21

Eine plötzliche Erkrankung

L ucien war außer Atem.

Die Hure sagte: »Oh, Monsieur Lessard, ich habe Ihr Gemälde im La Mirliton gesehen. Es ist wunderschön.«

Lucien stützte sich mit den Händen auf den Knien ab und schnappte nach Luft. Alle drei Huren im Salon des Bordells warteten darauf, dass er etwas sagte. Er war gerannt, den ganzen Weg von Bruants Cabaret hierher. Dort hatte die Tür sperrangelweit offen gestanden, der Barmann lag bewusstlos am Boden und der Blaue Akt war weg.

»Toulouse-Lautrec?«, keuchte er.

»Die Treppe rauf. Viertes Zimmer«, sagte eine große, blonde Hure im pinkfarbenen Negligé. »Ihr Brot ist wirklich gut, aber ich finde, Sie sollten sich aufs Malen konzentrieren.«

Lucien bedankte sich nickend für den Rat und tippte zum Gruß an seinen Hut, bevor er die geschwungene Treppe hinaufstürmte.

Die vierte Tür war abgeschlossen, also klopfte er an. »Henri! Ich bin’s, Lucien. Der Blaue Akt. Er ist weg.«

Ein rhythmisches Japsen, von quietschenden Bettfedern kontrapunktiert, war hinter der Tür zu hören.

»Moment noch, Lucien«, rief Henri. »Ich poppe Babette, und wenn sie kommt, kriege ich Rabatt.«

Das Japsen und Quietschen brach ab. »Kriegt er nicht.«

»Sie macht nur Spaß. Meine Apanage für diesen Monat ist noch nicht eingetroffen, also bin ich etwas …«

»Er steckt in Schwulitäten!« Die Hure kicherte.

»Na warte, die Rache ist mein.«

»Könntet ihr zwei vielleicht mal stillhalten?«

»Spüre meinen Zorn, Dirne!«

Weiteres Quietschen, weiteres Kichern. Es hörte sich an, als hätte er da drinnen nicht nur eine Frau.

Lucien befürchtete, in Ohnmacht zu fallen, und zwar vor Sorge, nicht etwa vor Atemnot, wenngleich der Puls in seinen Schläfen hämmerte. Er drückte seine Stirn an die Tür. »Henri, bitte! Jemand hat mein Bild gestohlen! Wir müssen …«

Die Tür wurde aufgerissen, und Lucien stolperte ins Zimmer.

»Bonjour, Monsieur Lessard«, sagte Mireille, die kleine, plumpe Hure, die Lucien bei seinem letzten Besuch angetroffen hatte. Sie beugte sich über ihn, nackt – bis auf eine viel zu große Baskenmütze. Hier und da war sie mit Ölfarben bemalt und schwenkte einen breiten Borstenpinsel mit Neapelgelb, von dem einiges den Weg zu ihren Nippeln gefunden hatte.

»Runter von mir, du geiler Bock«, sagte die Stimme einer anderen Frau vom Bett her.

Bevor Lucien aufblicken konnte, tat es einen dumpfen Schlag, und Graf Henri Raymond Marie de Toulouse-Lautrec-Monfa lag vor ihm auf dem Boden, mehr oder weniger unbekleidet, bis auf seinen Hut und sein pince-nez natürlich. (Schließlich war er ein Graf und kein kannibalischer Pygmäe, verdammt noch mal!)

»Lucien, du siehst bedrückt aus.«

»Ich bin bedrückt. Irgendjemand hat den Blauen Akt aus dem La Mirliton mitgenommen.«

»Und du bist sicher, dass das Bild nicht bei Bruant ist? Vielleicht hat er es zu einer Privatausstellung mitgenommen. Immerhin hat es einiges Aufsehen erregt. Ich habe gehört, dass Degas höchstpersönlich Interesse zeigte.«

Lucien stöhnte auf.

»Ich weiß genau, wie Ihnen zumute ist«, sagte Mireille. »Mein Gemälde ist ruiniert.«

Lucien drehte seinen Kopf gerade so weit, dass er sie an einer Staffelei stehen sah, auf der eine Leinwand stand, bemalt mit primitiven Gestalten, die für Lucien wie ringende Hunde aussahen. Wieder stöhnte er auf.

