugoslawien gebürtige Schriftsteller und Arzt Theodor Balk, und ich in der Calle Irapuato. Vorher hatten wir, nicht sozusagen sondern in der Tat, um die Ecke eine Wohnung in der Avenida Industria, in der auch das Haus von Anna Seghers stand. Hier saß sie, eine Zigarette oder gar eine Pfeife schmauchend, an ihrer Schreibmaschine, tippte die erste Version eines Buches; hier kamen neben ihren deutschen Gefährten auch ihre mexikanischen, etwa der Maler Xavier Guerrero und seine Frau Clarita, der Poet aus Chile, Pablo Neruda, der haitische Dichter Jacques Roumain und andere »bloß auf einen Sprung« vorbei. Die Seghers verstand es allerdings, sich nicht stören zu lassen. Wenn es ihr nicht paßte, war sie für niemanden da.

Gleich am ersten Morgen nach meiner zweiten Landung in Mexiko machte ich mich in Begleitung eines deutsch-mexikanischen Fernseh-Teams in diese unsere Gegend auf.

Wenn ich ein wenig die Augen schließe, um »mein« Mexiko hervorzurufen, die Stadt, in der ich mich so unbekümmert bewegt habe, als ob ich hier zu Hause wäre, in der ich morgens zur Arbeit eilte, auf dem Markt einkaufte, dabei mit den Indiofrauen ein bißchen schwatzte, zu Besuch ging oder Besuch hatte, vermeine ich abermals die Palmenreihen und blühenden Mimosenbäume zu sehen, höre »Fiores!«, den Ruf vorbeiziehender Blumenverkäufer, und die kreischenden Schreie von Truthähnen, die, gleichfalls zum Verkauf angeboten, von ihren Besitzern in größeren oder kleineren Haufen durch die Straßen getrieben wurden.

Auch das Stadtbild hat sich in der Zwischenzeit geändert. Durch ein Getümmel von erbsengrünen und zitronengelben, hupenden und die Luft verpestenden Taxis und ihrer je nach Temperament und Stimmung schimpfenden oder scherzenden Fahrer (Menschen, Menschen sind im Walde!), schlängelten wir uns zur Avenida Tamaulipas hindurch. Die Palmen stehen noch in der Mitte der Straße, sind mit der Zeit mächtiger geworden, breiten ihre Blattfächer unangefochten vom Betrieb ringsum fast gebieterisch in alle Richtungen aus. Ich ging auf das Haus zu, an dessen Seitenfenster Kisch am Morgen mit seiner ersten, zweiten oder wievielten Zigarette im Mundwinkel (das hing davon ab, ob er schon geschrieben hatte oder erst daran dachte) nach mir Ausschau hielt. Mein Weg zur Arbeit in der Botschaft der tschechoslowakischen Exilregierung führte an diesem Haus vorbei, und die tschechischen Grußworte, die mir Egonek so gut wie täglich zurief, waren für ihn eine sehr vage, ihm jedoch beinahe unentbehrlich gewordene imaginäre Brücke zum unerreichbaren Prag. Die Menschen zu Hause litten unter dem wachsenden Druck der Nazis. Der rasende Reporter in Mexiko litt an wachsendem Heimweh.

Die Wohnung des Ehepaars Kisch in diesem Haus war weder besonders schön, noch sehr gemütlich. In einem eher karg eingerichteten Zimmer saß der Meister an einem billigen Schreibtisch, oft den ganzen Vormittag im Schlafanzug und unrasiert, eine Tasse schwarzen Kaffees vor sich, die unerläßliche Zigarette zwischen den Fingern oder im Mundwinkel, und bedeckte Blatt um Blatt mit seiner unverkennbaren, dekorativ verschnörkelten Handschrift. Sie hatten allerdings ihre Funktion, die schneckenartig gewundenen Schriftzeichen. Indem er sie mit seiner Feder ziselierte, formulierte und präzisierte Kisch seine Gedanken, die Bilder und die Aussage, die er seinen Lesern vermitteln wollte.

In diesem Haus in der Avenida Tamaulipas, vor dem ich nun in Erinnerung versunken stand, hatte Egon Erwin Kisch den »Marktplatz der Sensationen« geschrieben und eines seiner schönsten und erfolgreichsten Bücher, die »Entdeckungen in Mexiko«.

Im Vorzimmer saß oft eine lärmende Kaffeerunde um Gisls großen runden Tisch. Wenn Egonek arbeitete, ließ er sich durch nichts und niemanden aus seiner Höhle locken. Aber plötzlich tauchte er auf, war witzig und liebenswert, zauberte für die Kinder seiner Freunde, und nur die ihm am nächsten Stehenden konnten an einer Furche in seinem runden Gesicht, an einem Schatten um die Augen erkennen, daß er mit seinen Gedanken noch anderswo war und mit sich nicht ganz zufrieden.

Ich kehrte zum Wagen zurück, und wir fuhren zur Calle Irapuato.

»Sind Sie nervös?« fragte mich die junge Regisseurin des Fernsehteams, als ich nun stumm neben ihr saß.

Ich schüttelte den Kopf, wollte mich jetzt nicht zerstreuen lassen, tastete mit den Augen die Gegend, die Umgebung meines damaligen Zuhause ab. Nein, nervös war ich eigentlich nicht, aber so gespannt, als ob mich etwas Phantastisches erwartete. Ein freudiges Wiedersehen? Eine schmerzliche Enttäuschung? Nostalgische Trauer nach einst Gewesenem?

Die stille kurze Irapuato ist dieselbe geblieben, nur ein wenig eleganter geworden. Ich stand von »unserem« nach wie vor einstöckigen Haus mit dem flachen Dach über unserer Wohnung, blickte auf seine Vorderwand mit den großen Fenstern – und nichts regte sich in mir. Das war doch das Bild, das ich die ganzen Jahre in mir trug, dieses würfelartige Haus mit der buschigen Baumkrone am Rande des Gehsteigs, die mit einem dicht belaubten und mitunter hellviolett blühenden Zweig in unser Wohnzimmer einzudringen pflegte, sowie ich das Fenster öffnete. Nun hatte diese Erinnerung bloß festere Umrisse angenommen.

Ganz unberührt ließ mich die Calle Irapuato freilich nicht. Auf einmal sah ich Victoria vor mir, die alte Indianerin mit dem frühzeitig zerfurchten Gesicht und zwei dünnen angegrauten Zöpfchen, die in der Avenida Industria unsere Hausbesorgerin war und mir fürsorgliche Ratschläge erteilte, wie ich mich bei Erdbeben verhalten sollte. Als wir in dem Haus unsere Wohnung aufgaben und in die Irapuato umzogen, kam sie mit einer Bitte zu mir. Könnte ich nicht Maria, ihre siebzehnjährige Tochter, mitnehmen, in dem neuen Haus werde unsere Wohnung sicherlich auch ein Dienstbotenzimmer auf dem flachen Dach haben, wie das hier üblich war, und sie seien doch so viele in ihrem einzigen Raum . . .

Maria kam mit und bezog Zimmer und Duschraum auf dem flachen Dach, das sie auch als Küche benützte. Bald wohnte Eugenio, ihr Lebensgefährte bei ihr, ein stattlicher, hübscher Kerl mit lustig blitzenden Augen. Ein Jahr verging, Maria wurde schwanger und gebar ihren kleinen Felipe. Ich wurde seine Taufpatin. Bei der Zeremonie in der Kirche, der nur Mutter und Kind und ich beiwohnten, erstaunte Maria die Frage des Pfarrers, ob das Kind einen Vater habe. »Como no«, sagte sie, »wie denn nicht!« Auf dem Nachhauseweg schimpfte sie über diese Geistlichen, die keine Ahnung vom Leben haben, sonst könnten sie doch nicht so dumme Fragen stellen. Jedes Kind weiß, daß es ohne Zutun seines Vaters gar nicht auf der Welt wäre.

