15

Der kleine Herr

Drei Tage nachdem Lucien aus seinem Koma erwacht war, betrat Toulouse-Lautrec die Bäckerei Lessard und fand den jungen Maler nicht nur auf den Beinen vor, sondern damit beschäftigt, große, runde Laibe zu formen und auf Tabletts zu legen, damit sie gehen konnten. Es roch nach Hefe und dem süßen Duft der Konfitüren, die auf dem Herd köchelten.

Bevor er ihm einen Gruß entbot, fischte Henri seine goldene Uhr aus der Westentasche, um nachzusehen, wie spät es war.

»Gott sei Dank. Als ich das Brot sah, dachte ich, es könnte noch vor Sonnenaufgang sein.«

Lucien lächelte. »Dieses Brot ist nicht für heute, Henri. Das war schon vor Stunden fertig. Dieses will ich über Nacht gehen lassen. Das Rezept stammt aus Italien. Sie nennen es focaccia. Das Brot wird fester, aber nicht schwer, was gut für Saucen, Käse und Fleisch ist.«

»Französisches Brot ist doch tadellos für Fleisch und Käse, Lucien. Woher rührt deine plötzliche Faszination für das Italienische? Mir ist aufgefallen, dass du beim Malen mit einer dünnen Lasur arbeitest – wie ein Italiener.«

»Sie waren die Meister, Henri. Es heißt sogar, die Italiener hätten den Franzosen das Kochen beigebracht. Katharina von Medici hätte nach ihrer Hochzeit mit König Heinrich II. eine ganze Brigade italienischer Köche mit nach Frankreich genommen und sei mit ihnen durch das Land gereist, um Bankette abzuhalten und ihrem Volk die Kochkunst zu bringen.«

»Blasphemie!«, rief Toulouse-Lautrec. »Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Gott höchstpersönlich den Franzosen die Gabe der Cuisine geschenkt hat, und da er schon mal dabei war, hat er die Kochkünste der Engländer verflucht.«

»Aber in der Malerei …«

»Gut, es gab ein paar Italiener, die malen konnten.« Henri trat an den Herd, schöpfte eine Handvoll Dampf von der Kirschkonfitüre und atmete ihn ein. »Köstlich.«

»Régine will sie morgen in die Croissants geben. Koste, wenn du magst.«

»Nein, das Aroma genügt mir vorerst.«

Lucien wendete den letzten Brotlaib auf dem mehlbestreuten Tisch und warf ihn auf das Blech. »Apropos, du bist längst nicht mehr so aromatisch wie bei unserer letzten Begegnung.«

»Ich bitte um Verzeihung. Nach einer Woche im Bordell verliert man gern die Perspektive. Seither bin ich wieder zu Hause und bade in meiner Wohnung, ohne die Hilfe meiner Dienstmagd, die mich verlassen hat, wie ich hinzufügen sollte.«

»Nun, wenn du wochenlang nicht nach Hause kommst, ohne Bescheid zu sagen … Diener wollen bezahlt werden, Henri.«

»Daran lag es nicht. Ich habe sie im Voraus bezahlt, da ich dachte, ich würde den ganzen Monat bei meiner Mutter bleiben.«

»Woran lag es dann?«

»Penis«, sagte Toulouse-Lautrec.

»Bitte?«

»Ich habe ein Experiment durchgeführt. Einer Theorie folgend, basierend auf Informationen, die mir jüngst zugetragen wurden und für die ich eine Bestätigung suchte. Ich kam aus meinem Schlafgemach, au naturel, und die Magd reichte auf der Stelle ihre Kündigung ein, und zwar mit erheblich theatralischerem Getue, als angezeigt war, wie ich fand. Die Frau ist fünfundsechzig Jahre alt und Großmutter. Es ist ja nun nicht so, als hätte sie noch nie einen gesehen.«

»Ich gehe davon aus, dass du deinen Hut trugst?«

»Selbstverständlich. Hältst du mich für einen Banausen?«

»Und befandest du dich, wenn die Frage nicht allzu persönlich ist, im Zustand der Bereitschaft?«

»Um der Präzision des Experimentes willen, ja. Ich würde sagen, ich näherte mich zwei Uhr, mindestens halb drei. Ein Zustand, zu dem ich, wie ich hinzufügen sollte, gänzlich ohne ihren Beistand gelangte, da sie zu diesem Zeitpunkt im Salon Staub wischte.«

»Und trotzdem ist sie dir weggelaufen? Es klingt, als solltest du dich glücklich schätzen, dass du sie los bist.«

»Nun, ja, die alte Vettel weigerte sich, Fenster zu putzen. Höhenkoller.«

»Und Penisse.«

»Offenbar. Aber fairerweise muss ich sagen, dass ich Guibert dabeihatte, der das Experiment mit der Kamera festhalten sollte. Es war das erste Mal, dass er im Haus mit einem Blitz arbeitete, und er hat die Pfanne ein wenig mit Magnesium überladen. Die daraus resultierende Explosion und das Feuer mögen zu ihrer Flucht beigetragen haben.«

»Feuer?«

»Un petit peu.« Henri deutete mit Daumen und Zeigefinger an, wie klein das Feuer gewesen war, das die Magd vertrieben hatte.

