NEUN
Es war eine Schande, dachte Dora Hermesmeier, als sie die vertrockneten Geranienblüten aussortierte. Manche Leute kümmerten sich einfach nicht um die Gräber ihrer Verwandten. Sie warf einen missbilligenden Blick auf die längst verdorrten Rosen, die auf dem Nachbargrab vor sich hingammelten. Konnte man die nicht mal austauschen? Oder war das zu viel verlangt? Aber natürlich, die jungen Leute hatten heute alles Mögliche zu tun, was sollte man sich da um die Toten scheren? Dora nahm ihre kleine Harke und befreite das Grab ihres verstorbenen Mannes Berthold sorgfältig von jedem Blütenblatt. Nicht dass er es verdient gehabt hätte, in einem ordentlichen Grab zu ruhen, nein, ganz gewiss nicht.
Ihr Berthold war zeitlebens eine richtige Schlampe gewesen. Immer wieder hatte sie ihm erklären müssen, dass man nicht mit Schuhen in die Küche ging. Ihr drittes Kind war er gewesen, die beiden anderen, ihr Sohn Hartwig und ihre Tochter Gudrun, hatten sich auch nie an diese Regel halten können. Und an die anderen auch nicht. Dora Hermesmeier seufzte tief. Und das war bis heute so geblieben. Mittlerweile hatten ihre Kinder selbst erwachsene Kinder, aber kümmerte sich irgendjemand um das Grab? Nein, natürlich nicht. Das überließ man ihr, Dora. Natürlich, sie war noch ziemlich rüstig für ihre sechsundachtzig Jahre, und sie war immer ziemlich gesund gewesen. Unwillkürlich musste sie lächeln. Darum hatte ihr Berthold sie immer beneidet, um ihre Beweglichkeit. Tja, er hätte eben nicht immer in der Kneipe sitzen sollen. Biertrinken, Rauchen und Rumsitzen verkürzten nun mal das Leben.
Sie sammelte die welken Blüten ein und erhob sich ächzend. Vielleicht sollte sie noch eine Kerze anzünden, dann sahen die Leute wenigstens, dass sich hier jemand kümmerte. Sie warf die verblühten Geranien in den Eimer und förderte aus ihrem Baumwollbeutel ein Grablicht zutage. Sie wollte es gerade in die dafür vorgesehene Laterne stellen, als sie den Mann wieder vorübergehen sah. Das ist doch unerhört, dachte sie. Wusste der Mann denn nicht, dass Hunde auf dem Friedhof nicht erlaubt waren? Sie holte schon Luft, um ihm hinterherzurufen, als ihr gerade noch rechtzeitig bewusst wurde, dass sie sich auf einem Friedhof befand, wo Schreien auch nicht gerade zum guten Benehmen gehörte. Außerdem war es noch sehr früh, gerade mal sechs. Die Stadt war noch ziemlich still. Aber das machte nichts. Jemand musste dem Herrn mal sagen, dass man hier nicht in Hundekacke herumwühlen wollte.
Sie ließ ihre Kerze fallen und machte sich, so schnell ihre dürren Beine sie trugen, an die Verfolgung, doch als sie in den nächsten Gang einbog, wurde sie abgelenkt. Da war ein frisches Grab ausgehoben. Nanu, davon wusste sie ja gar nichts. Dabei kannte sie die Familie, der die Grabstelle gehörte. Oder hatte die jetzt einen neuen Besitzer? Wahrscheinlich. Um die Pflege hatte sich ja weiß Gott schon die letzten Jahre kein Mensch mehr gekümmert. War völlig verwildert gewesen. Neugierig ging sie zum Grab. Vielleicht gab es ja einen neuen Grabstein. Doch Dora Hermesmeier kam nicht mehr dazu, sich den Grabstein genauer anzusehen. Sie stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte vom Grab weg, was ein Glück war, sonst wäre sie hineingefallen, direkt auf die Leiche, die drin lag.
Die Melodie des rosaroten Panthers weckte Charlotte um Viertel vor acht. Anfangs ignorierte sie es. Was hatte sie mit dem rosaroten Panther zu tun? Aber er ließ nicht locker. »Wer hat an der Uhr gedreht …?« Bergheims Arm schob sich langsam über ihre Schulter und wischte über ihr Nachttischchen. Das Handy fiel runter. Es war zu dieser Morgenstunde unerträglich laut. »Ist es wirklich schon so spät?«
»Aah« war das Einzige, das Bergheim sagen konnte, nachdem er – quer über Charlotte liegend – hektisch die passende Taste gesucht und gefunden hatte.
»Wie bitte?«, kam es dann schon etwas deutlicher. Bergheim setzte sich auf. Er wurde langsam wach. »Verstanden«, sagte er dann und drückte das Gespräch weg. Dann rüttelte er Charlotte, die wieder eingeschlafen war, wach. »Komm schon, wir müssen los.«
»Hm?«, fragte Charlotte, die widerwillig ein Auge öffnete.
»Eine Leiche«, sagte Bergheim, »auf dem Stadtfriedhof Engesohde.« Dann ging er ins Bad.