»Maria«, fragte ich sie, als sie ihren Redestrom für einen Augenblick unterbrach, um Atem zu holen, »jetzt habt ihr einen kleinen Sohn. Willst du Eugenio nicht heiraten?«

Sie blieb mit dem Kind auf dem Arm stehen.

»Heiraten? Den Eugenio? Nein, Señora!« Als sie meine Verblüffung bemerkte, fügte sie hinzu: »Er will nicht lesen und schreiben lernen.«

Daran erinnerte ich mich vor dem Haus mit dem flachen Dach in der Calle Irapuato. Was wohl aus Maria geworden ist, die so bitterlich weinte, als wir aus Mexiko fortfuhren. Hat Eugenio seinen Widerstand aufgegeben und konnte der rechtskräftige Vater Felipes werden? Müßige Fragen. Wie hätte ich Maria in dem millionenfachen, von keinerlei amtlicher Registrierung festgehaltenen Menschengewimmel nach einem halben Jahrhundert finden können?

Die Fernsehleute drehten, wollten das und jenes von mir wissen, und dabei wurde mir ganz fröhlich zumute: Unsere Tochter, die ganz woanders auf die Welt gekommen ist, wird vielleicht dank dieser Aufnahmen das Haus und die Stadt sehen, wo sie, noch ungeboren, doch schon zugegen war.

Als sie mit der Arbeit fertig waren, luden die mexikanischen Mitglieder des Teams die Regisseurin und mich zur »comida« in einem volkstümlichen Lokal ein. In solchen Einrichtungen waren mein Mann und ich beinahe Stammgäste gewesen, denn hier war es billig – was Emigranten zu schätzen wußten –, und das Essen war gut. Überdies kamen wir meistens mit unseren zufälligen einheimischen Tischnachbarn ins Gespräch, und das war richtig erholsam in unserem Emigrantendasein.

So setzte ich mich vergnügt an einen der mit Wachsleinwand bespannten Tische, verkostete meinen ersten Schluck Tequila bei diesem zweiten Aufenthalt, ließ mir den Mund von der scharfen Fleischfüllung eines echten Taco verbrennen, beteiligte mich auch diesmal an den Gesprächen von Tisch zu Tisch (wie wunderbar, nach all den Jahren noch imstande zu sein, spanisch zu sprechen, ein bißchen holprig, aber immerhin!). Der Kameramann und der Tonmeister stießen mit mir an: »Salud, Señoras, bienvenida en México!« Kein Zweifel, ich war wirklich wieder einmal da.

Am nächsten Tag wurde in der Aula der Universidad Nacional Autónoma de México feierlich die Konferenz eröffnet, die der eigentliche Anlaß für meine Reise war. Noch ehe die Begrüßungsansprachen anhoben, kam eine nicht mehr ganz junge, aber unübersehbar schöne Mexikanerin auf mich zu, umarmte mich in der hier üblichen stürmischen Weise und sagte:

»Lenka, mí papá freut sich so, daß Sie gekommen sind. Ich soll Sie von ihm ganz herzlich grüßen. Er kann leider nicht mit uns hier sein, mit seinen 101 Jahren ist das schon sehr beschwerlich.«

Ich dankte verlegen. So fieberhaft ich auch in meinem Gedächtnis stöberte, niemand fiel mir ein. Wer war, um Gottes willen, der uralte Papá der schönen Dame? Da wurde es jedoch schon still im Saal, und die Ehrengäste der Eröffnungsfeier wurden vorgestellt. Dann hieß es:

»Unser besonders verehrter Freund, dem dank seiner großen Verdienste ein Ehrenplatz hier unter uns gebührt, hat uns eine Botschaft zukommen lassen, weil er leider persönlich nicht anwesend sein kann. Wir lesen Ihnen nun vor, was uns der einstige Generalkonsul Mexikos in Marseille, der 101jährige Gilberto Bosques schreibt.«

Das durchzuckte mich wie ein Blitz. Der hilfreiche (». . . alles wird gut . . .«), tröstliche Gilberto Bosques lebt und ist inzwischen über hundert Jahre alt geworden! Ich blickte seine neben mir sitzende Tochter mit feucht gewordenen Augen an. Sie legte ihre mit einem prächtigen Silberring geschmückte Hand auf meinen Arm. In dem Brief ihres Vaters wurde gerade in diesem Augenblick unter den damals und auch jetzt wieder willkommenen Gästen aus Europa mein Name erwähnt. Es gibt also noch kleine Wunder im Leben. Nicht viele, gewiß, aber gerade deshalb sind sie von besonderer Bedeutung.

Am Nachmittag begann die Konferenz ihre eigentliche Arbeit in einem ebenerdigen, mit verschiebbaren Glaswänden versehenen Pavillon der Universität am Rande der Stadt, in einem großen gepflegten Garten. An verschiedenen Stellen lugte dort unter alten Bäumen das poröse schwarze Vulkangestein vom Lavafeld Pedregal hervor.

Der Pedregal war in meinem Gedächtnis eine Art steinige Steppe, deren rauhe Fremdartigkeit mir unvergeßlich geblieben ist. Einmal war dort meinem Mann und mir bei einem unserer Streifzüge durch das geheimnisvolle Geröll ein offenbar herrenloses kleines Maultier gefolgt, ließ sich nicht davonjagen, stieß mich mit seinem warmen feuchten Maul sacht in die Seite, ließ sich streicheln, mit einer Banane füttern, wollte allem Anschein nach bei uns bleiben. Einen halben Tag lang trottete das junge Tier hinter uns her, blieb stehen, wenn wir standen, ging dann wieder mit uns weiter. Ich mußte ein paar Tränen schlucken, als wir am Rande des Jardino de Pedregal an ihm Verrat übten und es zurückließen.

Und nun schlenderte ich zwischen diesem vulkanischen Gestein in einem Universitätsgarten. Weiß Gott, sehr vieles ist jetzt anders.

Die Teilnehmerrunde in dem Glaspavillon setzte sich aus zumeist jüngeren Wissenschaftlern aus verschiedenen Ländern Europas und des amerikanischen Kontinents zusammen. Sie waren mit gründlich ausgearbeiteten Referaten zur Problematik der deutschen Exilkultur in Mexiko und ihrer einzelnen Träger angereist. Vor mir lag keine Mappe mit Dokumenten, auch kein Manuskript. Ich hatte nur eine Fülle von Erlebnissen, meinen Vorrat an Erfahrungen mitgebracht, die in der anregenden Atmosphäre der unförmlichen, deutsch oder spanisch vorgetragenen und in diesen Sprachen auch diskutierten, reich dokumentierten Beiträge hellwach wurden und erneut Farbe annahmen. Ich war hier – wie schon gesagt – ein rar gewordener Zeitzeuge, erklärte, diesen Umstand der Tatsache zu verdanken, daß ich beträchtlich jünger war als die meisten meiner Exilgefährten, genau betrachtet wohl die jüngste »Erwachsene« der großen Emigrantengruppe, der ich angehörte. Nach mir kamen dann schon die »Kinder«, von denen eins, der Friedl Katz, sich nunmehr als Professor Friedrich Katz von der Universität Chicago ebenfalls an der Konferenz beteiligte.