»Ich erinnere mich an Zeiten, in denen du deine Experimente auf Tinte und Papier beschränkt hast.«

»Sagst ausgerechnet du, während du dieses abscheuliche, italienische Brot zubereitest.«

»Touché, Graf Monfa.«

Henri fuhr auf dem Absatz herum und betrachtete Lucien über sein pince-nez hinweg. »Und bist du nun genesen?«

»Ich muss sie finden«, sagte Lucien.

»Also nein.«

»Es geht mir gut. Ich muss Juliette finden.«

»Verstehe. Wenn ich deine Wünsche jedoch einen Moment ignorieren dürfte … wir müssen mit Theo van Gogh sprechen.«

»Dann willst du mir also nicht helfen, sie zu finden?«

»Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, dass ich gewillt bin, dich in diesem Punkt zu ignorieren. Wir können nicht einfach in seine Galerie hineinplatzen und ihn auf den Tod seines Bruders ansprechen. Ich habe dort einige Bilder hängen, genau wie du, aber ich weiß nicht, wie wir das Gespräch von unseren Bildern auf Vincent lenken können, ohne geschmacklos zu erscheinen.«

»Gott bewahre«, sagte Lucien.

»Wir müssen ihm dein Bild bringen.«

»Nein, es ist noch nicht fertig.«

»Unsinn, es ist großartig. Das beste, das du je gemalt hast.«

»Es fehlt immer noch ein blaues Tuch um ihren Hals, das den Blick des Betrachters lenkt. Und ich muss noch mehr Ultramarin von Père Tanguy besorgen.«

»Ich hol dir eine Tube aus dem Atelier.«

»Es ist nicht nur das, Henri …«

»Ich weiß.« Toulouse-Lautrec nahm den Hut ab und wischte mit einem Taschentuch über seine Stirn. »Warum ist es hier drinnen so warm?«

»Wir sind in einer Bäckerei. Henri, ich habe Angst vor diesem Bild.«

»Ich weiß«, sagte Toulouse-Lautrec mit gesenktem Haupt und nickte ernst und mitfühlend. »Es liegt am Penis, nicht?«

»Da ist kein Penis!«

»Ich weiß, ich wollte dich nur ein wenig aufheitern.« Henri klopfte seinem Freund auf den Rücken, und Mehl stob von Luciens Hemd auf. »Das wird der Aufhänger für unseren Besuch bei Monsieur van Gogh. Wir nehmen dein Bild mit und fragen ihn wegen des Tuchs nach seiner Meinung. Er wird sehen, dass es ein Meisterwerk ist, sich geschmeichelt fühlen, und dann, wenn er abgelenkt ist, werde ich ihn fragen, was er über die Umstände weiß, die zum Tod seines Bruders geführt haben.«

»Das ist ein schrecklicher Plan.«

»Ja, aber ich ziehe es vor, diesen Umstand zu ignorieren.«

Da er sich tagsüber nur selten auf dem Hügel sehen ließ, hatten viele Knirpse auf dem Montmartre den »kleinen Herrn« noch nie zu Gesicht bekommen. Er war ein Gerücht, ein Mythos, eine Legende. Natürlich hatten sie von ihm gehört. Sie wussten, dass er von edlem Blute war, ein Künstler und Bonvivant, und sie erzählten sich Geschichten, er sei eigentlich ein Troll, ein grausamer Zirkusdirektor und möglicherweise ein Pirat, doch waren sie durch ihre Mütter gewarnt, dass man von ihm stets als dem »kleinen Herrn« zu sprechen hatte, über den man niemals spotten, flüstern oder lachen durfte, da er tatsächlich ein feiner Herr war, stets höflich und gut gekleidet, für gewöhnlich großzügig und charmant. Und Madame Lessard hatte geschworen, jedes Kind, das man dabei erwischte, wie es dem kleinen Herrn gegenüber unfreundlich war, würde verschwinden und nie wieder auftauchen, höchstens als unappetitliche Pastete mit Wimpern in der Kruste. (Madame Lessard war kaum weniger mysteriös als der kleine Herr, jedoch bedrohlicher, denn man erzählte sich, sie belohne Kinder eben noch mit einer Süßigkeit, nur um sie im nächsten Moment zu vergiften.)