Charlotte zog die Stirn kraus. Hatte Bergheim gerade von einer Leiche auf dem Friedhof gesprochen? Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sie hätte gestern nicht so viel trinken sollen. Und vor allem nicht so viel durcheinander. Sie wusste doch, dass sie das nicht vertrug. Langsam richtete sie sich auf. Der Schmerz hinter den Augen wurde schlimmer. Sie brauchte dringend ein Aspirin.
Das war auf nüchternen Magen zwar nicht das Beste, was sie sich antun konnte, aber wenigstens machte es den Kopfschmerz weg.
Bergheim betrat die Küche, als sie die Kaffeemaschine anwarf.
»Was sollte das vorhin mit der Leiche auf dem Friedhof?«, fragte sie ungehalten.
»Du hast schon richtig verstanden. Eine Leiche im offenen Grab, allerdings ohne Sarg.«
Charlotte starrte ihn an. »Du machst Witze.«
»Nein«, sagte Bergheim. »Ich kann aber allein gehen, du scheinst nicht auf der Höhe zu sein.«
»Musst du dich nicht um deinen Vermissten kümmern?«, wollte Charlotte wissen.
»Allerdings«, sagte Bergheim, »möchte mir heute unbedingt noch einen Typen vorknöpfen, der einen Streit mit unserem Vermissten hatte und sich obendrein gestern Abend mit dessen Schwester rumgetrieben hat.«
»Die, um die du dich kümmern sollst?«, fragte Charlotte und massierte mit kreisenden Bewegungen ihre Schläfen.
»Genau, aber zuerst die Leiche auf dem Friedhof«, sagte Bergheim und sah sie unsicher an. »Willst du nicht lieber hierbleiben? Du siehst irgendwie grün aus im Gesicht.«
»Das fehlte ja noch«, murmelte Charlotte und watschelte zum Bad. Als sie die Badezimmertür öffnete, drehte sie sich noch mal um. »Und vielen Dank für die Blumen!«
Eine halbe Stunde später waren sie auf dem Weg in die Südstadt. Es versprach ein Bilderbuchsonntag zu werden, und Charlotte hätte sich gern einen freien Tag – vielleicht am Steinhuder Meer – gegönnt, aber Mörder kümmerten sich eben nicht um den Wochenendanspruch anderer Leute.
Der Friedhof Engesohde war ein parkähnliches Fleckchen Erde mit vielen wunderschönen Skulpturen. Charlotte ging mit Bergheim die teils gepflasterten stillen Wege entlang, warf hier und da einen Blick auf die kunstvollen Grabsteine und Mausoleen. Ein Großteil der hannoverschen Prominenz schien hier die letzte Ruhe gefunden zu haben.
Sie brauchten einige Minuten, um den Fundort zu erreichen. Schon von Weitem erkannten sie Wedel, der am Rand eines offenen Grabes stand. Das Sicherheitsband, das um das Grabloch gezogen war, war zerrissen und flatterte mit den losen Enden um seine schwarz behosten Beine. Drei Leute von der Spurensicherung suchten bereits das Erdreich in der Umgebung des Grabes ab, Kramer fotografierte.
Wedel grinste den beiden entgegen. »Wir haben wohl ein Dauerabo, was?«, sagte er und steckte die fleischigen Hände in seine Hosentaschen.
»Für was?«, fragte Charlotte und warf einen Blick auf die Leiche, die bäuchlings im Grab lag. Es war eine Frau in einem hellen, wadenlangen Jeanskleid. Sie war klein, rundlich, hatte kurze graue Haare. An ihrem Hinterkopf klaffte eine Platzwunde. Sie machte den Eindruck, als wäre sie aus dem Stand einfach umgefallen und liegen geblieben. Charlotte starrte auf die Leiche und dann Bergheim an. »Denkst du das Gleiche wie ich?«, fragte sie. Bergheim nickte nur.
»Für Wochenendleichen«, sagte Wedel und beantwortete damit Charlottes Frage.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Charlotte.
»Eine alte Dame, ziemlich rüstig.« Wedel schmunzelte. »Das Ganze war aber wohl doch ein bisschen viel für sie. Ich hab sie vorsichtshalber in die MHH bringen lassen. Ein älterer Herr hat die Polizei gerufen. Kollege Kramer hat mit ihm gesprochen.«
Charlotte fand das erstaunlich. »Meine Güte, ich hab wirklich schon die unmöglichsten Tatorte gesehen, aber ein Friedhof ist mir noch nicht untergekommen.«
Wedel wunderte sich über nichts. »Ein Friedhof ist genauso gut oder schlecht für einen Mord geeignet wie jeder andere Platz. Zu bestimmten Zeiten ist es hier ziemlich einsam.«
In diesem Moment erschallte Paulchen Panther, und Charlotte schrak zusammen. Wedel kicherte, während Charlotte hastig ihr Handy aus der Jackentasche fummelte. Es war ihr Vater, der seinen Besuch ankündigte.
»Papa«, sagte Charlotte und drehte sich weg. »Ich hab überhaupt keine Zeit und kann jetzt nicht reden. Ich ruf nachher an.« Dann sah sie Bergheim vorwurfsvoll an. »Wer hat meinen Klingelton geändert?«
Bergheim, der einen bestimmten Verdacht hatte, hüllte sich vorsichtshalber in Schweigen.