Die Menschen, mit denen ich damals in persönlicher Berührung gestanden hatte, oft freundschaftlich verbunden, sind für die Historiker in der Zwischenzeit zu einem wissenschaftlichen Forschungsobjekt geworden. Ich aber wollte nichts anderes, als diesen »Objekten« einen Hauch menschlichen Verständnisses zu verleihen, den Vermerken in Enzyklopädien und Ergebnissen von Studien, totem Archivmaterial, die lebendigen Menschen gegenüberstellen. Natürlich habe ich in dieser gelehrten Runde Neues erfahren, in mancher Hinsicht einen anderen Einblick in die damaligen Verhältnisse und Beziehungen unter den Menschen gewonnen. Daß es innerhalb der vielschichtigen Kolonie deutscher Emigranten in Mexiko allerhand mehr oder weniger dramatische Meinungsverschiedenheiten, Reibungen und Antagonismen gab, wußte ich. Verschiedenes hatte sich noch vor meiner Ankunft aus Marokko abgespielt, eitel Eintracht und Übereinstimmung herrschten freichlich auch später keineswegs. Im Laufe der Konferenz ergab sich für mich die Frage, wieso ich von diesen unerfreulichen, vom heutigen Gesichtspunkt aus kaum faßbaren Gehässigkeiten und Feindseligkeiten unter den politischen Antifaschisten aus Deutschland (Menschen, Menschen sind im Walde!), die doch über alle parteiwidrigen oder parteigläubigen Einstellungen hinweg ein gemeinsames Ziel hatten, quasi nur am Rande etwas mitbekommen habe. Wahrscheinlich verdanke ich meine gewisse Arglosigkeit dem Zusammenspiel einiger Umstände: Ich war jung, man nahm mich nicht allzu ernst, meine Stellungnahme hatte kein Gewicht, und so wurde ich in die verschiedenen dramatischen Verwicklungen gar nicht erst eingeweiht. Überdies, und das gab wohl den Ausschlag: Wiewohl integriert in die Gruppe der deutschen Kommunisten, war und blieb ich »die Tschechin«. Auf diese Nuance legte ich selbst Wert und war heilfroh, daß ich mit dem gehässigen, mir unklaren und sinnlos erscheinenden Kleinkrieg von beiden Seiten nichts gemein hatte.

Mein Kopf war voll von anders gearteten Sorgen. Einmal im Monat redigierte ich eine bescheidene kleine Zeitung mit dem Titel »El Checoslovaco en México«. Aufgekommen war diese Idee am Kaffeetisch im Hause Kisch zwischen Egon Erwin Kisch, dem Tschechoslowaken mit dem französischen Namen André Simone und mir, der es natürlich zufiel unseren Gesandten für dieses Vorhaben zu gewinnen. Das gelang sehr schnell, der Plan fand sofort seinen Gefallen. »Aber«, sagte er bekümmert, »Sie wissen doch, daß wir kein Geld für so eine Redaktion haben.«

»Für die Druckerei könnten Sie etwas loseisen?«

Das ginge, meine er, und das genügte auch. Von Honorar war in der »Redaktion« unseres Blättchens niemals die Rede. In der Druckerei fühlte ich mich unter den mexikanischen Setzern und Metteuren bald zu Hause, sie waren auch hilfsbereit und amüsierten sich gutmütig über meine sprachlichen Schnitzer.

Als dann die Nachricht über die Vernichtung des böhmischen Bergarbeiterdorfes Lidice kam, wo die deutschen Besatzer alle Männer erschossen, die Frauen in Konzentrationslager transportiert und die Kinder, unbekannt wohin, verschleppt hatten, ließen mich die Andeutungen und Anspielungen auf Zerwürfnisse und Feindseligkeiten innerhalb und außerhalb der Gruppe erst recht völlig kalt. Ich bemühte mich auch gar nicht in das unüberschaubare Gewirr einzudringen und war glücklich, daß auch die Aufmerksamkeit meines Mannes in ersten Linie von der Beschaffung von Medikamenten und anderem medizinischen Material für den Partisanenkampf in seinem heimatlichen Jugoslawien in Anspruch genommen wurde.

»Möchte die Lenka etwas dazu sagen?« wurde ich beim Symposium im Jahre 1993 wiederholt in verschiedenem Zusammenhang gefragt. Und ich mochte schon, sofern es sich um Menschen und Begebenheiten handelte, von denen ich etwas wußte, wo ich »dabei« war. Auf Vermutungen und nachträgliche Konstruktionen ließ ich mich nicht ein. Mitunter war ich allerdings überrascht und betroffen, daß so manches anders war, als ich bis dahin gewußt hatte.

Gilberto Bosques bin ich bei meinem zweiten Besuch in Mexiko noch einmal, freilich wiederum indirekt, begegnet. Eines Abends wurden wir in einen Autocar verstaut und zum einstigen Wohnsitz von Leo Trotzki gefahren. Für mich stellte das eine außerordentlich interessante Expedition dar. Als ich Ende 1941 in Mexiko angekommen war, lebte Trotzki nicht mehr. Ein paar Wochen nach meiner Ankunft begann ich in unserer Exilbotschaft zu arbeiten; dort war, neben dem Botschaftskanzler, mein einziger Kollege ein junger Mann aus der mährischen Metropole Brünn, der irgendwann vor dem Krieg eigens nach Mexiko gereist war, um hier einer der Sekretäre des russischen Exulanten zu werden. Er schien, was mich überraschte, ein völlig passiver träger Mensch zu sein, dessen Vorliebe darin bestand, aus den mexikanischen Zeitungen die sehr zahlreichen und sehr bluttriefenden Mordberichte auszuschneiden und in einem Schubfach seines Schreibtisches aufzubewahren. Ich erwog, ob dieses sonderbare Hobby nicht etwa mit seinen erschreckenden Erfahrungen im Trotzki-Haus zusammenhängen könnte. Über dieses Abenteuer verlor er jedoch kein Wort, auch zum Leidwesen unseres Gesandten, der gern etwas mehr darüber erfahren hätte. Nach Kriegsende heiratete mein mährischer Kollege eine Mexikanerin aus wohlhabendem Haus, wurde Unternehmer und soll recht reich geworden sein.

Diese Schreibtischsymbiose mit einem Trotzkisten, sei es auch in den aus den Fugen geratenen Kriegsjahren und auf dem Boden der diplomatischen Vertretung unserer, von der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei gleichfalls anerkannten Exilregierung, sollte mich neben zahlreichen anderen Unsinnigkeiten in der politischen Hetzjagd der fünfziger Jahre teuer zu stehen kommen.

Es war schon beinahe ganz dunkel, als unser Autocar sein Ziel erreichte und wir zum Aussteigen aufgefordert wurden. Ich kletterte aus dem Wagen und stand vor einer massiven, ziemlich hohen ockergelben Steinwand. Eine Festung, war mein erster Eindruck. Erstaunlicherweise beherbergt sie nun zum Teil eine Sammlung moderner mexikanischer Graphik. Aber nicht deshalb hatte man uns hierher gebracht. Wir waren gekommen, um der Enthüllung einer Büste Gilberto Bosques beizuwohnen. Warum gerade hier, in Trotzkis einstigem Wohnhaus, habe ich nicht erfahren.

Schon im Vorraum kam die schöne Tochter des einstigen Generalkonsuls auf mich zu, stellte mich einer eleganten schwarz gekleideten älteren Dame vor, deren Name mir während der durchaus nicht förmlichen, sondern der hierzulande üblichen herzlichen Begrüßung entglitt. Jemand flüsterte mir etwas später zu, das sei doch die Witwe des revolutionären Präsidenten Mexikos General Lázaro Cárdenas. In diesen an Überraschungen so überreichen Tagen konnte mich eine solche Begegnung nicht mehr verwundern.

Bedrückt, nicht verwundert, hat mich nach meiner Rückkehr nach Prag die Nachricht, daß die Indios, die sich in Chiapas, dem südlichsten Zipfel Mexikos, gegen ihr Elend und unwürdiges Dasein erhoben, neben dem legendären Marcos auch von Cuahtemóc Cárdenas, dem Sohn des einstigen Präsidenten angeführt werden. Ich mußte an die zierliche, schwarz gekleidete Dame im Trotzki-Haus denken, die anscheinend zeitlebens nicht zur Ruhe kommt. Bertolt Brecht und unser Karel Capek haben eine solche Mutter auf der Bühne lebendig werden lassen. Es ist ein ganz sonderbares Gefühl, so einer Frau auf einmal gegenüberzustehen.