Jetzt jedoch erschien der Mythos direkt vor ihren Augen, besser als ein Bär auf einem Fahrrad, der eine Nonne fraß: Der Bäcker und der »kleine Herr« schleppten ein riesiges Gemälde einer nackten Frau, die kürzlich von Madame Lessard ermordet worden war, über den Place du Tertre, und die kleinen Jungs vom Hügel wurden von diesem Spektakel angelockt wie Haie von Blut.

»Ich begreife nicht, wieso wir van Gogh nicht bitten konnten, ins Atelier zu kommen«, sagte Lucien, während er versuchte, sein Ende des Gemäldes in den Wind zu halten. (Es hatte seine Gründe, wieso es auf dem Montmartre Mühlen gab.) Seitwärts wie die Krebse bewegten sie sich über den Platz, um zu verhindern, dass ihnen das Bild aus den Händen gerissen wurde. Daher – wegen der Länge der Bildes, fast zwei Meter fünfzig, und der Bande kleiner Jungen, die sich versammelt hatten, um die nackte Frau auf ihrem Weg zu betrachten – brauchten sie so viel Platz wie drei Kutschen, einschließlich der Pferde, und sie kamen mehrere Blocks weit vom Kurs ab, um dem Wind und ihrem Gefolge zu entsprechen.

»Wieso heuern wir nicht ein paar von den Lümmeln an?«, sagte Henri. »Ihr würdet uns doch helfen, oder, Lümmel?«

Die Lümmel, die sich ebenfalls wie Krebse bewegten, die Blicke wie mit unsichtbaren Fäden starr auf die blaue Nackte geheftet, ungeniert mit arglos steifen Pimmeln in den ausgebeulten Hosen (Sie wussten nicht, wieso, nur dass der Anblick der blauen Nackten bezaubernd und gleichzeitig beunruhigend war, derselbe Effekt, den sie auf Erwachsene hatte, sans Beule in der Hose.), nickten. »Wir helfen«, sagte einer der Jungen, dessen Finger so weit in der Nase steckte, dass er eine Erinnerung kitzeln mochte, die in seinem vorderen Hirnlappen verborgen lag.

»Niemals«, sagte Lucien. »Die Farbe ist noch nicht mal trocken. Sie werden ihre schmutzigen, kleinen Hände überall haben. Zurück, ihr Lümmel! Zurück!«

»War sie in echt auch blau?«, fragte ein Junge.

»Nein«, sagte Toulouse-Lautrec, »das ist nur ein künstlerischer Ausdruck des Lichts.«

»Haben Sie ihre Möpse angefasst?«, fragte ein anderer Lümmel.

»Leider nicht«, antwortete Henri, wobei er Lucien angrinste und mit den Augenbrauen wackelte, die Karikatur eines Operettenwüstlings.

»Wieso haben Sie die nicht größer gemalt?«, fragte Nasenfinger.

»Weil er sie gar nicht gemalt hat!«, blaffte Lucien. »Ich habe sie gemalt, du nervige, kleine Made. Und jetzt verpisst euch alle, wie ihr da seid! Haut ab! Nervensägen! Ungeziefer!« Lucien konnte seine Worte nicht mit Gesten untermauern, ohne sein Ende des Gemäldes loszulassen, doch warf er kräftig den Kopf hin und her und rollte mit den Augen.

»Wenn Sie uns anblaffen, helfen wir Ihnen nicht«, sagte Nasenfinger.

»Lucien«, sagte Henri, »es ist zwar nach wie vor verboten, Kinder zu erschlagen, aber wenn dir danach zumute ist, will ich gern eine Anwaltskanzlei um Hilfe bitten, die meine Familie bei derlei Gelegenheiten beauftragt. Mein Vater ist berüchtigt für seinen sorglosen Umgang mit Schusswaffen.«

»Hat Madame Lessard sie deshalb umgebracht?«, fragte ein Lümmel, den Lucien aus unerfindlichem Grund im Stillen »Rumpelstielchen« nannte. »Weil Sie die Frau gemalt haben, statt Brot zu backen, wie Sie sollten?«

»Jetzt reicht’s«, sagte Toulouse-Lautrec. »Ich werde ihnen den Hintern versohlen. Wollen wir das Bild an die Wand da lehnen?«

Lucien nickte, und sie stellten das Gemälde vorsichtig ab. Henri hatte seinen Gehstock an der Rückseite der Leinwand versteckt, doch nun schwenkte er ihn mit großer Geste, schloss die Augen und zog am Messingknauf. Ein kollektives Aufstöhnen ertönte von den Lümmeln. Henri wagte einen Blick.

»Was sagt man dazu?«, meinte er. Statt des erwarteten Schnapsglases schwenkte er die scharfe Klinge eines Kurzschwerts. »Ich bin froh, dass ich dir keinen Cognac zur Beruhigung angeboten habe, Lucien. En garde, ihr Lümmel!«

Er stach mit dem Schwert nach den Jungen, die kreischend auseinanderstoben und in alle vier Ecken des Platzes verschwanden. Henri sah über seine Schulter und grinste Lucien an, der gar nicht anders konnte, als zurückzugrinsen.

