Donnerstag, 10. Mai 2007

Pia stand fröstelnd neben dem Einsatzwagen der Spurensicherung und gähnte, bis ihre Kiefergelenke knackten. Es war kalt und ungemütlich, der Maimorgen dämmerte herauf wie ein Novembertag. Sie hatte gestern Abend erst um halb zwölf das Büro verlassen. Nacheinander trafen auch Behnke, Fachinger und Hasse ein, tranken einen Becher rabenschwarzen Kaffee, den der Einsatzleiter aus Thermoskannen verteilte. Es war Viertel nach sechs, als Bodenstein endlich auftauchte, unrasiert und augenscheinlich übernächtigt. Die Zivilbeamten scharten sich für eine letzte Lagebesprechung um ihn. Alle hatten schon genug Hausdurchsuchungen mitgemacht, um zu wissen, auf was es ankam. Zigaretten wurden ausgetreten, Kaffeereste in die Büsche neben der ARAL-Tankstelle gekippt, an der sie sich getroffen hatten. Pia ließ ihr Auto stehen und stieg bei Bodenstein ein. Er war blass und wirkte angespannt. Im Konvoi fuhren die Beamten hinter Bodensteins BMW die Straße hinunter zu Nowaks Firma.

»Die Empfangsdame aus Ritters Redaktion hat mir gestern Abend noch auf die Mailbox gesprochen«, sagte Bodenstein. »Ich habe es vorhin erst gehört. Ritter hat gestern gegen halb sieben das Büro verlassen, sie musste noch auf einen Kurier warten. Er wurde von einem Mann nach unten begleitet, der ihm ein Päckchen von Frau Ehrmann übergeben sollte. Als sie dann um halb acht aus dem Büro kam, stand Ritters Auto einsam und verlassen auf dem Park platz.«

»Da lang.« Pia wies nach rechts. »Das ist ja seltsam.«

»Allerdings.«

»Wie war es übrigens gestern mit Jutta Kaltensee? Haben Sie noch etwas Interessantes erfahren?« Sie registrierte überrascht, wie sich Bodensteins Kiefermuskulatur anspannte.

»Nein. Nichts Besonderes. Verschwendete Zeit«, erwiderte er wortkarg.

»Sie verheimlichen mir etwas«, stellte Pia fest.

Bodenstein stieß einen Seufzer aus und hielt ein paar Meter von Nowaks Firmengebäude entfernt am Straßenrand an.

»Gott bewahre mich vor dem Tag, an dem Sie mir auf den Fersen sind«, sagte er düster. »Ich habe eine Riesendummheit gemacht. Ich weiß wirklich nicht, wie es dazu kommen konnte, aber auf dem Weg zum Auto hat sie mich plötzlich ... nun ja ... unsittlich berührt.«

»Wie bitte?« Pia starrte ihren Chef ungläubig an, dann lachte sie. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«

»Nein. Das ist die Wahrheit. Ich hatte alle Mühe, ihr zu entkommen.«

»Sie haben es aber doch geschafft, oder nicht?« Bodenstein vermied es, sie anzusehen.

»Nicht wirklich«, gab er zu. Pia überlegte angestrengt, wie sie ihre nächste Frage so diplomatisch wie möglich formulieren konnte, ohne ihrem Chef zu nahe zu treten.

»Haben Sie etwa Ihre DNA an ihr hinterlassen?«, fragte sie deshalb vorsichtig. Bodenstein lachte nicht und antwortete auch nicht sofort.

»Ich fürchte, ja«, erwiderte er und stieg aus.

 

Christina Nowak war schon wieder oder noch immer angezogen, als Bodenstein ihr den Durchsuchungsbeschluss reichte. Sie hatte tiefe Ringe unter den geröteten Augen und sah apathisch zu, wie die Beamten die Wohnung im ersten Stock betraten und mit ihrer Arbeit begannen. Ihre beiden Söhne saßen mit erschrockenen Gesichtern im Schlafanzug in der Küche, der jüngere weinte.

»Haben Sie etwas von meinem Mann gehört?«, fragte sie leise. Pia hatte größte Schwierigkeiten, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Sie war über Bodensteins Geständnis noch immer fassungslos. Als Frau Nowak ihre Frage nun wiederholte, kam Pia zu sich.

»Leider nein«, antwortete sie bedauernd. »Es gab auch noch keinen Hinweis auf unseren Fahndungsaufruf.«

Christina Nowak begann zu schluchzen. Im Treppenhaus wurden Stimmen laut, Nowak senior beschwerte sich lautstark, Marcus Nowaks Bruder polterte schlaftrunken die Treppe hinunter.

»Beruhigen Sie sich. Wir werden Ihren Mann schon finden«, sagte Pia, obwohl sie davon selbst gar nicht überzeugt war. Insgeheim war sie sicher, dass sich Elard Kaltensee eines Mitwissers entledigt hatte. Ihm hatte Nowak vertraut, und in seinem Zustand hätte er sich sowieso nicht wehren können. Höchstwahrscheinlich war er längst tot.

Die Durchsuchung der Wohnung verlief ergebnislos. Christina Nowak schloss den Beamten die Tür zum Büro ihres Mannes auf. Seit Pias letztem Besuch war aufgeräumt worden. Die Aktenordner standen wieder in den Regalen, die Papiere lagen sortiert in Ablagekörben. Ein Beamter zog die Stecker des Computers, andere räumten die Regale aus. Zwischen den Männern tauchte die gedrungene Gestalt der alten Frau Nowak auf. Sie hatte kein Wort des Trostes für die Ehefrau ihres Enkelsohnes, die mit verweintem Gesicht wie versteinert im Türrahmen stand, und wollte das Büro betreten, aber zwei Beamte hinderten sie daran.

»Frau Kirchhoff! «, rief sie zu Pia hinüber. »Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen!«

»Später, Frau Nowak«, erwiderte Pia. »Bitte warten Sie draußen, bis wir fertig sind.«

»Na, was haben wir denn da?«, hörte sie Behnke sagen und drehte sich um. Hinter den Aktenordnern befand sich ein Wandtresor.

»Da hat er uns also auch angelogen.« Schade, Marcus Nowak war ihr sympathisch gewesen. »Er hat behauptet, es gebe keinen Tresor in seiner Firma.«

»13-24-08«, diktierte Christina Nowak ungefragt, und Behnke tippte die Zahlenkombination ein. Mit einem Piepton und einem Klacken sprang die Tresortür in dem Augenblick auf, als Bodenstein das Büro betrat.

»Und?«, fragte er. Behnke bückte sich, griff hinein und wandte sich mit einem triumphierenden Grinsen um. In seiner behandschuhten Rechten hielt er eine Pistole, in der Linken ein Pappkästchen mit Munition. Christina Nowak holte scharf Luft.

»Ich schätze, hier haben wir die Tatwaffe.« Er schnupperte am Lauf der Pistole. »Damit wurde vor nicht allzu langer Zeit geschossen.«

Bodenstein und Pia wechselten einen Blick.

»Die Fahndung nach Nowak wird ausgeweitet«, sagte Bodenstein. »Aufrufe im Rundfunk und im Fernsehen.«

»Was ... was hat das alles zu bedeuten?«, flüsterte Christina Nowak. Sie war schneeweiß im Gesicht. »Warum hat mein Mann eine Pistole in seinem Tresor? Ich ... ich verstehe gar nichts mehr!«

»Setzen Sie sich erst einmal.« Bodenstein zog den Schreibtischstuhl heran. Sie gehorchte zögernd. Pia schloss trotz der Proteste von Großmutter Nowak die Bürotür.

»Ich weiß, dass das für Sie nur schwer zu begreifen ist«, sagte Bodenstein. »Aber wir verdächtigen Ihren Mann des Mordes. Bei dieser Pistole handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um die Waffe, mit der drei Menschen erschossen wurden.«

»Nein ... «, flüsterte Christina Nowak fassungslos.

»Sie müssen als Ehefrau keine Aussage machen«, informierte Bodenstein sie. »Aber wenn Sie etwas sagen, dann sollte es die Wahrheit sein, weil Sie sich sonst der Falschaussage strafbar machen.«

Durch die Tür tönte die polternde Stimme von Nowak senior, der mit den Beamten diskutierte.

Christina Nowak achtete nicht darauf und blickte Bodenstein unverwandt an. »Was wollen Sie wissen?«

»Können Sie sich erinnern, wo Ihr Mann in den Nächten vom 27. auf den 28. April, vom 0. April auf den 1. Mai und vom . auf den 4. Mai gewesen ist?«

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie senkte den Kopf.

»Er war nicht zu Hause«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Aber ich glaube niemals, dass er jemanden umgebracht hat. Warum sollte er das tun?«

»Wo war er dann in diesen Nächten?«

Sie zögerte einen Augenblick, ihre Lippen zitterten. Mit dem Handrücken fuhr sie sich über die Augen.

»Ich vermute«, würgte sie hervor, »er war bei dieser Frau, mit der ich ihn gesehen habe. Ich weiß, dass er mich ... betrügt.«

 

»Ich hatte kaum etwas getrunken«, sagte Bodenstein später im Wagen, ohne Pia anzusehen. »Nur ein Glas Wein. Trotzdem fühlte ich mich, als hätte ich zwei Flaschen intus. Ich habe kaum mitbekommen, was sie erzählt hat. Bis jetzt kann ich mich an große Teile des Abends nicht erinnern.«

Er machte eine Pause und rieb sich die Augen.

»Irgendwann waren wir die Letzten im Lokal. An der frischen Luft ging es mir etwas besser, aber ich konnte nur mit Mühe geradeaus laufen. Wir haben an meinem Auto gestanden. Die Leute vom Restaurant machten Feierabend und fuhren weg. Das Letzte, woran ich mich erinnern kann, ist, dass sie mich geküsst hat und mir die Ho...«

»Schon gut! «, unterbrach Pia ihn hastig. Der Gedanke, was sich keine acht Stunden zuvor möglicherweise genau auf diesem Sitz abgespielt hatte, war ihr entsetzlich peinlich.

»Das«, Bodensteins Stimme klang gepresst, »hätte mir nicht passieren dürfen.«

»Möglicherweise ist ja gar nichts passiert«, sagte Pia unbehaglich. Natürlich wusste sie, dass ihr Chef auch nur ein Mensch war, aber so etwas hätte sie ihm nicht zugetraut. Vielleicht war es auch seine ungewohnte Offenheit, die sie so verwirrte, denn obwohl sie täglich zusammenarbeiteten, waren intime Details aus dem Privatleben bisher tabu gewesen.

»Das hat Bill Clinton seinerzeit auch behauptet«, sagte Bodenstein frustriert. » Ich frage mich nur, warum sie das getan hat.«

»Na ja«, erwiderte Pia vorsichtig, »Sie sind ja nicht unbedingt hässlich, Chef. Vielleicht hat sie einfach nur ein Abenteuer gesucht.«

»Nein. Jutta Kaltensee tut nichts ohne Grund. Das war geplant. Sie hat mich in den letzten Tagen mindestens zwanzigmal angerufen. Und gestern hat sie sich unter einem fadenscheinigen Vorwand mit Cosima zum Mittagessen getroffen.«

Zum ersten Mal während ihrer Unterhaltung blickte Bodenstein Pia an.