»Also Herrschaften«, unterbrach sie Wedel, »können wir die Dame jetzt rausholen, oder was?«
»Ja, machen Sie schon«, sagte Charlotte genervt. Sie wollte endlich wissen, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte.
Zwanzig Minuten später waren Bergheim und Charlotte auf der Brühlstraße Richtung Nordstadt unterwegs, um mit Dr. Hofholt zu sprechen.
»Ob er was damit zu tun hat?«, fragte Bergheim.
»Ich halte es zumindest nicht für ausgeschlossen«, sagte Charlotte.
Bergheim verzog zweifelnd den Mund. »Ich weiß nicht recht. Wenn der seine Frau aus dem Weg räumen will, stellt er das doch bestimmt nicht so ungeschickt an.«
»Was ist denn in deinen Augen geschickt?«, wollte Charlotte wissen.
»Na ja, er wird dafür sorgen, dass man sie nicht sofort findet.«
»Wieso?«
»Was meinst du mit wieso? Würdest du nicht dafür sorgen, dass deine Frau auf Nimmerwiedersehen verschwindet, wenn du sie schon umbringst?«
»Normalerweise schon. Aber vielleicht hat man nicht immer die Gelegenheit, es so einzurichten.«
Bergheim klopfte mit dem Daumen auf das Lenkrad. »Trotzdem, das hier ist zu … offensichtlich.«
Charlotte sah ihn fragend an. »Du lässt dich doch nicht von seinem Titel beeindrucken?«
»Nein«, sagte Bergheim ernst, »nicht von seinem Titel. Ich halte ihn aber nicht für dumm.«
»Das tue ich auch nicht«, sagte Charlotte, als sie in der Hahnenstraße parkten.
Dr. Hofholt ließ sie nur ungern hinaufkommen. Er erwartete sie mit verschränkten Armen und starrem Blick vor seiner Wohnungstür. Seine Hose und das weiße Hemd waren so zerknittert, als hätte er darin geschlafen.
Er führte sie wieder in sein Büro, wo er sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen ließ und die beiden Beamten aus zusammengekniffenen, blutunterlaufenen Augen musterte. Er schien eine anstrengende Nacht gehabt zu haben.
Bergheim und Charlotte setzten sich unaufgefordert auf die beiden Besucherstühle.
»Also«, ergriff Hofholt das Wort, »was wollen Sie denn noch?«
Bergheim räusperte sich. »Es tut uns leid, aber Ihre Frau wurde heute Morgen tot aufgefunden.«
Hofholt starrte zuerst Bergheim, dann Charlotte an. »Was reden Sie denn da?«
Die beiden Beamten schwiegen und warteten. Der Mann hatte sie bestimmt verstanden.
Hofholt ließ die Arme sinken und schluckte. »Sind Sie sicher, dass es sich um meine Frau handelt?«
Bergheim nickte, und Hofholts Augenlider zuckten. Charlotte war sich nicht sicher, ob der Mann wirklich überrascht war oder einfach nur ein erstklassiger Schauspieler.
Hofholt ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen. »Und was ist passiert? Hatte sie einen Unfall?«
»Sie wurde ermordet«, sagte Charlotte.
Hofholt sprang auf. »Was soll das heißen?«, rief er.
»Das soll heißen«, erwiderte Bergheim, »dass Ihre Frau wahrscheinlich erschlagen wurde.«
Hofholt starrte Bergheim an und ließ sich langsam wieder in seinen Stuhl sinken. »Aber …«
»Aber was?«, hakte Charlotte nach.
Hofholt schwieg.
»Wann haben Sie Ihre Frau zuletzt gesehen?«, fragte Bergheim.
»Ich … gestern Nachmittag. Sie wollte weg.«
»Wann wollte sie zurückkommen?«, fragte Charlotte.
Hofholt senkte den Kopf. »Sie … wir hatten uns gestritten. Sie wollte eine Weile … für sich sein.« Der Mann wich Charlottes Blick aus.
»Worüber haben Sie sich gestritten?«
Jetzt wurde Hofholt ungeduldig. »Es war immer das Gleiche. Sie war krankhaft eifersüchtig«, sagte er und trommelte mit den Fingern auf seiner Schreibtischunterlage herum. Er ließ sich entweder Zeit mit seiner Trauer, oder er empfand einfach keine.
»Mit krankhaft wollen Sie sagen, dass sie eigentlich keinen Grund zur Eifersucht hatte?«
»Genau«, sagte Hofholt bestimmt, aber Charlotte war sein unruhiger Blick nicht entgangen. Sie war sicher, dass er log.
Hofholt blickte einen Moment gedankenverloren aus dem Fenster auf die Dächer der Stadt.
»Wo ist es passiert?«
»Auf dem Friedhof Engesohde«, sagte Charlotte.
Hofholt riss erstaunt die Augen auf. »Auf dem Friedhof? Also ist sie überfallen worden?«
Charlotte überhörte die Frage. »Haben Sie eine Grabstätte auf dem Friedhof Engesohde?«, wollte sie stattdessen wissen.
