18

Sechs Jahre früher

Kairo

Kat wartete auf ihn, als er am Cairo International Airport den Sicherheitsbereich verließ. Sie stand inmitten einer Traube von Menschen und sah in ihrer Jeans und der ärmellosen Bluse so verdammt umwerfend aus, dass sich sein Herz fast überschlug. Es war das allererste Mal, dass sie ihn am Flughafen abholte.

Allerdings war es auch das erste Mal, dass er ihr seine Ankunftszeit mitgeteilt hatte

Beim Näherkommen sah er nur sie, und in dem Moment, als ihre Augen durch die Menge hindurch die seinen fanden, loderte die Glut, die vom ersten Tag an zwischen ihnen gelodert hatte, brennend heiß und hell auf.

»Hi.« Als er bei ihr war, erhob sie sich langsam auf die Zehenspitzen, schlang ihm die Arme um den Hals, während er sie an sich zog.

»Auch hi«, brachte er hervor. Sie fühlte sich so richtig gut an. Roch himmlisch. Die furchtbare Szene in ihrer Wohnung war zwei Wochen her. Als er an diesem Tag von Kairo nach Bangkok geflogen war, schien er das Gewicht der ganzen Welt auf den Schultern zu tragen, und noch ehe er in Thailand landete, wusste er, was er tun würde. Vielleicht hatte er es schon seit ihrer ersten Nacht im Mena House gewusst.

Die Präsenz des antiken Rings seiner Mutter in der Hosen­tasche war ihm nur zu sehr bewusst, und es juckte ihn in den Fingern, ihn ihr zu geben, doch das war nicht der richtige Zeitpunkt. Vorher gab es für sie beide noch tausend Dinge zu erledigen. Und vor allem war es an der Zeit, seine Karten auf den Tisch zu legen.

Sie löste sich von ihm, und in ihren moccafarbenen Augen sah er Erleichterung und eine große Portion Unsicherheit, die ihm die Kehle zuschnürte. »Wie war dein Flug?«

»Lang.«

»Du siehst müde aus. Warst du in Europa?«

»Nein. In Miami.«

Sie verflocht ihre Finger mit seinen, während sie das Terminal durchquerten. »Wie lange bleibst du?«

»Zwei Wochen.«

Es gab einen Ruck an seinem Arm, als sie plötzlich stehen blieb. Er sah sie fragend an. Verwirrt zogen sich ihre Brauen zusammen. »Wie lange, hast du gesagt?«

»Zwei Wochen«, wiederholte er.

»Und was ist mit –«

Er wusste, was sie dachte. Er blieb kaum je eine Woche am Stück, wenn er sie besuchte, und jedes Mal, wenn er eine Nachricht von einem Verkäufer oder Käufer erhielt, dass ein Geschäft zu machen war, brach er Hals über Kopf auf. Das würde sich jetzt ändern, aber das wusste sie noch nicht. Er hatte sich in den letzten sechs Monaten den Hintern aufgerissen, um seine Galerie zu dem zu machen, was sie heute war, und er hatte nicht vor, alles, was er aufgebaut hatte, auf den Kopf zu hauen, wenn es bedeutete, dass sie nicht da sein würde, um es mit ihm zu genießen. Dass er so lange hier war, mochte ihn ein paar Wochen zurückwerfen, doch er würde einen ganzen Monat bleiben, wenn es nötig war, um wieder zu kitten, was zwischen ihnen zerbrochen war.

»Ich habe mir die zwei Wochen freigeschaufelt, Kat. Keine Geschäftstermine. Ich habe nicht einmal meinen BlackBerry dabei.« Sie sah so wahnsinnig süß aus mit den zusammengezogenen Augenbrauen und dieser kleinen Falte auf der Stirn, dass er sein Gesicht dem ihren näherte. »Ich weiß, dass du arbeiten musst, aber ich habe zwei ganze Wochen frei und will sie mit dir verbringen. So weit es geht. Das heißt, falls du mich so lange aushältst.«

Sie starrte ihn an, als sei ihm ein zweiter Kopf gewachsen, und als er ganz sicher war, dass sie ihn gleich fragen würde, was er auf dem Flug getrunken habe, warf sie sich ihm um den Hals und küsste ihn. »Ja. Oh ja! Ich habe sogar selbst noch ein paar freie Tage gut. Keine zwei vollen Wochen, aber –«

Gott, danke!