»Sollte ich vom Dienst suspendiert werden, müssen Sie die Ermittlungen alleine weiterführen.«

»So weit sind wir ja noch nicht«, beruhigte ihn Pia.

»So weit werden wir sehr schnell sein.« Bodenstein fuhr sich mit allen zehn Fingern durchs Haar. »Nämlich spätestens wenn Frau Dr. Engel davon Wind bekommt. Auf so etwas hat sie nur gewartet.«

»Aber wie soll sie denn davon erfahren?«

»Von Jutta Kaltensee persönlich.«

Pia begriff, was er meinte. Ihr Chef hatte sich mit einer Frau eingelassen, deren Familie im Mittelpunkt von Mordermittlungen stand. Wenn Jutta Kaltensee aus Berechnung gehandelt hatte, dann war durchaus zu befürchten, dass sie diesen Vorfall irgendwie zu ihrem Vorteil nutzen wollte.

»Hören Sie, Chef«, sagte Pia. »Sie sollten sich Blut abnehmen lassen. Die hat Ihnen sicher irgendetwas in den Wein oder ins Essen getan, um sicher zu sein, dass Sie sich verführen lassen.«

»Wie soll sie das denn gemacht haben?«, Bodenstein schüttelte den Kopf. »Ich saß doch die ganze Zeit neben ihr.«

»Vielleicht kennt sie den Wirt.«

Bodenstein dachte einen Augenblick nach.

»Stimmt. Den kennt sie ganz sicher. Sie war per du mit ihm und hat sich mit einem Riesentrara als Stammgast aufgespielt.«

»Dann kann der Ihnen etwas ins Glas getan haben«, sagte Pia mit mehr Überzeugung, als sie tatsächlich verspürte. »Wir fahren sofort zu Henning. Der kann Ihnen Blut abnehmen und es gleich untersuchen. Und wenn er tatsächlich irgendetwas findet, dann können Sie damit beweisen, dass die Kaltensee Ihnen eine Falle gestellt hat. Einen Skandal kann sie sich nicht leisten, bei ihren Ambitionen.«

Ein Hoffnungsschimmer belebte Bodensteins müdes Gesicht. Er ließ den Motor an.

»Okay«, sagte er zu Pia. »Sie hatten übrigens recht.«

»Womit?«

»Damit, dass die Sache eine eigene Dynamik entwickeln würde.«

 

Es war halb zehn, als sich das Team wieder zur Lagebesprechung im Kommissariat traf. Die sichergestellte Pistole, eine sehr gut erhaltene Mauser P08 S/42 Baujahr 1938 mit Seriennummer und Abnahmestempel, sowie die Munition aus dem Tresor in Nowaks Büro waren schon auf dem Weg in die Ballistik. Hasse und Fachinger hatten das Telefon übernommen, das nach den Aufrufen um Mithilfe aus der Bevölkerung im Radio beinahe unablässig klingelte. Bodenstein schickte Behnke nach Frankfurt zu Marleen Ritter. Eine Streife hatte gemeldet, dass Ritters BMW noch immer auf dem Parkplatz vor der Redaktion der Weekend stand.

»Pia! «, rief Kathrin Fachinger. »Telefon für dich! Ich stell’s in dein Büro!«

Pia nickte und stand auf.

»Ich war gestern bei diesem alten Mann«, verkündete Miriam ohne Begrüßung. »Schreib mit, was ich dir erzähle. Das ist der Hammer.«

Pia griff nach einem Block und einem Kuli. Ryszard Wielinski war mit einundzwanzig als Zwangsarbeiter auf das Gut der Familie Zeydlitz-Lauenburg gekommen. Sein Kurzzeitgedächtnis war nicht mehr das beste, aber er erinnerte sich messerscharf an die Ereignisse von vor fünfundsechzig Jahren. Vera von Zeydlitz war auf einem Internat in der Schweiz gewesen, ihr älterer Bruder Elard Pilot bei der Luftwaffe. Beide waren während des Krieges nur selten auf dem elterlichen Gut gewesen, aber Elard hatte eine Liebesbeziehung zu der hübschen Verwaltertochter Vicky, aus der im August 1942 ein Sohn hervorging. Elard hatte Vicky heiraten wollen, aber jedes Mal war er kurz vor dem geplanten Termin von der Gestapo verhaftet worden, zuletzt 1944. Vermutlich hatte ihn SS-Sturmbannführer Oskar Schwinderke, der Sohn des Zahlmeisters von Gut Lauenburg, denunziert, um die Hochzeit zu verhindern, denn Schwinderkes ehrgeizige jüngere Schwester Edda war ihrerseits heftig in den jungen Grafen verliebt und wahnsinnig eifersüchtig auf Vicky und deren enge Freundschaft mit Elards Schwester gewesen. Schwinderke war während des Krieges häufig auf dem Gut, weil er als Mitglied der Leibstandarte Adolf Hitler in der nahegelegenen Wolfsschanze Dienst getan hatte. Im November 1944 war Elard mit einer schweren Verletzung nach Hause gekommen. Und als am 1 5. Januar 1945 der offizielle Treckbefehl erging und die gesamte Dobener Bevölkerung am Morgen des 16. Januar 1945 Richtung Bartenstein aufbrach, waren auf dem Gut der alte Freiherr von Zeydlitz-Lauenburg, seine Frau, der verletzte Elard, seine Schwester Vera, Vicky Endrikat mit dem dreijährigen Heinrich, Vickys kranke Mutter, ihr Vater und ihre kleine Schwester Ida zurückgeblieben. Sie hatten so schnell wie möglich dem Treck folgen wollen. In der Nähe von Mauerwald war dem Treck ein Kübelwagen entgegengekommen. Am Steuer hatte SS-Sturmbannführer Oskar Schwinderke gesessen, neben ihm ein anderer SS-Mann, den Wielinski mehrfach auf Gut Lauenburg gesehen hatte, auf der Rückbank Edda und ihre Freundin Maria, die beide seit Anfang 1944 in einem Gefangenenlager für Frauen in Rastenburg gearbeitet hatten, die eine als Aufseherin, die andere als Sekretärin des Lagerleiters. Sie hatten kurz mit Zahlmeister Schwinderke gesprochen und waren dann weitergefahren. Wielinski hatte diese vier an jenem Tag zum letzten Mal gesehen. Am Abend des folgenden Tages hatte die russische Armee den Dobener Treck überrollt, alle Männer waren erschossen, die Frauen vergewaltigt und zum Teil verschleppt worden. Er selbst hatte nur überlebt, weil die Russen ihm geglaubt hatten, dass er polnischer Zwangsarbeiter war. Einige Jahre nach dem Krieg war Wielinski in die Gegend zurückgekehrt. Er hatte oft über das Schicksal der Familien Zeydlitz-Lauenburg und Endrikat nachgedacht, denn man hatte ihn als Zwangsarbeiter sehr gut behandelt, und Vicky Endrikat hatte mit ihm regelmäßig Deutsch gelernt.

Pia bedankte sich bei Miriam und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. In der Vita von Vera Kaltensee hatte sie gelesen, dass ihre gesamte Familie seit 1945 als auf der Flucht gestorben oder vermisst galt. Wenn es stimmte, was der ehemalige Zwangsarbeiter erzählt hatte, dann hatten sie das Gut an jenem 16. Januar 1945 aber gar nicht verlassen! Was hatte Oskar Schwinderke – bei dem es sich zweifellos um den falschen Goldberg handelte – mit seiner Schwester und seinen Freunden dort noch getan, so kurz bevor die russische Armee einrückte? In den Geschehnissen jenes Tages lag der Schlüssel zu den Morden. War Vera in Wirklichkeit die Tochter des Gutsverwalters Endrikat und Elard Kaltensee demzufolge der Sohn des Piloten Elard? Pia ging mit ihren Notizen in den Besprechungsraum. Bodenstein rief auch Fachinger und Hasse dazu. Schweigend lauschten sie Pias Bericht.

»Vera Kaltensee könnte tatsächlich Vicky Endrikat sein«, meldete sich Kathrin Fachinger zu Wort. »Der alte Mann aus dem Taunusblick hat gesagt, dass Vera es weit gebracht hätte, für ein einfaches Mädchen aus Ostpreußen.«

»In welchem Zusammenhang hat er das gesagt?«, fragte Pia. Kathrin zog ihren Notizblock hervor und blätterte kurz.

»Die vier Musketiere«, las sie vor. »So haben sie sich genannt. Vera, Anita, Oskar und Hans, die vier alten Freunde von früher, die sich von Kindesbeinen an kannten. Sie haben sich zweimal im Jahr in Zürich getroffen, auch nachdem Anita und Vera ihre Männer unter die Erde gebracht hatten.«

Es war einen Moment ganz still. Bodenstein und Pia sahen sich an. Die Puzzlestücke fielen von selbst an die richtigen Plätze.

»Ein einfaches Mädchen aus Ostpreußen«, sagte Bodenstein langsam. »Vera Kaltensee ist Vicky Endrikat. «

»Sie hat damals die Chance gesehen, quasi über Nacht in den Adelsstand aufzusteigen, nachdem ihr Prinz ihr zwar ein Kind gemacht, sie aber nicht geheiratet hatte«, ergänzte Pia. »Und sie ist damit durchgekommen. Bis heute.«

»Aber wer hat die drei umgebracht?«, fragte Ostermann ratlos. Bodenstein sprang auf und griff nach seinem Jackett.

»Frau Kirchhoff hat recht«, sagte er. »Elard Kaltensee muss herausgefunden haben, was damals passiert ist. Und er ist noch nicht am Ende mit seinem Rachefeldzug. Wir müssen ihn aufhalten.«

 

Die wirkungsvollen drei Worte »Gefahr im Verzug» veranlassten den zuständigen Richter, innerhalb einer halben Stunde drei Haftbefehle und Durchsuchungsbeschlüsse zu unterschreiben. Behnke hatte unterdessen mit einer völlig verzweifelten Marleen Ritter gesprochen. Sie hatte gestern gegen Viertel vor sechs von ihrem Büro aus mit ihrem Mann telefoniert und sich mit ihm für den Abend zum Essengehen verabredet. Als sie um halb acht nach Hause gekommen war, hatte sie ihre Wohnung durchwühlt und verwüstet vorgefunden, von Ritter keine Spur. Er war nicht ans Handy gegangen, und ab Mitternacht war es ausgeschaltet. Marleen Ritter hatte die Polizei verständigt, aber dort hatte man ihr gesagt, es sei zu früh für eine Vermisstenanzeige, ihr Gatte sei immerhin ein erwachsener Mann und erst seit sechs Stunden abgängig. Außerdem wusste Behnke zu berichten, dass vor der Abflughalle des Frankfurter Flughafens der Mercedes von Elard Kaltensee gefunden worden war. Beifahrersitz und Innenseite der Tür waren voller Blut, das vermutlich von Marcus Nowak stammte und gerade im Labor untersucht wurde.