Als die allgemeine Begrüßung zwischen Konferenzteilnehmern und Ehrengästen vorbei war, geleitete man uns in einen kleinen Saal, wo sich schon eine ansehnliche Menschenmenge versammelt hatte. Aus einer Ecke ragte schräg eine dünne Stange, die einem langen Angelgerät ähnelte, in den Raum. Statt eines glitzernden Fadens hing eine Schnur von ihm herab, die in einer Art großen Teekannenwärmers aus rotem Tuch endete. Verwundert betrachtete ich diese merkwürdige Einrichtung. Da ergriff aber schon jemand das Wort, pries Bosques und seine verdienstvolle Tätigkeit im Kriegs-Marseille, die ihm und seinen Mitarbeitern auch eine Internierung in Deutschland eingebracht hatte. Als er zum Schluß kam, setzte sich die schräge Schnur sachte in Bewegung, die rote Tuchglocke schwebte langsam in die Höhe und enthüllte damit die Bronzebüste des Generalkonsuls. Erstaunt verfolgte ich diesen ungewöhnlichen Vorgang und mußte dabei natürlich an die hektischen Tage in Marseille denken, an die von Flüchtlingen aus ganz Europa überlaufene Stadt, in der ich dank einer glücklichen Begegnung einen Abend mit Anna Seghers in einer kleinen griechischen Kneipe »verquatschte«, woran sie sich später oft vergnügt erinnerte. Im Zufluchtsort Marseille gab es einen Hafen, von hier aus stach mitunter ein Schiff in See, dessen Ziel ein rettender, von Faschismus und Krieg verschonter Kontinent war. Auch das mexikanische Konsulat, dem Gilberto Bosques vorstand, war in jener verrückten, von Tausenden Ängsten und schüchternen Hoffnungen vibrierenden Atmosphäre ein Hafen, von dem aus das Leben weitergehen konnte. Und mich schließlich bis zu dieser Bronzebüste im einstigen Trotzki-Haus geführt hat.

Während meines ersten Aufenthaltes in Mexiko habe ich mehrere Erdbeben erlebt, von denen eins mit der Geburt eines neuen Vulkans verbunden war. Kisch hat über die Entstehung dieses Paricutín getauften Neulings (er brach auf dem Kirchenplatz des Dorfes Paringaricutiro aus) in seinen »Entdeckungen in Mexiko« ausführlich berichtet. Wenige Jahre vor meinem jetzigen Besuch war die Hauptstadt von einem katastrophalen Erdbeben heimgesucht worden, mit zusammengebrochenen Straßenzügen und ungezählten Toten. Beinahe mit einem Anklang von schwarzem Stolz – der Tod schreitet hier seit eh und je neben dem Leben einher – erzählte man mir nun, daß auch die Familie des berühmten Sängers Placido Domingo von diesem Unglück schwer betroffen wurde. Ungeachtet dieser schlimmen Erfahrungen schritt ich nun durch Boulevards mit Wolkenkratzern zu beiden Seiten; zum Teil sind es ungewöhnliche, mit mexikanischem Schönheitssinn gestaltete, in den Himmel aufragende Glaspaläste.

Die Stadt besitzt nun eine Untergrundbahn, und in meinem Hotelzimmer hingen die Bilder schief an den Wänden. Ich konnte nicht ergründen, ob noch als Folge des letzten Erdbebens oder schon in Vorahnung eines künftigen. Als wir hier lebten, hatte ich mir angewöhnt, einen schnellen Blick auf die Lampe an der Zimmerdecke zu werfen, wenn mir plötzlich schwindlig zumute wurde. Schwankte sie hin und her, war ein Erdbeben im Anzug oder auch schon da. Alle Glocken in den erschütterten Kirchtürmen setzten sich in Bewegung, Katzen jaulten, Hunde winselten, die Indianerfrauen zerrten ihre verschlafenen Kinder aus den Häusern oder ihren notdürftigen Behausungen und knieten mit brennenden Kerzen in den Händen auf der bebenden Erde. Wenn die sich freilich unter ihnen öffnete oder von oben Steinblöcke herabsausten, boten die flackernden Kerzen kaum Hilfe. Seither hat man technische Mittel erfunden, um die Gebäude wenigstens gegen horizontale Erdstöße abzusichern. Gegen vertikale soll es noch nichts dergleichen geben. Im modernen Mexiko von heute haben mich allerdings auch andere fürsorgliche Vorkehrungsmaßnahmen beeindruckt.

In der Halle des nicht überaus großen, behaglichen Hotels verwunderten mich z.B. hinter einer Glaswand Ständer mit verschiedenartigen Kleidungsstücken. Werden die zum Verkauf angeboten, wollte ich wissen. Ach wo, erklärte man mir, das sei bloß eine Vorsorge für Gäste, deren Fluggepäck verspätet oder allzu oft auch überhaupt nicht ankommt. Die können sich dann hier wenigstens notdürftig kostenlos einkleiden. Wird man sonst wo in der Welt in einem Hotel so fürsorglich bemuttert?

Über dem Waschbecken in meinem Bad war ein Täfelchen mit der Aufforderung angebracht, zum Zähneputzen nur das chemisch gereinigte Wasser aus der bereitgestellten Flasche, keineswegs das aus dem Wasserhahn zu benützen. Die Cholera geht im Lande um. Bei all dem schwebte mir noch, wie in weiter Ferne, der Anblick von Straßenverkäufern mit klebrigen Süßigkeiten vor, deren oft leprös verunstaltete Gesichter mir einst Schrecken einjagten. Und so konnten mich die neuzeitigen offiziellen Warnungen, etwa vor der Gefahr, auf der Straße überfallen zu werden, meine eigenen Beobachtungen, die überwältigende Fremdartigkeit auf Schritt und Tritt – all das konnte mich deshalb nicht allzu sehr erschrecken. Ich war wieder einmal in Mexiko. Diese Freude überschlug alles.

Und doch fehlte mir etwas, beunruhigte mich, allerdings anders als geläufige Ängstlichkeit und Nervosität in einem fremden Land. Ich war mir dessen bewußt, konnte jedoch nicht ergründen, was es war.

Als das Ehepaar Janka nach der Beseitigung technischer Flugschwierigkeiten endlich ankam und wir in unserem Hotel beim ersten gemeinsamen Frühstück zusammensaßen, bestürzte mich die konstante nervöse Spannung, die von Walter ausging. Der Mann, dem in seiner Heimat von seinen Genossen schweres Unrecht widerfahren war, schleppte, so schien mir, diese Last pausenlos mit sich, konnte von ihr nicht loskommen, so wie man zeitlebens von einer Wunde weiß, selbst wenn sie längst vernarbt ist. So wie es Geschehnisse gibt, die man nicht überleben kann, selbst wenn man sie überlebt. Diesen Satz habe ich vor Jahren im Zusammenhang mit meinem eigenen Erleben geschrieben. Jetzt fiel er mir wieder ein.