Seine Arme schlossen sich um sie. »Das macht nichts. Ich nehme, was immer du mir geben magst.«

Sie lachte an seinem Hals. Ein warmer, erleichterter, liebevoller Laut, der ein Kribbeln bis in seine Fußspitzen jagte und ihm sagte, dass sie wieder gut miteinander waren. So war es richtig. Sie hatten es geschafft. »Oh Pete! Zwei ganze Wochen. Ich kann es nicht fassen. Ich habe dich so sehr vermisst.«

Er drückte sie fest an sich, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und atmete ihren süßen Jasminduft ein, während die Leute eilig an ihnen vorbeiströmten.

Und er wusste, dass sie ihn nicht annähernd so sehr vermisst haben konnte wie er sie.

Camden, New Jersey

Gegenwart

Kat starrte auf das Bett, das mitten im Zimmer stand – das einzige Bett in dem heruntergekommenen Motelzimmer für neunundvierzig Dollar die Nacht –, und ihr Herz machte einen Satz. Vom Badezimmer her hörte sie die Dusche rauschen und wusste, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für den nächsten Schritt gekommen war. Wenn sie ihn machen wollte.

Also, warum waren ihre Füße wie auf den Boden zementiert? Wie kam es, dass sie ihre Augen nicht von dieser verfluchten Matratze losreißen konnte?

Idiotin.

Das unkontrollierte bumm, bumm, bumm ihres Herzschlags hallte in ihren Ohren wider wie das Röhren einer abhebenden 747. Ohne ein Wort zu verlieren, hatte Pete mit einem Bündel Geldscheine für das Zimmer bezahlt, sie hineingeschoben und dann verkündet, dass er unbedingt kurz unter die Dusche müsse. Und seit er hinter der Badezimmertür verschwunden war, hatte sie die Laken vor sich angestarrt und an die Hunderte von Malen gedacht, die sie nebeneinandergelegen hatten bis zum Schluss. Damals war es richtig gewesen. Und jetzt? Jetzt wusste sie nicht einmal, was überhaupt los war.

Wann hatten sich seine Absichten ihr gegenüber geändert? Klar, im Striplokal war er scharf geworden, aber das war nicht ihr Verdienst gewesen. Das hatte an Miss Blond-mit-dicken-Titten gelegen. Der Mann hatte bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, mehr als deutlich gezeigt, dass er sie nicht mehr ertrug. Also, was sollte das hier werden? Ein Mitleidsfick? Eine Möglichkeit, Spannung abzubauen? Oder war es einfach seine Art, ihr mitzuteilen, dass er nun das Sagen hatte und sie gut daran tat, sich zu fügen und auf ihn zu hören?

Bei dem Gedanken, von ihm dominiert zu werden, schoss ihr Puls von Neuem ins Unermessliche. Ans Bett gefesselt auf dem Rücken. Auf allen vieren, wenn er sie von hinten nahm. Es spielte eigentlich keine Rolle, wie oder wo, es lief immer auf dasselbe hinaus.

Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Okay, jetzt konnte sie sich offiziell für krank erklären lassen. Denn, obwohl sie wusste, dass das hier – was immer er auch in diesem einen, einzigen Bett mit ihr vorhatte – kaum eine alte Romanze wieder entfachen oder gar eine Versöhnung herbeiführen würde, wusste sie auch, dass sie nicht Nein zu ihm sagen würde.

Sie schloss die Augen, atmete mehrmals tief durch und sagte sich, dass sie jetzt gleich aufbrechen sollte, anstatt zu warten, bis er eingeschlafen war. Peter Kauffman hatte etwas an sich, das ihre Knie schwach werden, sie die einfachste Logik infrage stellen und jede ihrer Regeln brechen ließ. Es war ihm vor Jahren in Kairo gelungen. Und jetzt würde es ihm wieder gelingen.

Das Wasser hatte aufgehört zu rauschen, und ein knisterndes Geräusch folgte, als würde der Duschvorhang zur Seite gezogen.

Kat erstarrte, und ihr wurde bewusst, dass sie die letzten zehn Minuten an ein und demselben Fleck gestanden hatte. Sie legte die Hände an ihre Wangen, spürte, wie sie glühten, und wusste, dass Pete es sehen würde, sobald er aus dem Badezimmer trat.

Bitte, mach, dass er nicht nackt aus diesem Bad kommt!

Ehe sie sich rühren konnte, wurde die Tür geöffnet, und eine Woge aus Hitze und Dampf eilte ihm voran, als er das Schlafzimmer betrat. Sie atmete tief ein, inhalierte den Duft von Ivory-Seife und süßer, nasser Männerhaut und riskierte einen Blick in seine Richtung. Und bereute es sofort.