Bodenstein und Pia fuhren auf den Mühlenhof, wieder verstärkt von Durchsuchungsbeamten sowie zusätzlich unterstützt von Kriminaltechnikern mit einem Bodenradargerät und Leichenspürhunden. Zu ihrer Überraschung trafen sie dort Siegbert und Jutta Kaltensee mitsamt ihrem Anwalt Dr. Rosenblatt an. Sie saßen umgeben von Aktenbergen am großen Tisch im Salon. Der Duft von frisch aufgebrühtem Tee hing in der Luft.

»Wo ist Ihre Mutter?«, fragte Bodenstein ohne Begrüßungsfloskeln.

Pia betrachtete unauffällig die Landtagsabgeordnete, die sich ebenso wenig wie Bodenstein anmerken ließ, was am Abend zuvor geschehen war. Sie wirkte nicht wie eine Frau, die es mit einem verheirateten Mann nachts auf dem Parkplatz trieb, aber man konnte sich in Menschen täuschen.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass sie nicht ... «, begann Siegbert Kaltensee, aber Bodenstein fiel ihm scharf ins Wort.

»Ihre Mutter ist in höchster Gefahr. Wir gehen davon aus, dass Ihr Bruder Elard die Freunde Ihrer Mutter erschossen hat und nun auch sie töten will.«

Siegbert Kaltensee erstarrte.

»Außerdem haben wir einen Durchsuchungsbeschluss für das Haus und das Grundstück.« Pia reichte Kaltensee das Dokument, das dieser mechanisch an seinen Anwalt weitergab.

»Wieso wollen Sie das Haus durchsuchen?«, mischte sich der Anwalt ein.

»Wir suchen Marcus Nowak«, erwiderte Pia. »Er ist heute aus dem Krankenhaus verschwunden.«

Bodenstein und sie hatten sich darauf geeinigt, den Geschwistern Kaltensee vorerst noch nichts von dem Haftbefehl gegen ihre Mutter zu sagen.

»Warum soll Herr Nowak denn hier sein?« Jutta Kaltensee nahm dem Anwalt den Beschluss aus der Hand.

»Der Mercedes Ihres Bruders wurde am Flughafen gefunden«, erklärte Pia. »Er war voller Blut. Solange wir Marcus Nowak und Ihre Mutter nicht gefunden haben, müssen wir davon ausgehen, dass es ihr Blut sein könnte.«

»Wo sind Ihre Mutter und Ihr Bruder?«, wiederholte Bodenstein. Als er keine Antwort bekam, wandte er sich an Siegbert Kaltensee.

»Ihr Schwiegersohn ist seit gestern Abend ebenfalls spurlos verschwunden.«

»Aber ich habe gar keinen Schwiegersohn«, antwortete Kaltensee verwirrt. »Sie müssen sich irren. Ich verstehe wirklich nicht, was das hier alles soll.«

Durchs Fenster beobachtete er die Polizeibeamten mit Hunden und dem Bodenradargerät, die in breiter Phalanx über die gepflegten Rasenflächen stapften.

»Sie wissen ja wohl, dass Ihre Tochter vor vierzehn Tagen Thomas Ritter geheiratet hat, weil sie ein Kind von ihm erwartet.«

»Wie bitte?« Siegbert Kaltensee wich das Blut aus dem Gesicht. Er stand da wie vom Donner gerührt und fand keine Worte. Sein Blick glitt zu seiner Schwester, die sich verblüfft gab.

»Ich muss telefonieren«, sagte er plötzlich und zückte sein Handy.

»Später«, Bodenstein nahm ihm das Gerät aus der Hand, »erst will ich wissen, wo Ihre Mutter und Ihr Bruder sind.«

»Mein Mandant hat das Recht zu telefonieren!«, protestierte der Anwalt. »Was Sie hier machen, ist Willkür!«

»Halten Sie die Klappe«, sagte Bodenstein scharf. »Also, wird’s bald?«

Siegbert Kaltensee zitterte am ganzen Leib, sein bleiches Mondgesicht glänzte vor Schweiß.

»Lassen Sie mich telefonieren«, bat er mit heiserer Stimme. »Bitte.«

 

Auf dem Mühlenhof war weder eine Spur von Marcus Nowak noch von Elard oder Vera Kaltensee zu finden. Bodenstein hatte nach wie vor den Verdacht, dass Elard Kaltensee Nowak getötet und die Leiche irgendwo versteckt hatte, wenn nicht hier, dann an einem anderen Ort. Thomas Ritter war bisher auch nicht wiederaufgetaucht. Bodenstein rief bei seiner Schwiegermutter an und erfuhr von ihr, wo die Kaltensees Häuser und Wohnungen besaßen.

»Am wahrscheinlichsten erscheinen mir die Häuser in Zürich und im Tessin«, sagte er zu Pia, als sie zurück zum Kommissariat fuhren. »Wir bitten die Schweizer Kollegen um Amtshilfe. Herrgott, ist das alles verfahren!«

Pia schwieg, denn sie wollte ihrem Chef nicht noch Salz in die Wunden streuen. Wenn er auf sie gehört hätte, wäre Elard Kaltensee längst in Untersuchungshaft und Nowak möglicherweise noch am Leben. Ihre Theorie der Ereignisse war folgende: Elard hatte die Kiste mit den Tagebüchern und der .08 an sich gebracht. Da er kein Mann von schnellen Entschlüssen war und vielleicht erst eine Weile gebraucht hatte, um die Bedeutung der Tagebücher zu erfassen, hatte er noch Monate gezögert, bevor er zur Tat geschritten war. Er hatte Goldberg, Schneider und Anita Frings mit der Waffe aus der Kiste erschossen, weil diese ihm nichts über die Vergangenheit hatten erzählen wollen. Der 16. Januar 1945 war der Tag der Flucht, der Tag, an dem etwas Einschneidendes passiert war, an das sich Elard Kaltensee womöglich doch dunkel erinnern konnte, weil er damals nicht zwei, sondern bereits drei Jahre alt gewesen war. Und Marcus Nowak, der von den drei Morden gewusst oder sogar dabei geholfen hatte, musste verschwinden, weil er Elard Kaltensee gefährlich werden konnte.

Ostermann rief an. Die Fingerabdrücke von Marcus Nowak und Elard Kaltensee auf der Tatwaffe waren für niemanden eine Überraschung. Außerdem hatte sich eine Dame aus Königstein gemeldet, die Nowaks Bild in der Zeitung gesehen hatte. Sie hatte den Restaurator als den Mann erkannt, der am späten Vormittag des 4. Mai auf dem Parkplatz am Luxemburgischen Schloss mit einem grauhaarigen Mann in einem BMW Cabrio gesprochen hatte.

»Nowak hat mit Ritter gesprochen, sich kurz zuvor aber mit Katharina Ehrmann getroffen. Wie passt denn das zusammen? «, dachte Bodenstein laut nach.

»Das frage ich mich auch«, erwiderte Pia. »Die Aussage der Frau bestätigt aber, dass Christina Nowak nicht gelogen hat. Ihr Mann war ungefähr zu der Zeit, als Watkowiak gestorben ist, in Königstein.«

»Also haben er und Elard Kaltensee womöglich nicht nur etwas mit den drei Morden an den Alten zu tun, sondern auch mit dem Tod von Watkowiak und Monika Krämer?«

»Ich würde inzwischen gar nichts mehr ausschließen«, sagte Pia und gähnte. Sie hatte in den letzten Tagen definitiv zu wenig Schlaf bekommen und sehnte sich nach einer ruhigen Nacht. Vorerst sah es aber nach dem genauen Gegenteil aus, denn Ostermann rief wieder an: Unten auf der Wache warte eine Auguste Nowak, die dringend mit Pia reden wolle.

 

»Hallo, Frau Nowak.« Pia reichte der alten Frau die Hand, die sich von dem Stuhl im Wartebereich erhob. »Können Sie uns sagen, wo Ihr Enkelsohn ist?«

»Nein, das nicht. Aber ich muss dringend mit Ihnen sprechen.«

»Wir haben leider sehr viel zu tun«, sagte Pia. In diesem Moment summte ihr Handy; auch Bodenstein telefonierte schon wieder. Sie warf Nowaks Großmutter einen entschuldigenden Blick zu und nahm das Gespräch entgegen. Ostermann berichtete aufgeregt, dass Marcus Nowaks Handy für ein paar Minuten hatte geortet werden können. Pia spürte den Adrenalinstoß im ganzen Körper. Vielleicht lebte der Mann ja doch noch!

»In Frankfurt, zwischen der Hansaallee und der Fürstenberger Straße«, sagte Ostermann. »Genauer ging es nicht, das Gerät war nur sehr kurz eingeschaltet.«

Pia gab ihm die Anweisung, sich mit den Kollegen in Frankfurt in Verbindung zu setzen und das Gebiet sofort weiträumig absperren zu lassen.

»Chef«, sie wandte sich an Bodenstein, »Nowaks Handy wurde in Frankfurt an der Hansaallee geortet. Denken Sie, was ich denke?«

»Allerdings.« Bodenstein nickte. »Kaltensees Büro in der Uni.«

»Entschuldigen Sie bitte.« Auguste Nowak legte ihre Hand auf Pias Arm. »Ich muss Ihnen wirklich ...«

»Ich habe jetzt leider keine Zeit, Frau Nowak«, erwiderte Pia. »Vielleicht finden wir Ihren Enkelsohn noch lebend. Wir unterhalten uns später. Ich rufe Sie an. Soll jemand Sie nach Hause fahren?«

»Nein danke.« Die alte Frau schüttelte den Kopf.

»Es kann länger dauern. Tut mir leid!« Pia hob die Arme in einer Geste des Bedauerns und folgte Bodenstein, der schon sein Auto erreicht hatte. Sie hatten keine Zeit mehr zu verlieren und bemerkten deshalb auch nicht die dunkle Maybach-Limousine, deren Motor in dem Augenblick angelassen wurde, als Auguste Nowak aus dem Tor der Regionalen Kriminalinspektion trat.

 

Als Bodenstein und Pia im ehemaligen IG-Farben-Haus am Grüneburgplatz eintrafen, in dem sich der neue Campus Westend der Frankfurter Universität befand, hatten uniformierte Beamte bereits den Eingangsbereich abgeriegelt. Die unvermeidbaren Schaulustigen sammelten sich hinter den Absperrbändern; im Innern des Gebäudes diskutierten verärgerte Studenten, Professoren und Mitarbeiter der Universität mit den Polizisten, doch die Anweisung war eindeutig: Niemand durfte das Gebäude betreten oder verlassen, bis man Nowaks Handy und im besten Fall dessen Besitzer gefunden hatte.