»Ach herrje.« Das Gesicht einer Frau – einer niedlichen Brünetten mit unfassbar großen, braunen Augen – kam hinter dem Rand des Bettes hervor. Sie blickte auf Lucien herab. »Er klingt verzweifelt, Henri. Soll ich ihm was zu trinken holen oder einen blasen oder so?«

»Lucien, darf ich dir Babette vorstellen?«, sagte Henri.

»Enchanté, Mademoiselle«, sagte Lucien und wandte Stirn und Blick wieder dem Teppich zu. »Danke, aber ich glaube, ich werde bald schon das Atmen einstellen. Aber vielen Dank für das nette Angebot.«

»Bitte, Lucien«, sagte Henri. »Ich geb einen aus. Zwar mag ich momentan ein wenig bargeldlos sein« – er warf der grinsenden Babette einen bösen Blick zu und forderte sie heraus, ihren Scherz zu wiederholen –, »doch genieße ich in diesem Etablissement nahezu unbegrenzten Kredit.«

»Nicht mehr«, sagte Babette. »Nicht, nachdem wir die ganze Nacht versucht haben, deine schicken, mechanischen Schuhe aufzuladen.«

Für einen Moment tauchte Lucien aus dem tiefen See seines Kummers auf, um die über ihm stehende Prostituierte mit hochgezogener Augenbraue anzusehen. »Bitte wie?«

Sie deutete mit dem Kopf in die Zimmerecke, wo Professeur Bastards Dampfstelzen standen und schimmerten wie die untere Hälfte eines einsamen, mechanischen Menschen. »Er sagt, sie werden durch Saugwirkung angetrieben. Die ganze Nacht haben wir gesaugt und gesaugt, während er auf ihnen stand, aber es will nicht funktionieren.«

»Wir haben uns abgewechselt«, sagte Mireille. »Um sie aufzuladen.«

Lucien sah Henri an. »Sie sind dampfbetrieben, nicht vakuumgetrieben.«

»Auf Le Professeurs Notiz stand, dass das hier die verbesserte Version ist.«

Lucien schüttelte den Kopf, polierte dabei seine Stirn am Teppich. »Er sagte irgendwas davon, dass er ein Uhrwerk einbauen wollte, keinen Vakuummotor.«

»Na ja, das haben wir auch probiert, aber sich seine Kronjuwelen aufziehen zu lassen wie ein Uhrwerk, das ist nicht so angenehm, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag.«

»Monsieur Henri«, sagte Babette, »Sie haben uns hintergangen!«

»Das stimmt nicht, mein kleiner bonbon«, sagte Henri. »Ich bin ein Künstler, kein Ingenieur. Solche Dinge sind mir ein Rätsel, und es waren Absinth und Kokain im Spiel.«

»Und Laudanum.« Mireille kicherte und piekste Lucien mit ihrem Zeh in die Rippen, als hätten sie ein kleines Geheimnis.

Babette schwang sich aus dem Bett, landete federnd auf den Dielen, riss einen seidenen Umhang vom Bettpfosten und umhüllte sich damit. »Monsieur, ich bin eine Kapazität auf meinem Gebiet. Derartiges Verhalten kann ich nicht tolerieren.«

»Chère, es war ein Gefallen für einen Freund.«

»Ich schicke Ihnen meine Rechnung«, sagte sie und stürmte zur Tür hinaus, mit erhobener Nase, wobei sie ein Kichern erahnen ließ, als sie sagte: »Guten Tag, Monsieur!«

Mireille sah sich den melodramatischen Abgang ihrer Kollegin an und schien zu überlegen, was sie als Nächstes tun sollte. Nachdem die beiden Maler sie eine Sekunde lang abwartend betrachtet hatten, sagte sie: »Mit euch kann ich nicht arbeiten. Als Modelle seid ihr scheiße!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus, hocherhobenen Hauptes, wobei ihr Pinsel beim Gehen einen gelben Bogen an ihrem Oberschenkel hinterließ.

