VIER
Als Charlotte und Bergheim am Dienstagmorgen an der Waterloostraße aus dem Auto stiegen, klingelte Charlottes Handy.
»Thorsten, was gibt’s?«, meldete sie sich.
»Wo bist du denn?«, fragte Thorsten Bremer ungehalten. »Es ist schon halb neun durch.«
»Bin in zwei Minuten oben. Gibt’s was Neues?«
»Kann man wohl sagen«, Bremer machte eine bedeutungsvolle Pause, »wir haben sie identifiziert.«
»Wir sind sofort da«, sagte Charlotte und steckte das Handy in ihre Umhängetasche.
Bremer wartete bereits, als Bergheim und Charlotte ihr Büro betraten.
»Hier«, sagte er und zeigte auf einen Computerausdruck, der auf Charlottes Tisch lag. »Die Tochter hat sie gestern in Paderborn vermisst gemeldet und dann auf dem Foto identifiziert. Frau Jutta Frieder, wohnhaft in den Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld-Bethel, sechsundvierzig, ledig. Hatte wohl ein Alkoholproblem. Am Freitag, dem 23. Juli, hat sie die Stiftung verlassen.«
Charlotte hob den Kopf. »Wieso melden sie sie erst jetzt als vermisst?«
»Weil die Frau den Leuten in Bethel offensichtlich ein Märchen aufgetischt hat. Sie hat gesagt, sie wollte ein paar Tage ihre Tochter besuchen. Die lebt mit ihrem Mann und einer kleinen Tochter in Paderborn. Da ist sie aber nie gewesen. Und als sie am letzten Montag, also gestern, nicht wieder, wie verabredet, zu ihrer Therapie zurückgekehrt ist, haben sie bei der Tochter angerufen. Und die ist aus allen Wolken gefallen, weil sie ihre Mutter seit über zwei Monaten nicht gesehen hat und die auch kein Handy hat. Also hat sie ihre Mutter als vermisst gemeldet.«
Charlotte warf sich auf ihren Stuhl und verschränkte die Arme. »Wie kann ein Mensch kein Handy haben?«
»Davon gibt’s mehr, als du glaubst. Alles Leute, die generell wenig Kontakt haben«, sagte Bremer.
Charlotte, die nicht wirklich eine Antwort erwartet hatte, runzelte die Stirn.
»Da stellt sich doch eine ganz andere Frage.«
»Allerdings«, sagte Bergheim, »wo ist die Frau seit dem 23. Juli gewesen?«
»Ich wette, hier in Hannover, bloß wo?«, sagte Charlotte und trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. »Na, dann werden wir uns mal ins Getümmel stürzen.«
»Du meinst doch nicht, nach Bielefeld?«, stöhnte Bergheim.
»Doch«, erwiderte Charlotte. »Mir wär Hildesheim auch lieber gewesen. Aber wenigstens ist es von Bielefeld bis Paderborn nicht weit. Dann können wir die Tochter auch gleich in Augenschein nehmen. Und wenn alles klappt, sind wir in anderthalb Stunden da.«
Bergheim seufzte schwer. »Du träumst doch. Wir müssen über die A 2!«
Aber Charlotte war bereits aufgestanden.
Eine gute Stunde später standen Bergheim und Charlotte auf der A 2 Richtung Bielefeld im Stau.
»Dieses verdammte Weserbergland«, schimpfte Bergheim. »Wenn’s hier mal ausnahmsweise keine Baustellen gibt, pennt irgendein Lkw-Fahrer ein und brettert über die Leitplanke.«
»Ich hoffe bloß, dass es hier gleich weitergeht, sonst muss ich zu Fuß zur nächsten Raststätte laufen.«
Das blieb Charlotte zum Glück erspart, denn wenig später war die Sperrung bei Bad Eilsen aufgehoben, und dann ging es zügig voran.
Silvia Weiß, Jutta Frieders Tochter, wohnte im zweiten Stock eines Wohnhauses an der Neuhäuser Straße in der Paderborner Innenstadt.
Als Bergheim und Charlotte klingelten, erschallte Kleinkindgeschrei, gefolgt von einer schimpfenden weiblichen Stimme. Die Tür wurde von einer jungen Frau geöffnet, eine blond gelockte Zweijährige hing an ihrem überlangen T-Shirt, das sie über schwarzen Leggins trug. Die rotblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz gebunden. Eine hübsche Frau, deren Ähnlichkeit mit der Toten Charlotte zunächst einen Schock versetzte.
»Frau Weiß«, sagte Bergheim, »Kripo Hannover. Wir haben telefoniert.«
Silvia Weiß wischte sich verstohlen über die geröteten Augen.