Seine Brust war nackt. Das Licht von der Nachttischlampe glänzte auf seinen harten, festen Bauchmuskeln. Ihre Augen wanderten tiefer hinab zu seinem Bauchnabel und der dünnen Linie, die immer schmaler und dunkler wurde und wie ein blinkender Pfeil nach unten zeigte, bis sie schließlich unter dem Bund derselben tief geschnittenen, abgetragenen Jeans verschwand, die er zuvor angehabt hatte. Als ihr erneut die Hitze in die Wangen stieg, senkte sie den Blick und bemerkte seine nackten Füße, die unter den ausgefransten Hosenaufschlägen hervorlugten.

Oh, Gott, selbst seine Zehen waren hinreißend.

Nicht gut. Gar. Nicht. Gut.

Er rubbelte sich mit einem Handtuch über das nasse Haar und dann den Nacken hinunter. »Die Dusche gehört dir. Ich habe mein T-Shirt ausgewaschen und es zum Trocknen über die Handtuchstange gehängt. Bis wir morgen ein Einkaufszentrum oder so etwas aufsuchen können, müssen wir uns wohl fügen.«

Kats Augen schnellten wieder zu seiner nackten Brust zurück. Uns fügen? Oh Mann. Sie wagte nicht zu fragen, was er damit meinte.

Er neigte den Kopf und sah sie mit einem fragenden Blick an. »Hast du irgendetwas auf dem Herzen?«

Kat schüttelte leicht den Kopf. Und bemühte sich, nicht wieder rot zu werden. Vergeblich. Sie konnte förmlich spüren, wie das Blut in ihre Wangen schoss. »Was? Nein. Alles in Ordnung. Ich bin gleich wieder da.«

Dankbar, ihm wenigstens für eine Weile entkommen zu können, achtete sie darauf, einen weiten Bogen um ihn zu machen, und schlüpfte ins Bad. Sie fluchte leise, als sie feststellte, dass die Tür nicht abschließbar war und er sie jeden Moment überraschen konnte, kam aber zu dem Schluss, dass er das wahrscheinlich nicht tun würde. Nein, er wollte sie schwitzen lassen, und genau das tat sie ja auch, nicht wahr? Was auch immer er da draußen vorhatte. In diesem anderen Raum. In dem sehr, sehr schmalen Bett.

Sie stöhnte, stützte sich mit den Händen auf dem Waschbecken ab und ließ den Kopf nach vorn fallen. Eine Reihe tiefer Atemzüge half ihr, die Schmetterlinge in ihrem Bauch zu beruhigen, und als sie aufblickte, sah sie nichts als einen beschlagenen Spiegel und ein verschwommenes Bild.

Es war auch besser, dass sie ihr schamloses Spiegelbild nicht sah. Es würde nur noch bestätigen, was sie ohnehin schon wusste. Sie war gefährlich nah dran, ihn zu bespringen.

Aber das würde nicht passieren. Mit einem Kopfschütteln straffte sie die Schultern und hievte den Rucksack auf den Rand des Waschbeckens. Sie öffnete ihn, griff hinein und zog ihre Beretta heraus. Das Metall in ihrer Hand fühlte sich kalt an, fest und vertraut. Aus Gewohnheit prüfte sie das Magazin, setzte es wieder ein und vergewisserte sich, dass die Waffe gesichert war. Sie war bereit, sie zu benutzen, wenn es sein musste, obwohl sie tief in ihrem Inneren aufrichtig hoffte, dass es nie dazu kommen würde.

Verrückt, dachte sie, als sie den Kopf senkte und die Pistole in ihrer Hand betrachtete. Die ganze Zeit, während sie und Pete auf der Flucht gewesen waren, hatte sie nicht einmal Gelegenheit gehabt, ihre Waffe zu ziehen. Oder vielleicht hatte sie einfach nicht daran gedacht, es zu tun. Eine Waffe, die in die Nachttischschublade neben ihrem Bett zu legen sie nicht ein Mal in all den Jahren vergessen hatte. Eine Waffe, ohne die sie nirgendwohin ging.

Sie kannte den Grund sehr gut und ärgerte sich auf der Stelle darüber. Weil sie sich, sooft sie auch seine Moral infrage gestellt hatte, bei Pete immer noch sicherer fühlte als ohne ihn.

Die Gefühle, die dieser Gedanke in ihr auslöste, ließen sie aufseufzen. Sie ließ die Pistole in ihren Rucksack zurückgleiten. Ihre Finger streiften einen Stoffbeutel, und sie zog den Halsschmuck heraus, den sie auf seiner Auktion gestohlen hatte.