»Da ist Frank«, sagte Pia, der beim Anblick des neunstöckigen und etwa zweihundertfünfzig Meter breiten Gebäudes der Mut sank. Wie sollten sie hier ein Handy finden, das schon wieder ausgeschaltet war und sich ebenso gut irgendwo auf dem vierzehn Hektar großen Gelände, im Park oder in einem geparkten Auto befinden konnte? Behnke stand mit dem Einsatzleiter der Frankfurter Polizei zwischen den vier Säulen vor dem imposanten Haupteingang des IG-Farben-Gebäudes. Als er Bodenstein und Pia erblickte, kam er auf sie zu.

»Fangen wir mit dem Büro von Kaltensee an«, schlug er vor. Sie betraten den prunkvollen Eingangsbereich, aber niemand von ihnen hatte einen Blick für die Bronzeplatten und kunstvollen Kupferfriese, mit denen Wände und Fahrstuhltüren verkleidet waren. Behnke führte Bodenstein, Pia und eine Gruppe martialisch aussehender Beamter in Kampfanzügen vom MEK hinauf in den vierten Stock. Dann wandte er sich nach rechts und ging zielsicher den langen, leicht gebogenen Flur entlang. Pias Handy summte, und sie ging dran.

»Das Handy wurde wieder eingeschaltet!«, rief Ostermann aufgeregt.

»Und? Ist es hier im Haus?« Pia blieb stehen und hielt sich ein Ohr zu, um den Kollegen besser zu verstehen.

»Ja, ganz sicher.«

Die Tür zu Kaltensees Büro war abgeschlossen – eine weitere Verzögerung entstand, bis endlich jemand den Hausmeister mit einem Zentralschlüssel aufgetrieben hatte. Der Mann, ein älterer Herr mit einem schneeweißen Schnauzer, hantierte umständlich mit seinem Schlüsselbund. Als die Tür endlich aufging, stürmten Behnke und Bodenstein ungeduldig an ihm vorbei.

»Scheiße«, fluchte Behnke. »Keiner da.«

Der Hausmeister stand in einer Ecke des Büros und verfolgte die hektischen Bemühungen der Polizei mit großen Augen.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte er nach einer Weile. »Ist etwas mit Professor Kaltensee?«

»Glauben Sie, sonst würden wir hier mit hundert Leuten und dem Mobilen Einsatzkommando auftauchen? Allerdings ist etwas mit ihm!« Pia beugte sich über den Schreibtisch und studierte die vollgekritzelte Schreibtischunterlage in der Hoffnung auf einen Namen, eine Telefonnummer oder irgendeinen Hinweis auf den Verbleib von Nowak, aber Kaltensee schien beim Telefonieren einfach gerne zu zeichnen. Bodenstein wühlte im Papierkorb, Behnke durchsuchte die Schreibtischschubladen, während die MEK-Leute auf dem Flur warteten.

»Er war auch gestern ganz anders als sonst«, äußerte der Hausmeister nachdenklich. »Irgendwie ... aufgekratzt.«

Bodenstein, Behnke und Pia hielten gleichzeitig inne und starrten ihn an.

»Sie haben Professor Kaltensee gestern gesehen? Warum sagen Sie das nicht gleich?«, fuhr Behnke den Mann ärgerlich an.

»Weil Sie mich nicht gefragt haben«, erwiderte der würdevoll. Das Funkgerät des Einsatzleiters knisterte und rauschte, dann ertönte eine Stimme, kaum verständlich durch die atmosphärischen Störungen, die von den dicken Betondecken im Gebäude verursacht wurden. Der Hausmeister zwirbelte nachdenklich ein Ende seines Schnauzers.

»Er war richtig euphorisch«, erinnerte er sich. »Was sonst eigentlich nie der Fall ist. Er kam aus dem Keller im Westflügel. Darüber habe ich mich noch gewundert, weil sein Büro ja ...«

»Können Sie uns dorthin führen?«, unterbrach Pia ihn ungeduldig.

»Natürlich.« Der Hausmeister nickte. »Aber was hat er denn eigentlich gemacht, der Herr Professor?«

»Nichts Schlimmes«, erwiderte Behnke sarkastisch. »Vermutlich nur ein paar Menschen ermordet.«

Dem Hausmeister klappte der Mund auf.

»Meine Leute halten mehrere Personen fest, die sich unbefugt Zutritt zum Gebäude verschafft haben«, meldete der Einsatzleiter nun in gestelztem Beamtendeutsch.

»Wo?«, fragte Bodenstein gereizt.

»Im Untergeschoss. Im Westflügel.«

»Na, dann los«, sagte Bodenstein knapp.

 

Die sechs Männer in den schwarzen Uniformen der K-Secure standen mit dem Rücken zu den Polizisten, die Beine gespreizt, die Hände an der Wand.

»Umdrehen!«, kommandierte Bodenstein. Die Männer gehorchten. Pia erkannte Henri Améry, den Geschäftsführer des Kaltensee’schen Werkschutzes, auch ohne Anzug und Lackschuhe.

»Was tun Sie und Ihre Leute hier?«, fragte Pia.

Améry schwieg und lächelte.

»Sie sind vorläufig festgenommen.« Sie wandte sich an einen der MEK-Beamten. »Bringt sie hier raus. Und stellt fest, woher sie wussten, dass wir hier sind.«

Der Mann nickte. Handschellen schnappten, die sechs Schwarzgekleideten wurden abgeführt. Bodenstein, Pia und Behnke ließen sich vom Hausmeister jeden Raum aufschließen – Aktenarchive, Abstellräume, Elektrotechnik- und Heizungsräume, leere Keller. Im vorletzten Raum wurden sie schließlich fündig. Auf einer Matratze auf dem Boden lag eine Gestalt, daneben standen Wasserflaschen, Lebensmittel, Medikamente und eine Überseekiste. Pia drückte auf den Lichtschalter. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Mit einem leisen Sirren leuchtete die Neonröhre an der Decke auf.

»Hallo, Herr Nowak.« Sie ging neben der Matratze in die Hocke. Der Mann blinzelte benommen in das helle Licht. Er war unrasiert, tiefe Furchen der Erschöpfung hatten sich in sein übel zugerichtetes Gesicht gegraben. Mit seiner gesunden Hand umklammerte er ein Handy. Er sah krank aus, aber er lebte. Pia legte ihre Hand auf seine fieberheiße Stirn und sah, dass sein T-Shirt blutdurchtränkt war. Sie drehte sich zu Bodenstein und Behnke um.

»Ruft sofort den Notarzt her.«

Dann wandte sie sich wieder dem Verletzten zu. Egal, was er getan haben mochte, er tat ihr leid. Er musste schlimme Schmerzen haben.

»Sie gehören ins Krankenhaus«, sagte sie. »Warum sind Sie hier?«

»Elard ... «, murmelte Nowak. »Bitte ... Elard ...«

»Was ist mit Professor Kaltensee? «, fragte sie. »Wo ist er?« Der Mann richtete mühsam seinen Blick auf sie, dann schloss er die Augen.

»Herr Nowak, helfen Sie uns! «, bat Pia eindringlich. »Wir haben das Auto von Professor Kaltensee am Flughafen gefunden. Er und seine Mutter sind wie vom Erdboden verschwunden. Und wir haben im Tresor in Ihrem Büro die Pistole gefunden, mit der vor kurzem drei Menschen erschossen wurden. Wir nehmen an, dass Elard Kaltensee diese drei Morde verübt hat, nachdem er die Pistole in der Kiste gefunden hatte ...«

Marcus Nowak öffnete die Augen. Seine Nasenflügel bebten, er holte keuchend Luft, als wolle er etwas sagen, aber nur ein Stöhnen kam über seine aufgeplatzten Lippen.

»Ich muss Sie leider verhaften, Herr Nowak«, sagte Pia nicht ohne Bedauern. »Sie haben keine Alibis für die Mordnächte. Ihre Frau hat uns heute bestätigt, dass Sie in keiner der betreffenden Nächte zu Hause waren. Wollen Sie dazu etwas sagen?«

Nowak antwortete nicht, stattdessen ließ er das Handy los und griff nach Pias Hand. Sichtlich verzweifelt rang er um Worte. Schweiß rann über sein Gesicht, ein Anfall von Schüttelfrost ließ ihn erschauern. Pia erinnerte sich an die Warnung der Ärztin im Hofheimer Krankenhaus, Nowak habe bei dem Überfall eine Leberverletzung erlitten. Offenbar hatte der Transport hierher die innerliche Verletzung verschlimmert.

»Ganz ruhig«, sagte sie und streichelte seine Hand. »Wir bringen Sie jetzt erst mal ins Krankenhaus. Wenn es Ihnen bessergeht, reden wir.«

Er sah sie an wie ein Ertrinkender, die dunklen Augen panisch geweitet. Wenn Marcus Nowak nicht bald Hilfe bekam, würde er sterben. War das Elard Kaltensees Plan gewesen? Hatte er ihn deshalb hierhergebracht, wo ihn niemand finden würde? Aber wieso hatte er ihm dann nicht das Handy abgenommen?

»Der Notarzt ist da«, unterbrach eine Stimme ihre Gedanken. Zwei Sanitäter schoben eine fahrbare Trage in den Kellerraum, ein Arzt mit einer orangefarbenen Weste und Rot-Kreuz-Koffer in der Hand folgte ihnen. Pia wollte aufstehen, um dem Arzt Platz zu machen, aber Marcus Nowak ließ ihre Hand nicht los.

»Bitte ... «, flüsterte er verzweifelt. »Bitte ... nicht Elard ... meine Oma ...«

Er brach ab.

»Meine Kollegen werden auf Sie aufpassen«, sagte Pia leise. »Machen Sie sich keine Sorgen. Professor Kaltensee wird Ihnen nichts mehr tun, das verspreche ich Ihnen.«

Sie löste sich sanft aus Nowaks Umklammerung und erhob sich.

»Er hat eine Leberverletzung«, informierte sie den Notarzt, dann wandte sie sich ihren Kollegen zu, die mittlerweile die Kiste untersucht hatten. »Und, was habt ihr gefunden?«

»Unter anderem die SS-Uniform von Oskar Schwinderke«, erwiderte Bodenstein. »Den Rest schauen wir uns auf dem Kommissariat an.«

 

»Ich habe die ganze Zeit gewusst, dass Elard Kaltensee ein Mörder ist«, sagte Pia zu Bodenstein. »Er hätte Nowak in dem Kellerloch elendig verrecken lassen, nur um sich selbst nicht die Finger schmutzig machen zu müssen.«

Sie waren auf dem Weg zurück nach Hofheim. Auf dem Kommissariat wartete Katharina Ehrmann, in den Arrestzellen saßen die sechs K-Secure-Leute.

»Wen hat Nowak zuletzt angerufen?«, erkundigte sich Bodenstein.

