8
Gegenwart
Barcelona, Spanien
Sein Telefon hatte die Angewohnheit, immer dann zu klingeln, wenn er sich gerade ein bisschen aufs Ohr legen wollte.
Bei den schrillen Tönen stöhnte Martin Slade auf und warf sich auf den Rücken. Wer auch immer es wagte, ihn zu stören, würde eine Nachricht hinterlassen, wenn es wirklich wichtig war. Ein Mann verdiente es, wenigstens zwei Stunden ohne Unterbrechung die Augen zumachen zu können.
Sein Telefon klingelte sich noch zweimal durch die höchsten Töne hindurch, ehe es verstummte. Mit einem tiefen Seufzer rollte er sich auf die Seite, packte sich das Kissen auf den Kopf und schloss die Augen.
Zwei Sekunden später weckte ihn der durchdringende Klang wieder auf.
»Verdammte Scheiße!« Er warf das Kissen zur Seite und griff nach dem Handy auf dem Nachttisch. »Ich wünschte, eine gewisse Person wäre tot.«
»Eine gewisse Person ist bereits tot.«
Die Erregung wich in einem Sturzbach aus ihm, und an ihre Stelle trat jenes vertraute bumm, bumm, bumm in seiner Brust.
»Kat.«
»Hallo, Marty«, sagte sie sanft. »Tut mir leid, wenn ich dich störe.«
Katherine Meyer.
Er stemmte sich in den Kissen hoch und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Der Bart, den er seit drei Tagen nicht abrasiert hatte, juckte, und er kratzte sich das Kinn in einem aussichtslosen Versuch, an irgendetwas anderes als an Kats engelsgleiches Gesicht und die Tatsache zu denken, dass sie die letzte Person war, von der zu hören er erwartet hätte, und die einzige, mit der er überhaupt sprechen wollte. »Nein, du störst nicht. Ich hab nur gerade versucht, ein bisschen Schlaf nachzuholen, obwohl es verdammt hell hier ist und ich auch schon vor deinem Anruf nicht viel abbekommen habe.«
»Ach ja? Wo bist du denn?«
Scheiße! Vorsicht Fettnäpfchen – Fuß rein. Er zögerte. »Ähm …«
»Schon gut«, sagte sie. »Ich versteh schon.«
Er wusste, dass sie das tat, und es beruhigte ihn. Er lehnte sich zurück an das abgewetzte Kopfende des Hotelbettes, schob seine rechte Hand unter den Körper und dankte Gott für die süße Ablenkung, die Kat ihm bot. Es zählte nicht, aus welchem Grund sie anrief, sondern nur, dass sie es überhaupt tat.
Er dachte nach, wie er sie dazu bringen könnte weiterzureden. Ihre Stimme hatte einen so sanften Schwung, wenn sie seinen Namen sagte. »Ziemlich sonnig heute«, murmelte er. »Viel zu hell in diesem schäbigen Zimmer.«
»Ich bin sicher, es ist besser als Schnee. Im Moment würde ich wirklich fast alles für ein paar Sonnenstrahlen geben.« Er hörte das flüchtige Lächeln heraus und lächelte ebenfalls.
»Eingeschneit, was? Wie viel Zentimeter?« Er wäre jetzt gerne mit ihr zusammen eingeschneit, egal, wo.
»Schon fast dreißig. Und bisher lässt es kaum nach.«
»Wo bist du?«, fragte er. »Es hallt so.«
»Oh, ich bin in einer Art Garage.«
Es war nicht ihre Antwort, die bei ihm die Alarmglocken schrillen ließ, sondern die Sorge, die er plötzlich in ihrer Stimme hörte.
Und jetzt dämmerte es ihm. Es musste sechs Monate her sein, seit er das letzte Mal von ihr gehört hatte. Sechs sehr lange Monate. Kurz vor diesem letzten Anruf von ihr hatte er noch überlegt, selbst nach Upstate New York zu fahren, um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging. Was, wie er wusste, unmöglich war.
»Kat, ist alles in Ordnung?«
»Ich …«
Ihr leichtes Zögern war alles, was er brauchte, um zu wissen, dass sie in Schwierigkeiten steckte. »Es ist also etwas passiert. Was ist los?«
»Ich … ich bin ein bisschen in die Klemme geraten heute Abend. In New York.«
Seine Nerven spannten sich immer mehr an, während sie kurz die Ereignisse im Auktionshaus und die Überlandfahrt durch Pennsylvania mitten in einem gewaltigen Blizzard schilderte. Er erfuhr, warum sie gerade jetzt aus ihrem Versteck gekommen war und ihr Leben riskiert hatte. Und wusste, noch bevor sie es sagte, wen sie im Schlepptau hatte.
Eine Salve von Flüchen schoss ihm durch den Kopf, doch er verkniff sie sich.
Nichts davon hätte ihn eigentlich überraschen sollen, aber aus irgendeinem törichten Grund tat es das doch. Sie hatte keineswegs vor, ihn um eine zweite Chance zu bitten, nachdem er derjenige gewesen war, der vor langer Zeit in Ägypten mit ihr Schluss gemacht hatte. Nicht, da sie sich kurz darauf in Peter Kauffman verliebt hatte. Und schon gar nicht jetzt, da sie offiziell tot und ihr guter, alter Freund Marty Slade der skrupellose CIA-Mitarbeiter war, der dafür gesorgt hatte.
Verflucht! Egal, wie er es drehte, er war der Dumme.
Sein Instinkt sagte ihm, dass sie schon so gut wie tot war. Keine Chance, dass er sie beschützen konnte, doch tief in seinem Inneren hatte er das Gefühl, dass er ihr etwas schuldig war für die Art und Weise, wie er sie behandelt hatte, als sie zusammen gewesen waren.