Lotte Janka kenne ich schon sehr, sehr lange, noch aus den dreißiger Jahren, von denen sie einige im Gastland Tschechoslowakei und in unserem Prag verbracht hat. Später waren wir beide im Frauenlager Rieucros interniert, ehe wir dank der Bemühungen unserer Freunde in Amerika Frankreich verlassen konnten und glücklich in Mexiko landeten. So war es kein Wunder, daß sich die alte Vertrautheit zwischen uns bald wieder einstellte. Deshalb konnte ich ihr auch behutsam sagen, daß mich der Zustand ihres Mannes erschreckte. Da erzählte sie mir von ihrer Besorgnis über die schwer angeschlagene Gesundheit Walters. Und wie so oft empfand ich auch bei diesem Besuch Mexikos ein beinahe unfaßbares Glücksgefühl, daß es mir – trotz mehrjähriger Haft während des Krieges und in den fünfziger Jahren, trotz schwerer Krankheit und dem Verlust meiner ganzen Familie und vor Jahren nun auch meines Mannes – daß es mir immer noch gegeben war, nicht nur zu leben, sondern das Leben auch noch zu genießen – mit Arbeit, mit meiner Tochter und Enkeltochter, mit Freunden und einer nicht abreißenden Fülle ständig neuer Erlebnisse.

Das ist wohl auch der Grund, warum ich die wenigen Tage in Mexiko so genossen habe, warum ich sie immer wieder hervorrufe und in ihrer Eigenart begreiflich machen möchte. Wenn ich das selbst in diesen angenehmen Tagen angespannte Gesicht Jankas beobachtete, seinen Blick, der offenbar nicht mehr anders konnte, als ständig auf der Hut zu sein (Menschen, Menschen sind im Walde!) mußte ich unwillkürlich an den lebhaften jungen Walter aus unserer ersten mexikanischen Zeit denken und wurde von Wehmut erfaßt. Wie gut, daß wir damals nicht ahnen konnten, was uns noch alles bevorstand, daß sich unser Leben keineswegs so gestalten würde, wie wir es uns erträumt hatten und wie wir es wahrhaben wollten. Alles ist anders, heißt es weiß Gott zu Recht in dem Prager jüdischen Witz.

Walter Janka ist bald nach seiner Rückkehr nach Berlin abermals schwer erkrankt und einige Wochen später gestorben. Gäbe es einen Himmel, könnte er jetzt unseren Freunden erzählen, daß es ihm noch vergönnt war, die mexikanischen Pyramiden wiederzusehen, daß ihm und seiner Lotte eine Mariachi-Kapelle aufgespielt hat, daß er so kurz vor dem Ende für ein paar Tage noch in seine jungen Jahre zurückkehren konnte.

Es war eine frühe Abendstunde, als ich durch das Gewimmel von Menschen, Fahrzeugen, Straßenverkäufern, bettelnden Kindern und protzigen, viel zu großen Limousinen zum Zócalo, dem geräumigen rechteckigen Hauptplatz der Stadt, schlenderte. Hier war es mit einem Mal verhältnismäßig still. Ich schritt langsam auf das imposante Regierungsgebäude an der Südseite zu, dessen Aufgang und Treppenhaus die großartigen Wandmalereien Diego Riveras schmücken. Die kannte ich so gut, daß ich sie nun geradezu zu sehen vermeinte. Zu meiner Linken wußte ich die Kathedrale mit der bizarren Pracht ihrer überschwenglichen Verzierungen. Rings um mich war Stille, nur von weitem konnte man das Rauschen des Verkehrs vernehmen. Die wenigen Menschen, die in dieser abendlichen Stunde den Platz überquerten, verhielten sich ruhig, als wären sie in einer Art ehrfürchtiger Scheu befangen. Hier war der Schauplatz ihrer Geschichte, hierher strömten sie, um gemeinsam zu feiern oder auch zu trauern. Hier wußten sie sich eins mit den Großen ihrer bewegten Vergangenheit. Das Pflaster des Zócalo wurde wiederholt von den Tränen ohnmächtigen Schmerzes getränkt, im Gestein des Palastes und der Kathedrale war aber auch der Widerhall siegesbewußten Jubels eingefangen. Ein Stückchen hinter mir tanzten ein nur mit einem Lendenschurz bekleideter Indianer und eine Frau im groben Leinenhemd. Ihre Begleitmusik war der monotone und eindringliche Klang von zwei Trommeln, den ein zweiter Indianer mit flachen, rhythmischen Handschlägen hervorzauberte.

Der Himmel über dem Palacio und dem Tempel des katholischen Gottes nahm allmählich Nachtschwärze an. Eine merkwürdige Ruhe bemächtigte sich meiner, ein Gefühl, nirgends und überall zu sein, losgelöst vom Alltag und eingebettet in Zeitlosigkeit. Auf diesem Platz mit den dunklen Umrissen der unverändert vertrauten Gebäude, die ungeachtet der Menschen, die dort aus und ein gingen, all die Jahre die gleichen geblieben waren, empfand ich beim Klang der eintönigen Trommelschläge für einen kostbaren Augenblick, mit all jenen Menschen verbunden zu sein, die einst hier mit mir gelebt haben. Als ob ich wieder ganz jung geworden wäre, durchströmte mich wie damals der Wille, meinen Tagen einen guten Sinn zu geben (Ach, alles, alles ist anders!), sogar noch irgend etwas neu zu beginnen, und sei es auch nur ein Körnchen menschlicher Weisheit weiterzutragen. Das wollte ich auch im Andenken an meine Freunde aus unserer mexikanischen Zeit tun, die in jener Stunde beinahe neu verkörpert mit mir auf dem Zócalo zu stehen schienen.

Als ich im Jahre 1945, wenige Wochen nach dem Ende des Krieges nach Europa zurückkehrte, war nicht meine Heimatstadt Prag mein Ziel, sondern Jugoslawien, die Heimat meines Mannes, genauer seine Hauptstadt, das zerbombte Belgrad. Unsere Reise in der unmittelbaren Nachkriegszeit verlief weder schnell noch glatt, noch so wie vorgesehen. Die Perast, das kleine dalmatinische Lastschiff, auf dem Balk als Schiffsarzt und ich als Hilfsköchin eingetragen waren (denn es durfte keine Passagiere an Bord haben), widerstand unterwegs tapfer einem rasenden Unwetter, bahnte sich entlang der spanischen und später auch der italienischen Küste unbeirrt seinen Weg durch die mit bloßem Auge wahrnehmbaren, immer noch in Mengen durch die Fluten gleitenden Minen. Als wir endlich nicht wie geplant in Split sondern in Šibenik ankamen, gab es tagelang keine Bahnverbindung ins Innere des Landes. Es dauerte beinahe eine ganze Woche, ehe wir in Belgrad eintrafen, und selbst das stimmt nicht ganz, denn in die Hauptstadt konnte man damals nur mit einem von Pferden gezogenen Fuhrwerk über eine provisorische Pontonbrücke gelangen, die den Sava-Fluß mit dem anderen Ufer verband. Die Wiederherstellung des Bahnanschlusses stand noch in den Sternen.

Wir hatten keine Ahnung, wo wir wohnen würden, auch nicht wo sich unser Gepäck befand, zwei Kisten vollgestopft mit Büchern, Manuskripten, mexikanischen Sarape-Decken, mit meinem keramischen Glücksschweinchen, etlichen Idolos und Votivbildchen und einer Menge kleiner, uns liebgewordener Souvenirs. Viele hatten wir von unseren Freunden zum Abschied mitbekommen. Unsere Abreise war ein Ereignis gewesen, denn wir waren die ersten antifaschistischen Flüchtlinge aus Europa, die heimkehrten. Unterwegs war auch eine Kiste mit Milchpulver und Babyausstattung, ich erwartete ein Kind. Mit uns schleppten wir nur je einen Koffer mit der notwendigen Kleidung für uns beide.

Die Kisten sind bei uns niemals angekommen, was mich nur in Bezug auf die Bücher erstaunte, denn daß in dem verwüsteten und ausgehungerten Land Decken, Kindernahrung und Babywäsche auf der Strecke blieben und andere Empfänger erreichten, konnte mich betrüben, aber nicht verwundern.

