Montag, 30. April 2007
»Ich hab getanzt heut’ Nacht, die ganze Nacht heut’ Nacht! Ach wär’s doch nie vorbei! Ich möcht noch so viel mehr, auch wenn es Sünde wär! «
Es war kurz nach sieben, als Bodenstein verblüfft in der Tür des Besprechungsraumes stehen blieb und seine Kollegin beobachtete, die vor sich hin trällerte und mit einem imaginären Tanzpartner zwischen Tisch und Flip-Chart herumtanzte. Er räusperte sich. »War Ihr Zoodirektor nett zu Ihnen? Es scheint Ihnen ja richtig gutzugehen.«
»Mir geht’s blendend!« Pia Kirchhoff drehte sich in einer letzten Pirouette, ließ die Arme sinken und deutete mit einem Grinsen eine Verbeugung an. »Und er ist immer nett zu mir. Soll ich Ihnen einen Kaffee holen, Chef?«
»Ist etwas passiert?« Bodenstein hob die Augenbrauen. »Wollen Sie sich etwa einen Urlaubsantrag unterschreiben lassen?«
»Mein Gott, sind Sie misstrauisch! Nein, ich hab einfach gute Laune«, erwiderte Pia. »Ich habe am Samstagabend eine alte Freundin wiedergetroffen, die Goldberg persönlich gekannt hat, und ...«
»Goldberg ist kein Thema mehr«, unterbrach Bodenstein sie. »Warum, erkläre ich Ihnen später. Sind Sie so gut und rufen die anderen zusammen?«
Wenig später saß das ganze Team des K11 Hofheim um den Besprechungstisch und lauschte erstaunt Bodensteins knapper Mitteilung, dass der Fall Goldberg für sie abgeschlossen sei. Kriminalkommissar Andreas Hasse, der heute statt einem seiner üblichen braunen Anzüge ein dottergelbes Hemd und einen gemusterten Pullunder zur Cordhose trug, nahm diese Neuigkeit ohne sichtbare Gemütsregung auf. Ihm fehlte jeder Elan, und obwohl er erst Mitte fünfzig war, zählte er schon seit Jahren die Tage bis zu seiner Pensionierung. Auch Behnke kaute gleichgültig auf seinem Kaugummi weiter, in Gedanken offenbar ganz woanders. Da nichts Dringendes anstand, war Bodenstein damit einverstanden, dass seine Mitarbeiter die Kollegen vom K10 bei den Ermittlungen gegen eine osteuropäische Autoschieberbande, die seit Monaten ihr Unwesen im Rhein-Main-Gebiet trieb, unterstützten. Ostermann und Pia Kirchhoff sollten sich um die Aufarbeitung eines ungeklärten Raubüberfalles kümmern. Bodenstein wartete, bis er mit den beiden alleine war, und berichtete ausführlich von seinen Erkenntnissen über Goldbergs Vergangenheit und den seltsamen Ereignissen am Sonntagmorgen, die dazu geführt hatten, dass es für das K11 keinen Fall Goldberg mehr gab.
»Das heißt, wir sind wirklich raus?«, fragte Ostermann ungläubig.
»Offiziell ja.« Bodenstein nickte. »Weder die Amerikaner noch das BKA zeigen ein Interesse an irgendeiner Art der Aufklärung, und Nierhoff ist einfach nur erleichtert, die Angelegenheit vom Hals zu haben.«
»Was ist mit der Auswertung der Spuren im Labor?«, wollte Pia wissen.