Aber zu wissen, dass sie in diesem Moment bei Kauffman war! Ja, das ließ einen seltsamen Beschützerdrang in ihm aufwallen. Und war eine weitere Bestätigung dafür, dass er den Tag definitiv in die Tonne treten konnte.
»Ich kann nicht zu dir, Kat. Ich bin zu weit weg.«
»Ich weiß. Ich … ich hab’s vermasselt. Ich wusste einfach nicht, was ich sonst tun sollte.«
Okay, denk nach! Das Blatt hatte sich gewendet, dadurch dass sie aus der Versenkung gekommen war. Sie war aufgeflogen. Daran konnte er jetzt nichts mehr ändern. Aber er würde ihr helfen, wo er nur konnte. Wenigstens so viel schuldete er ihr. Berichte, die er in den letzten paar Tagen gelesen hatte, bestätigten, dass Minyawi sich in Bewegung gesetzt hatte, was bedeutete – wie ihm jetzt klar wurde –, dass die Nachricht ihres Auftauchens bereits nach Ägypten vorgedrungen war.
Konnte er sie beschützen und diese gottverdammte Operation endlich abschließen? Falls ja, würde er selbst einen schweren Schlag einstecken müssen. Die CIA würde hart mit ihm ins Gericht gehen für das, was er vor sechs Jahren gemacht hatte. Und wahrscheinlich würde Kat auch ernsthafte Schwierigkeiten bekommen. Aber dass sie am Leben blieb, war zu diesem Zeitpunkt wichtiger als alles, was danach kommen würde.
Seine Gedanken preschten voraus, und er befreite sich von der Decke, stand auf und griff nach seinem zugriffssicheren PDA, der auf einer Kommode am anderen Ende des Raums lag. Sie hatte die Schleusen in dieser Sache jetzt weit geöffnet. »Okay, ich will, dass du Folgendes machst.« Er klickte sich durch mehrere Fenster, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. »Ich habe einen Kollegen, da, wo immer die Sonne scheint. Kommst du irgendwie nach Philadelphia?«
»Ja, ich denke schon.«
»Der Transporter steht in der Garage. Der Tank müsste voll sein. Und falls nicht: Auf einem der Regale stehen ein paar rote Benzinkanister, genug, um wenigstens bis zur nächsten Tankstelle zu kommen. Ruf diese Nummer an!« Er las einen Namen und eine Telefonnummer vor. »Wenn du in der Nähe der Stadt bist. Erst dann. Hörst du?«
»Ja.«
»Ich werde mit David telefonieren und ihm sagen, was passiert ist. Sag am Telefon nicht seinen Namen, sondern nur, dass du eine Freundin von mir bist.« Er machte eine Pause, blickte aus dem Fenster, einem Radfahrer hinterher, der mitten auf der Straße dahinraste, und wusste, dass er mit dem nächsten Schritt seine Karriere die Toilette hinunterspülen würde. »Kat, du weißt, dass du dich stellen musst, nicht? Wir werden dich in Schutzhaft nehmen. Und das Ganze könnte Folgen für dich haben.«
»Ich weiß.«
»Diesmal ist es etwas anderes«, sagte er, als er das Beben in ihrer Stimme hörte. »Du bist in den Staaten, wir können die Sache zu einem Abschluss bringen. Wir können dich beschützen.«
»Wie Shannon?«
Sein Magen krampfte sich zusammen. »Du weißt, das war –«
»Ich weiß«, sagte sie rasch. »Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen. Ich mache dir keinen Vorwurf, Marty. Ich weiß, es gibt keine Garantie, und ihr habt für sie getan, was ihr konntet. »Es ist nur –« Sie zögerte, atmete zitternd ein. »Es geht nicht nur um mich.«
Zähneknirschend dachte Marty zum ersten Mal darüber nach, ihr alles zu sagen, was er über Kauffman wusste. Auch das ganze wirklich hässliche Zeug, nicht bloß die Gerüchte. Aber er konnte es nicht. Weil er Kauffman damit nicht schadete. Er würde lediglich ihr damit wehtun.
Er hoffte nur, dass dieser Scheißkerl wusste, wie glücklich er sich schätzen konnte, dass sie wieder in sein Leben getreten war.
»Wir werden unser Bestes tun, Kat. Fahr einfach nur nach Philadelphia. Sobald das Wetter umschlägt. Warte nicht zu lange.«
»Ja, gut. Danke, Marty! Ich bin dir so einiges schuldig. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde, ich …«
Nicht ganz die Antwort, die er sich gewünscht hätte, aber die beste, die er bekommen würde. »Ja, schon gut, wenn das alles vorbei ist, kannst du mir ein Bier ausgeben. Oder einen Kasten. Dann sind wir quitt.«
»Danke«, flüsterte sie.
»Kein Problem. Mach’s gut, Kat. Und …«
»Ja?«
»Pass auf dich auf!«
»Das werde ich.«
Die Verbindung wurde abgebrochen. Er stand mitten in seinem heruntergekommenen Hotelzimmer, nur mit Boxershorts bekleidet, noch lange nachdem er aufgelegt hatte, und presste sich das Handy an die Stirn, während sich sein Magen wie ein Klumpen anfühlte.
Pass auf dich auf, Kat!
Er hoffte inständig, dass ihr nichts passieren würde. Aber er hatte das dumpfe Gefühl, dass alles noch eine ganze Ecke schlimmer werden würde, bevor es wieder bergauf ging.
Er nahm das Telefon und wählte wieder.