»Sie ist zu dürr«, hörten sie eine Stimme von dort, wo eben noch eine Horde Lausbuben gestanden hatte. Ein schmächtiger Mann, der heute einen breiten Strohhut mit hellbrauner Jacke und Hose trug, sein grauer Ziegenbart gestutzt und gekämmt, mit einem amüsierten Lächeln in den blauen Augen: Pierre-Auguste Renoir.

»Monsieur Renoir«, sagte Toulouse-Lautrec. »Bonjour.« Er steckte das Schwert zurück in seinen Gehstock und reichte dem alten Maler die Hand.

Renoir schüttelte sie und nickte Lucien ein bonjour zu. »Es geht dir also besser?«

»Viel besser«, sagte Lucien.

»Gut. Ich hatte gehört, du würdest an gebrochenem Herzen sterben.« Renoir sah sich das Bild noch einmal an. »Dieses dürre, blaue Ding?«

»Ich war nur erschöpft«, sagte Lucien.

»Nun, Rattenfänger, wie mir scheint, hast du doch etwas dazugelernt.«

Lucien starrte seine Schuhe an und spürte, dass die Bemerkung des Meisters ihn erröten ließ.

»Ich mag dicke Hintern«, erklärte Renoir dem kleinen Toulouse-Lautrec. »Die hier ist zu mager, aber dafür kann Lucien nichts.« Renoir trat einen Schritt von der Leinwand zurück, dann noch einen und noch einen, bis er auf der anderen Straßenseite stand, dann kam er zurück und beugte sich vor, bis seine Nase fast die Farbe berührte.

Er blickte zu Lucien auf, der die Leinwand nach wie vor gegen den Wind abstützte. »Das ist sehr gut.«

»Merci, Monsieur«, sagte Lucien.

»Sehr, sehr gut«, sagte Renoir.

»Ach, nicht doch«, sagte Lucien.

»Ha!« Renoir schlug sich auf die Schenkel. »Es sind zwar keine rammelnden Hunde, aber es ist sehr gut.« Renoir schob seinen Hut in den Nacken und grinste. Ein Leuchten in den Augen verriet, dass ihm eine vergnügliche Erinnerung kam. »Weißt du noch, wie du mit mir dieses große Bild vom Moulin de la Galette über den Hügel getragen hast, Lucien?«

»Na klar«, sagte Lucien und lächelte nun auch.

»Es war eine wirklich große Leinwand«, sagte Renoir, an Henri gewandt. »Nicht so groß wie diese hier, aber zu groß, als dass man sie allein tragen konnte. Inzwischen gehört das Bild Caillebotte.«

»Ich kenne es«, sagte Henri. Natürlich kannte er es. Er war davon so beeindruckt gewesen, dass er vor Jahren seine eigene Version gemalt hatte.

»Jedenfalls wollte ich eine Geselligkeit malen, das sonntägliche Leben im Moulin de la Galette – Tanz, Wein, Frohsinn. Es sollte ein großes Bild werden. Und ich konnte nur sonntags arbeiten, weil meine Modelle, Margot und die anderen, unter der Woche alle arbeiteten. Also trugen Lucien und ich die riesige Leinwand von meinem Atelier an der Rue Cortot zum Tanzlokal, wo ich dann malte, während meine Freunde für mich posierten. Nach einer groben Skizze konnte ich immer nur eine oder zwei dazu bewegen stillzuhalten. Es war, als hütete ich einen Sack Flöhe. Sie wollten trinken, tanzen, feiern, genau das, was ich einfangen wollte, und ich zwang sie dazu stillzuhalten. Ich arbeitete den ganzen Tag, malte ein bisschen von jedem, bis sie unruhig wurden. Nur die süße Margot nicht. Sie saß still wie eine Statue, so lange, wie ich sie brauchte. Dann, am späten Nachmittag, schleppten wir die Leinwand wieder über den Hügel in mein Atelier. Oh, là, là, der Wind. Jede Woche mussten wir Laub und Kiefernnadeln aus der Farbe klauben, und ich besserte jeden kleinen Kratzer aus. Weißt du noch, Lucien?«

»Oui, Monsieur, das weiß ich noch.«

»Erinnerst du dich an das weiße Kleid mit den blauen Schleifen, das Margot trug?«, fragte Renoir, und das Leuchten in seinen Augen trübte ein.