»Keine Ahnung, das Handy ist ausgeschaltet. Wir müssen die Einzelverbindungsnachweise anfordern.«

»Warum hat Kaltensee ihm das Handy nicht abgenommen? Er musste doch damit rechnen, dass Nowak jemanden anrufen würde.«

»Ja, das habe ich mich auch schon gefragt. Wahrscheinlich hat er nicht gewusst, dass wir das Handy orten könnten.« Pia zuckte zusammen, als das Autotelefon schrillte. »Oder er hat überhaupt nicht daran gedacht.«

»Hallo«, tönte eine Frauenstimme aus dem Lautsprecher. »Herr Bodenstein?«

»Ja«, Bodenstein warf Pia einen ratlosen Blick zu und zuckte die Schultern, »wer spricht denn da?«

»Sina. Ich bin die Sekretärin von der Weekend

»Ah ja. Was kann ich für Sie tun?«

»Herr Ritter hat mir gestern Abend einen Umschlag gegeben«, sagte sie. »Ich sollte ihn aufbewahren. Aber jetzt, wo er verschwunden ist, habe ich mir gedacht, dass das für Sie wichtig sein könnte. Da steht nämlich Ihr Name drauf.«

»Tatsächlich? Wo sind Sie jetzt?«

»Noch hier, im Büro.«

Bodenstein zögerte.

»Ich schicke einen Kollegen vorbei, der den Umschlag holt. Bitte warten Sie so lange.«

Pia griff schon nach ihrem Handy und wies Behnke an, in die Redaktion nach Fechenheim zu fahren. Seinen wütenden Fluch angesichts der Aussicht, um diese Uhrzeit quer durch die Stadt fahren zu müssen, überhörte sie.

 

»Ja, das stimmt«, nickte Katharina Ehrmann. »Mein Verlag wird die Biographie von Vera Kaltensee herausbringen. Ich fand Thomas’ Idee großartig und habe ihn in seinem Vor haben unterstützt.«

»Sie wissen, dass er seit gestern Abend verschwunden ist, oder?« Pia betrachtete die Frau, die ihr gegenübersaß. Katharina Ehrmann war ein bisschen zu schön, um echt zu sein. Ihr ausdrucksloses Gesicht zeugte entweder von mangelndem Mitgefühl oder zu viel Botox.

»Wir waren gestern Abend verabredet«, erwiderte sie. »Als er nicht kam, habe ich versucht, ihn anzurufen, aber er ging nicht dran. Später war sein Handy dann ausgeschaltet.«

Das deckte sich mit der Aussage von Marleen Ritter.

»Warum haben Sie sich am Freitag letzter Woche mit Marcus Nowak in Königstein getroffen?«, wollte Bodenstein wissen. »Nowaks Frau hat Sie in das Auto ihres Mannes einsteigen und wegfahren sehen. Haben Sie ein Verhältnis mit ihm?«

»So schnell geht’s bei mir dann doch nicht.« Katharina Ehrmann schien ehrlich amüsiert. »Ich habe ihn an dem Tag zum ersten Mal gesehen. Er hatte mir von Elard die Tagebücher und die anderen Unterlagen, um die ich ihn gebeten hatte, gebracht und war dann noch so freundlich, mich ein Stück mitzunehmen, bevor er sich mit Thomas getroffen hat.«

Pia und Bodenstein wechselten einen überraschten Blick. Das waren ja interessante Neuigkeiten! So war Ritter also an die Informationen gekommen. Elard selbst hatte seine Mutter ans Messer geliefert.

»Das Haus, vor dem Sie sich mit Nowak getroffen haben und in dem Watkowiaks Leiche gefunden wurde, gehört Ihnen«, sagte Pia. »Was sagen Sie dazu?«

»Was soll ich dazu sagen?« Katharina Ehrmann wirkte nicht sonderlich betroffen. »Das ist mein Elternhaus, ich will es seit Jahren verkaufen. Der Makler hat mich letzten Samstag angerufen und mir auch schon Vorwürfe gemacht. Als ob ich etwas dafür könnte, dass Robert beschlossen hat, sich ausgerechnet dort das Leben zu nehmen!«

»Wie ist Watkowiak in das Haus hineingekommen?«

»Mit einem Schlüssel, vermute ich«, erwiderte Katharina Ehrmann zu Pias Überraschung. »Ich habe ihm erlaubt, das Haus zu benutzen, als er mal wieder einen Unterschlupf brauchte. Wir waren einmal ziemlich gut befreundet, Robert, Jutta und ich. Er hat mir damals leidgetan.«

Das wagte Pia zu bezweifeln. Katharina Ehrmann machte keinen sonderlich mitfühlenden Eindruck.

»Er hat sich übrigens nicht das Leben genommen«, sagte sie. »Er wurde ermordet.«

»Ach?« Auch diese Information brachte die Frau nicht aus der Fassung.

»Wann haben Sie das letzte Mal mit ihm gesprochen?«

»Das ist noch nicht so lange her.« Sie überlegte. »Ich glaube, es war letzte Woche. Er rief an und sagte, die Polizei würde ihn wegen der Morde an Goldberg und Schneider suchen. Aber er sei es nicht gewesen. Ich sagte ihm, dann sei es das Klügste, wenn er zur Polizei gehen und sich stellen würde.«

»Das hat er leider nicht getan. Sonst würde er unter Um ständen noch leben«, erwiderte Pia. »Denken Sie, Ritters Verschwinden könnte etwas mit dieser Biographie zu tun haben, an der er schreibt?«

»Möglich.« Katharina Ehrmann zuckte mit den Schultern. »Das, was wir über die Vergangenheit von Vera erfahren haben, könnte sie ins Gefängnis bringen. Und zwar für den Rest ihres Lebens.«

»Der Tod von Eugen Kaltensee war kein Unfall, sondern Mord?«, vermutete Pia.

»Unter anderem«, erwiderte Katharina Ehrmann. »Aber in erster Linie geht es wohl darum, dass Vera und ihr Bruder damals in Ostpreußen mehrere Menschen erschossen haben sollen.«

Der 16. Januar 1945. Die vier Musketiere im Kübelwagen auf dem Weg nach Gut Lauenburg. Die Familie Zeydlitz-Lauenburg, die seither als verschollen galt.

»Wie hat Ritter davon erfahren?«, erkundigte Pia sich. »Von einer Augenzeugin.«

Eine Augenzeugin, die das Geheimnis der vier alten Freunde gekannt hatte. Wer war sie, und wem hatte sie noch davon erzählt? Pia fühlte sich wie elektrisiert. Sie waren nur noch Millimeter von der Aufklärung der drei Morde entfernt!

»Halten Sie es für möglich, dass jemand von der Familie Kaltensee Ritter entführt hat, um das Erscheinen des Buches zu verhindern?«

»Ich traue denen alles zu«, bestätigte Katharina Ehrmann. »Vera geht über Leichen. Und Jutta ist nicht viel besser.«

Pia warf ihrem Chef einen Blick zu, aber der trug eine unbeteiligte Miene zur Schau.

»Aber wie können Kaltensees davon erfahren haben, dass Elard Thomas Ritter diese Informationen zugespielt hatte?«, fragte er nun. »Wer wusste darüber Bescheid?«

»Eigentlich nur Elard, Thomas, Elards Freund Nowak und ich«, erwiderte Katharina Ehrmann nach kurzem Nachdenken.

»Haben Sie am Telefon darüber gesprochen?«, forschte Bodenstein.

»Ja«, sagte Katharina Ehrmann zögernd. »Nicht über Details, aber darüber, dass Elard uns den Inhalt dieser Kiste zur Verfügung stellen würde.«

»Wann war das?«

»Am Freitag.«

Am Sonntagabend darauf war Nowak überfallen worden. Das passte.

»Mir fällt gerade ein, dass Thomas mich vorgestern Abend aus dem Büro angerufen hat. Er machte sich Sorgen, weil auf dem Parkplatz ein Lieferwagen stand, in dem zwei Männer saßen. Ich habe das nicht ganz ernst genommen, aber vielleicht ... « Katharina Ehrmann verstummte. »Großer Gott! Meinen Sie, dass die unsere Telefongespräche abgehört haben?«

»Das halte ich für möglich.« Bodenstein nickte besorgt. Die Leute von K-Secure waren gut ausgerüstet, sie hatten den Polizeifunk abgehört und so erfahren, wo man Nowaks Handy geortet hatte. Für sie war es vermutlich ein Leichtes, auch andere Telefongespräche abzuhören. Es klopfte an der Tür, Behnke trat ein und reichte Pia den wattierten Umschlag, den sie gleich öffnete.

»Eine CD-ROM«, stellte sie fest. »Und eine Kassette.«

Sie angelte nach ihrem Diktiergerät, legte die Kassette ein und drückte die Play-Taste. Sekunden später ertönte die Stimme von Ritter.

»Heute ist Freitag, der 4. Mai 2007. Mein Name ist Thomas Ritter, vor mir sitzt Frau Auguste Nowak. Frau Nowak, Sie möchten etwas erzählen. Bitte.«

»Stopp!«, unterbrach Bodenstein. »Danke, Frau Ehrmann. Sie können jetzt gehen. Bitte informieren Sie uns, wenn Sie etwas von Herrn Dr. Ritter hören.«

Die dunkelhaarige Frau verstand und erhob sich.

»Schade«, sagte sie. »Gerade jetzt, wo es spannend wird.«

»Machen Sie sich eigentlich überhaupt keine Sorgen um Herrn Ritter?«, fragte Bodenstein. »Immerhin ist er ja Ihr Autor, der Ihnen einen Bestseller liefern soll.«

»Und Ihr Liebhaber«, fügte Pia hinzu.

Katharina Ehrmann lächelte kühl.

»Glauben Sie mir«, sagte sie. »Er wusste, worauf er sich einlässt. Kaum jemand kennt Vera besser als er. Außerdem hatte ich ihn gewarnt.«

»Eine Frage noch«, hielt Bodenstein sie zurück, bevor sie ging. »Warum hat Ihnen Eugen Kaltensee Firmenanteile überschrieben?«

Ihr Lächeln verschwand.

»Lesen Sie die Biographie«, sagte sie. »Dann wissen Sie’s.«

 

»Mein Vater war ein großer Verehrer des Kaisers«, klang die Stimme von Auguste Nowak aus dem Lautsprecher des Kassettenrekorders, der mitten auf dem Tisch stand. »Deshalb ließ er mich nach der Kaiserin Auguste Viktoria taufen. Früher nannte man mich Vicky, aber das ist lange her. «

Bodenstein und Pia wechselten einen raschen Blick. Das ganze Team des K11 hatte sich um den großen Tisch im Besprechungsraum versammelt, neben Bodenstein saß Kriminalrätin Dr. Nicola Engel mit ausdrucksloser Miene. Die Uhr zeigte Viertel vor neun, aber nicht einmal Behnke dachte an Feierabend.