Einen Moment lang dachte sie darüber nach, ob sie ihn öffnen sollte, überlegte es sich dann aber anders. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Ebenso wenig wie vorhin auf der Toilette jenes heruntergekommenen Diners. Wenn sie allein war und ohne dieses sexgeladene Hirnchaos wieder denken konnte, würde sie sich die Zeit nehmen und sich ansehen, was sie darin versteckt hatte.

Die Dusche trug wenig dazu bei, ihre Nerven zu beruhigen, und als sie wieder herauskam und sich abtrocknete, schreckte sie vor dem Gedanken zurück, ihre dreckigen Klamotten wieder anziehen zu müssen. Doch sie würde nicht nackt dort hinausgehen, und sie hatte in New York leider nicht daran gedacht, Sachen zum Wechseln in den Rucksack zu packen.

Der BH war ein Muss, der zwei Tage alte Slip jedoch nicht. Sie warf ihn weg und zog die Jeans an.

Noch ein tiefer Atemzug, und sie wusste, dass sie so viel Zeit im Bad verbracht hatte, wie sie konnte. Kat nahm ihren Rucksack und öffnete die Badezimmertür. Die Nachttischlampe war aus, ein leises Brummen vom Heizkörper unter dem Fenster erfüllte den Raum. In dem Licht, das aus dem Badezimmer fiel, konnte sie Pete auf dem Bett liegen sehen, Decken und Laken bis zum Fußende hinuntergezogen, den Kopf auf den Arm gebettet, blickte er zur Tür.

Ein Bett. Ein Bett. Er hatte ein Zimmer mit einem einzigen Bett genommen.

»Kommst du jetzt, oder was?«, fragte er mit einer vollen, sexy Stimme, die die Hitze durch ihren Körper strömen ließ.

Oh Mann! Was für eine Frage. Die man auf so unterschiedliche Weise verstehen konnte.

Benutz dein Gehirn, Kat! Du weißt schon, dieses Ding zwischen deinen Ohren.

Aber sie rührte sich immer noch nicht. Atmete nur tief und schwer und war sicher, dass er jeden Atemzug hören konnte.

Langsam setzte er sich auf und ließ die Beine über die Bettkante hängen. »Ich weiß, es ist nicht das Ritz, aber meine Bar­reserven neigen sich dem Ende zu, und bis ich sie auffüllen kann, wollte ich nicht riskieren, meine Kreditkarte zu benutzen. Du wirst es für eine Nacht ertragen können.«

Kat machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber es kam nichts heraus.

Ehe sie ihren Mund wieder in Gang bringen konnte, entspannte sich Petes Gesichtsausdruck. »Sie hatten kein Zimmer mit zwei Betten, und ich wollte dich nicht allein schlafen lassen. Zumindest nicht, bis wir wissen, dass Minyawi außer Landes ist.«

Sie hätte eigentlich erleichtert sein sollen. Stattdessen war sie immer noch so überreizt, dass sie nicht wusste, was sie denken sollte. Er wollte also gar nicht mit ihr schlafen? Diese Erkenntnis war fast noch schwerer zu ertragen, als die Vermutung, dass er etwas im Schilde führte.

»Leg dich hin, Kat«, sagte er mit harter Stimme. »Du wirst mir morgen nicht von Nutzen sein, wenn du dich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten kannst. Wir sind beide müde. Wir müssen schlafen, solange wir können.«

Ihre Augen glitten von der Matratze zu ihm. Und sie wusste, sie saß in der Falle. Als er sich wieder ins Kissen sinken ließ und die nackten Füße an den Knöcheln übereinanderlegte, knipste sie das Licht im Bad aus und ging um das Bett herum zum anderen Ende.

Okay. Sie konnte das schaffen. Hier neben ihm zu liegen, ohne daran zu denken, ihn zu berühren oder zu küssen oder wilden, hemmungslosen Sex mit ihm zu haben. Schließlich war sie zäh. Das hatte sie in den letzten sechs Jahren bewiesen, oder etwa nicht?

Ihr Rucksack plumpste mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden, als sie sich mit dem Rücken zu ihm auf die Bettkante setzte. Die Matratze war hart, und Kat federte ein bisschen, um zu testen, ob sie nachgab. Ohne Erfolg.