»Oui, Monsieur.«

»Ich mochte dieses Kleid, aber damit hatte ich sie schon für mein Schaukelbild gemalt, und auf noch einem anderen Bild tanzte sie darin. Im blaugestreiften habe ich sie für Le Moulin de la Galette gemalt. Margot in Blau.« Eine Träne rann dem Maler über das Gesicht, und beschämt wandte er sich ab. »Verzeihen Sie, Messieurs, ich weiß nicht, was über mich kommt. Wenn ich dein Bild betrachte, Lucien … sieh nur, was du angerichtet hast.«

»Es tut mir leid, Monsieur Renoir«, sagte Lucien. Er hatte Mitleid mit seinem Mentor, wusste aber nicht, wie er ihn trösten sollte. So etwas war in ihrer Beziehung nicht vorgesehen. Sie waren Schüler und Meister. Wie üblich unter Männern, schien es das Beste zu sein, so zu tun, als sei nichts gewesen.

Henri trat an Renoir heran, zückte ein Tuch aus der Brusttasche seines Jacketts und reichte es dem Meister, obwohl dieser sich abgewandt hatte.

»In diesem Wind tränen einem die Augen«, sagte Toulouse-Lautrec. »Ich glaube, es liegt am Staub und dem Ruß aus den Fabriken von Saint-Denis. Es ist direkt ein Wunder, dass man in dieser Stadt überhaupt noch atmen kann.«

»Ja«, sagte Renoir und tupfte seine Augen ab. »Der Ruß. Früher hatten wir nur im Winter mit dem Kohlenruß zu tun. Jetzt ist es ständig so.«

»Monsieur Renoir«, sagte Henri. »Wegen damals, als Ihr Margot gemalt habt … Dr. Gachet sagte, er hätte sie behandelt?«

Lucien hob sein Ende des Gemäldes an und zwinkerte wie verrückt, schüttelte wild den Kopf, um Henri anzuzeigen, dass er mitkommen und Renoir seiner Wege ziehen lassen sollte, doch da Toulouse-Lautrec ihn ignorierte, sah Lucien aus, als litte er unter nervösen Zuckungen.

»Ich hatte Margot sehr gern«, sagte Renoir. »Sie erkrankte an einem Fieber, und ich hatte kein Geld für einen Arzt. Also telegrafierte ich Gachet, und er kam sofort. Er hat getan, was in seiner Macht stand, konnte ihr aber nicht helfen.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte Henri. »Euren Bildern sieht man an, dass sie eine außergewöhnliche Frau war.«

»Ich hätte sie geheiratet, wenn sie nicht gestorben wäre«, sagte Renoir. »Sie war ein wirklich süßes, kleines Ding. Aber ich bin mir sicher, dass ihr Hintern im Laufe der Jahre groß und rund geworden wäre. Sie war wirklich ein Sonnenschein.«

»Könnte es sein, dass Eure Erinnerung an jene Zeit größere Lücken aufweist?«, fragte Henri.

Fast rutschte Lucien das Bild aus der Hand. »Wir sollten gehen, Henri. Lassen wir Monsieur Renoir wieder seinem Tagwerk nachgehen.«

Renoir winkte mit zarter Hand ab (die Finger wurden langsam knorrig vor Arthritis). »Es ist lange her. Diese ganze Zeit liegt für mich wie im Nebel. Ich habe ununterbrochen gearbeitet. Nachdem Margot tot war, bin ich nur gereist und habe gemalt. Ständig etwas Neues, nur um nicht nachdenken zu müssen. Ich kann mich kaum erinnern.«

»Es tut mir leid, wenn ich Euch an eine schmerzliche Zeit erinnere, Monsieur«, sagte Toulouse-Lautrec. »Ich hoffe nur, dass wir jüngeren Maler etwas von Eurer Erfahrung lernen können. Lucien wurde kürzlich erst das Herz gebrochen.«

»Gar nicht«, sagte Lucien.

»Deine Mutter hat dieses Mädchen doch nicht wirklich erschlagen, oder?«, fragte Renoir. »Das ist doch nur ein Gerücht, das auf dem Montmartre die Runde macht, nicht wahr?«

»Ja, Monsieur, nur ein Gerücht. Es geht ihr gut. Wir sollten jetzt gehen. Bitte bestellen Sie Madame Renoir und den Kindern meine Grüße.«

»Moment«, sagte Henri und klang verzweifelt. »Habt Ihr damals Farbe von einem merkwürdigen, kleinen Mann gekauft? Dunkel, fast affenartig? Verkrüppelt?«

Plötzlich war Renoir von der süßen Melancholie, die ihn eben noch bedrückte, nichts mehr anzusehen.