Hofholt nickte. »Ja, meine Eltern liegen dort begraben und ihre auch.«
»Ging Ihre Frau oft auf den Friedhof?«
Hofholt dachte einen Moment nach. »Was heißt oft? Sie ging ab und zu hin, vielleicht einmal die Woche. Sie hat sehr an ihrem Vater gehangen.«
»Haben Sie eine Vorstellung davon, was dort passiert sein könnte? Hatte Ihre Frau Feinde? Vielleicht hat ihr ja jemand aufgelauert«, sagte Bergheim.
»Nein«, sagte Hofholt. »Feinde hatte sie nicht. Nicht dass ich wüsste, jedenfalls.«
»Wohin wollte Ihre Frau?«
Hofholt bedeckte sein Gesicht mit den Händen und schluchzte verhalten. »Sie hat ein paar Sachen mitgenommen und ist gegangen. Mehr weiß ich nicht. Und jetzt gehen Sie endlich. Ich habe keine Ahnung, was da passiert ist.«
Charlotte warf Bergheim einen Blick zu, und sie erhoben sich.
Hofholt machte keine Anstalten, die beiden hinauszubegleiten. Auf dem Weg zur Tür drehte Bergheim sich noch mal um.
»Ach ja, wenn Sie uns noch sagen können, wo Sie gestern Abend zwischen zwanzig und zweiundzwanzig Uhr waren.«
Hofholt nahm die Hände vom Gesicht und starrte die beiden mit unverhohlener Abneigung an.
»Wenn Sie meinen, ich hätte meine Frau umgebracht, sind Sie gewaltig auf dem Holzweg. Ich habe sie geliebt!«
Bergheim und Charlotte nahmen diese Aussage schweigend zur Kenntnis und warteten auf die Beantwortung der Frage.
»Ich war hier und hab gearbeitet!« Hofholt schrie jetzt. Seine Nerven schienen ihm langsam den Dienst zu versagen. »Reicht Ihnen das?«
»Gibt’s dafür Zeugen?«, fragte Bergheim ruhig.
»Nein, verdammt! Und jetzt machen Sie endlich, dass Sie rauskommen!«
Bergheim und Charlotte beschlossen, im Courtyard Hotel am Maschsee zu Mittag zu essen, und hatten das Glück, einen freien Tisch auf der Sonnenterrasse zu ergattern. Nachdem sie bestellt hatten, versuchte Charlotte, Ostermann anzurufen, aber der war nicht zu erreichen. Es war ja auch Sonntag. Dann telefonierte sie kurz mit Wedel, der die Obduktion für den späten Montagvormittag angesetzt hatte.
Bergheim versuchte zum wiederholten Mal, Sokolow per Handy zu erreichen. Erfolglos. »Verdammt«, sagte er. »Warum stellen diese Typen immer ihre Handys aus?«
»Weil sie am Sonntag um diese Zeit noch schlafen?«, sagte Charlotte.
»Schlafen? Was ist das?«, seufzte Bergheim und steckte sein Notizbuch in die Innentasche seines Sakkos. »Er hat eine Wohnung an der Podbi. Frage mich wirklich, wie er sich das leisten kann. Irgendwas stimmt mit diesen Schülern nicht«, murmelte er gedankenverloren, »aber ich komm ihnen schon drauf. Werde dem Herrn anschließend einen Besuch abstatten.«
Der Kellner brachte ihnen ihre Getränke, und sie ließen sich einen Moment von dem herrlichen Sommertag verwöhnen. Das Maschseeufer war gesäumt von Menschentrauben, die sich zwischen den Getränke- und Imbissständen und den jetzt leeren Bühnen tummelten. Die Sonne glitzerte auf dem Wasser, und eine schwache Brise ließ die wenigen Segelboote auf dem See friedlich vor sich hin dümpeln.
»Kein Segelwetter heute«, sagte ein teuer gekleideter Mann mit grauen Schläfen und vollem Haar am Nebentisch. Bergheim nickte lächelnd. Ein schwacher Trost für den verpatzten Sonntag. Bergheim segelte für sein Leben gern.
»Also«, sagte Charlotte leise, »lügt er?«
Bergheim nahm einen Schluck Bier und setzte seine Sonnenbrille auf. Er hatte keine Lust auf die anzüglichen Blicke, die ihm sein Veilchen immer noch eintrug. »Ich denke, er hat gelogen, als er sagte, seine Frau habe keinen Grund zur Eifersucht gehabt.«
Charlotte nickte. »Ja, das glaube ich auch. Und von Trauer keine Spur.«
»Nein, aber das muss nichts heißen. Kann auch besonders clever sein, nicht zu heucheln.«
Charlotte legte die Hand über die Augen und beobachtete eine Gruppe Enten, die sich nahe der Steintreppe, die mit wenigen Stufen zum Wasser führte, um einige Brotkrumen zankte und dabei ziemlich viel Wasser verspritzte.
»Wedel sagt, sie ist zwischen acht und zehn gestern Abend gestorben, und ihren Mann hat sie am Nachmittag verlassen. Jedenfalls sagt er das. Was hat sie die ganze Zeit gemacht?«, sinnierte Charlotte.
»Womöglich ist sie zu ihrem Sohn oder ihrer Schwester gefahren«, sagte Bergheim.
»Das werden wir bald wissen.«
Der Kellner brachte ihnen das Essen, Charlotte hatte sich für Gemüselasagne entschieden, Bergheim für Ofenkoteletts mit Pilzen.