In dem Koffer, den ich bei mir hatte, gab es neben einigen eher unnützen Kleidungsstücken – die Jahre im sonnigen Mexiko hatten unsere Vorstellung vom kalten Europa ein wenig verblassen lassen – eine etwas ungewöhnliche Jacke. Ihr Vorderteil und die Ärmel waren aus festem, filzartigem weißem Stoff, der Rücken aus flammend rotem. Die weißen Teile waren mit fröhlichen Girlanden bestickt, den roten Rücken zierte in grellen Farben ein ziemlich großes gesticktes mexikanisches Wappen mit dem Adler, der eine Schlange in seinen Klauen hält. In Mexiko habe ich dieses Prachtstück meiner Garderobe (wie bin ich nur dazu gekommen?) fast nie getragen, es schien mir allzu auffallend zu sein. Jetzt aber hielt ich mit Liebe daran fest. Im Winter wärmte es mich in den kaum oder überhaupt nicht geheizten Räumen, schützte mich gegen den hier viel zu häufigen eisigen Kosava-Wind. Im Frühling lief ich dann fröhlich mit dem bunten Wappen auf dem Rücken umher.

Alles rings um mich war grau. Die geborstenen Wände der beschädigten Häuser, die gähnenden Straßenlücken, die verstaubten leeren Schaufenster, die holprigen und unausgebesserten Gehsteige, die schäbigen Kleider der Menschen, ihre Gesichter, die Zeitungen, die Rundfunksendungen (an denen ich selbst im Radio Beograd mitarbeitete), alles. So wirkte es jedenfalls auf mich, so drückte es mich nieder.

Da holte ich meine Jacke mit den bunten Girlanden vorne und dem wilden Wappen auf dem Rücken hervor, und so angetan schob ich meinen Kinderwagen durch die Menschenmenge, die sich allabendlich auf dem Korso im Stadtzentrum einfand. So bekleidet ging ich zur Überraschung meiner Kollegen zur Arbeit, zum Einholen (wenn es etwas gab), mit dem Baby in den Kalimegdan-Park. Mein farbenfroher Aufzug verbesserte nicht nur meine eigene Stimmung, ich zuckte wie ein Flämmchen durch die vom Krieg verletzten Straßen, rief auf den Gesichtern meiner Mitbürger ein halb erstauntes und halb belustigtes Lächeln hervor, nahm es mit dem Grau ringsum auf, wollte mich von der verkrampften Atmosphäre nicht unterkriegen lassen.

»In Mexiko hast du diese Jacke nie getragen«, wunderte sich mein Mann.

»Dort mußte ich nicht«, antwortete ich, »dort schien die Sonne.«

Da nickte er bloß.

Meine rot-weiße Mexiko-Jacke im Nachkriegs-Belgrad hatte ich schon beinahe vergessen. Sie fiel mir sonderbarerweise wieder ein, als ich mich mit den Konferenzteilnehmern zum Besuch des Anthropologischen Museums begab, das in den Jahren nach unserem Aufenthalt in der mexikanischen Hauptstadt errichtet worden war. Jeder, der bislang dort gewesen war, erzählte begeistert von diesem Erlebnis. Allein schon die großartige Anlage des ganzen Komplexes ist beeindruckend, jeder Stein, jede Perspektive scheint hier ihre Funktion zu haben.

Aber was hat das mit meiner optimistischen bestickten Jacke gemein?

Doch, doch.

Eine junge mexikanische Architektin übernahm die Führung unserer Gruppe. Sie war sehr gewissenhaft, wußte über jedes Exponat etwas zu sagen, holte historisch weit aus.

So geht das nicht, sagte ich mir bald. Alles zu betrachten, die Kunst der Azteken, der Mayas, der Inkas, der Tolteken . . . dafür mußte man einige Tage zur Verfügung haben, wir aber haben nur ein paar Stunden. Also bedankte ich mich bei unserer jungen Begleiterin, versprach, mich pünktlich zur Abfahrt vom Museum einzufinden, und ging los, um mich wenigsten mit einem Zeitabschnitt etwas näher bekannt zu machen. Ich wählte die Kunst der Mayas. Auf dem Weg in diese Abteilung blieb ich freilich immer wieder vor einem der Exponate stehen, feierte mit den Symbolfiguren (Adler, der eine Schlange in seinen Krallen hält) vielfaches Wiedersehen und betrat schließlich die Räume mit der Maya-Kultur. Stein, Onyx, getriebenes Gold. Ein Dío gordíto, eine dickleibige Gottheit, die verschmitzt lächelnd ihr goldenes Bäuchlein vorweist, ein offenbar zufriedener Teenage-Gott (Alter? Tausend Jahre?).

Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen. Das war nicht möglich! Ich wanderte doch durch die Abteilung der Kunst des Stammes der Maya-Indios, aber hier an der Wand blickte mit einem Mal das trotzige Gesicht Ludwig van Beethovens auf mich herab, die störrisch gesenkte Stirn, die breiten Backenknochen, der überhaupt breit gebaute Kopf, in dem so wundervolle Musik erklang. Bist du verrückt, flüsterte ich mir zu, wohin führt dich dein Phantasieren? Beethoven im dritten Jahrhundert? Und warum nicht, widersprach ich mir, warum konnte dieser Herrscher oder Gott nicht von einem ähnlichen Geist beseelt gewesen sein wie der Künstler, der dieses Antlitz an einem anderen Ende der Welt und in einer vor Beethoven längst vergangenen Zeit geschaffen hat? Aber hier war doch alles anders, räsonierte es in mir. Gewiß, gab ich zu, aber ich nehme doch die Kunst hier und die Kunst drüben auf meinem Kontinent mit denselben Augen und mit meinem einzigen, mir gegebenen Sinn auf. Dort wie hier angeregt und beglückt.

Und auf diesem Umweg kam ich dann auch auf meine mexikanisch wilde Jacke zurück. Hätte mich denn ein am laufenden Band, technisch perfekt und seelenlos mechanisch produziertes Kleidungstück gegen trostloses Grau stützen und in weitester Ferne noch erfreuen können? Das war es, woran ich hier mit einem Mal denken mußte. Auch meine gute Jacke war ein Ergebnis menschlicher Schaffensfreude.

Angeregt und beglückt fühlte ich mich gleichfalls, als wir im Palacio de Bellas Artes einer Aufführung mexikanischer Tänze von den Azteken bis in unsere Tage beiwohnten. Von den Ritualtänzen zu Ehren der Götter bis zum Charabe-Tapatío der Neuzeit. Und das alles in einer Orgie von Bewegung, Farbe und Musik; jeder Schuhabsatz, jeder Faltenwurf der verschwenderisch farbreichen Kostüme tanzte hier mit.

Einer meiner Konferenzkollegen, der in der Pause das prächtige große Haus bewunderte, fragte mich, ob ich auch während meines einstigen Aufenthaltes in Mexiko Gelegenheit hatte, dieses schöne Theater zu besuchen. Meine Antwort überraschte ihn (und beinahe auch mich):

»Ich habe einmal von dieser Bühne sogar eine kleine Ansprache gehalten.«

»Von dieser riesigen Bühne?«

Ich nickte und staunte erst jetzt so richtig über meine damalige Kühnheit. Es war im Jahr 1942, als die Welt von der Nachricht entsetzt wurde, daß die Nazis das Böhmische Bergarbeiterdorf Lidice in den Boden gestampft hatten. Später reihten sich das französische Oradour, das italienische Marzabotto, ungezählte polnische und russische Dörfer in diese gespenstische Folge. Aber von Lidice erfuhr man zuerst.