»Kommen Sie rein«, sagte sie leise, pflückte die Hand ihrer Tochter von ihrem T-Shirt und schob die Kleine in ein angrenzendes Zimmer.
»Warten Sie einen Moment«, wandte sie sich an die beiden Beamten, »ich lege schnell einen Märchenfilm für Sina ein, sie hat Fieber und konnte heute nicht in die Krippe. Gehen Sie doch schon mal in die Küche.«
Bergheim und Charlotte gingen durch einen engen Korridor zu einer Tür, an der in Holzbuchstaben das Wort »Küche« prangte.
Der Raum war in verblichenem Beige eingerichtet und roch nach kaltem Rauch. Auf dem Tisch stand ein Aschenbecher. Auf den Kippen glänzte dunkler Lippenstift.
»Entschuldigung«, sagte Frau Weiß, als sie die Küche betrat, »meine Freundin war eben da. Mein Mann ist in Dortmund auf Montage. Er ist schon auf dem Heimweg.«
Sie öffnete ein Fenster und warf Bergheim verstohlen einen Blick zu.
»Sie sind also von der Polizei. Setzen Sie sich doch.« Sie wies auf den einzigen Erwachsenenstuhl am Tisch. Bergheim setzte sich, Charlotte blieb an der Tür stehen. Frau Weiß ließ sich auf den Kinderstuhl fallen und fing an zu weinen. »Wissen Sie, ich hab immer befürchtet, dass irgendwann was Schreckliches passieren würde mit meiner Mutter … dass sie im Suff sonst was anstellt, aber … ermordet …«
Bergheim und Charlotte warfen sich einen Blick zu und überließen die junge Frau einen Augenblick ihren Tränen. Dann räusperte sich Charlotte.
»Frau Weiß, wir wissen, dass das im Moment sehr schwer für Sie sein muss, aber meinen Sie, Sie könnten uns einige Fragen beantworten?«
Silvia Weiß schluchzte und griff nach einem Tempotaschentuch. »Ja, natürlich. Ich muss mich zusammennehmen, auch wegen Sina.«
»Hat Ihre Mutter Sie oft besucht?«, fragte Charlotte.
»Nein«, Frau Weiß schüttelte den Kopf, »sie kam vielleicht ein- oder zweimal im Jahr, und wir wohnen seit drei Jahren hier.«
»Wissen Sie, warum Ihre Mutter nach Hannover gekommen ist?«
Frau Weiß zuckte mit den Schultern. »Wir haben ja früher da gewohnt. Meine Großeltern hatten eine große Wohnung in Vahrenwald. Aber die sind vor zwölf Jahren tödlich verunglückt, und meine Mutter konnte die Miete nicht mehr bezahlen. Dann sind wir in eine kleinere Wohnung nach Sehnde gezogen, und da hat meine Mutter angefangen zu trinken.«
Frau Weiß legte den Kopf in die Hände. »Das war schlimm dort, meine Mutter schleppte andauernd irgendwelche Typen an, aber die sind alle nicht lange bei ihr geblieben. Klar, wer will schon eine Frau, die trinkt. Anfangs merkte man es ihr nicht so an, aber dann … wurde sie entlassen, und sie hatte diesen Unfall.«
»Was war das für ein Unfall?«, fragte Charlotte.
Frau Weiß schluckte. »Sie hat ihren nagelneuen Golf zu Schrott gefahren. Und den hatte sie auf Kredit gekauft. Sie war einfach von der Straße abgekommen und ist gegen einen Baum geknallt. Das war vor vier Jahren.«
»Ist ihr nichts passiert?«
»Doch, sie musste operiert werden und hat längere Zeit im Krankenhaus gelegen. Damals hatte ich gehofft, das würde sie zur Vernunft bringen und sie würde endlich mit dem Trinken aufhören.«
»Wo hat Ihre Mutter gearbeitet?«, fragte Bergheim.
»Sie war Filialleiterin bei Rossmann.«
»Was ist mit Ihrem Vater?«
»Meinen Vater hab ich nie kennengelernt. Meine Mutter war erst neunzehn, als sie mich bekam. Er wär abgehauen nach Portugal oder sonst wohin, hat sie gesagt. Meine Großeltern haben uns unterstützt, aber meistens waren wir ziemlich knapp bei Kasse.«
»Können Sie uns sagen, mit wem Ihre Mutter in letzter Zeit Kontakt hatte?«, fragte Bergheim.