Charlotte wollte gerade zu ihrem Besteck greifen, als der rosarote Panther sich meldete. Hastig kramte sie ihr Handy hervor. Ihren Vater hatte sie ganz vergessen. »Papa«, sagte sie leise und horchte eine Weile. »Entschuldigung, ich weiß, wie schön der Zoo ist, aber wir waren doch erst letzte Woche da!«
Sie warf Bergheim einen genervten Blick zu, aber der war bereits mit seinen Koteletts beschäftigt. »Ihr kommt doch auch ohne uns zurecht … Ja, nächstes Mal klappt’s hoffentlich wieder. Wie geht’s Mama?… Nein, ich will nicht mit ihr sprechen. Grüß sie schön, ich melde mich, sobald wir hier wieder Luft haben.«
Sie schaltete ihr Handy aus und warf Bergheim einen misstrauischen Blick zu.
»War das Jan?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich.«
»Wusste ich’s doch«, sagte Charlotte und tippte auf dem Handy herum, um ihren langweiligen Summton wieder einzustellen. »Wie kommt der Bengel dazu? Das ist doch peinlich.«
»Ich find’s eher lustig«, sagte Bergheim und säbelte ein Stück von seinem Kotelett ab. »Du warst gestern Abend ziemlich gut gelaunt, das hat ihn wohl übermütig gemacht.«
»Na warte«, murmelte Charlotte, »das zahl ich ihm heim.« Irgendwie musste dem Bengel doch beizukommen sein. In der Messerschlacht hatte sie eine Niederlage einstecken müssen, aber der Krieg war noch nicht zu Ende.
Nach dem Essen brachte Charlotte Bergheim zur Podbi und fuhr anschließend zur Hindenburgstraße, um mit Gesine Hofholts Schwester und ihrem Mann zu sprechen. Kramer hatte sich inzwischen gemeldet. Sie hatten das Auto von Frau Hofholt, einen Renault Clio, an der Hildesheimer Straße gefunden und sichergestellt. Außerdem hatte ein Hundeführer ihre Handtasche in einem Gebüsch gefunden. Die Tasche enthielt außer den Autoschlüsseln, einer Geldbörse mit dreißig Euro, einer Tüte Pfefferminzbonbons, diversen Kosmetikartikeln und ein paar Kugelschreibern noch ein paar Fotos von der Hochzeit ihres Sohnes. Charlotte fragte sich, wie Hofholt seinem Sohn den Tod seiner Mutter beigebracht hatte.
Bergheim erklomm die Stufen zum vierten Stock eines Wohnhauses in der Nähe des Pelikangeländes.
Die Treppe war schmal und das Treppenhaus eng und dunkel. Es roch nach Farbe.
Anton Sokolow lehnte mit unergründlichem Lächeln lässig im Türrahmen. Er trug Jeans und ein T-Shirt. Seinen linken Oberarm zierte ein Tattoo. Bergheim versuchte zu erkennen, was es darstellte. Es sah aus wie ein Dolch, der eine Ratte aufspießte.
»Hätte nicht gedacht, dass die Bullen am Sonntag arbeiten«, sagte Sokolow und ließ Bergheim eintreten.
Der Geruch von kaltem Rauch schlug Bergheim entgegen. Die Wohnung bestand aus einem Raum mit angrenzender Kochnische und einem Bad. Der Wohnraum war gleichzeitig Schlafzimmer. Vor einem Flachbildfernseher stand ein großes Sofa, das wohl auch als Bett diente. Auf einem quadratischen Tisch standen zwei leere Flaschen Bier und ein von Kippen überquellender Aschenbecher. An der Wand stand ein Ikea-Kleiderschrank, sonst war die Wohnung leer.
Sokolow warf sich auf das Sofa und sah Bergheim neugierig an. Der blickte sich um, fand außer dem wenig einladenden Bett keine Sitzgelegenheit und lehnte sich an den Kleiderschrank.
»Wer bezahlt das alles?«, fragte er und machte eine vage Handbewegung.
»Na, was glauben Sie«, sagte Sokolow und steckte sich eine Zigarette an, »ich selbst.«
»Wie können Sie sich das leisten? Ich denke, Sie sind Schüler.«
Sokolow blies eine Rauchwolke in Bergheims Richtung. »Ich geh arbeiten. Was dagegen?«
»Und was arbeiten Sie?«, fragte Bergheim.
»Fahre Taxi.«
»Bei welchem Unternehmen?«
Sokolow inhalierte tief, holte dann sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und reichte Bergheim die Karte des Taxiunternehmens. Der steckte sie wortlos ein.
»Was haben Sie mit Tabea Wegener zu tun?«, fragte er dann und verschränkte die Arme.
»Wie kommen Sie darauf, dass ich was mit ihr zu tun habe?«, fragte Sokolow.
»Beantworten Sie die Frage.«
Sokolow zuckte mit den Schultern, nahm sein Handy vom Tisch und tippte darauf herum. »Die Kleine himmelt mich an. Was kann ich dafür?«
Bergheim musterte ihn. »Sie wissen natürlich, dass sie minderjährig ist.«
»Und?«, sagte Sokolow, ohne den Blick von seinem Handy zu nehmen. »Was geht mich das an?«
»Schon mal was davon gehört, dass Verführung Minderjähriger eine Straftat ist?«
Sokolow seufzte und legte endlich sein Handy weg.