»O ja«, sagte er. »Ich kannte den Farbenmann.«

17.eps

Theo van Goghs Galerie lag im Schatten der Sacré-Cœur, der weißen, maurisch-märchenhaften Taj-Mahal-mäßigen Kirche, die der Staat auf dem Montmartre errichten ließ, als Wiedergutmachung, weil das Militär die Kommunarden (deren Anführer vom Montmartre stammten) nach dem Französisch-Preußischen Krieg allesamt hingerichtet hatte. Wie die andere architektonische Anomalie in Paris – der Eiffelturm – löste auch die Sacré-Cœur bei Besuchern der Stadt oftmals verdutzte Blicke aus. Da die Basilika jedoch von überall zu sehen war, bot sie einen guten Orientierungspunkt, der Reisenden den Weg zum Montmartre und Kunstkennern den Weg zur Galerie Boussod et Valadon wies, welche Theo van Gogh leitete. »Die finden Sie gleich hinter diesem weißen, moscheeähnlichen Ding da oben auf dem Hügel«, hieß es dann.

»Warst du je versucht, Sacré-Cœur zu malen?«, fragte Henri Lucien, während sie den blauen Akt so ausrichteten, dass er durch Theos Tür passte. Die Galerie besaß ein großes, rot umrahmtes Schaufenster mit breiter, roter Markise, an der KUNSTHANDLUNG geschrieben stand.

»Meinst du, das Ding anmalen oder ein Bild davon malen?«

»Ein Bild davon malen.«

»Nein.«

»Ich auch nicht.«

»Meine Mutter sagt, in so einer eitlen Dirne von einer Kirche will der liebe Gott nicht mal begraben sein.«

»Moment mal, Lucien, möglicherweise hatte ich gerade eine religiöse Eingebung«, sagte Toulouse-Lautrec.

Sie setzten die Leinwand ab, damit Lucien die Tür öffnen konnte.

Theo van Gogh, dreiunddreißig Jahre alt, schlank, rotblond, mit makellos gestutztem Bart, in einem Hahnentritt-Anzug mit schwarzer Krawatte, saß an seinem Schreibtisch im hinteren Teil der Galerie. Als er die Tür hörte, stand er auf und eilte nach vorn, um zu helfen.

»Ojemine! Henri, ist das von dir?«, fragte Theo und hielt ihnen die Tür auf, während sie das Gemälde hereinwuchteten. Sein Französisch hatte einen leicht holländischen Akzent.

»Von Lucien«, sagte Henri.

»Bonjour, Monsieur van Gogh«, sagte Lucien mit einem Nicken und manövrierte das Bild mitten in die Galerie. Lucien kannte Theo, hatte über ihn schon einige Bilder verkauft, blieb jedoch aus Respekt vor seiner Stellung stets förmlich. Der jüngere van Gogh sah schmaler aus als bei ihrer letzten Begegnung, betriebsam, fast nervös, doch nicht gesund. Blass. Erschöpft.

»Soll ich eine Staffelei holen?«, fragte Theo. »Ich weiß gar nicht, ob ich eine habe, die groß genug wäre.«

»Es kann auch auf dem Boden stehen. Wir brauchen nur eine Wand zum Anlehnen. Ich fürchte, es ist noch nicht ganz trocken«, sagte Lucien.

»Und ihr habt es unverpackt hierhergeschafft? Du meine Güte«, sagte Theo. Er eilte in den hinteren Teil der Galerie, griff sich den Stuhl, auf dem er gesessen hatte, und brachte ihn Lucien. »Hier könnt ihr die Leinwand anlehnen.«

Sämtliche Wände der Galerie, die das gesamte Erdgeschoss des vierstöckigen Hauses einnahm, waren vom Boden bis zur Decke mit Gemälden, Drucken und Zeichnungen behängt. Lucien erkannte Bilder von Toulouse-Lautrec und Pissarro, ebenso von Gauguin, Bernard und Vuillard, Zeichnungen von Steinlen und Willette, dem bekanntesten Karikaturisten des Montmartre, den einen oder anderen japanischen Druck von Hokusai oder Hiroshiroge und natürlich viele, viele Bilder von Theos Bruder Vincent.

Als das Gemälde stand, wo es stehen sollte, trat Theo einen Schritt zurück und sah es sich an.

»Es ist noch nicht fertig, ich …« Lucien begann zu erklären, dass er noch ein blaues Tuch hinzufügen wolle, doch Henri bedeutete ihm mit einer Geste, dass er still sein sollte.

Theo holte seine Brille aus der Weste und setzte sie auf, dann ging er in die Hocke und begutachtete das Bild aus der Nähe. Er nahm die Brille ab und trat wieder einen Schritt zurück. Zum ersten Mal sah Lucien im jüngeren Bruder dieselbe Intensität, die er von Vincent kannte. Oft wirkte Theo penibel, manchmal wie ein Buchhalter, taxierend, bemessend, berechnend, jetzt jedoch zeigte sich dieselbe brennende Konzentration, die Vincent ausgezeichnet hatte. Wie ein besessener Prophet. Henri hatte gescherzt, bei Feierlichkeiten sei an Theos Seite stets ein Platz frei, weil der Holländer mit seinem Blick die Menschen vertrieb.