»Ich würde mich nicht wundern, wenn sie die vergessen hätten«, entgegnete Bodenstein. »Ostermann, setzen Sie sich gleich mal mit dem Kriminallabor in Verbindung und forschen unauffällig nach. Sollte es schon Ergebnisse geben, holen Sie die persönlich in Wiesbaden ab.«
»Die Haushälterin hat mir erzählt, dass Goldberg am Donnerstagnachmittag Besuch von einem glatzköpfigen Mann und einer dunkelhaarigen Dame hatte«, sagte Pia. »Am Dienstag war am frühen Abend ein Mann da, dem die Haushälterin noch begegnet ist, als sie gerade gehen wollte. Er hatte sein Auto direkt vor dem Tor geparkt, einen Sportwagen mit Frankfurter Kennzeichen.«
»Na, das ist doch schon mal was. Haben Sie noch mehr?«
»Ja«, Pia sah in ihren Notizen nach. »Goldberg bekam zweimal in der Woche frische Blumen. Am Mittwoch brachte sie nicht wie üblich der Blumenhändler, sondern ein ziemlich ungepflegter Mann, etwa Anfang bis Mitte vierzig. Die Haushälterin hat ihn hereingelassen. Der Mann ist direkt zu Goldberg gegangen und hat ihn geduzt. Das Gespräch konnte sie nicht hören, weil der Mann die Tür zum Wohnzimmer zugemacht hatte, aber dieser Besuch hatte den alten Herrn ziemlich aufgeregt. Er hat der Haushälterin befohlen, demnächst die Blumen an der Haustür entgegenzunehmen und niemanden mehr ins Haus zu lassen.«
»Gut.« Bodenstein nickte. »Ich frage mich nur immer noch, was diese Zahl auf dem Spiegel bedeutet.«
»Eine Telefonnummer«, überlegte Ostermann. »Oder die Nummer eines Schließfachs, ein Passwort, ein Schweizer Nummernkonto oder eine Mitgliedsnummer ...«
»Eine Mitgliedsnummer!«, unterbrach Pia ihren Kollegen. »Wenn das Motiv für den Mord tatsächlich in Goldbergs Vergangenheit liegt, könnte die 16145 seine Mitgliedsnummer bei der SS gewesen sein.«
»Goldberg war zweiundneunzig«, gab Ostermann zu bedenken. »Jemand, der seine Mitgliedsnummer von früher kennt, müsste ja fast genauso alt sein.«
»Nicht zwangsläufig«, erwiderte Bodenstein nachdenklich. »Es würde reichen, dass er über Goldbergs Vergangenheit Bescheid weiß.«
Er erinnerte sich an Fälle von Mördern, die an Tatorten oder ihren Opfern ganz offensichtliche Botschaften hinterließen, als makabres Markenzeichen. Täter, die mit der Polizei ein Spielchen spielen und damit ihre Intelligenz und Raffinesse unter Beweis stellen wollten. War es in diesem Fall genauso? War diese Zahl am Spiegel in Goldbergs Diele ein Zeichen? Wenn ja, was bedeutete es? War es ein Hinweis oder absichtliche Irreführung? Bodenstein konnte sich ebenso wenig einen Reim darauf machen wie seine Kollegen, und er fürchtete, dass der Mord an David Josua Goldberg tatsächlich unaufgeklärt bleiben würde.
Marcus Nowak saß am Schreibtisch seines kleinen Büros und sortierte sorgfältig die Unterlagen, die er für die Besprechung übermorgen brauchte. Endlich schien Bewegung in das Projekt zu kommen, in das er so viel Zeit investiert hatte. Vor kurzem hatte die Stadt Frankfurt das Technische Rathaus zurückgekauft, das im Zuge einer umfangreichen Altstadtsanierung abgerissen werden sollte. Bereits im Sommer 2005 hatte man im Frankfurter Stadtparlament heftig darüber debattiert, welche Architektur an der Stelle des hässlichen Betonklotzes entstehen sollte. Geplant war der Wiederaufbau von Teilen der früheren Altstadt zwischen Dom und Römerberg; sieben der im Krieg zerstörten Fachwerkhäuser von stadthistorischer Bedeutung sollten möglichst originalgetreu rekonstruiert werden. Für einen begabten, aber noch ziemlich unbekannten Restaurator wie Marcus Nowak bedeutete eine solche Aufgabe mehr als nur eine unglaubliche berufliche Herausforderung und eine Auslastung seiner Firma auf Jahre hinaus. Ihm bot sich die einmalige Chance, seinen Namen weit über die Region hinaus bekannt zu machen, denn das ehrgeizige Projekt würde zweifellos große Aufmerksamkeit erregen.