Bergheim beugte sich vor, legte seine Hände auf den kleinen Tisch und fegte dabei den vollen Aschenbecher auf den fleckigen Teppichboden.
»Was halten Sie von einer Vorladung?«, fragte er dann leise. In diesem Moment klingelte Bergheims Handy. Er fluchte innerlich. Eine heisere Stimme meldete sich. »Ruf mal deine SMS auf« war alles, was Bergheim verstand, dann war das Gespräch weg. Er rief den SMS-Eingang auf und starrte im nächsten Moment auf ein Foto, das ihn und Marlene Krieger in eindeutiger Position zeigte.
Er blickte in Sokolows arrogantes Gesicht, und langsam dämmerte es ihm. Sie hatten ihm eine Falle gestellt. Und er war hineingetappt wie ein Anfänger. Aber so leicht würde er es diesem miesen Gauner nicht machen. Denn dass er ein Gauner war, stand für Bergheim fest. Er machte das Handy aus, steckte es weg und setzte ein gefährliches Lächeln auf.
»Schönes Bild«, sagte er ruhig, »was versprechen Sie sich davon?«
Sokolow hob die Augenbrauen. »Nun, mit der passenden Aussage von Marlene kann es Sie Ihren Job kosten.« Er grinste breit. »Von wegen Amtsmissbrauch und so. Sie wissen schon. Und Ihre Freundin wird wohl auch nicht gerade begeistert sein.«
Bergheim überlegte eine Weile.
»Warum der Aufwand?«, fragte er dann.
»Sagen wir …«, Sokolow schien nach den richtigen Worten zu suchen, »wir möchten in Ruhe gelassen werden.«
Plötzlich schoss Bergheims Rechte vor, packte Sokolow am Kragen und zog ihn über den Tisch.
»Sie hören von mir«, zischte er ihm ins Ohr. Dann warf er ihn zurück aufs Sofa und verließ die Wohnung.
Als er wieder auf der Straße stand, schnappte er nach Luft.
Mist! Dieser Scheißkerl hatte recht. Wusste der Himmel, was Marlene Krieger aus dieser Situation machen würde. Aber sein Job war nicht seine Hauptsorge. Er fragte sich vielmehr, wie er das Charlotte beibringen sollte. Sie war in dieser Beziehung verdammt misstrauisch.
Charlotte hatte an der Hindenburgstraße keinen Erfolg gehabt. Was trieben diese Leute bloß andauernd? Frustriert stieg sie wieder ins Auto. Wenn ich schon mal unterwegs bin, kann ich auch noch mal im Büro vorbeifahren und den Papierberg etwas abtragen. Aber nicht länger als eine Stunde, nahm sie sich vor. Schließlich hatte man auch noch so was wie ein Privatleben. Sie steuerte den Schiffgraben entlang zum Aegidientorplatz und bog dann rechts ab in den Friedrichswall. Eigentlich schade. Sie hätte wirklich Lust gehabt, wieder mit ihren Eltern und Rüdiger in den Zoo zu gehen. Der Gorillaberg hatte es ihr besonders angetan. Sie konnte sehr lange dort ausharren und den riesigen Affen zusehen, wie sie gemächlich fraßen, im Fell eines Artgenossen nach Flöhen suchten oder mit unergründlichem Blick die Zoobesucher anstarrten und dabei immer traurig guckten. Charlotte fragte sich manchmal, ob diese Tiere glücklich waren, ob sie überhaupt wussten, dass es so was wie Glücklichsein gab. Sie seufzte. Blödsinn, sagte sie sich. Tiere sind zufrieden, wenn sie satt sind und sich fortpflanzen können.
So einfach war das.
Sie parkte am Waterlooplatz und ging die paar Schritte zu Fuß zur KFI1. Der Himmel hatte sich zugezogen. Es wehte kein Lüftchen. Daraus würde sich ein handfestes Gewitter entwickeln. Fünf Minuten später saß Charlotte an ihrem Schreibtisch und fuhr den Computer hoch.
Bergheim hatte sich zu Fuß Richtung Waterlooplatz aufgemacht. Das war ein strammer Marsch, aber er brauchte die Bewegung und die frische Luft, um nachzudenken. Er hatte nicht die Absicht, sich von irgendjemandem erpressen zu lassen, schon gar nicht von diesem Rotzlöffel – egal, was passierte. Er überlegte, wie er es anfangen sollte, das Ganze Charlotte beizubringen. Sie war – was untreue Männer anging – ein gebranntes Kind. Er war sich nicht sicher, wie sie reagieren würde, wenn er ihr das Foto zeigte. Und dass er es ihr zeigen würde, stand außer Frage.
Er marschierte quer durch die Eilenriede und hatte nach einer guten halben Stunde den Emmichplatz erreicht. Was seine berufliche Laufbahn anbelangte, so wusste er nicht mal, ob es ihn wirklich glücklich machte, was er tat. Natürlich, er war einer von den Guten, das war ein gutes Gefühl, aber er hatte immer Probleme mit dem gehabt, was grausame Menschen anderen antaten.