Wieder schüttelte die junge Frau den Kopf. »Was sie in den letzten Jahren getrieben hat, davon hab ich keine Ahnung. Sie war, glaub ich, ganz zufrieden in ihrer Wohngemeinschaft. Sie lebte schon seit fast zwei Jahren dort. Wir hatten damals extra einen Therapieplatz in Bethel genommen, damit ich sie öfter besuchen kann. Und jetzt hatte sie dort mit einer Frau zusammen eine Wohnung und arbeitete irgendwo in der Stiftung.«
»Hatte sie keinen Freund?«, wollte Charlotte wissen.
Frau Weiß seufzte tief. »Ja, Männer, das war auch so eine Sache. Meine Mutter war nicht besonders wählerisch, wenn sie betrunken war, und das war sie bis vor zwei Jahren eigentlich immer. Aber einen richtigen, dauerhaften Freund hatte sie, soweit ich weiß, nie.«
Silvia Weiß blickte nachdenklich aus dem Fenster. Der imposante Turm des Paderborner Doms thronte über den Dächern der Stadt. »Allerdings hat sie mal einen erwähnt, den sie in der Therapie kennengelernt hat.«
»Wissen Sie, wie er hieß?«
»Nein, das hat sie nicht gesagt. Das war ganz am Anfang, muss also fast zwei Jahre her sein. Sie hat dann nicht mehr davon gesprochen. Ich glaube auch nicht, dass es was Ernstes war.«
Bergheim und Charlotte warfen sich einen Blick zu und erhoben sich dann.
Charlotte legte ihre Karte auf den Tisch. Frau Weiß blieb sitzen. Es hatte den Anschein, als wolle sie die Beamten nicht gehen lassen. Sie schluckte.
»Wann, meinen Sie, können wir meine Mutter beerdigen?«
»Das wird noch ein paar Tage dauern«, sagte Charlotte.
In diesem Moment kam Sina in die Küche gewackelt. »Mama, hab Durst«, quengelte sie.
Frau Weiß nahm das Kind auf den Arm. »Ja, du bekommst gleich was.«
»Wann kommt Ihr Mann nach Hause?«, fragte Bergheim, der sich nicht sicher war, ob sie die junge Frau allein lassen sollten.
»Er müsste bald hier sein«, sagte Frau Weiß. »Und meine Schwiegermutter wird wohl auch jeden Moment kommen«, fügte sie ohne Begeisterung hinzu.
Charlotte und Bergheim verabschiedeten sich und betraten wenige Minuten später den Bürgersteig der stark befahrenen Neuhäuser Straße. Der Himmel hatte sich zugezogen, es würde ein Gewitter geben. Sie stiegen in Bergheims Wagen.
Charlotte hatte immer Mühe, die Beklemmung abzuschütteln, die sie überfiel, wenn sie die Verwandten von Mordopfern befragte.
»Wie ich das hasse«, sagte sie.
»Und ich erst«, sagte Bergheim. »Lass uns fahren.«
»Vielleicht sollten wir uns noch den Dom angucken, wenn wir schon mal hier sind?«, sagte Charlotte.
»Seit wann interessierst du dich denn für Kirchen?«, fragte Bergheim verdutzt.
Charlotte zuckte mit den Schultern. »Eigentlich schon immer. Du weißt doch, ich bin katholisch erzogen worden, obwohl ich im protestantischen Bielefeld aufgewachsen bin. Mein Vater hat mich und meine Schwester öfter nach Paderborn zum Dom geschleift. Den sollte man sich schon mal angeguckt haben als Katholik, hat er gesagt.«
»Wusste gar nicht, dass dein Vater so religiös ist«, sagte Bergheim und fuhr über das Westerntor Richtung Bahnhof.
»War er auch nicht, aber alte Gemäuer haben ihn echt fasziniert.«
»Also, mich faszinieren sie nicht«, sagte Bergheim.
»Du bist ein Banause. Hier gibt es sogar eine Kaiserpfalz, weil Karl der Fünfte – oder sonst ein Karl – hier haltgemacht hat. Glaub ich jedenfalls.«
»Ach ja?«, grinste Bergheim. »Wohl, weil er den Dom so schön fand.«
»Weiß ich doch nicht«, sagte Charlotte. »Weiß nicht mal, ob der damals schon stand.«
Wenig später schlichen sie auf der A 33 Richtung Bielefeld. Es hatte begonnen zu regnen, und jetzt goss es so heftig, dass die Scheibenwischer überfordert waren. Nach gut fünf Minuten hörte der Schauer so plötzlich auf, wie er angefangen hatte.
Es war still im Auto, die beiden Ermittler hingen ihren Gedanken nach.
»Jetzt sag mir, was du von dieser Frau hältst«, sagte Charlotte dann.