Das Klingeln seines Handys riss Marcus Nowak aus seinen Gedanken. Er suchte unter den Bergen von Plänen, Skizzen, Tabellen und Fotos nach dem Gerät, und sein Herz schlug schneller, als er die Nummer im verkratzten Display erkannte. Auf diesen Anruf hatte er gewartet! Sehnsüchtig und zugleich mit entsetzlich schlechtem Gewissen. Er zögerte einen Moment. Eigentlich hatte er Tina fest versprochen, später zum Sportplatz zu kommen, wo der SV Fischbach wie jedes Jahr ein Festzelt aufgebaut und eine große Party zum Tanz in den Mai organisiert hatte. Nowak betrachtete das Handy und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe, aber die Versuchung war zu stark.
»Verdammt«, murmelte er leise und nahm das Gespräch entgegen.
Er hatte den ganzen Tag keinen Tropfen Alkohol getrunken, na ja, fast keinen. Die beiden Prozac hatte er vor einer Stunde mit einem Schlückchen Wodka runtergespült, den roch man nicht. Er hatte Kurti versprochen, nichts zu trinken, und jetzt fühlte er sich richtig gut und glasklar im Kopf. Seine Hände zitterten nicht. Robert Watkowiak grinste sein Spiegelbild an. Was ein ordentlicher Haarschnitt und anständige Klamotten doch ausmachten! Der liebe Onkel Herrmann war ein richtiger deutscher Beamtenspießer und legte größten Wert auf ein sauberes, korrektes Aussehen. Es war also besser, ordentlich gekleidet und glatt rasiert bei ihm aufzutauchen, ohne Schnapsfahne und rote Augen. Zwar wäre er auch so an das Geld gekommen, aber es erschien ihm besser, seinen Wunsch höflich zu äußern.
Nur durch puren Zufall war er vor ein paar Jahren auf das dunkle Geheimnis des Alten gestoßen, das dieser geschickt vor aller Welt verbarg – und seitdem waren sie die besten Freunde. Was Onkel Jossi und die Stiefmama wohl dazu sagen würden, wenn sie erfuhren, was der liebe Onkel Herrmann in seinem Keller trieb? Watkowiak lachte glucksend und wandte sich vom Spiegel ab. Er war nicht so dumm, es ihnen zu sagen, denn dann wäre diese Einnahmequelle für immer versiegt. Hoffentlich lebte der alte Sack noch lange! Mit einem Lappen fuhr er über die schwarzen Lackschuhe, die er extra gekauft hatte, zusammen mit dem grauen Anzug, dem Hemd und der Krawatte. Dafür hatte er beinahe die Hälfte des Geldes von Onkel Jossi ausgegeben, aber diese Investition würde sich lohnen. Gut gelaunt machte sich Watkowiak um kurz vor acht auf den Weg. Kurti wollte ihn pünktlich um acht am Bahnhof abholen.
Auguste Nowak mochte die Dämmerung, die Blaue Stunde. Sie saß auf der Holzbank hinter ihrem kleinen Häuschen und genoss die abendliche Ruhe und den würzigen Duft des nahen Waldes. Obwohl die Wetternachrichten einen deutlichen Temperaturrückgang mit Regen angekündigt hatten, war die Luft mild, und die ersten Sterne leuchteten am wolkenlosen Abendhimmel. Im Rhododendron zankten sich zwei Amseln, auf dem Dach gurrte eine Taube. Es war schon Viertel nach zehn, und die ganze Familie amüsierte sich beim Tanz in den Mai oben am Sportplatz. Bis auf Marcus, ihren Enkelsohn, der noch immer an seinem Schreibtisch saß. Das sahen sie nicht, diese Neidhammel, die sich das Maul über den Jungen zerrissen, seit er mit seiner Firma Erfolg hatte! Keiner von ihnen war bereit, sechzehn Stunden am Tag zu arbeiten, ohne Wochenende und ohne Urlaub!