»Ich wurde am 17. März 1922 in Lauenburg geboren. Mein Vater Arno war Gutsverwalter auf dem Gut der Familie Zeydlitz-Lauenburg. Wir waren drei Mädchen: Vera, die Tochter des Freiherrn, Edda Schwinderke, die Tochter des Zahlmeisters, und ich. Wir waren alle drei gleich alt und sind fast wie Schwestern aufgewachsen. Edda und ich schwärmten als junge Mädchen für Elard, Veras älteren Bruder, aber der konnte Edda nicht leiden. Sie war schon als Mädchen furchtbar ehrgeizig und sah sich insgeheim schon als Herrin auf Gut Lauenburg. Als Elard sich in mich verliebt hat, hat sich Edda schrecklich geärgert. Sie dachte, Elard wäre beeindruckt, weil sie schon mit sechzehn Führerin der Mädelgruppe beim BDM war, aber das Gegenteil war der Fall. Er hat die Nazis verachtet, auch wenn er das nie laut gesagt hat. Edda hat das nicht gemerkt, hat immer mit ihrem Bruder Oskar geprotzt, weil er bei der Leibstandarte Adolf Hitler war. «

Auguste Nowak machte eine Pause. Niemand in der Runde sagte ein Wort, bis sie weitersprach.

»1936 waren wir mit den Jungmädels in Berlin bei der Olympiade. Elard hat damals in Berlin studiert. Er hat Vera und mich abends zum Essen ausgeführt, und Edda ist vor Eifersucht beinahe geplatzt. Sie schwärzte uns an, weil wir uns unerlaubt von der Gruppe entfernt hatten, und es gab richtigen Ärger deswegen. Seit dem Tag hat sie mich schikaniert, wo sie nur konnte, mich vor den anderen Mädchen bei den wöchentlichen Heimabenden lächerlich gemacht, einmal hat sie sogar behauptet, mein Vater sei ein Bolschewik. Als ich neunzehn war, wurde ich schwanger. Niemand hatte etwas gegen eine Heirat einzuwenden, auch Elards Eltern nicht, aber es war Krieg und Elard an der Front. Als der Hochzeitstermin feststand, wurde er von der Gestapo verhaftet, obwohl er Offizier der Luftwaffe war. Der zweite Hochzeitstermin musste auch verschoben werden, weil Elard wieder verhaftet wurde. Es war übrigens Oskar gewesen, der Elard bei der Gestapo angeschwärzt hatte.«

Pia nickte. Diese Aussage bestätigte, was der ehemalige polnische Zwangsarbeiter Miriam erzählt hatte.

»Am 23. August1942 kam unser Sohn zur Welt. Edda hatte Gut Lauenburg mittlerweile verlassen. Sie und Maria Willumat, die Tochter vom NSDAP-Ortsgruppenleiter aus Doben, hatten sich zum Dienst in einem Frauen-Gefangenenlager gemeldet. Seit sie weg war und nicht mehr herumschnüffeln konnte, haben Elard und Vera heimlich Geld, Schmuck und Wertgegenstände hinüber ins Reich beziehungsweise in die Schweiz geschmuggelt. Elard war davon überzeugt, dass der Krieg verloren war, und wollte, dass wenigstens Vera, Heini und ich in den Westen gehen. Die Familie seiner Mutter besaß ein Anwesen in der Nähe von Frankfurt, da wollte er uns hinbringen.«

»Der Mühlenhof«, bemerkte Pia leise.

»Aber dazu kam es nicht mehr. Elard wurde im November 44 abgeschossen und kam schwer verletzt nach Gut Lauenburg. Vera hatte heimlich ihr Schweizer Mädchenpensionat verlassen und war auch über Weihnachten zu Hause. Wir haben Elard geholfen, die Flucht vorzubereiten, aber die Treckerlaubnis kam erst am 15. Januar. Viel zu spät, die Russen waren nur noch zwanzig Kilometer entfernt. Der Treck istam Morgen des 16. Januar in aller Frühe aufgebrochen. Ich wollte nicht ohne Elard und meine Eltern gehen, und weil ich blieb, blieb auch Vera. Wir dachten, dass es später noch die Möglichkeit geben würde, in den Westen zu gelangen.«

Auguste Nowak stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Elards Eltern wollten lieber sterben als das Gut verlassen. Sie waren beide schon weit über sechzig und hatten ihre ältesten Söhne im Ersten Weltkrieg verloren. Meine Eltern waren schwer krank, Tuberkulose. Auch meine jüngere Schwester Ida lag mit über vierzig Fieber im Bett. Wir versteckten uns im Keller des Schlosses, versorgt mit Lebensmitteln und Bettzeug, und hofften, dass die Russen uns nicht entdecken und weiterziehen würden. Es war gegen Mittag, als ein Auto in den Hof fuhr, ein Kübelwagen. Veras Vater glaubte, dass Schwinderke jemanden geschickt hatte, um die Kranken zu transportieren, aber das stimmte nicht.«

» Wer ist denn gekommen?«, fragte Ritter nach.

»Edda und Maria, Oskar und dessen SS-Kamerad Hans.«

Wieder deckten sich Auguste Nowaks Schilderungen mit der Aussage des ehemaligen Zwangsarbeiters. Pia hielt den Atem an und beugte sich gespannt vor.

»Sie kamen ins Schloss, fanden uns im Keller. Oskar bedrohte uns mit einer Pistole und zwang Vera und mich, eine Grube zu graben. Der Boden war zwar sandig, aber so fest, dass wir es nicht schafften, deshalb griffen Edda und Hans zu den Schaufeln. Niemand sagte einen Ton. Der Freiherr und die Freifrau knieten sich hin und ...«

Die Stimme von Auguste Nowak, bis dahin ruhig und unbeteiligt, begann zu zittern.

»... fingen an zu beten. Heini schrie die ganze Zeit. Meine kleine Schwester Ida stand nur da, die Tränen liefen ihr über die Backen. Ich sehe sie heute noch vor mir. Wir mussten uns in einer Reihe aufstellen, mit dem Gesicht zur Wand. Maria riss mir Heini vom Arm und zerrte ihn weg. Der Junge hat geschrien und geschrien ...«

Es war so still im Besprechungsraum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.

»Oskar tötete zuerst den Freiherrn und die Freifrau mit einem Genickschuss, danach meine kleine Schwester Ida. Sie war erst neun Jahre alt. Dann gab er die Pistole Maria, sie schoss meiner Mutter in beide Knie und dann in den Kopf, danach erschoss sie meinen Vater. Elard und ich hielten uns an den Händen. Edda nahm Maria die Pistole ab. Ich habe ihr in die Augen gesehen, sie waren voller Hass. Sie hat gelacht, als sie erst Elard, dann Vera in den Kopf schoss. Zum Schluss schoss sie auf mich. Ich höre sie heute noch lachen ... «

Pia konnte es kaum fassen. Welche Kraft musste es die alte Frau gekostet haben, so nüchtern und sachlich über dieses Massaker an ihrer Familie zu sprechen! Wie konnte man mit solchen Erinnerungen weiterleben, ohne verrückt zu werden? Pia dachte an das, was Miriam ihr über die Schicksale der Frauen nach dem Zweiten Weltkrieg im Osten erzählt hatte, die sie im Rahmen ihres Forschungsprojektes befragt hatte. Unsägliches hatten diese Frauen erlebt und ihr ganzes Leben lang nicht darüber gesprochen. Wie auch Auguste Nowak.

»Ich überlebte den Kopfschuss wie durch ein Wunder, die Kugel war durch den Mund wieder ausgetreten. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich ohne Bewusstsein war, aber irgendwie gelangte ich aus eigener Kraft aus der Grube. Sie hatten Sand über uns geschaufelt, und ich hatte wohl nur deshalb atmen können, weil ich halb unter Elards Leiche gelegen hatte. Ich schleppte mich nach oben, auf der Suche nach Heini. Das Schloss brannte lichterloh, und ich lief vier russischen Soldaten in die Arme, die mich trotz meiner Verletzung vergewaltigten und erst danach in ein Krankenlager brachten. Als ich einigermaßen bei Kräften war, wurde ichmit anderen Mädchen und Frauen in einen Viehwaggon gepfercht. Es war zu eng, um sich hinzusetzen, und nur, wenn die Posten mal gute Laune hatten, gab es einen Eimer Wasser für vierzig Menschen. Wir kamen nach Karelien, mussten am Onegasee Gleise verlegen, Holz fällen und Gräben ziehen, bei minus vierzig Grad. Um mich herum starben sie wie die Fliegen, manche Mädchen waren gerade mal vierzehn oder fünfzehn. Ich überlebte fünf Jahre Arbeitslager nur deshalb, weil mich der Lagerleiter zu mögen schien und mir mehr zu essen gab als den anderen. Ich kam erst 1950 aus Russland zurück, auf dem Arm ein Baby, das Abschiedsgeschenk des Lagerleiters.«

»Der Vater von Marcus«, folgerte Pia. »Manfred Nowak.«

»Im Lager Friedland lernte ich meinen Mann kennen. Wir bekamen Arbeit auf einem Bauernhof im Sauerland. Die Hoffnung, meinen ältesten Sohn wiederzufinden, hatte ich längst aufgegeben. Gesprochen habe ich darüber nie. Ich kam auch später nie auf den Gedanken, dass es sich bei der berühmten Vera Kaltensee, von der man hin und wieder hörte oder las, um Edda handeln könnte. Erst als mein Enkelsohn Marcus und ich im Sommer vor zwei Jahren eine Reise nach Ostpreußen unternahmen und wir in Gizycko, dem ehemaligen Lötzen, Elard Kaltensee begegneten, begriff ich, wer er war und wer seit meinem Umzug nach Fischbach ganz in meiner Nähe gelebt hatte.«

Auguste Nowak machte wieder eine Pause.

»Ich behielt mein Wissen für mich. Ein Jahr später arbeitete Marcus auf dem Mühlenhof, und eines Tages brachten er und Elard einen alten Überseekoffer mit. Es war ein Schock, als ich all diese Sachen sah, die SS-Uniform, die Bücher, die Zeitungen von damals. Und diese Pistole. Ich wusste sofort, dass es genau diese Pistole gewesen sein musste, mit der sie meine ganze Familie erschossen hatten. Sechzig Jahre lang hatte sie in der Kiste gelegen, Vera hatte sie nie weggeworfen. Und als Sie, Dr. Ritter, Marcus und Elard von Vera und ihren drei alten Freunden erzählt haben, wusste ich gleich, wer sie in Wirklichkeit waren. Elard nahm die Kiste an sich, aber Marcus legte die Pistole und die Patronen in seinen Tresor. Ich fand heraus, wo sie lebten, die Mörder, und als Marcus eines Abends weggefahren war, nahm ich die Pistole und fuhr zu Oskar. Ausgerechnet er hatte sich all die Jahre als Jude getarnt! Er hat mich sofort erkannt und bettelte um sein Leben, aber ich erschoss ihn so, wie er Elards Eltern damals erschossen hat. Dann kam ich auf die Idee, Edda eine Nachricht zu hinterlassen. Ich wusste, dass sie sofort verstehen würde, was die fünf Zahlen bedeuten, und war mir sicher, dass sie Todesangst bekommen würde, weil sie ja keine Ahnung hatte, wer davon wissen konnte. Drei Tage später habe ich Hans erschossen.«

» Wie sind Sie zu Goldberg und Schneider hingekommen?«, unterbrach Ritter.