»Was soll ich von ihr halten? Sie wirkt sehr jung und verletzlich.«
»Den Eindruck hatte ich auch«, sagte Charlotte. »Und sie weiß erstaunlich wenig vom Leben ihrer Mutter.«
Bergheim nickte nachdenklich. »Wer weiß, wahrscheinlich wollte sie vieles gar nicht wissen. Wenn ihre Mutter Alkoholikerin war, hatte sie bestimmt Bekanntschaften aus diesen Kreisen. Vielleicht hat sie einfach jemand im Suff erwürgt.«
»Glaub ich nicht.« Charlotte zupfte gedankenverloren an ihrer Unterlippe. »Im Suff hätte sie keiner so hingesetzt.«
»Da ist was dran«, sagte Bergheim. »Vielleicht sind wir schlauer, wenn wir mit ihrem Therapeuten gesprochen haben.«
In der Abteilung für Suchtkranke der von Bodelschwinghschen Stiftungen in Bielefeld-Bethel führte sie Herr Dr. Leineweber, der ehemalige Therapeut von Jutta Frieder, in ein enges, dunkles, aber peinlich sauberes Büro. Ein Rollo vor dem viel zu kleinen Fenster verhinderte, dass Tageslicht in den Raum fiel, dem jede persönliche Note fehlte.
Bergheim und Charlotte setzten sich auf zwei unbequeme Stühle und warteten, bis Dr. Leineweber vor seinem aufgeräumten Schreibtisch Platz genommen hatte. Die Erscheinung des Therapeuten passte haargenau zum Interieur seines Büros. Er war blass, klein und roch nach Seife.
Kopfschüttelnd nahm er seine Brille ab und fuhr sich über die Augen. »Es ist ein Jammer, sie hatte sich so gut gefangen. Ich hatte ein sehr gutes Gefühl bei ihr.«
»Sie haben also keine Ahnung, warum Frau Frieder Ihre Einrichtung so plötzlich verlassen hat?«, fragte Charlotte.
»Sie hat gesagt, sie wollte ihre Tochter in Paderborn besuchen. Und als sie dann am letzten Montag nicht wiederaufgetaucht ist, habe ich dort angerufen und erfahren, dass sie überhaupt nicht dort gewesen ist.«
»Und was sie in Hannover wollte, wissen Sie nicht?«, fragte Charlotte.
»Überhaupt nicht, sie hat in unseren Werkstätten gearbeitet, hauptsächlich in der Gärtnerei. Sie hat sich dort einiges an Wissen angeeignet. Ich war sicher, dass sie mit ihrem Leben hier zufrieden war, aber jetzt …« Dr. Leineweber seufzte. »Manchmal ist mein Beruf mehr als frustrierend – die Erfolge, die man erzielt, gleichen das nicht immer aus.«
»Was können Sie sonst über Frau Frieder sagen? Warum, glauben Sie, hat sie getrunken?«
»Sie war schwer traumatisiert durch den plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern vor – na, das muss mehr als zehn Jahre her sein.«
»Wie war das Verhältnis zu ihrer Tochter?«, wollte Charlotte wissen.
»Ziemlich distanziert«, erwiderte Dr. Leineweber. »Ich glaube, Frau Frieder hat sich einfach geschämt.«
»War sie gewalttätig, wenn sie getrunken hatte?«, fragte Bergheim.
»Auf keinen Fall. Sie war nur sehr … anhänglich.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Charlotte.
Dr. Leineweber wand sich. »Ich weiß nicht genau, wie ich das sagen soll, aber sie hatte die Neigung, sich allen Männern an den Hals zu werfen, derer sie habhaft werden konnte. Allerdings nur, wenn sie getrunken hatte. Im nüchternen Zustand war sie umso schüchterner.«
Charlotte betrachtete Dr. Leineweber. »Hat sie es bei Ihnen auch versucht?«, fragte sie dann.
Leineweber lächelte. »Zwangsläufig«, sagte er und setzte die Brille wieder auf.
Charlotte fand das durchaus nicht. Auf sie wirkte Dr. Leineweber nicht besonders attraktiv, aber im Gefühlsnotstand war frau vielleicht nicht so zimperlich.
»Wie haben Sie reagiert?«, fragte sie.