Henri seufzte und sagte: »Ich bringe ihr das Malen bei.«

»Hose?«, antwortete Lucien. »Bitte.«

Henri nahm seine Hose vom Stuhl und stieg hinein. »Wir sollten einen Kaffee trinken. Ich fürchte, wenn wir dein Bild finden wollen, werde ich wohl oder übel ausnüchtern müssen, und vermutlich lässt der Katzenjammer dann nicht mehr lange auf sich warten.«

»Meinst du, wir finden das Bild wieder?«

Henri zog sein Unterhemd über und sagte, als er seinen Hut aufsetzte: »Es kann eigentlich nur der Farbenmann gewesen sein. Wir holen es uns von ihm zurück.«

»Der Barmann sagte, es sei ein junges Mädchen gewesen. Ein tahitisches Mädchen, meinte er. Ich weiß nicht mal, wo ich anfangen soll zu suchen. Ohne das Bild können wir den Farbenmann und Juliette nicht finden. Ich habe mein bestes Werk und die Liebe meines Lebens verloren.«

Langsam wandte sich Henri von der Frisierkommode ab, wo seine Uhr und die Manschettenknöpfe gelegen hatten, und setzte sich auf den rotsamtenen Stuhl. »Und ohne den Blauen Akt können wir auch Carmens Erinnerung nicht wiederherstellen, um sie zu befragen.«

»Auch das«, sagte Lucien.

»Tut mir leid, Lucien«, sagte Toulouse-Lautrec mit aufrichtiger Trauer in der Stimme. »Vielleicht sollten wir einen Cognac trinken, um uns zu trösten? Soll ich die Damen zurückrufen?«

Lucien setzte sich am Boden auf und lehnte sich ans Bett. »Ich habe nichts mehr gemalt, seit sie weg ist. Ich bin nicht mal mehr Bäcker. Régine hat sich heute um das Brot gekümmert. Dieses Bild war nicht nur das beste, das ich je gemalt habe, es ist das beste, das ich jemals malen werde. Nichts. Ich habe nichts. Ich bin nichts.«

»Das ist nicht so schlimm«, sagte Henri. »Manchmal, tagsüber, wenn hier keine Männer herumsitzen und die Mädchen ganz allein sind, vergessen sie, dass ich da bin. Sie kämmen sich gegenseitig das Haar, sprechen flüsternd über Zeiten, als sie jung waren, oder waschen ihre Strümpfe in einer Schüssel. Sie schlafen eng umschlungen oder sinken einfach auf dem Bett in sich zusammen und schnarchen wie kleine Welpen, und ich sitze in der Ecke, mit meinem Skizzenbuch, und sage kein Wort. Manchmal ist das einzige Geräusch das Kratzen meiner Kohle auf dem Papier und das leise Plätschern in der Waschschüssel. Es ist eine Welt ohne Männer, sanft und sorglos, und die Mädchen werden zart wie Jungfrauen. Dann sind sie keine Huren mehr, wie sie es wären, sobald sie einen Schritt vor die Tür träten, oder wie sie es wären, wenn die Madame nach ihnen riefe, aber etwas anderes sind sie auch nicht. Sie sind irgendwas dazwischen. Nicht das, was sie mal waren, und nicht das, was aus ihnen geworden ist. In diesen Stunden sind sie nichts. Und ich bin unsichtbar. Auch ich bin nichts. Das ist die wahre demimonde, Lucien, und soll ich dir was verraten? Es ist gar nicht immer verzweifelt und finster. Manchmal ist es einfach nur nichts. Keine Erwartungen, kein Bedauern. Es gibt Schlimmeres, als nichts zu sein, mein Freund.«

Lucien nickte und versuchte, irgendeinen Wert in der kalten Leere zu finden, die er in sich spürte, seit Juliette nicht mehr da war. Sein »nichts« war nicht so schmerzlos wie das von Henri und seinen Dirnen. Er sagte: »Und Carmen?«

Henri nahm sein pince-nez ab und wurde nachdenklich, während er die Gläser an seinem Unterhemd putzte. »Carmen? Nein, sie war nicht nichts. Zusammen waren wir etwas Besonderes. Wenn ich an unsere Zeit auf dem Lande denke – wir rannten über Felder, wir kletterten auf Hügel, wir liebten uns im Stehen … den Rücken an einen Baum gepresst, hielt ich sie hoch. Ich weiß noch, wie mir die Rinde in den Rücken schnitt, doch mich kümmerte allein ihr Wohlergehen, und ich scheuerte mich blutig, während sie mich küsste. Sie und ich, zusammen.«

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»Das wusste ich nicht«, sagte Lucien.

»Damals war ich kräftig. Damals, Lucien, war ich groß. Jetzt weiß sie nicht mal mehr, wer ich bin.«

»Deine Bilder von ihr sind großartig«, sagte Lucien. »Deine besten, wie ich finde.«

Henri lächelte. »Ich bin Toulouse-Lautrec, der Maler.«

»Besser als nichts«, sagte Lucien.