Schon mehr als einmal hatte er sich gefragt, ob er wirklich so weitermachen wollte, bis zur Pensionierung oder bis ihn einer von den Bösen ins Jenseits beförderte. Da konnte ihm dieser Rotzlöffel also nicht besonders wehtun. Außerdem war es nicht so einfach, einen verdienten Polizisten zu diskreditieren. Da musste sich die Dame schon eine verdammt glaubwürdige Geschichte zu dem Bild einfallen lassen. Ihr gutes Aussehen war ihr größter Fürsprecher. Und dass seine Laufbahn nicht ganz ohne Fehl und Tadel war.
Es lag zwar schon einige Jahre zurück, aber als er in Hildesheim eine Anweisung missachtet und eigenmächtig in das Haus eines unbedarften Bürgers – jedenfalls hatte sein damaliger Chef diesen Menschen so bezeichnet – eingedrungen war, hätte ihm das beinahe ein Disziplinarverfahren eingebracht. Na ja, leider war dieser Mensch bei der Aktion um sein missratenes Leben gekommen. Er hatte ihn in Notwehr erschießen müssen. Nur die Tatsache, dass der Kerl seine Frau seit Monaten im Keller gefangen gehalten und misshandelt hatte und sie halb tot befreit werden konnte, hatte ihn gerettet. Sein Chef hatte es ihm allerdings nie verziehen, dass er recht behalten hatte, also hatte er um seine Versetzung gebeten und war in Hannover bei der KFI1 gelandet, der Kriminalfachinspektion 1, zuständig für Tötungsdelikte und vermisste Personen.
Er lächelte, wenn er daran dachte, wie ruppig ihm Charlotte anfangs gegenübergetreten war. Aber das Schicksal – oder was auch immer – hatte es so gewollt, dass er auch ihr das Leben retten konnte, und so hatten sie sich gefunden. Er war von Anfang an hingerissen gewesen von dieser Frau. Er marschierte den Friedrichswall entlang Richtung Waterlooplatz und wappnete sich innerlich. Bestimmt war Charlotte im Büro.
Zehn Minuten später saß er seiner Freundin und Kollegin gegenüber, und – er musste es sich eingestehen – er hatte Schiss. Aber hatte er eine Wahl? Nein. Wenn sie dieses Foto von jemand anderem als ihm gezeigt bekam, hatte er keine Chance. Er betrachtete sie, wie sie konzentriert auf ihren Bildschirm starrte. Er liebte einfach alles an ihr. Die dunklen, vollen Haare, die sich bei feuchtem Wetter kringelten – worüber Charlotte sich unbegreiflicherweise immer schrecklich aufregte –, ihre klaren blauen Augen, denen kein Detail entging. Ein paar kleine Falten um die Augen bemerkte er heute zum ersten Mal. Lachfalten. Ja, er wollte unbedingt mit ihr alt werden. Eine gescheiterte Ehe reichte ihm.
»Was starrst du mich so an?«, fragte Charlotte plötzlich. »Gefällt dir etwa nicht, was du siehst?«
Oh doch, dachte er, schwieg aber. Sie sah ihn misstrauisch an.
Endlich fasste er sich ein Herz. »Ich muss dir was zeigen.«
»Ah ja?«
Er kramte sein Handy aus der Hosentasche. »Du weißt doch noch, dass ich gestern Abend eine SMS bekommen habe und noch mal weggefahren bin.«
Charlotte kniff die Augen zusammen. »Jaaa«, sagte sie lauernd.
»Also, die SMS kam von einer jungen Frau, die möglicherweise mit dem Verschwinden von Timon Wegener zu tun hat. Sie hat es sehr dringend gemacht, deswegen bin ich hingefahren.« Er drückte auf seinem Handy herum. »Was ich nicht wusste, war, dass die Dame offenbar mit ein paar zwielichtigen Gestalten unter einer Decke steckt, die mich in eine Falle gelockt haben. Und das«, er legte ihr das Handy hin, »ist dabei rausgekommen.«
Charlotte nahm neugierig das Handy und betrachtete das Bild, auf dem der Mann, den sie liebte, die Brust einer anderen betatschte und sie dabei küsste.
Sie schluckte und sah ihn an.
»Das sieht aber nicht so aus, als würde sie dich vergewaltigen«, sagte sie, um einen ruhigen Ton bemüht.
Er nickte. »Ich weiß, das macht die Sache ja so brenzlig.«
Charlotte lehnte sich zurück. »Was soll ich dazu sagen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Entweder du glaubst mir, dass es ein abgekartetes Spiel war, oder eben nicht.«
»Ja, das ist wohl so.« Sie besah sich erneut das Bild, schob ihm dann das Handy wieder zu und musterte ihn mit gerunzelter Stirn. Sie sagte nichts. Bergheim auch nicht. Ihm fiel nichts mehr ein. Charlotte wandte sich wieder ihrem Bildschirm zu. »Kannst du mich jetzt in Ruhe lassen. Du lenkst mich nur ab, und ich will diesen Bericht auf jeden Fall heute noch abhaken.«
Bergheim fragte sich, ob ihm diese Wortwahl etwas sagen sollte. Er zögerte einen Moment und stand auf. An der Tür drehte er sich noch mal um.