»Mit einem Lieferwagen meines Enkelsohnes«, antwortete Auguste Nowak. »Das war auch das größte Problem bei Maria. Ich hatte herausgefunden, dass in dem Altersheim eine Theateraufführung mit Feuerwerk stattfinden sollte. An dem Abend hatte ich aber kein Auto, deshalb fuhr ich mit dem Bus und musste meinen Enkelsohn bitten, mich dort abzuholen. Der Junge hat sich nicht einmal gewundert, was ich im vornehmen Taunusblick wollte, er war zu sehr mit sich selbst und seinen Problemen beschäftigt. Ich habe Maria in ihrer Wohnung mit einem Strumpf geknebelt und dann im Rollstuhl durch den Park in den Wald geschoben. Niemand hat uns beachtet, und beim Feuerwerk hat keiner die drei Schüsse gehört.«

Auguste Nowak verstummte. Im Raum war es totenstill. Die tragische Lebensgeschichte der alten Frau und ihr Geständnis erschütterten selbst die erfahrensten Kriminalpolizisten.

»Ich weiß, dass in der Bibel steht ›Du sollst nicht töten‹«, sprach Auguste Nowak weiter, ihre Stimme klang mit einem Mal brüchig. »Aber in der Bibel steht auch ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹. Als ich begriffen hatte, wer sie waren, Vera und ihre Freunde, da wusste ich, dass ich dieses Unrecht nicht ungesühnt lassen durfte. Meine kleine Schwester Ida wäre heute einundsiebzig, sie könnte noch leben. Daran musste ich die ganze Zeit denken.«

»Professor Elard Kaltensee ist also Ihr Sohn?«, fragte Thomas Ritter nach.

»Ja. Er ist der Sohn von mir und meinem geliebten Elard«, bestätigte Auguste Nowak. »Er ist der Freiherr von Zeydlitz-Lauenburg, denn Elard und ich wurden am Weihnachtstag 1944 von Pastor Kunisch in der Bibliothek von Gut Lauenburg getraut.«

Die Mitarbeiter des K11 saßen eine Weile schweigend um den Tisch herum, als das Band zu Ende war.

»Sie war heute hier und wollte mit mir sprechen«, sagte Pia in die Stille. »Ganz sicher wollte sie mir genau das erzählen, damit wir nicht länger ihren Enkelsohn verdächtigen.«

»Und ihren Sohn«, fügte Bodenstein hinzu. »Professor Kaltensee.«

»Haben Sie sie etwa gehen lassen?«, fragte Dr. Nicola Engel verständnislos.

»Ich konnte ja nicht wissen, dass sie unsere Mörderin ist!«, entgegnete Pia heftig. »Das Handy von Nowak war gerade geortet worden, wir mussten nach Frankfurt.«

»Sie wird nach Hause gefahren sein«, sagte Bodenstein. »Wir werden sie abholen. Wahrscheinlich weiß sie, wo Elard jetzt ist.«

»Viel wahrscheinlicher ist, dass sie erst noch Vera Kaltensee tötet«, meldete sich Ostermann zu Wort. »Wenn sie das nicht schon längst getan hat.«

 

Bodenstein und Behnke fuhren nach Fischbach, um Auguste Nowak zu verhaften, während Pia am Bildschirm die Biographie von Vera Kaltensee las, auf der Suche nach einer Erklärung für Katharina Ehrmanns Beziehung zu Eugen Kaltensee. Die Lebensgeschichte von Auguste Nowak hatte sie tief erschüttert, und obwohl sie als Polizistin und Exfrau eines Rechtsmediziners die düstere Seite der Menschheit zur Genüge kannte, war sie fassungslos über die eiskalte Grausamkeit der vier Mörder. Mit Überlebenswillen in einer Ausnahmesituation war diese Tat nicht zu rechtfertigen, vielmehr hatten sie sich sogar in Lebensgefahr begeben, um ihre Gräueltat zu begehen. Wie konnte man so etwas verdrängen, mit einer solchen Bluttat auf dem Gewissen weiterleben? Und Auguste Nowak, was hatte sie durchgemacht! Vor ihren Augen waren ihr Mann, ihre Eltern, ihre beste Freundin, ihre kleine Schwester erschossen worden. Ihr Kind entführt, sie selbst verschleppt! Pia konnte nicht nachvollziehen, woher die Frau diese Kraft genommen haben mochte, Arbeitslager, Erniedrigung, Vergewaltigungen, Hunger und Krankheit zu überleben. War es die Hoffnung, ihren Sohn wiederzufinden, die sie am Leben erhalten hatte, oder der Gedanke an Rache? Auguste Nowak würde sich auch mit fünfundachtzig Jahren vor Gericht als dreifache Mörderin verantworten müssen, so sah es das Strafgesetzbuch vor. Ausgerechnet jetzt, wo sie ihren verloren geglaubten Sohn wiedergefunden hatte, würde sie ins Gefängnis gehen müssen. Und es gab keine Beweise, die ihre Taten irgendwie rechtfertigen konnten. Pia hielt beim Lesen inne. Vielleicht doch! Die Idee erschien ihr zunächst wahnwitzig, aber bei genauerem Nachdenken durchaus realistisch. Gerade als Pia die Nummer von Hennings Privatanschluss wählte, betrat Bodenstein ihr Büro mit düsterer Miene.

»Wir müssen Auguste Nowak zur Fahndung ausschreiben«, verkündete er.

Pia legte einen Zeigefinger an die Lippen, denn Henning meldete sich am anderen Ende der Leitung.

»Was gibt’s?«, fragte er übellaunig. Pia achtete nicht dar auf, sondern erzählte ihm in Kurzfassung die Geschichte von Auguste Nowak. Bodenstein blickte Pia fragend an. Sie stellte das Telefon laut und informierte Henning darüber, dass ihr Chef mithörte.

»Kann man noch nach über sechzig Jahren aus Knochen DNA extrahieren?«, fragte sie.

»Unter Umständen schon.« Der gereizte Tonfall war aus Hennings Stimme verschwunden, er klang neugierig. »Was hast du vor?«

»Ich habe das noch nicht mit meinem Chef abgesprochen«, erwiderte Pia und sah Bodenstein dabei an. »Aber du und ich, wir sollten nach Polen fahren. Fliegen wäre natürlich noch besser. Miriam könnte uns abholen.«

»Wie? Jetzt gleich?«

»Das wäre am besten. Die Zeit drängt.«

»Ich habe nichts mehr vor heute Abend«, entgegnete Henning mit gesenkter Stimme. »Im Gegenteil. Du würdest mir einen Gefallen tun.«

Pia verstand die Andeutung und grinste. Staatsanwältin Löblich saß ihm im Nacken.

»Mit dem Auto brauchen wir etwa achtzehn Stunden nach Masuren.«

»Ich habe an Bernd gedacht. Der hat doch seine Cessna noch, oder?«

Bodenstein schüttelte den Kopf, aber Pia achtete nicht auf ihn.

»Ich rufe ihn an«, sagte Henning Kirchhoff. »Ich melde mich gleich wieder. Ach – Bodenstein?«

Pia hielt ihrem Chef den Hörer hin.

»Bei der Schnellanalyse Ihrer Blutprobe habe ich Spuren von 4-Hydroxybutansäure, kurz GHB, gefunden. Man nennt es auch Liquid Ecstasy. Meinen Berechnungen zufolge müssten Sie etwa gegen 21 :00 Uhr des Vorabends eine Dosis von ungefähr zwei Milligramm zu sich genommen haben.«

Bodenstein blickte Pia an.

»Bei einer Dosis in dieser Höhe tritt eine Einschränkung der motorischen Kontrolle auf, ähnlich wie bei einem Alkoholrausch. Unter Umständen kommt eine aphrodisierende Wirkung hinzu.«

Pia registrierte, dass ihr Chef tatsächlich rot wurde.

»Was schließen Sie daraus?«, fragte er und wandte Pia den Rücken zu.

»Wenn Sie es nicht selbst eingenommen haben, hat Ihnen jemand etwas verabreicht. Wahrscheinlich in einem Getränk. Liquid Ecstasy ist eine farblose Flüssigkeit.«

»Alles klar«, sagte Bodenstein knapp. »Vielen Dank, Dr. Kirchhoff.«

»Keine Ursache. Ich melde mich gleich wieder.«

»Na also.« Pia war zufrieden. »Jutta hatte Ihnen eine Falle gestellt.«

»Sie können nicht nach Polen fahren«, sagte Bodenstein, statt darauf einzugehen. »Sie wissen doch gar nicht, ob es dieses Schloss überhaupt noch gibt. Außerdem werden die polnischen Behörden nicht begeistert sein, wenn wir sie jetzt mitten in der Nacht um Amtshilfe bitten.«

»Dann tun wir das eben nicht. Henning und ich fliegen als Touristen rüber.«

»Sie stellen sich das so einfach vor.«

»Das ist einfach«, sagte Pia. »Wenn Hennings Freund Zeit hat, kann er uns morgen früh nach Polen fliegen. Der fliegt dauernd irgendwelche Geschäftsleute in den Osten und kennt sich mit den Bestimmungen aus.«

Bodenstein legte die Stirn in Falten. Es klopfte, und Dr. Engel trat ein.

»Glückwunsch«, sagte sie. »Sie haben drei Mordfälle aufgeklärt.«

»Danke«, erwiderte Bodenstein.

»Wie geht es weiter? Warum haben Sie die Frau nicht verhaftet?«

»Weil sie nicht zu Hause war«, sagte Bodenstein. »Ich gebe jetzt eine Fahndung raus.«

Nicola Engel hob die Augenbrauen und blickte argwöhnisch zwischen Bodenstein und Pia hin und her.

»Sie führen doch irgendetwas im Schilde«, folgerte sie scharfsinnig.

»Stimmt.« Bodenstein holte tief Luft. »Ich werde Frau Kirchhoff und einen forensischen Anthropologen nach Polen zu diesem Schloss schicken. Sie sollen, wenn möglich, Knochen sicherstellen, die wir dann hier analysieren lassen können. Wenn sich herausstellt, dass Auguste Nowak die Wahrheit sagt – wovon ich überzeugt bin –, haben wir genug in der Hand, um Vera Kaltensee wegen Mordes vor Gericht zu bringen.«

»Das kommt gar nicht in Frage. Wir haben mit der Schauergeschichte dieser Frau nichts zu tun.« Dr. Engel schüttelte energisch den Kopf. »Es besteht überhaupt keine Notwendigkeit, dass Frau Kirchhoff nach Polen reist.«

»Aber man könnte doch ... «, begann Pia.

»Sie haben hier zwei weitere Morde aufzuklären«, würgte die Kriminalrätin ihren Einwand ab. »Außerdem ist Professor Kaltensee noch immer flüchtig, und jetzt auch diese Frau Nowak, eine geständige Mörderin. Und wo sind die Tagebücher, die Ritter von Nowak erhalten hat? Wo ist Ritter? Wes halb sitzen sechs Männer unten in den Arrestzellen? Sprechen Sie lieber mit denen, bevor Sie aufs Geratewohl nach Polen fahren!«

»Das hat doch alles noch einen Tag Zeit«, versuchte Pia zu argumentieren, aber ihre zukünftige Chefin zeigte sich unnachgiebig.