Henri ließ sich vom Stuhl gleiten und reichte Lucien die Hand, um ihm aufzuhelfen. »Gehen wir frühstücken und statten Theo van Gogh einen Besuch ab. Er kennt sich auf dem Kunstmarkt aus und weiß bestimmt, ob der Blaue Akt irgendwo angeboten wird. Wir finden das kleine Biest, das dein Bild gestohlen hat, und dann finden wir deine Juliette. Versprochen.

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Als er Seemann gewesen war, hatte Paul Gauguin von gelben Weizenfeldern geträumt, von roten Kühen, die auf Weiden grasten, und von braun gebrannten Bauern, die auf Heuhaufen schliefen. Als er Börsenmakler war, träumte er von Schiffen, die auf flachen, aquamarinblauen Meeren in der Flaute trieben, die Segel schlaff und bleich wie Leichentücher. Jetzt, als Maler, schlief er allein in seiner winzigen Pariser Wohnung und träumte von tropischen Inseln, auf denen braun glänzende Mädchen in kühlem Schatten wandelten wie Geister, und trotz der frischen Herbstnacht waren seine Laken schweißnass und umschlangen ihn wie Seetang einen Ertrunkenen.

Er setzte sich auf die Bettkante und rieb mit beiden Händen über sein Gesicht, als könnte er das Bild wegwischen. Der Albtraum war nicht das Mädchen. Von Inselmädchen träumte er, seit er vor drei Jahren von Martinique zurückgekehrt war, doch diese war anders, eine Polynesierin im adretten, weiß-blauen Kleid, mit weißen Blumen im langen Haar. Das Mädchen machte ihm keine Angst. Sie war jung und hübsch und unschuldig, auf diese wilde, unverdorbene Art des Pazifiks, doch da war ein Schatten hinter ihr, etwas Kleines und Dunkles und Bedrohliches.

Er hatte von diesem Mädchen schon früher geträumt. Sie war kein Ausdruck seiner Lust, obwohl sie gelegentlich nackt in seine Träume trat und er dann mit schmerzenden Lenden erwachte, zitternd vom nächtlichen Albdruck – denn stets lauerte die dunkle Gestalt hinter ihr. Ihre Gesichtszüge waren deutlich zu erkennen und – da war er sicher – symbolisch seiner Phantasie entnommen. Er hatte dieses Mädchen noch nie zuvor gesehen, und doch war ihm das Gesicht ebenso deutlich vor Augen wie das seiner Frau, Mette, die er vor Jahren zusammen mit den vier Kindern in ihrem heimatlichen Kopenhagen zurückgelassen hatte. Er hätte sie aus dem Gedächtnis malen können.

Er stand auf und durchquerte im Mondlicht, das durchs Fenster fiel, das Zimmer. Er merkte, dass es spät sein musste. Die Gaslaternen draußen auf der Straße brannten nicht mehr, und er hörte weder das Orchester noch die Gäste des Folies Bergère einen Block entfernt. Ein Glas Wasser nur – vielleicht wären ihm dann ein paar Stunden traumloser Schlaf vergönnt, bevor er auf den Montmartre stieg, um nachzufragen, ob Theo van Gogh eines seiner Bilder verkauft hatte … ob es in dieser Woche Geld für Tabak und Ölfarben geben würde.

In der kleinen Küchenzeile, im Grunde nur eine Herdstelle und eine Spüle, schenkte er sich aus einem Porzellankrug ein Glas Wasser ein, trank es aus, und als er das Glas abstellte, fiel ihm auf, dass er die Tür zum Hausflur hatte offen lassen. Er war nachlässig geworden, entweder weil die Concierge des Gebäudes ihre Augen und Ohren überall hatte, oder weil er nichts mehr besaß, was man stehlen konnte – es war egal. Er zog die Tür ins Schloss und kehrte fröstelnd zu seinem Bett zurück – Schweiß, der in der Herbstluft trocknete.

Ein Schritt zum Bett hin, und da sah er sie, erst nur ihr dunkles Gesicht und die Arme auf den weißen Laken – nur das Funkeln in ihren Augen wie ferne Sterne. Sie schlug die dünne Decke zurück, lud ihn ein, und ihr dunkler Leib lag ausgebreitet im Mondschein auf dem Bett – ein vertrauter Schatten, der eine Sehnsucht in seinen Lenden weckte und einen grellen Blitz der Furcht an seinem Rückgrat hinaufschickte.