Auguste Nowak faltete die Hände im Schoß und über kreuzte die Fußknöchel. Wenn sie es recht bedachte, ging es ihr jetzt so gut wie nie zuvor in ihrem langen arbeits- und sorgenreichen Leben. Helmut, ihr vom Krieg traumatisierter, seelisch kranker Ehemann, der keine Arbeit länger als vier Wochen durchgehalten und die letzten zwanzig Jahre seines Lebens kaum noch einen Schritt vor die Tür gesetzt hatte, war vor zwei Jahren gestorben. Auguste hatte dem Drängen ihres Sohnes nachgegeben und war in das kleine Haus auf dem Firmengelände nach Fischbach gezogen. In dem Dorf im Sauerland hielt sie nach Helmuts Tod nichts mehr. Endlich hatte sie ihre Ruhe und musste nicht länger den ständig laufenden Fernseher und die Gebrechen eines Mannes ertragen, für den sie in den besten Momenten ihrer Ehe allenfalls Gleichgültigkeit empfunden hatte. Auguste hörte das Gartentürchen klappern, wandte den Kopf und lächelte erfreut, als sie ihren Enkelsohn erkannte.
»Hallo, Oma«, sagte Marcus. »Störe ich dich?«
»Du störst mich nie«, erwiderte Auguste Nowak. »Willst du etwas essen? Ich hab noch Gulasch und Nudeln im Kühlschrank.«
»Nein. Danke.«
Schlecht sah er aus, angespannt und um Jahre älter als vierunddreißig. Schon seit Wochen hatte sie den Eindruck, dass ihn etwas belastete.
»Komm, setz dich zu mir.« Auguste klopfte auf das Polster neben sich, aber er blieb stehen. Sie betrachtete sein Mienenspiel. Noch immer konnte sie in seinem Gesicht lesen wie in einem Buch.
»Die anderen tanzen in den Mai«, sagte sie. »Warum gehst du nicht auch hin?«
»Mach ich ja. Ich fahre jetzt hoch zum Sportplatz. Ich wollte nur ...«
Er brach ab, überlegte einen Augenblick und blickte dann stumm zu Boden.
»Wo drückt der Schuh, hm?«, fragte Auguste. »Hat es etwas mit der Firma zu tun? Hast du Geldsorgen?«
Er schüttelte den Kopf, und als er sie endlich anblickte, versetzte es ihr einen Stich. Der Ausdruck von Qual und Verzweiflung in seinen dunklen Augen traf sie mitten ins Herz. Er zögerte noch einen Moment, aber dann setzte er sich neben sie auf die Bank und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.
Auguste liebte den Jungen, als sei er ihr eigenes Kind. Vielleicht, weil seine Eltern vor lauter Firma und Arbeit nie Zeit für ihren jüngsten Sohn gehabt hatten und er deshalb große Teile seiner Kindheit bei ihr verbracht hatte. Aber vielleicht auch deshalb, weil er ihrem älteren Bruder Ulrich so ähnlich war. Ulrich war handwerklich unglaublich begabt gewesen, ein wahrer Künstler. Er hätte es weit bringen können, hätte der Krieg nicht seine Pläne durchkreuzt und alle Träume zerstört. Im Juni 1944 war er in Frankreich gefallen, drei Tage vor seinem dreiundzwanzigsten Geburtstag. Auch äußerlich erinnerte Marcus sie sehr an ihren geliebten Bruder. Er hatte dieselben feinen ausdrucksstarken Gesichtszüge, das glatte dunkelblonde Haar, das ihm in die dunklen Augen fiel, und einen schönen Mund mit vollen Lippen. Doch obwohl er erst vierunddreißig war, hatten sich schon tiefe Sorgenfalten in sein Gesicht gegraben, und oft kam er Auguste vor wie ein Junge, der viel zu früh die Last eines Erwachsenen zu tragen hatte. Plötzlich legte Marcus seinen Kopf in ihren Schoß, so, wie er es als kleines Kind immer getan hatte, wenn er Trost gesucht hatte. Auguste streichelte sein Haar und summte leise vor sich hin.