Vorsichtig legte sie den Kopf aufs Kissen, schön auf ihrer Seite des Bettes und so weit wie möglich von Petes Beinahe-Nacktheit entfernt. Sie lag unbeweglich da, horchte auf seinen Atem und wartete darauf, dass er tiefer würde und darauf schließen ließ, dass er eingeschlafen war.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit. Während sie wartete, verschränkte sie lautlos die Arme über der Brust, ließ sie neben den Körper sinken, faltete die Hände über dem Bauch. Ihr war heiß. Es war so verflucht warm im Zimmer, und es kribbelte auf ihrer Haut. Sie sah zu dem Heizkörper hinüber und überlegte sich, ob sie aufstehen und ihn abdrehen sollte.

Nein, sie würde sich damit abfinden. Wenn er dabei war einzudösen, wollte sie nichts tun, um ihn wieder aufzuwecken.

Sie atmete tief aus und kreuzte die Füße. Legte sie wieder nebeneinander. Ihre Haut begann zu jucken, und sie kratzte sich an den Armen. Dann an der Seite. An den Oberschenkeln. Sie dachte über die Matratze nach, auf der sie lagen. Das heruntergekommene Motel. Wie viele Leute schon in diesem Zimmer geschlafen hatten. Was auf der Matratze so alles kreuchen und fleuchen mochte.

Verdammt! So funktionierte das nicht.

Ehe sie sich daran hindern konnte, sprang sie auf, griff nach dem Umschlag des Spannbettlakens und zog ihn von der Ecke der Matratze ab.

Pete stützte sich auf die Ellenbogen und sah unglaublich gereizt aus. »Was treibst du da?«

»Nichts. Nur «

Die Matratze war sauber. Sie sah sich die Ränder an. Die Falten. Zog das Laken so weit zurück, dass sie unter die Stelle sehen konnte, wo ihr Kissen lag.

»Kat?«

Nichts.

Sie stopfte das Laken wieder zurück. »Ich hab mal bei 60 Minutes einen Bericht über Bettwanzen in Motels gesehen.« Sie griff nach dem klapprigen Kopfteil aus Holzimitat. »Meistens sammeln sie sich hinter dem –«

Sie zog das Kopfteil von der Wand weg und rechnete fast damit, dass es dort vor Krabbeltierchen nur so wimmelte, aber da war nichts.

»Kat, leg dich wieder hin.«

Sie starrte noch eine Weile auf das Kopfende. Biss sich auf die Lippe. Hatte Lust, selbst aus ihrer Haut herauszukrabbeln.

Gott, war das furchtbar!

»Kat.« Er setzte sich auf. Und ließ seine Stimme so sanft klingen, dass sie sie dazu brachte, ihn anzusehen. »Komm wieder ins Bett. Nichts hier wird dich beißen. Nicht mal ich. Versprochen.«

Verdammt. Er wusste, worüber sie sich Gedanken machte. Und sie war blöd genug, sich davon verrückt machen zu lassen.

Dankbar, dass er ihre roten Wangen nicht sehen konnte, legte sie sich wieder hin und wusste, dass sie unmöglich würde schlafen können.

Sie schloss fest die Augen. Öffnete sie wieder. Biss sich fest auf die Lippe, damit sie nicht seufzen konnte, und starrte die Decke an.

»Die Schuhe ausziehen könnte helfen«, sagte er ins Dunkel hinein.

Ach ja. Als wäre die Schuhe noch anzuhaben, nicht ein verräterisches Zeichen dafür, dass sie vorhatte zu türmen.

Kat schlüpfte aus ihren Schuhen und setzte sich auf, um sie neben ihren Rucksack auf den Boden zu stellen. Sie legte sich wieder hin. Wartete. Drehte sich auf die Seite. Auf den Bauch. Rollte sich, so leise sie konnte, wieder zurück.

Oh Mann! Es klappte einfach nicht.

Die Bettwäsche raschelte, als Pete sich auf seiner Betthälfte bewegte. Dann spürte sie, wie er näher an sie heranrückte. Ein Adrenalinstoß ließ sie augenblicklich erstarren.

»Heb den Kopf!«

Sie tat es, ohne zu wissen, was er vorhatte, und alle möglichen Gedanken kamen ihr in den Sinn. Gab er ihr sein Kissen? Nahm er ihr ihres weg? Schubste er sie aus dem Bett, weil sie sich die ganze Zeit hin und her drehte wie ein Handmixer?

Dann spürte sie, wie sich seine Hand unter ihren Nacken schob und er sie dicht an sich zog, sodass sie plötzlich eng geschmiegt an seiner Seite lag.