In unserer tschechoslowakischen Botschaft besuchten uns in jenen Tagen die Lehrerinnen einer nach dem ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, Professor T. G. Masaryk, benannten mexikanischen Mädchenschule, die Eltern eines eben auf die Welt gekommenen Mädchens, das sie auf den Namen Lidice taufen ließen, einfache Bürger der Hauptstadt, die uns nur ihre Sympathie bekunden wollten. Schließlich kam auch eine Abordnung aus dem Dorf San Jerónimo Aculco, das beschlossen hatte in Hinkunft seinem Namen den des von den Faschisten »für immer ausgelöschten« Dorfes in der Tschechoslowakei hinzuzufügen.

Ich war damals überaus beschäftigt, organisierte, vereinbarte, rannte von der Masaryk-Schule in den Rundfunk, fuhr nach San Jerónimo, sprach mit vielen Menschen. Für meine persönliche Erschütterung blieben nur die Nachtstunden, in denen ich nicht schlafen konnte und meine Erzählung »Die kotigen Schuhe« schrieb.

Ich weiß nicht mehr, wer mit dem Einfall gekommen war, im Palacio de Bellas Artes eine öffentliche mexikanisch-tschechoslowakische Manifestation für Lidice zu veranstalten. Vielleicht war es André Simone, der nimmermüde Organisator antifaschistischer Aktionen, der 1952 aufgrund eines absurden Urteilsspruchs seiner einstigen Genossen eines schrecklichen Todes sterben mußte. Ich kann mich daran nicht mehr erinnern, weiß nur, daß es Egon Erwin Kisch war, der den Vorschlag machte neben den offiziellen Rednern sollte auch ich das Wort ergreifen.

»Bist du verrückt geworden?« war meine erste erschrockene Reaktion. »Im Palacio, vor hunderten Menschen?«

Aber schließlich ließ ich mich überreden. Es würde gut wirken, überzeugte man mich von allen Seiten, wenn »eine junge Frau, aus Böhmen . . .«

Wieder schlief ich ein paar Nächte nicht und versuchte meine Rede aufzusetzen. Aber als ich dann nach der Ankündigung »una joven mujer de Bohemia« auf der großen Bühne (»winzig klein«, sagte mein Mann, der unten im Parkett den Atem anhielt), ohne mir dessen bewußt zu sein, bis fast an die Rampe trat, vor mir der schwarze Schlund des Zuschauerraums, in dem nur ein paar helle Tupfen mit auf mich gerichteten Augen aufleuchteten – da ergriff mich eine bislang ungekannte Erregung. Ich vergaß meine nächtlichen Stilübungen, wollte den Menschen vor mir mein Herz ausschütten, wollte ihre Herzen bewegen, wollte für die Toten, für die verzweifelten Mütter und ihre jammernden verschleppten Kinder sprechen. Wollte aufrütteln, mitreißen, wollte, weil Ungeheuerliches geschehen war, daß etwas Gutes, etwas Menschliches dagegen geschieht.

Es war ganz still in dem großen Saal, als ich endete. Es dauerte einen Atemzug lang, ehe der Beifall losbrach.

Als ich nun wieder in dem Palacio stand, nach all den Jahren, in denen noch so viel Ungeheuerliches passiert war, konnte ich nur noch schmerzlich daran denken, daß ich in eben diesem Haus wirklich daran geglaubt habe, Ideale könnten verwirklicht werden, wenn jeder, der für sie eintritt, weil er von ihrer Richtigkeit und Notwendigkeit überzeugt ist, sein Stückchen Erkenntnis, sein Körnchen Weisheit dazu beiträgt. Jetzt wußte ich schon, daß alles ganz anders ist.

Ein komfortabler Autocar brachte uns eines Morgens zu den Pyramiden von Tepotitzlán. Wie wir vor Jahren hierher gekommen waren, hielt mein Gedächtnis nicht mehr fest, ein komfortabler Autocar war es jedoch zweifellos nicht gewesen, viel eher einer der klapprigen, an jeder Straßenecke (»Esqunia, por favor!«) und bei jeder größeren Agave haltmachenden, vollgepferchten Autobusse. Die zahlreichen Kioske mit Silber- und Lederwaren, amerikanischem Knabberzeug und Getränken waren damals bestimmt auch noch nicht da.

Wir stiegen aus, und ich fühlte geradezu physisch, wie ich mich im Nu aus einem gaffenden Touristen in einen respektvollen Besucher verwandelte. Was haben doch die Menschen lange, lange vor uns für wunderbare Dinge und Kunstwerke geschaffen! Langsam erklomm ich die dominierende Pyramide, überblickte von oben das weite Gelände mit den vielfältigen, ständig fortgesetzten Ausgrabungen, den wuchtigen Steinblöcken mit symbolträchtigen Verzierungen, tierischen und menschlichen Figuren – und konnte mit einem Mal verstehen, daß der Herrscher, der von hier aus, prächtig gekleidet und geschmückt, auf seine Untergebenen hinabblickte, ringsum die unenträtselbare, für ihn jedoch vielleicht lesbare Vulkanlandschaft, daß dieser Fürst glaubte, ein Halbgott zu sein, und sich als solcher auch verehren ließ.

Auf dem Weg zu den Pyramiden und dann wieder bei der Rückfahrt sah ich, was einem im Inneren der Hauptstadt verborgen bleibt, die sich in den letzten Jahren unaufhaltsam ausbreitenden Colonias Populares, wie die Armenviertel am Rande der Metropole nichtssagend genannt werden. Gleich einer nicht einzudämmenden Flechte bedecken die armseligen Häuschen die Hänge der ruhenden Vulkane, bis die ein nächstes Mal wieder Feuer und Tod speien. Jemand erklärte mir sehr sachlich, in den Colonias sei elektrischer Strom eingeführt, wer jedoch keine Zisterne auf dem Dach habe, müßte leider Wasser in Eimern und Krügen vom Flachland bis hinauf schleppen.

Die tschechoslowakische Botschaft, in der ich vor einem halben Jahrhundert tätig war, befand sich in einer kleinen, aber recht hübschen Villa in einem gleichfalls bescheidenen, aber gepflegten Garten. Auf der gegenüberliegenden Seite der stillen Straße gab es zwischen einer weißen und einer zitronengelben Residenz eine Baulücke. Als ich an einem Morgen aus dem Fenster meines Arbeitsraums über die Rosenbeete hinweg schaute, gewahre ich dort reges Treiben. Männer, Frauen und Kinder schleppten allerlei Baumaterial (Ziegel, Pappkartons, flach geklopfte Metallfässer) herbei, schichteten es auf und bezogen schon am Nachmittag ihr neues Zuhause. Im Laufe der nächsten Tage wurde die Indio-Familie, die da zwischen den komfortablen Häusern lebte, immer zahlreicher, die Frauen hockten auf der Straße und buken Tortillas, deren unverkennbarer Duft zu mir herüberwehte. Niemand in der eleganten Straße protestierte gegen die Zuwanderer, niemand kümmerte sich freilich auch darum, wie sie mit Kind und Kegel in dem elenden Kartenhaus mit freiem Einlaß für Ungeziefer und die räuberischen hungernden Ratten und ohne jegliche sanitäre Anlagen zurechtkamen.

Auch das ist jetzt also anders. Die feinen Residenzviertel sind nunmehr frei von solchen Schönheitsfehlern. Aus den gepflegten Gärten ergibt sich kein Ausblick auf nachbarliches Elend, nichts stört die harmonische Atmosphäre beim Frühstück, man schnuppert nur die eigenen, wohltuenden Küchendüfte. Die Armen, von denen es ständig erschreckend mehr gibt, leben anderswo und unter sich.