»Ich habe etwas wirklich, wirklich Schlimmes getan, Oma«, sagte er mit gepresster Stimme. »Dafür komme ich in die Hölle.«
Sie spürte, wie er schauderte. Die Sonne war hinter den Bergen des Taunus verschwunden, es wurde kühl. Es dauerte noch eine Weile, aber schließlich begann er zu reden, stockend zuerst, dann immer hastiger, offenbar froh, das dunkle Geheimnis, das auf seiner Seele lastete, endlich mit jemandem teilen zu können.
Auguste Nowak blieb noch eine Weile nachdenklich im Dunkeln sitzen, nachdem ihr Enkelsohn gegangen war. Sein Geständnis hatte sie erschüttert, wenn auch weniger aus moralischen Gründen. Marcus war in dieser Familie von Kleingeistern so fehl am Platze wie ein Eisvogel unter Krähen, und dann hatte er auch noch eine Frau geheiratet, die nicht das geringste Verständnis für einen Künstler wie ihn aufbrachte. Auguste argwöhnte seit einer Weile, dass es um die Ehe ihres Enkels nicht zum Besten bestellt war, aber sie fragte ihn nie danach.
Er kam jeden Tag zu ihr und erzählte ihr von seinen großen und kleinen Sorgen, von neuen Aufträgen, von Erfolgen und Rückschlägen, kurzum, von allem, was ihn bewegte und was ein Mann eigentlich mit seiner Ehefrau besprechen sollte. Sie selbst hatte auch nicht viel übrig für die Familie, die zwar unter einem Dach lebte, aber nicht durch Zuneigung oder Respekt, sondern durch bloße Bequemlichkeit zusammengehalten wurde. Für Auguste waren sie Fremde geblieben, die nichts sagten, wenn sie redeten, und beharrlich darauf bedacht waren, die Fassade eines harmonischen Familienlebens aufrechtzuerhalten.
Als Marcus eine halbe Stunde später zum Sportplatz gefahren war, ging sie ins Haus, band sich ein Kopftuch um, ergriff die dunkle Windjacke, die Taschenlampe und nahm den Schlüssel für Marcus’ Büro vom Brett. Obwohl er ihr immer wieder sagte, sie solle es nicht tun, putzte sie regelmäßig in seinem Büro. Untätigkeit passte nicht zu ihr, und Arbeit hielt jung. Ihr Blick fiel in den Spiegel neben der Haustür. Auguste Nowak wusste, was die Jahre mit ihrem Gesicht gemacht hatten, und war dennoch manchmal verblüfft, wenn sie die Falten, den durch fehlende Zahnwurzeln eingefallenen Mund und die schweren Schlupflider sah. Fast fünfundachtzig, dachte sie. Unglaublich, dass sie bald so alt sein sollte! Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich keinen Tag älter als fünfzig. Sie war zäh und kräftig und immer noch gelenkiger als manche Dreißigjährige. Mit sechzig hatte sie den Führerschein gemacht, mit siebzig ihren ersten Urlaub. Sie erfreute sich an Kleinigkeiten, haderte nicht mit ihrem Schicksal. Außerdem hatte sie noch etwas zu erledigen, etwas immens Wichtiges. Der Tod, dem sie schon vor über sechzig Jahren das erste Mal direkt ins Gesicht geschaut hatte, würde sich gedulden müssen, bis sie alles geregelt hatte. Auguste zwinkerte ihrem Spiegelbild zu und verließ das Haus. Sie überquerte den Hof, schloss die Tür zum Bürogebäude auf und betrat Marcus’ Büro im Anbau neben der Werkshalle, die er auf der Wiese unterhalb von Augustes Häuschen vor ein paar Jahren gebaut hatte. Die Uhr über dem Schreibtisch zeigte halb zwölf! Sie musste sich beeilen, wenn niemand etwas von ihrem kleinen Ausflug mitbekommen sollte.