Er fühlte sich warm und fest an ihrer Haut an und auch schützend und unheimlich tröstlich. Und als er sie noch etwas näher an sich zog, sodass ihr Kopf auf seiner Brust ruhte, wehrte sie sich nicht dagegen. Stattdessen stieß sie einen zufriedenen Seufzer aus und spürte endlich, wie ihr Körper sich zu entspannen begann.

Es war auf so vielen verschiedenen Ebenen falsch, aber, oh, es fühlte sich so richtig an.

Seine Hand strich in einer zarten, kaum vorhandenen Liebkosung über ihr Haar. »Mach die Augen zu. Du brauchst Schlaf.«

Sie war urplötzlich so müde wie seit Jahren nicht mehr, und das Gewicht jeder ihrer Entscheidungen schien schwer auf ihren Schultern zu lasten. Sie riskierte einen Blick auf sein Gesicht, und in dem schwachen Licht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen drang, sah sie, dass seine Augen geschlossen waren. Dennoch streichelte er weiter ihr Haar und ihren Hals, um dann sanft und zärtlich über ihren Arm zu streichen, mit einer Geste, die so sehr im Gegensatz zu der Art stand, wie er sie in den letzten paar Stunden behandelt hatte, dass es sie zutiefst verwirrte. Noch weit mehr als die Vorstellung, dass er sie mit Sex bestrafen wolle.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. »Warum bist du so nett zu mir?«

»Vorübergehende Fehleinschätzung«, murmelte er.

Es lag Humor in seiner Stimme, und, kaum zu fassen, es rang ihr ein Lächeln ab.

»Außerdem«, fuhr er fort, »ist mir klar, dass, wenn du keinen Schlaf findest, ich auch keinen finde, und es wäre gar nicht gut, wenn wir morgen früh beide total übernächtigt wären.«

Was er nicht sagte und ein Ziehen in ihrem Herzen verursachte, war, dass sie in Kairo oft so mit ihm eingeschlafen war. Fest und warm an ihn geschmiegt. Meistens hatten sie sich vorher geliebt, aber nicht immer. Wenn sie gestresst oder nervös war wegen ihres Jobs, wenn zwischen ihnen nicht alles so gut lief – in seinen Armen zu liegen, hatte sie immer beruhigt. Und er hatte sich daran erinnert.

Kat blickte auf seine nackte Haut hinunter. Sah zu, wie sich seine Brust beim Atmen hob und senkte. Dachte über die Ereignisse des Tages nach. Für ihn hatte es keinen Grund gegeben, im Park zu ihr zurückzukehren, und doch hatte er es getan. Er hätte gehen können, nachdem sie ihren Verfolger in der Stadt abgeschüttelt hatten, und doch hatte er es nicht getan. Er müsste sie jetzt nicht festhalten, und doch tat er es.

Und dann, wie aus heiterem Himmel, fielen ihr die Blumen wieder ein. Große Sträuße aus Lilien und Rosen und wie Schwerter herausragenden weißen Freesien. Und er.

»Danke«, flüsterte sie.

»Schon gut«, murmelte er mit jener schläfrigen, erotischen Stimme. »Solange du dich nicht mehr herumwälzt, bin ich zufrieden.«

Sie lächelte in die Dunkelheit hinein. »Nein. Nicht dafür. Obwohl, dafür auch.« Sie besann sich. »Ich meinte, danke für die Blumen.«

Seine Hand hörte auf, sich in ihrem Haar zu bewegen, und seine Brust hob und senkte sich noch ein paarmal. Sie wusste, er war dabei einzudösen, aber das war in Ordnung.

»Blumen?«, fragte er mit schwerer Zunge von ganz weit her, als wenn sein Verstand das Gespräch endlich wieder eingeholt hätte und sich noch nicht ganz dem Schlaf hingeben wollte. »Welche Blumen?«

»Die Blumen, die du zur Beerdigung meiner Mutter geschickt hast.«

Schweigen. Dann: »Du warst da?«

Es versetzte ihr einen Stich der Reue, und sie schloss die Augen. Ihre Adoptivmutter war über dreißig Jahre lang Krankenschwester und kerngesund gewesen. Kat hätte nie geglaubt, dass jemand, der so stark war wie Jane Meyer, etwas so banalem wie einem Herzinfarkt zum Opfer fallen könnte. Vor allem so plötzlich.

Sie hätte an dem Tag, als ihre Mutter zusammenbrach, bei ihr sein sollen, anstatt sich wie eine verängstigte Ratte im Hinterland von New York zu verkriechen. Vielleicht hätte sie Jane rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht. Vielleicht hätten die Ärzte sie wiederbeleben können. Vielleicht wäre sie jetzt noch am Leben.