Ciudad de México liegt 2265 Meter über dem Meeresspiegel. Als ich während des Krieges nach anderthalbjährer Haft im Gefängnis und Internierungslager hier angekommen war, glaubte ich, ganz gesund zu sein. Mein Herz war jedoch anderer Ansicht und revoltierte nach einiger Zeit gegen den jähen Höhenunterschied (mein letzter Aufenthaltsort war Casablanca am Meer gewesen) und leistete sich einen Kollaps. Der Arzt empfahl mir, ein paar Wochen in etwas geringerer Höhenlage zu verbringen. Die Wahl fiel auf Cuernavaca, einen geruhsamen Erholungsort etwa 1000 Meter tiefer. Ein kleines Paradies. Stille und Blütenduft aus den überquellenden Gärten, nur sehr wenig Verkehr, kein Hasten und Gedränge. Hier konnte man sich fürwahr erholen.

Auch diesmal hatte ich Gelegenheit, Cuernavaca zu besuchen. In den Straßen kommt man jetzt nur schrittweise vorwärts, Autos und Busse, vornehmlich mit Touristen beladen, hupen ständig und vergeblich. Unentwegt wird man von Straßenhändlern mit Touristenkitsch belästigt. War mein Cuernavaca von damals, mein stilles, im wahrsten Sinne des Wortes herzerquickendes kleines Paradies, inzwischen völlig abhanden gekommen?

Überfordert von den pausenlos auf mich einstürmenden neuen Eindrücken und der unwillkürlichen, gleichfalls pausenlosen Konfrontation mit meinem einstigen Leben in diesem Land, verließ ich meine Konferenzgruppe nach dem Besuch einer Fotoausstellung von Walter Reuter, der ähnlich wie Theodor Balk im spanischen Bürgerkrieg in den Internationalen Brigaden auf seiten der Republik gekämpft hatte, wodurch er den revolutionären Mexikanern besonders ans Herz gewachsen war. Auf einer seiner Aufnahmen hatte ich nun in seiner Ausstellung ein überraschendes Wiedersehen mit meinem Mann feiern können.

Draußen umfing mich ein langgestreckter terassenförmig angelegter Garten mit seiner tiefen uralten Stille. Ich stieg über breite Steinstufen, über die vor mir Generationen von Füßen getrappelt waren und ihre Spuren hinterließen. Jetzt aber war ich allein da, nur mit den vielen Blumen und den über ihnen und um sie tanzenden Schmetterlingen. Ich holte tief Atem, war glücklich und ging immer weiter in den Duft und das Grün und die Stille. In der Nähe einer leicht angestoßenen, edel geformten Steinvase zog mich eine blau und rosa gesprenkelte glockenartige Blüte mit ihrem eigenartigen Leuchten an. Ich beugte mich zu ihr nieder und hielt verzückt still, traute mich kaum zu atmen. Am Rande eines der blau-rosa Blütenblätter wippte ein winziges Vögelchen, tauchte sein noch winzigeres Schnäbelchen in die Tiefe des Blumenkelches, flatterte dabei mit seinen winzigen Schwingen. Ein Märchen, das Wirklichkeit geworden war? Wer weiß. Denn es war ein Kolibri, wie ich ihm zum ersten Mal in meinem einst so geliebten Kinderbuch begegnet war, den ich seither in meinen Träumereien bewahrt habe und nun in Wirklichkeit vor mir sah. Wer könnte es mir verargen, daß ich in diesem Augenblick ganz erfüllt war von dem kleinen Wunder vor mir, von der nahezu unbegreiflich zarten Schönheit, die in dem winzigen Wesen verkörpert war. Wir Menschen bringen es leider fertig, unserer gemeinsamen und einzigen Welt zahlreiche Wunden zu schlagen (Menschen, Menschen sind im Walde!). Und dann taucht ein so ganz kleines Geschöpf mit seiner unbekümmerten Lieblichkeit auf, und man glaubt zu verstehen, daß man trotz allem nicht verzagen muß, auch Untaten müssen Grenzen gesetzt werden, und letzten Endes kommt vieles ohnehin ganz anders.

Kurz vor meiner Rückkehr nach Prag streifte ich noch in Begleitung der jungen Frau, die mich bei meiner Ankunft in Empfang genommen hatte, durch die Plaza Hidalgo; wie der geräumige Zócalo ist auch dieser Platz rechteckig, aber klein und vom geräuschvollen Zentrum weit entfernt. Hier hocken die Indiofrauen noch auf der Erde, bieten Stickereien, Tücher und Schals, auf Eselshäuten gemalte Bildchen, Säckchen mit allerlei Gewürzen und wundersamen, angeblich auch Wunder bewirkenden Pülverchen an – nein, Drogen vom Mafiamarkt gibt es hier nicht –, silberne Ringe, eigenhändig aufgefädelte Arm- und Halsbänder aus phantasievoll kombinierten Glaskorallen. Am liebsten möchte man all die Deckchen mit Fabeltieren und sonderbaren Mustern kaufen, die nichts oder vielleicht gerade das Wesentliche mit den Kunstwerken im Anthropologischen Museum gemein haben – den Schönheitssinn der Indios, ihr Gefühl für Form und Farbe, das ihnen von ihren Vorfahren vererbt wurde. Die haben ihnen auch das Wissen über geheime Kräfte in der Natur überliefert. Ich empfand es nahezu als symbolisch, daß ich gerade hier mein ungewöhnliches Wiedersehen, meine zweite Landung in Mexiko beschließen konnte. Denn hier war kaum etwas anders.

Im Flugzeug auf dem Heimweg hatte ich reichlich Zeit, ein bißchen Ordnung in meinem Kopf zu machen, aus meiner mexikanischen Verträumtheit ein Körnchen Weisheit herauszuschälen, wie es in den jüdischen Witzen enthalten zu sein pflegt, die man einander in Prag ungeachtet des jeweiligen Regimes erzählt. Sicherlich ist es immer ein großartiges Erlebnis, an einen Ort wiederzukehren, wo man jung gewesen ist. Aber im Mexiko der frühen vierziger Jahre war ich nicht nur jung, ich war dort auch schon alt an überstandener Gefahr, an bösen Erfahrungen, an grausigen Verlusten. Und obwohl ich damals nur mit einem lächerlichen, in der Medina von Casablanca erstandenen, mit bunt geblümten Papier ausgeschlagenen Matrosenköfferchen in der Hand angekommen war, war ich zugleich auch schon reich: an schlimmen und an guten Erfahrungen, an alten und neuen Freunden, an der Möglichkeit, neu zu beginnen, weiterleben zu können. Mag sein, daß mich gerade deshalb dieses Wiedersehen so tief berührt hat. Denn es war ja Mexiko, wo ich in den schrecklichen Kriegsjahren gebangt und gehofft hatte, es war dieses schöne und eigenwillige Land, das ich zu begreifen versuchte, in dem ich schreiben gelernt und geheiratet habe, mich nach Europa sehnte und vor der Rückkehr in seine Verwüstung zitterte – all das war für mich auf einmal wieder da.

Von den Menschen, die ich hier nicht mehr finden konnte, haben etliche nach ihrer so lange erhofften Heimkehr in ihr befreites Vaterland abermals das trostlose Brot von Gefangenen essen müssen. In dem Land, in dem sie auf die Welt gekommen sind, dessen Bürger sie waren und für dessen Auferstehung sie aus freiem Willen alles, auch ihr Leben, eingesetzt haben. Einem von ihnen wurde sein Leben sogar durch den Henkers geraubt. (Menschen, Menschen sind im Walde! Menschen?)

Meine Mitreisenden starrten gebannt auf den Bildschirm mit dem Fernsehfilm. Ich schloß die Augen und ließ ganz andere Bilder an mir vorbeiziehen, nicht alle waren traurig, nicht alle waren froh. Hätte mich nun jemand gefragt, wie es denn war, nach so langer Zeit in sein einstiges Asylland zurückgekommen zu sein, ich hätte ihm wohl antworten müssen: Wunderbar war es, aber ganz anders.