»Dr. Nierhoff hat mich befugt, in seinem Namen Entscheidungen zu treffen, und die treffe ich hiermit. Sie fahren nicht nach Polen. Das ist ein Dienstbefehl.« Dr. Engel hielt einen Abhefter in ihrer sorgfältig manikürten Hand. »Hier gibt es nämlich schon neue Probleme.«

»Aha. « Bodenstein zeigte wenig Interesse.

»Der Anwalt der Familie Kaltensee hat eine offizielle Beschwerde wegen Ihrer Verhörmethoden an das Innenministerium gerichtet. Er bereitet derzeit eine Anzeige gegen Sie beide vor.«

»So ein Quatsch«, schnaubte Bodenstein verächtlich. »Die wollen uns mit allen Mitteln einschüchtern, weil sie merken, dass wir ihnen auf den Fersen sind.«

»Sie haben noch ein weitaus gravierenderes Problem am Hals, Herr von Bodenstein. Der Anwalt von Frau Kaltensee bezeichnet das hier bisher nur als Nötigung. Wenn er Ihnen übelwill, wird daraus schnell eine Vergewaltigung.« Sie schlug den Abhefter auf und hielt ihn Bodenstein hin. Der wurde knallrot.

»Frau Kaltensee hat mich in eine Falle gelockt, um ...«

»Machen Sie sich nicht lächerlich, Herr Hauptkommissar«, unterbrach Dr. Engel ihn scharf. »Sie haben sich mit der Landtagsabgeordneten Kaltensee zu einem Tête-à-Tête getroffen und sie anschließend zu sexuellen Handlungen genötigt.«

Die angeschwollene Ader an Bodensteins Schläfe zeigte Pia, dass es ihm nur noch mit äußerster Mühe gelang, nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Sollte das in irgendeiner Weise publik werden«, sagte die Kriminalrätin, »wird mir nichts anderes übrigbleiben, als Sie vom Dienst zu suspendieren.«

Bodenstein starrte sie grimmig an. Sie hielt seinem Blick stand.

»Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«, fragte er. Offen bar hatte er Pias Anwesenheit ganz vergessen. Auch Nicola Engel achtete nicht mehr auf Zuhörer.

»Auf meiner«, erwiderte sie kalt. »Das solltest du mittlerweile begriffen haben.«

 

Es war Viertel nach elf, als Henning mit Reisetasche und seiner kompletten Ausrüstung auf dem Birkenhof eintraf. Bodenstein und Pia saßen in der Küche am Tisch und aßen Thunfischpizza aus Pias eiserner Tiefkühlreserve.

»Wir können morgen früh um halb fünf fliegen«, verkündete Henning und beugte sich über den Tisch. »Bah, dass du dieses Zeug immer noch essen kannst.«

Erst dann schien ihm die gedrückte Stimmung aufzufallen. »Was ist denn los?«

»Wie begeht man den perfekten Mord?«, fragte Bodenstein düster. »Sie haben doch sicher ein paar gute Tipps für mich.«

Henning warf Pia einen fragenden Blick zu.

»Oh, da würde mir sicherlich etwas einfallen. Vor allen Dingen sollten Sie vermeiden, dass Ihr Opfer auf meinem Tisch landet«, sagte er dann leichthin. »Um wen geht’s?«

»Um unsere zukünftige Chefin. Dr. Nicola Engel«, sagte Pia. Bodenstein hatte ihr mittlerweile unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, woher Nicola Engels Abneigung gegen ihn kam. »Sie hat mir verboten, nach Polen zu fahren.«

»Na ja, genaugenommen fahren wir ja auch nicht. Wir fliegen.«

Bodenstein blickte auf. »Stimmt.« Er grinste zögerlich.

»Damit wäre das geklärt.« Henning nahm sich ein Glas aus dem Regal und goss sich einen Schluck Wasser ein. »Bringt mich mal auf den neuesten Stand.«

Bodenstein und Pia berichteten abwechselnd von den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden.

»Wir brauchen unbedingt Beweise für das, was angeblich am 16. Januar 1945 passiert ist«, schloss Pia. »Sonst können wir eine Mordanklage gegen Vera Kaltensee vergessen. Im Gegenteil: Sie wird uns mit Anzeigen und Klagen überziehen. Und kein Gericht der Welt wird sie aufgrund der Aussage von Auguste Nowak verurteilen; schließlich kann sie immer noch behaupten, dass sie selbst damals keinen Schuss abgegeben hat. Außerdem wissen wir nicht, wo die Tagebücher sind, und Ritter ist bisher auch nicht wiederaufgetaucht.«

»Auch Vera und Elard Kaltensee sowie Auguste Nowak sind verschwunden«, fügte Bodenstein hinzu. Er unterdrückte mit Mühe ein Gähnen und warf einen Blick auf die Uhr.

»Wenn Sie morgen früh nach Polen fliegen, lassen Sie bitte Ihre Dienstwaffe hier«, sagte er zu Pia. »Nicht dass es noch irgendwelche Schwierigkeiten gibt.«

»Klar.« Pia nickte. Im Gegensatz zu ihrem Chef war sie hellwach. Bodensteins Handy klingelte. Er nahm das Gespräch entgegen, während Pia die benutzten Teller in die Spülmaschine räumte.

»Auf dem Grundstück des Mühlenhofs wurde ein weibliches Skelett gefunden«, berichtete er kurz darauf mit müder Stimme. »Und die Schweizer Kollegen haben sich gemeldet. Vera Kaltensee ist weder in ihrem Haus in Zürich noch im Tessin.«

»Hoffentlich ist es nicht schon zu spät«, sagte Pia. »Ich würde alles darum geben, sie vor Gericht zu bringen.« Bodenstein erhob sich von seinem Stuhl.

»Ich fahre nach Hause«, sagte er. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

»Warten Sie, ich mache das Tor hinter Ihnen zu.« Pia folgte ihm hinaus, begleitet von den vier Hunden, die an der Haustür gelegen und auf das Signal zur letzten Abendrunde gewartet hatten. An seinem Auto blieb Bodenstein stehen.

»Was sagen Sie der Engel morgen, wenn sie nach mir fragt?«, wollte Pia wissen. Sie hatte ein ungutes Gefühl, schließlich stand Bodenstein ohnehin schon haarscharf vor einer Suspendierung.

»Mir fällt schon etwas ein.« Er zuckte mit den Schultern. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.«

»Sagen Sie doch, dass ich einfach geflogen bin.« Bodenstein sah sie nachdenklich an, dann schüttelte er den Kopf.

»Das ist nett gemeint, aber das werde ich ganz sicher nicht machen. Was Sie tun, das tun Sie mit meiner vollen Rückendeckung. Ich bin schließlich Ihr Chef.«

Sie standen da und blickten sich im Licht des Hofscheinwerfers an.

»Passen Sie bloß auf sich auf«, sagte Bodenstein mit rauer Stimme. »Ich wüsste echt nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte, Pia.«

Es war das erste Mal, dass er sie beim Vornamen nannte. Pia wusste nicht ganz, was sie davon halten sollte, aber irgendetwas hatte sich in den letzten Wochen zwischen ihnen verändert. Bodenstein hatte seine Distanz aufgegeben.

»Uns passiert schon nichts«, versicherte sie. Er öffnete die Fahrertür, stieg aber nicht ein.

»Zwischen Dr. Engel und mir stehen nicht nur die Vorkommnisse bei diesen Ermittlungen damals«, rückte er endlich heraus. »Wir hatten uns beim Jurastudium in Hamburg kennengelernt und waren zwei Jahre lang zusammen. Bis mir Cosima über den Weg gelaufen ist.«

Pia hielt den Atem an. Woher kam plötzlich dieses Mitteilungsbedürfnis?

»Nicola hat mir nie verziehen, dass ich mit ihr Schluss gemacht und nur drei Monate später Cosima geheiratet habe.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Sie trägt mir das bis heute nach. Und ich Idiot liefere ihr auch noch eine solche Steilvorlage!«

Jetzt erst verstand Pia, was ihr Chef befürchtete.

»Sie meinen, sie könnte Ihrer Frau von dem ... äh ... Vorfall erzählen?«

Bodenstein stieß einen Seufzer aus und nickte.

»Dann sagen Sie ihr selbst, was passiert ist, bevor sie es von der Engel erfährt«, riet Pia. »Sie haben doch die Laborergebnisse als Beweis dafür, dass die Kaltensee Sie in eine Falle gelockt hat. Ihre Frau wird das verstehen, da bin ich sicher.«

»Ich leider nicht«, erwiderte Bodenstein und stieg ins Auto. »Also, passen Sie auf sich auf. Gehen Sie keine unnötigen Risiken ein. Und melden Sie sich regelmäßig.«

»Das mache ich«, versprach Pia und hob grüßend die Hand, als er davonfuhr.

 

Bodenstein saß an seinem Laptop, in den er eine Kopie der CD-ROM mit dem Manuskript der Vera-Kaltensee-Biographie geschoben hatte, und versuchte, sich zu konzentrieren. Selbst eine halbe Packung Aspirin hatte nichts gegen seine quälenden Kopfschmerzen ausrichten können. Der Text verschwamm vor seinen Augen, seine Gedanken waren ganz woanders. Er hatte gelogen, als er Cosima vorhin gesagt hatte, dass er vor dem Schlafengehen noch das Manuskript lesen müsse, weil es wichtig für seine Ermittlungen sei, und sie hatte es ihm ohne zu zögern geglaubt. Seit geschlagenen zwei Stunden überlegte er nun, ob er ihr von dem Vorfall erzählen und wenn ja, wie er anfangen sollte. Er war es nicht gewöhnt, Geheimnisse vor Cosima zu haben, und fühlte sich entsetzlich elend dabei. Mit jeder Minute, die verstrich, sank ihm der Mut. Was, wenn sie ihm nicht glaubte, wenn sie in Zukunft immer misstrauisch sein würde, wenn er mal länger wegblieb?

»Verdammt«, murmelte er und klappte den Laptop zu. Er knipste die Schreibtischlampe aus und ging mit schweren Schritten die Treppe hoch. Cosima lag im Bett und las. Als er eintrat, legte sie das Buch zur Seite und blickte ihn an. Wie schön sie war, wie vertraut ihr Anblick! Unmöglich, ein solches Geheimnis vor ihr zu haben! Stumm sah er sie an und suchte nach den richtigen Worten.

»Cosi«, sein Mund war trocken wie Papier, er zitterte innerlich, »ich ... ich ... muss dir etwas sagen ...«

»Na endlich«, erwiderte sie.

Er starrte sie wie vom Donner gerührt an. Zu seiner Überraschung lächelte sie sogar ein wenig.

»Das schlechte Gewissen steht dir ins Gesicht geschrieben, mein Lieber«, sagte Cosima. »Ich hoffe nur, dass es nichts mit deiner alten Flamme Nicola zu tun hat. Und jetzt erzähl schon.«