Tränen traten Kat in die Augen, doch sie kämpfte sie nieder. Reuegefühle. Ja. Die hatte sie. Und zwar so viele, dass sie für den Rest ihres Lebens und noch ein bisschen weiter reichten.

»Nein. Nicht beim Gottesdienst«, brachte sie hervor. »Aber ich war vorher da. Im Bestattungsinstitut, als niemand da war. Dort habe ich sie gesehen. Sie waren wundervoll.«

Schweigen hing wie eine Barriere aus Stahl zwischen ihnen, und dann sagte er sanft: »Ich habe dich nicht gesehen.«

Ihr Herz pochte. Er war da gewesen?

»Es war ein schöner Gottesdienst. Er er hätte dir gefallen.«

Kat schnürte es die Brust zusammen, und in ihrem Hals bildete sich ein Kloß. Sie wusste nicht, was sie in dieser Stille sagen sollte. Und sie war dankbar, als er weiterredete und sie gar nichts zu sagen brauchte.

»Es waren viele Menschen da. Es gab nur Stehplätze. Deine Mutter hatte viele Freunde. Ich glaube, das komplette Krankenhauspersonal war da. Ein großer, grauhaariger Kerl – Dr. Carter? – sprach über das erste Mal, als sie dich auf eine Schicht mitgenommen hat. Eine schlaksige, rotznäsige Zehnjährige, so hatte er dich in Erinnerung. Er war sicher, dass sie einen großen Fehler machte, ein Kind zu adoptieren, das schon in so vielen Pflegefamilien und zwischendurch immer wieder im Waisenhaus gewesen war. Und als sie dich die ganze Nacht mit einem Geschichtsbuch zum Lesen im Schwesternzimmer sitzen ließ, sagte er zu ihr, das sei eine grausame und ungewöhnliche Strafe, selbst für sie, und dass du dich zur schlimmsten Göre überhaupt entwickeln würdest.«

Kat hörte zu und lächelte. Erinnerte sich zurück. Damals hatte sie das selbst für eine grausame und ungewöhnliche Strafe gehalten. Sie hatte lange gebraucht, um Jane zu vertrauen, und sie wusste heute, dass die Probleme, die sie als Erwachsene mit dem Vertrauen hatte, aus ihrer frühesten Kindheit herrührten, doch als sie ihrer neuen Mutter endlich ihr Herz geöffnet hatte, hatte sie die Familie gefunden, von der sie immer geträumt hatte.

»Addie Walker erzählte, dass Jane kein Geld für einen Babysitter hatte und hoffte, dass du anfangen würdest, dich für Medizin zu interessieren, wenn sie dich Abend für Abend mit ins Krankenhaus nahm. Sie wollte, dass du Ärztin wirst. Aber zu dieser Zeit warst du zu sehr auf Geschichte fixiert und hast dich mehr für die Toten als für die Lebenden interessiert. Und als du zur Promotion zugelassen wurdest, rannte sie zu Dr. Carter und wedelte mit deinem Annahmeschreiben vor seinem Gesicht herum. Und sagte ihm, dass das schlaksige, nervige Meyer-Mädchen doch noch Doktorin werden würde.«

Eine Welle grenzenloser Liebe durchströmte Kat, während sie zuhörte. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter es diesem verschrobenen alten Arzt gezeigt hatte, und es drückte ihr fast das Herz ab. Ihre Mutter war ihre größte Fürsprecherin gewesen. Wann immer Kat der Meinung gewesen war, etwas nicht zu können, hatte Jane Meyer ihr den Kopf zurechtgerückt. Du bist intelligent. Und du bist findig. Es spielt keine Rolle, wo du herkommst. Du wirst deinen Weg machen.

Und das hatte sie. Zumindest größtenteils.

»Sie haben viele Geschichten über sie erzählt«, sagte Pete ins Dunkel hinein. »Und über dich. Es war seltsam, dort zu sein. Ein bisschen wie der Gedenkgottesdienst, den sie für dich halten ließ, nachdem «

Kat versetzte es von Neuem einen Stich ins Herz. Diesmal aus ihrem eigenen Unbehagen heraus. Denn ihn das sagen zu hören, ließ plötzlich alles so real erscheinen. Sie hatte nie darüber nachgedacht, dass Janie Meyer einen Gedenkgottesdienst für ihre einzige Tochter halten lassen würde, aber natürlich hatte sie das getan. Selbst in ihrer Trauer hatte sie eine große Party für alle ihre Freunde gegeben, um das Leben ihrer Tochter zu feiern.