Theos Schweigen machte Lucien schon ganz zappelig, da schüttelte der Galerist schließlich den Kopf und lächelte.

»Lucien, ich weiß nicht, wo ich es hinhängen soll. Wie du siehst, sind alle Wände voll. Selbst wenn ich sämtliche Drucke abnehmen würde … es ist so groß.«

»Sie wollen es aufhängen?«, fragte Lucien. Renoirs Lob hatte ihn nicht wirklich erreicht, und nun wurde ihm zum ersten Mal bewusst, dass dieses Bild mehr als nur eine Erinnerung an Juliette war.

»Selbstverständlich will ich es aufhängen«, sagte Theo. Er reichte Lucien die Hand, der einschlug und sich durchschütteln ließ. »Vincent hat oft genug gesagt, jemand müsste für die Figurenmalerei dasselbe tun, was Monet für die Landschaft getan hat, nur war nie jemand dazu bereit. Ich denke, du bist es.«

»Ach, komm schon, Theo«, sagte Henri. »Es ist ein Akt, keine Revolution.«

Theo lächelte Toulouse-Lautrec an. »Du bist nur neidisch.«

»Unsinn, dieses Bild ist Mist«, sagte Henri.

»Es ist kein Mist«, widersprach Lucien, dem es ernstlich schwerfiel herauszufinden, was Henri eigentlich vorhatte. Gewiss war es kein Meisterwerk, aber es war auch kein Mist.

»Es ist kein Mist«, bestätigte van Gogh.

»Danke, Theo«, sagte Lucien. »Ihre Meinung bedeutet mir sehr viel, was auch der Grund ist, weshalb ich Ihnen das Bild unvollendet bringe. Ich dachte daran, noch ein Tuch zu malen …«

»Hast du inzwischen eigentlich alle Bilder von Vincent hier?«, fiel Henri ihm ins Wort.

Theo stutzte bei der Erwähnung seines Bruders. »Ja, ich habe sie alle hier in Paris, wenn auch natürlich nicht aufgehängt.«

»Waren unter seinen letzten Bildern Figurenstudien? Irgendwelche Bilder von Frauen?«

»Ja, eines von Madame Gachet, drei – glaube ich – von dem jungen Mädchen, dessen Eltern der Gasthof in Auvers gehört, in dem Vincent gewohnt hat, und eines von der Wirtin selbst. Wieso?«

»Wenn ein Künstler Qualen leidet, ist oftmals eine Frau im Spiel.«

Überraschenderweise lächelte Theo van Gogh darüber. »Das geht nicht nur Künstlern so, Henri. Nein, in einem seiner Briefe aus Arles erwähnte Vincent beiläufig eine Frau, aber nur so, wie man von einem hübschen Mädchen spricht, das man im Park gesehen hat. Ich würde sagen, es klang eher wehmütig. Nicht so, als hätte er sie gekannt. Meist schrieb er über die Malerei. Du kennst ihn … kanntest ihn. Er hat immer nur von seiner Malerei gesprochen.«

»War da etwas an seiner Malerei, das ihm möglicherweise … das ihm Kummer bereitet hat?«

»Solchen Kummer, dass er sich darüber das Leben nahm, meinst du?« Das war der Moment, in dem Theo nun auch den Rest dessen verlor, was von seiner würdevollen Beherrschung noch übrig war, und er stöhnte auf, als bekäme er keine Luft.

»Es tut mir so leid«, sagte Lucien und legte Theo eine Hand auf die Schulter.

Schon im nächsten Moment hatte sich van Gogh wieder in die Rolle des Buchhalters gerettet, als sprächen sie nur über ein Gemälde, nicht über den Tod seines Bruders.

»Er sagte immer: ›Zeig sie niemandem, lass niemanden in ihre Nähe‹. Er meinte ein Bild, das er mir aus Arles geschickt hatte, aber ich habe keine Figurenbilder aus Arles bekommen.«

»Und weißt du, wer sie‹ war?«

»Nein, leider nicht. Vielleicht weiß Gauguin etwas. Er war dabei, als Vincent in Arles seinen Zusammenbruch hatte. Falls eine Frau zugegen gewesen sein sollte, so hat er sie nie erwähnt.«

»Dann war es also keine Frau …« Das schien Henri ehrlich zu erstaunen.