»Ich liebe dich, das weißt du.« Dann verließ er das Büro. Als er vor der Tür stand, wusste er nicht, wohin.
Als die Tür hinter Bergheim ins Schloss gefallen war, schob Charlotte die Tastatur weg. Sie hatte keine Lust mehr zu arbeiten. Was sollte sie davon halten? Aber wenn sie ehrlich war, hatte sie immer Angst davor gehabt. Ein Mann, der aussah wie Rüdiger, konnte eben nicht treu sein. Sie hörte die mahnende Stimme ihrer Mutter. »Kind, denke immer dran: Schöne Männer hat man nicht für sich allein.« Normalerweise lächelte Charlotte über solche Plattitüden, aber jetzt …
Wieso musste ihre Mutter immer recht behalten?
Sie konnte sich unmöglich weiter auf ihren Bericht konzentrieren, hatte aber auch keine Ahnung, was sie jetzt machen sollte. Ihm glauben? Wie gern würde sie das! Aber sie hatte ihre Erfahrungen gemacht, mit Männern, die ihre Hormone nicht unter Kontrolle hatten und ihre Saat unbedingt über eine ganze Herde williger Weiblichkeit verstreuen mussten. Andererseits … Rüdiger hatte schon immer eine unwiderstehliche Wirkung auf Frauen gehabt, und eigentlich … eigentlich hatte sie bisher den Eindruck gehabt, dass ihm diese Schwärmerei eher lästig war und er durchaus so etwas wie ein Gewissen hatte.
Sie fuhr den Computer herunter und stand auf. Sie musste mit irgendwem reden. Miriam. Meine Güte, Miriam hatte sie seit dem Leichenfund im Georgengarten völlig vergessen. Aber die hatte bestimmt weder Lust noch Zeit, sich mit dem Liebeskummer ihrer Freundin herumzuschlagen. Sie hatte ein ewig krankes, schreiendes Kleinkind zu Hause und würde bestimmt wieder einschlafen, wenn sie sich mal wieder einen Abend freinahm und bei Charlotte eine oder zwei Flaschen Wein köpfte. Ihre Mutter? Vielleicht sollte sie ihre Mutter anrufen. Aber nein, sie verwarf den Gedanken. Erstens war die mit ihrem Vater im Zoo unterwegs, und zweitens würde sie nur die Hände zum Himmel erheben und sagen: »Kind, hab ich’s dir nicht gleich gesagt? Wirklich ein großartiger Mann, aber …«
Dabei mochten sie Rüdiger. Okay, ihr Vater war etwas zögerlich gewesen, als er Rüdiger zum ersten Mal gesehen hatte. Aber Charlotte argwöhnte, dass das Neid war. Ihr Vater sah nämlich aus wie Pierce Brosnan in alt, und wenn dann plötzlich ein anderer Hirsch in seinem Revier auftauchte …
Charlotte fragte sich gerade, ob ihre Mutter mit ihrem Vater auch Erfahrungen in dieser Beziehung hatte. Bestimmt war es so, warum sollte sie sonst ihre Töchter immer vor schönen Männern warnen? Wieso hatte sie sich bisher darüber nie Gedanken gemacht? Weil sie sich zu wenig für ihre Eltern interessierte. Das war einfach eine Tatsache. Sie war viel zu sehr mit sich selbst und ihrem Beruf beschäftigt, um sich mit den Problemen anderer zu belasten.
Plötzlich wurde sie wütend. Wieso fühlte sie sich jetzt schuldig? Sie hatte nichts getan. Und vielleicht hatte ihr Rüdiger auch nichts getan. Immerhin hatte er ihr gleich das Foto gezeigt. Würde ein Fremdgeher das tun?
Nein, das passte doch irgendwie nicht. Fremdgeher waren hinterlistige Heuchler, das wusste sie genau. Charlotte beruhigte sich etwas. Es lag an ihr. Sie war zu misstrauisch. Das musste sie in den Griff kriegen. Aber wie ging das? Es war wie mit den Leuten, die Angst vorm Fliegen haben: Man hat immer die Befürchtung, dass, wenn die Angst nachlässt, die Maschine abstürzt. Oder mit den Steinzeitmenschen. Wenn die zu sorglos durch die Gegend gewildert waren und sich sicher gefühlt hatten, hatte sie auch in null Komma nichts ein Säbelzahntiger – oder was immer damals an Fleischfressern rumlief – am Wickel. Wie konnte man bloß sein evolutionäres Erbe überlisten? War sie naiv, wenn sie ihm vertraute? Riskierte sie eine noch größere Enttäuschung? Sie wusste es nicht, aber schließlich, wer wusste das schon? Wenn man mit Menschen zu tun hatte, musste man eben damit rechnen, enttäuscht zu werden. Aber deswegen nichts mit Menschen zu tun haben zu wollen war als Maßnahme wohl doch etwas überzogen. Das war wie … wie keine Kinder zu kriegen, weil das Leben ihnen zu übel mitspielen könnte.
Charlotte nahm ihre Tasche und verließ das Büro. Sie würde jetzt zu ihrer Freundin fahren und hoffte, dass sie zu Hause war.