Doch was sie ebenso traf, als sie da neben ihm lag und ihm zuhörte, war, dass er dort auch gewesen war. Er war nicht nur zur Beerdigung ihrer Mutter, sondern auch zu ihrem Gedenkgottesdienst in das zwei Stunden von Spokane entfernte 1257-Seelen-Dorf Points Bluff im Staat Washington gefahren. Selbst nach diesem letzten, furchtbaren Streit in Kairo. Nachdem er aus der Tür gegangen war, ohne sich noch einmal umzublicken.

Er war da gewesen, um ihrer Mutter Trost zu spenden. Einer Frau, der er nie begegnet war und der gegenüber er keinerlei Verpflichtungen hatte.

Die Worte blieben ihr im Hals stecken. »Pete –«

»Ich bin wirklich müde, Kat.« Seine Stimme veränderte sich. Wurde härter. Ging auf Distanz. »Wir haben morgen einen großen Tag, und ich muss schlafen. Und du auch.«

Er hatte recht, aber dass er ihr das Wort abschnitt, tat weh.

Er machte keine Anstalten, sie wieder auf ihre Seite des Bettes zu rollen, und freiwillig wollte sie nicht gehen. Also schloss sie die Augen und atmete tief, inhalierte den Geruch von Seife und frischer Baumwolle und seinen einzigartigen Moschusduft. Um wenigstens noch ein paar Stunden darin zu schwelgen.

Sie musste geschlafen haben, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie viel Zeit vergangen war. Als Pete sein Bein auf der Matratze bewegte, schreckte sie aus dem Schlaf auf.

Verschlafen blickte sie über ihn hinweg auf den Digitalwecker auf dem Nachttisch und konnte förmlich spüren, wie ihr das Herz in die Hosen rutschte: 2:34 Uhr. Wenn sie sich davonmachen wollte, musste sie es jetzt tun.

Sie stemmte sich vorsichtig auf die Ellenbogen hoch und hielt den Atem an, als die Matratze quietschte. Ein rascher Blick bestätigte ihr jedoch, dass Pete immer noch schlief. Seine Augen waren geschlossen, der Mund war leicht geöffnet. Das wenige Licht, das durch den Schlitz zwischen den Vorhängen drang, erhellte sein blondes Haar, das ihm in die Stirn fiel, den Bartschatten an seinem Kinn. Selbst seine langen, an der Wurzel blonden und sich zu den Spitzen hin zu einem warmen Braun verdunkelnden Wimpern. Sie lauschte auf seine ebenmäßigen Atemzüge, sah zu, wie sich seine muskulöse Brust hob und senkte, und spürte, wie ein kleines Stück ihres Herzens brach.

Sie tat das Richtige. Jetzt zu gehen, ehe es zu spät war. Ehe er noch tiefer in dieses Chaos verwickelt wurde. Sie wusste jetzt, dass Busir nur ein angeheuerter Schläger war und dass das hier weitere Kreise gezogen hatte, als sie gedacht hatte, bis hin zum SCA, vielleicht bis zu INTERPOL. Wenn das je ein Ende nehmen sollte, musste sie herausfinden, wer hinter alldem steckte. Was sie gesehen hatte und wie das alles zusammenhing. Sie wusste, wo sie anfangen musste, und sie wusste, dass sie Pete dabei nicht im Schlepptau haben wollte. Nicht, wenn sie nicht aufhören konnte sich zu fragen, wie weit er von Anfang an in die ganze Sache verwickelt gewesen war. Aber wenn sie sich nun in ihm getäuscht hatte?

Er war zu ihrer Mutter gefahren.

Ihr war elend zumute, denn sie musste sich zwischen Herz und Verstand entscheiden. Sie schloss die Augen, um die Tränen niederzukämpfen. Dann öffnete sie sie wieder und starrte auf seine Gesichtszüge. Doch selbst in diesem innerlich tobenden Widerstreit wusste sie tief im Herzen, dass er derjenige war. Ihre große Liebe. Dieses märchenhafte Sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage, das es für sie nie geben würde. Es spielte keine Rolle, was er getan hatte oder wer er gewesen war, bevor sie zusammen gewesen waren, er war alles, was sie sich jemals gewünscht hatte.

Sie hielt die Luft an, als sie sich vorbeugte, um mit ihren Lippen sanft über die seinen zu streifen. Es war nur der Hauch einer Berührung. Nur noch ein einziger letzter Kuss.

Mit feuchten Augen machte sie sich daran, aus dem Bett zu steigen.

Und schnappte nach Luft.