Dr. Leineweber seufzte. »Sie müssen wissen … bei psychisch labilen Patienten ist das nicht ungewöhnlich, dass sie sich in den Therapeuten verlieben …«
Charlotte fragte sich, ob Leineweber nicht ein bisschen übertrieb. »… darauf darf man sich natürlich nicht einlassen. Und das hab ich auch nicht. Ich habe ihr klargemacht, dass unsere Beziehung nur rein therapeutischer Natur sein kann – so wie ich das immer tue in solchen Fällen.«
»Und«, fragte Bergheim ungeduldig, »wie hat sie das aufgenommen?«
»Sie hat es hingenommen. Was blieb ihr übrig, wenn sie hierbleiben wollte.«
Charlotte nickte. »Hat Frau Frieder mit jemandem hier Freundschaft geschlossen? Mit wem hat sie sich besonders gut verstanden?«
Leineweber dachte einen Moment nach. »Mit ihrer Wohngenossin, Frau Haferkamp, soweit ich weiß, aber die müssen Sie selbst fragen. Und sonst … wie ich schon sagte, fragen Sie Frau Haferkamp.«
»Hat sie während der Therapie mit jemandem Freundschaft geschlossen?«
»Keine Ahnung«, sagte Dr. Leineweber. »Ihre stationäre Therapie war nach drei Monaten abgeschlossen. Dann haben wir sie gleich in die Wohngemeinschaft übernommen. Eine eigene Wohnung hatte sie nicht mehr, und zu ihrer Tochter wollte sie auf keinen Fall, weil die gerade ein Baby bekommen hatte, und Platz genug hatte sie wohl auch nicht.«
»Könnten Sie uns ihren Krankenbericht überlassen?«, fragte Charlotte.
Dr. Leineweber schürzte die Lippen. »Ich werde ihn raussuchen und Ihnen eine Kopie schicken. Ich denke, das ist im Sinne der Verstorbenen.«
»Das denken wir auch«, sagte Bergheim und erhob sich. »Könnten Sie uns jetzt bitte zu ihrer Wohnung führen?«
»Natürlich«, Leineweber erhob sich ebenfalls, »wir haben allerdings schon all ihre Sachen zusammengepackt. Sie verstehen, die Warteliste für diese Wohnungen ist lang.«
Dr. Leineweber führte sie an üppigen, rot blühenden Strauchrosen und großzügig bepflanzten Kübeln mit gelben und orangefarbenen Wandelröschen vorbei, zu einem flachen Backsteinbau. Innen war es dunkel und kühl. Sie gingen einen kahlen Flur entlang, von dem rechts und links Türen abgingen. Von irgendwoher erscholl ABBAs »Dancing Queen«. An der letzten Tür auf der linken Seite, der Quelle von »Dancing Queen«, klingelte Dr. Leineweber. Sie warteten eine Minute, in der sich nichts rührte. Ohne Vorwarnung schlug Dr. Leineweber mit der Faust gegen die Tür und schrie: »Frau Haferkamp, Sie haben Besuch!« Dann wandte er sich entschuldigend an die beiden Beamten. »Sie müssen entschuldigen, Frau Haferkamp liebt laute Musik.«
Charlotte und Bergheim, die zusammengezuckt waren, warfen sich einen Blick zu.
»Tatsächlich«, sagte Charlotte.
In diesem Moment wurde die Tür von einer dürren Mittfünfzigerin in Jeans und schwarzem T-Shirt aufgerissen. Der Geruch von Zigarettenrauch schlug ihnen entgegen. Frau Haferkamp starrte die Besucher aus umschatteten Augen an.
»Was gibt’s?«, fragte sie Dr. Leineweber.
»Die Herrschaften sind von der Polizei –«
»Was?«, schrie Frau Haferkamp dazwischen.
Dr. Leineweber holte Luft und schrie zurück. »Das hier sind Polizisten aus Hannover. Sie haben ein paar Fragen, wegen Frau Frieder.«
Frau Haferkamps Blick verdunkelte sich, als sie Bergheim und Charlotte ansah.
»Oh, Kacke, Mann, das tut mir echt leid, mit Jutta.«
»Können wir reinkommen?«, fragte Charlotte.
»Was?«, fragte Frau Haferkamp. »Warten Sie, ich stell mal die Musik leiser.«
»Gute Idee«, murmelte Charlotte.
Zwei Sekunden später kehrte wohltuende Ruhe ein, und Frau Haferkamp bat die beiden hinein.
»Wenn ich irgendwie helfen kann«, sagte sie. »Jutta war echt eine Nette.«
Bergheim und Charlotte betraten eine kleine Diele. Dr. Leineweber verabschiedete sich.
Frau Haferkamp führte sie durch eine der drei Türen, die von der Diele abgingen, in ein kleines, spärlich, aber zweckmäßig möbliertes Zimmer. Es gab eine Schlafcouch mit einem Beistelltisch und einen Esstisch mit zwei Stühlen.
Charlotte und Bergheim griffen sich jeweils einen Stuhl, während Frau Haferkamp sich auf die Schlafcouch fallen ließ und dabei eine selbst gedrehte Zigarette aus der Tabaktüte nahm, die auf dem Tisch lag.
»Ich hab die ganze Zeit hier gesessen und mich gefragt, warum, zum Teufel, sie mir nichts erzählt hat«, sagte Frau Haferkamp und blies eine Rauchwolke gegen die vergilbte Zimmerdecke.