»Monsieur Paul«, sagte Bleu, »kommt ins Bett.«

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Sie aßen Croissants mit Würstchen in der Toten Ratte, als für Henri die Welt schmerzhaft und unbarmherzig wieder an Schärfe gewann. Er trug ein pince-nez mit dunklen Gläsern, das er für eben solchen Katerjammer hatte anfertigen lassen und mit dem er wie ein kleiner, trauriger Leichenbestatter aussah.

»Lucien, sosehr ich die Annehmlichkeit und Gesellschaft im Le Rat Mort genieße, scheint mir doch, dass unser Lieblingsrestaurant eine gewisse Übelkeit in mir erregt.«

»Vielleicht liegt es weniger an dem Restaurant als an den Umständen. Die letzten paar Male, die wir hier waren, hattest du immer gerade eine durchzechte Nacht im Bordell hinter dir.«

Lucien nahm seine demitasse mit dem Espresso und trank seinem Freund zu, der beim Klappern der Tassen zusammenzuckte.

»Aber ich mag Bordelle. Dort habe ich Freunde.«

»Das sind nicht deine Freunde.«

»Doch, das sind sie. Sie mögen mich so, wie ich bin.«

»Weil du sie bezahlst.«

»Nein, weil ich charmant bin. Außerdem bezahle ich alle meine Freunde.«

»Nein, tust du nicht. Mich bezahlst du nicht.«

»Ich werde dich zum Frühstück einladen. Das hier geht auf meine Kosten. Außerdem bezahle ich sie nur für den Sex, die Freundschaft ist kostenlos.«

»Hast du denn keine Angst vor der Syphilis?«

»Die Syphilis ist ein Ammenmärchen.«

»Von wegen. Du kriegst einen Schanker an deinem Gemächt, und später wirst du irre, deine Körperteile fallen ab, und du stirbst. Manet ist an Syphilis gestorben.«

»Unsinn. Syphilis ist ein Mythos. Er ist Grieche, glaube ich – jeder kennt den Mythos von Syphilis.«

»Du meinst den Mythos von Sisyphus. Er verbringt sein ganzes Leben damit, einen großen Stein einen Hügel hinaufzurollen.«

»Mit dem Penis? Kein Wunder, dass er einen Schanker hat!«

»Nein, die Geschichte geht anders.«

»Das sagst du. Soll ich noch mehr Kaffee bestellen?«

Sie hatten sich eine Ecke im hinteren Teil des Restaurants gesucht, weit weg von den Fenstern, wegen Henris selbst verschuldeter Lichtempfindlichkeit, doch jetzt entstand vorn ein Tumult. Ein großer Mann mit rotem Gesicht, langer Hakennase und schwarzem Schnauzer in der langen, bestickten Jacke eines Bretonen hatte das Restaurant betreten, ging von Tisch zu Tisch und gab eine Neuigkeit zum Besten, die den Gästen Sorge bereitete. Einige der Damen hielten sich ein Taschentuch vor den Mund, um ihre Bestürzung zu verbergen.

»Gauguin«, sagte Henri. »Pass auf, dass er uns nicht sieht. Er wird uns überreden wollen, an einer seiner Bewegungen teilzunehmen.«

»Aber jetzt wäre der perfekte Moment, ihn zu fragen, ob Vincent in Arles Kontakt zu einer Frau hatte.«

Und als hätte er das gehört, blickte Gauguin auf, entdeckte sie und schob sich zwischen den Tischen hindurch zu ihnen herüber.

»Da kommt er«, sagte Henri. »Sag ihm, wir haben uns auf ewig der Bewegung der Incohérents verschrieben und sind nicht umzustimmen.«

»Du und Willette, ihr habt euch diese Bewegung doch nur ausgedacht, um ihn zu ärgern.« Henri und andere Künstler, die das Le Chat Noir besuchten, hatten die Incohérents als Reaktion auf den Salon des Artistes Français und all die trockenen, humorlosen Kunstbewegungen gegründet, die seit den Impressionisten aus dem Boden geschossen waren.

»Das stimmt nicht«, sagte Henri. »Wir haben sie gegründet, um alle zu ärgern, aber – ja – besonders Gauguin.«

Gauguin erreichte ihren Tisch und zwängte sich ungebeten auf die Bank neben Lucien.

»Lautrec, Lessard, haben Sie es schon gehört? Theo van Gogh ist tot.«

»Ermordet?«, fragte Lucien.

»Eine plötzliche Erkrankung«, sagte Gauguin.

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