»Ich weiß nicht, wieso mein Bruder sich das Leben genommen hat. Man weiß noch nicht mal, woher er den Revolver hatte.«

»Er besaß keine eigene Waffe?«

»Nein, und Dr. Gachet auch nicht. Nur der Wirt hatte eine Schrotflinte für die Jagd.«

»Sie waren ihm ein guter Bruder«, sagte Lucien, dessen Hand noch immer auf Theos Schulter lag. »Der beste, den man sich vorstellen kann.«

»Danke, Lucien.« Van Gogh zog ein Taschentuch aus seinem Jackett und wischte damit kurz unter seinen Augen entlang. »Tut mir leid. Offenbar bin ich immer noch nicht darüber hinweggekommen. Ich finde sicher Platz für dein Bild, Lucien. Lass mir etwas Zeit, einige Drucke auszulagern und ein paar Bilder zu verkaufen.«

»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Lucien. »Ich muss noch an ihr arbeiten. Ich wollte Sie nur fragen, Sie als Experten: Meinen Sie, ich sollte ihr ein Tuch um den Hals malen? Ich dachte an Ultramarin, um den Blick darauf zu lenken.«

»Der Blick dieser Frau lenkt den Blick des Betrachters, Lucien. Sie brauchen kein Tuch. Ich will Ihnen nicht vorschreiben, wie Sie malen sollen, aber für mich sieht dieses Bild fertig aus.«

»Danke«, sagte Lucien, »das war mir eine Hilfe. Trotzdem möchte ich noch an der Struktur des Überwurfs arbeiten, auf dem sie liegt.«

»Dann bringst du es mir wieder? Bitte. Es ist wirklich ein außergewöhnliches Bild.«

»Das will ich tun. Danke, Theo.«

Lucien nickte Henri zu, gab ihm Zeichen, sein Ende der Leinwand anzuheben.

»Moment«, sagte Henri. »Theo, hast du schon mal vom Farbenmann gehört?«

»Du meinst Père Tanguy? Selbstverständlich. Ich habe Vincents Farben immer bei ihm oder Monsieur Mullard gekauft.«

»Nein, nicht Tanguy und nicht Mullard, ein anderer. Möglicherweise hat Vincent den Mann erwähnt.«

»Nein, Henri, tut mir leid. Ich weiß nur von Monsieur Mullard und Père Tanguy in der Rue Pigalle. Ach, und Sennelier bei der École des Beaux-Arts natürlich, aber mit dem habe ich nichts zu tun. Außerdem müsste es im Quartier Latin ein gutes Dutzend geben, bei denen sich die Studenten versorgen.«

»Ah ja, danke. Alles Gute, mein Freund.« Henri schüttelte Theo die Hand.

Theo hielt ihnen die Tür auf. Er war froh, dass sie gingen. Er mochte Toulouse-Lautrec, Vincent hatte ihn auch gemocht, und Lucien Lessard war ein netter Kerl, immer freundlich, und es schien, als mauserte er sich zu einem ganz anständigen Maler. Es gefiel ihm nicht, sie anzulügen, doch seine Loyalität hatte stets vordringlich Vincent zu gelten.

»Das Bild ist kein Mist«, sagte Lucien.

»Ich weiß«, sagte Henri. »Das war nur Teil meines Täuschungsmanövers. Ich bin von königlichem Blute. Die Täuschung ist eine der mannigfaltigen Gaben, die uns in die Wiege gelegt sind, neben der Arglist und der Hämophilie.«

»Dann findest du also nicht, dass mein Bild Mist ist?«

»Nein, es ist superb.«

»Ich muss sie finden, Henri.«

»Himmel, Arsch und Zwirn! Lucien, sie hätte dich fast umgebracht!«

»Hättest du denn von Carmen lassen können, als wir dich das erste Mal von ihr weggeholt haben?«

»Lucien, genau darüber muss ich mit dir sprechen. Gehen wir ins Le Mirliton. Wir setzen uns hin und trinken was.«

»Was passiert mit dem Bild?«

»Das nehmen wir mit. Bruant wird begeistert sein.«

Von einem Eingang auf der Rückseite der Sacré-Cœur aus beobachtete sie, wie die beiden ihr Bild zur Tür der Galerie hinaustrugen. Sie torkelten wie synchronisierte Trunkenbolde, mitten auf der Straße, seitwärts, versuchten, die schmale Seite der Leinwand in den Wind zu halten. Als die beiden um die Ecke verschwanden, lief sie die Stufen hinab, über den kleinen Platz hinweg direkt in Theo van Goghs Galerie.

»Mon Dieu!«, rief sie. »Wer ist dieser Maler?«

Theo van Gogh blickte von seinem Schreibtisch auf und sah eine blasse, brünette Schönheit im veilchenblauen Kleid, die mitten in seiner Galerie in sexuelle Ekstase zu geraten schien. Er war sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben, und doch kam sie ihm seltsam bekannt vor.

»Die hat mein Bruder gemalt«, sagte Theo.

»Er ist brillant! Haben Sie noch mehr von seinen Bildern, die ich mir ansehen könnte?«