»Sie wissen also nicht, wo sie hinwollte?«, fragte Bergheim.
Frau Haferkamp schüttelte energisch den Kopf, sodass ihre dünnen, schwarz gefärbten Haare nachzitterten. »Sie hat gesagt, sie wollte ihre Tochter besuchen. Von Hannover hat sie keine Silbe gesagt«, Frau Haferkamp nahm einen Zug, »und ich hab gedacht, sie würde mir vertrauen.«
»Hatte sie einen Freund, oder hat sie jemand öfter mal besucht?«, fragte Charlotte.
»Nee, einen Freund hatte sie nicht, soviel ich weiß, und Besuch …«
Frau Haferkamp runzelte plötzlich die Stirn und blickte an Charlotte vorbei aus dem Fenster. »Also … ich weiß nicht mehr genau, aber ich glaube, vor ein paar Wochen war mal wer da. ‘n Mann, glaub ich, ‘n Bekannter von früher, hat sie gesagt. Ich glaube, sie mochte ihn nicht besonders. Da kann ich mich auch bloß deswegen dran erinnern, weil sie so … na ja … gedankenverloren war, als sie wiederkam.«
Charlotte richtete sich auf und warf Bergheim einen Blick zu.
»Können Sie sich erinnern, wer das war?«
»Nee, also, das tut mir jetzt leid, aber ich hab ihn nur ganz kurz von Weitem gesehen. Er trug so eine schwarze Kappe. Ziemlich groß war er, das weiß ich noch.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo die beiden gewesen sind?«, fragte Bergheim.
Frau Haferkamp zuckte mit den Schultern. »Nee … ach doch, sie hat was von ›Spazierengehen‹ gesagt. Hat mich noch gewundert, das war sonst nicht ihr Ding.«
»Wann genau war das?«
»Also … da lassen Se mich mal überlegen, wann war denn das. Wir hatten gerade unser Gruppentreffen gehabt, muss also ein Donnerstag gewesen sein. Genau, das war der zweite Donnerstag im Juli. Am zweiten Donnerstag im Monat haben wir immer unsere Gesprächsrunde.«
»Hat sie irgendwas über das Treffen gesagt?«, fragte Charlotte.
»Nee, das nicht, sie war nur ganz in Gedanken, danach«, sagte Frau Haferkamp und drückte ihre Zigarette aus. »Na ja, und sie hat ein- oder zweimal telefoniert. Und zwar nicht mit ihrer Tochter. Mit der redete sie anders.«
Charlotte horchte auf. »Wissen Sie, mit wem sie telefoniert hat? Hat sie was gesagt?«
»Keine Ahnung«, sagte Frau Haferkamp, »und gesagt hat sie auch nix.« Das klang ein bisschen traurig.
»Können Sie sich sonst an irgendwas erinnern, was in der letzten Zeit vorgefallen ist und uns weiterhelfen könnte?«, fragte Bergheim.
Frau Haferkamp wandte ihm ihr aufgeschwemmtes Gesicht zu und seufzte theatralisch. »Nee, ich wollt, ich könnte, glauben Se mir.«
Bergheim und Charlotte erhoben sich. Charlotte legte ihre Karte auf den kleinen Glastisch.
»Wir würden uns jetzt gern das Zimmer von Frau Frieder ansehen.«
Frau Haferkamp erhob sich. »Dann kommen Se mal. Sieht genauso aus wie meins.«
Das stimmte. Die beiden Zimmer unterschieden sich nur insofern, als im Zimmer von Jutta Frieder zwei Umzugskartons standen.
Die beiden Beamten standen ziemlich fassungslos in dem unpersönlichen Raum. Wie armselig, dachte Charlotte, dass sich ein – wenn auch nur recht kurzes – Leben in zwei Umzugskartons verpacken ließ.
Es war halb sechs. Keine günstige Zeit für eine Fahrt auf der A 2. Sie brauchten fast zwei Stunden für die hundert Kilometer nach Hannover. Jutta Frieders Habseligkeiten hatten sie im Gepäck. Es waren nicht mehr als die zwei großen Umzugskartons, von denen einer die Kleidung enthielt, der andere persönliche Dinge, wie Toilettenartikel, ein paar Bücher, zwei DIN-A4-Ordner, einen MP3-Player, einen Karton mit alten Fotos und Ansichtskarten, ein paar Boulevard-Zeitschriften, ein Lehrbuch über Buchführung und zwei über Gartenbau und Blumenzucht, ein altes Märchenbuch, eine Tüte Lakritz-Katzenpfötchen und einen Baumwollbeutel mit Sämereien.
Als sie endlich in der Gretchenstraße ankamen, gab es wie üblich keinen Parkplatz. Bergheim parkte in zweiter Reihe, um die Kartons ausladen zu können. Es würde ein langer Abend werden. Sie wollten sich schon mal einen groben Überblick über die Hinterlassenschaft der Ermordeten verschaffen, bevor sich die Kriminaltechnik damit befasste.
Charlotte schloss die Haustür auf, und dann wuchteten sie die beiden Kartons vor den Fahrstuhl. Es dauerte eine Weile, bis die behäbige Kabine die zwei Stockwerke nach unten bewältigt hatte, und als Bergheim endlich die Tür öffnete, fiel ein dunkel bekleideter Arm heraus.
Bergheim erstarrte. In der Kabine lag reglos das junge Mädchen aus dem zweiten Stock. Charlotte ließ den Karton, den sie angehoben hatte, wieder fallen, während Bergheim den Puls suchte. Dann hob er sacht ihren Kopf und klopfte ihr auf die Wange.
»Hallo, können Sie mich hören?«
Vivian Schleich schlug schwerfällig die Augen auf und blinzelte verwundert in die zwei Gesichter, die sie anstarrten. »Was … was ist passiert, wieso …?«
»Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?«, fragte Bergheim, während Charlotte bereits nach ihrem Handy suchte.
Vivian runzelte die Stirn. »Nein, ich hab keine Schmerzen, lassen Sie mich einfach aufstehen.« Dabei versuchte sie sich von Bergheim loszumachen, der hielt sie aber unnachgiebig fest.
»Sie sind wohl ohnmächtig geworden. Wenn Sie aufstehen möchten, sollten Sie das langsam tun, okay?«
Vivian nickte und setzte sich auf. »Soll ich einen Arzt rufen?«, fragte Charlotte.
»Bloß nicht«, rief Vivian und fügte dann leise hinzu: »Ich geh nach Hause und leg mich ein bisschen hin. Hab bei dem Wetter immer Kreislaufprobleme.«
Bergheim nickte schweigend und half dem Mädchen auf die dürren Beine.
»Ich bringe Sie hoch«, sagte er und wandte sich an Charlotte. »Bleibst du bei den Kartons?« Sie nickte und er schloss die Tür.
Es dauerte fast eine Viertelstunde, bis Bergheim zurückkam. Als er aus dem Fahrstuhl trat, guckte er beklommen. »Hast du gesehen, wie mager das Mädchen ist?«
»Allerdings«, sagte Charlotte. »Da stimmt was nicht. Vielleicht sollte ich mich mal mit der Mutter unterhalten.«
»Das solltest du unbedingt«, sagte Bergheim.
Nachdem sie die Kartons im Wohnzimmer deponiert hatten, steuerte Charlotte Richtung Badezimmer. Sie zog ihr T-Shirt aus, riss die Tür auf und stand im nächsten Moment Jan gegenüber, der – sein Notebook auf den Knien – auf der Toilette saß. Er hob kurz den Blick, musterte sie und wandte sich dann wieder seinem Bildschirm zu.
»Kannst du nicht anklopfen?«, fragte er.
Charlotte presste ihr T-Shirt vor die Brust. »Kannst du nicht abschließen?«, schoss sie zurück.
»War ja keiner da.«
»Bist du fertig?«
»Gleich.«
»Was heißt gleich?«
»In zwei Minuten.«
»Okay«, sagte Charlotte und nahm vorsichtshalber den Schlüssel aus dem Schlüsselloch, bevor sie die Tür von außen schloss. Dann ging sie in die Küche und fluchte leise, als sie das offene Nutellaglas und die vier nougatverschmierten Messer auf dem Tisch liegen sah. Sie nahm die Messer und räumte sie in den Spülautomaten. Dann nahm sie die restlichen sauberen Messer aus der Besteckschublade, versteckte sie unter den Geschirrtüchern und ging zurück zum Badezimmer.
»Die zwei Minuten sind um«, sagte sie und ging, ohne anzuklopfen, hinein.
Jan saß unverändert auf der Toilette. Charlotte ging zu ihm, nahm das Notebook, ging damit zu seinem Zimmer und stellte den Computer vor die Tür. Sie hatte keine Lust, Jans Deponie zu betreten. Auf dem Rückweg zum Bad kam der Junge ihr entgegengeschlurft und ging wortlos an ihr vorbei.
Bergheim stand derweil in der Küche, belegte ein paar Toastbrote mit Käse und Schinken, öffnete ein Glas saure Gurken und zwei Flaschen Herrenhäuser, stellte alles auf ein Tablett und trug es ins Schlafzimmer.
Wenig später saßen sie kauend auf dem großen Bett. Charlotte betrachtete ein paar Fotos und Ansichtskarten, Bergheim blätterte in einem Ordner. Die Tote hatte alle Verdienstbescheinigungen und Rechnungen der letzten zwei Jahre sorgfältig abgeheftet. Ihre Kontoauszüge aus dieser Zeit waren lückenlos. Ihr Vermögen belief sich auf achthundertsechsundfünfzig Euro, ihre Schulden auf knapp vierundzwanzigtausend Euro.
»Am 22. Juli hat sie dreihundert Euro abgehoben. Das war einen Tag, bevor sie auf der Hochzeit der Hofholts aufgetaucht ist«, sagte Bergheim und schob sich den Rest seines Schinkenbrotes in den Mund.
Charlotte nahm einen Schluck Bier. »Es muss was mit diesem Besucher zu tun gehabt haben. Und wenn uns ihre Telefonliste nicht weiterbringt, wo sollen wir dann anfangen zu suchen?«
»Geben die Fotos nichts her?«
»Es sind nicht viele«, sagte Charlotte, »die meisten sind von ihren Eltern, ein paar Fotos von ihrer Tochter, dem Schwiegersohn und der Enkelin, einige von ihrer Tochter als Baby, und auf zweien ist sie als junges Mädchen zusammen mit einer Freundin irgendwo am Meer. Das sind die einzigen älteren, von 1987.« Charlotte seufzte. »Es kommt mir vor, als ob sie ihr ganzes früheres Leben aussortiert hat. Keine Bilder von ihr als Schulkind oder als Teenager.«
»Vielleicht hat die Tochter noch Sachen von ihr. Danach hätten wir fragen sollen«, sagte Bergheim.
»Thorsten soll sie anrufen. Wenn sie noch was hat, kann sie das mitbringen.«
Charlotte stand auf und durchwühlte den zweiten Karton.
»Meine Güte, in ihre Kleidung hat sie wirklich nicht viel investiert.«
»Kein Wunder, bei dem Kontostand«, sagte Bergheim.
»Wirklich nur Jeans, T-Shirts, Kunstfaserpullover, Turnschuhe, dunkle Socken, eine Daunenjacke, eine schwarze Regenjacke, stinknormale Unterwäsche, ein Schlafanzug, zwei Schlafshirts, ein paar dünne Halstücher, ein Paar Handschuhe.« Charlotte durchwühlte den Karton und tauchte dann mit rotem Kopf wieder auf. »Anscheinend hatte sie nicht mal Handtücher.«
Bergheim warf die Ordner vom Bett. »Die Lösung muss bei dieser Hochzeitsfeier zu finden sein.«
»Das glaube ich auch«, sagte Charlotte und nahm sich eine Gurke. »Und wenn du mich fragst, dieser Andreas Hofholt hat uns nicht alles gesagt. Er schien mir nervös zu sein. Warum?«
»Na, das ist ja wohl mehr als verständlich. Ich wär auch nervös, wenn eine Frau, die auf meiner Hochzeit getanzt hat, später ermordet wird.«
»Hm«, Charlotte zweifelte, »ich glaube nicht, dass das alles war.«
Bergheim betrachtete seine Freundin. Sie trug ein weißes Schlafshirt, und ihre kastanienbraunen Haare fielen in leichten Wellen auf ihre Schultern. Sie war schön. Und sie hatte dieses feine Gefühl für Stimmungen. Er hatte gelernt, ihr zu vertrauen, wenn dieses Gefühl sich meldete.
»Okay«, sagte er und zog sie aufs Bett. »Wir werden uns noch mal mit ihm unterhalten.«
»Wolltest du nicht noch mal bei Vivian anrufen?«, fragte Charlotte.
»Oh, verdammt«, sagte Bergheim und nahm sein Handy vom Nachttisch.
Nach dem vierten Klingeln meldete sich Vivian. Ja, es gehe ihr gut, vielen Dank für die Hilfe, sie müsse jetzt schlafen. Bergheim legte das Handy weg und schüttelte den Kopf.
»Wann soll man sich einmischen, und wann ist es besser, sich aus den Angelegenheiten anderer Leute rauszuhalten?«, fragte er und schob die Hand unter Charlottes Shirt.
»Wo sind die Messer?«, knödelte es aus Richtung Tür.
Bergheim zuckte zurück. »Kannst du nicht anklopfen?«
»Die Tür war offen. Wo sind die Messer?«
»Na, da wo sie immer sind«, sagte Charlotte unschuldig.
»Ist keins mehr da.«
»Oh, dann musst du dir eins spülen.«
Jan drehte sich um und verschwand in sein Zimmer. Der Schritt seiner Jeans hing in seinen Kniekehlen.