Er hörte die stampfenden Bässe der Musik schon, als er über den vollgeparkten Parkplatz ging. Der DJ spielte sämtliche Ballermann-Hits rauf und runter, und die Leute waren besoffener, als Marcus Nowak es um diese Uhrzeit für möglich gehalten hatte. Auf dem Rasenplatz spielten ein paar Kinder, darunter seine eigenen, Fußball, im Festzelt drängten sich ungefähr dreihundert Leute. Die älteren Semester hatten sich an den Tresen des Sportlerheims zurückgezogen, bis auf ein paar Ausnahmen. Marcus wurde übel beim Anblick der beiden deutlich angeheiterten Herren vom Vorstand, die lüstern die jungen Mädchen anglotzten.
»Hey, Nowak!« Eine Hand krachte auf seine Schulter, und jemand blies ihm seinen Schnapsatem ins Gesicht. »Dass du hier auftauchst!«
»Hi, Stefan«, erwiderte Marcus. »Hast du Tina gesehen?«
»Nee, sorry. Aber komm doch rüber zu uns. Trink einen mit, Alter.«
Er fühlte sich am Arm gepackt und folgte dem anderen widerwillig quer durch die schwitzende, ausgelassene Menge in den hinteren Teil des Festzeltes.
»Ey, Leute!«, brüllte Stefan. »Guckt mal, wen ich mit gebracht habe!«
Alle wandten sich zu ihnen um, grölten und feixten. Er blickte in vertraute Gesichter mit glasigen Augen, die ihm verrieten, dass der Alkohol schon eine ganze Weile in Strömen floss. Früher war er einer von ihnen gewesen, sie waren Schul- oder Sportkameraden, Kerbeburschen, hatten zusammen von der E-Jugend bis zur 1. Mannschaft Fußball gespielt, gemeinsam Dienst bei der Freiwilligen Feuerwehr getan und so manches Fest wie dieses gefeiert. Er kannte sie alle, von Kindesbeinen an, aber auf einmal kamen sie ihm vor wie Fremde. Sie rutschten zusammen, er setzte sich grinsend, machte gute Miene zum bösen Spiel. Jemand drückte ihm ein Glas Maibowle in die Hand, man prostete ihm zu, und er trank. Wann hatte es angefangen, dass ihm das alles nicht mehr gefallen hatte? Warum hatte er nicht mehr denselben Spaß an diesen schlichten Vergnügungen wie seine Kumpels von früher? Während die anderen im Fünf-Minuten-Takt die Gläser leerten, hielt er sich an seiner Maibowle fest. Plötzlich spürte er den Vibrationsalarm seines Handys in der Hosentasche. Er pulte das Gerät aus der Jeans, und sein Herz machte einen Satz, als er sah, wer ihm eine SMS geschrieben hatte. Der Inhalt ließ das Blut in sein Gesicht schießen.
»Du, Marcus, isch will dir maln Rat gebn, als guder Freund«, lallte ihm Chris Wiethölter, einer der Jugendtrainer, mit dem er früher in einer Mannschaft gespielt hatte, ins Ohr. »Der Heiko is ganz schön scharf auf die Tina. Da solltest du’n Auge drauf haben.«
»Ja, danke. Mach ich«, erwiderte er abwesend. Was sollte er auf die SMS antworten? Einfach ignorieren? Das Handy ausschalten und sich mit den Kumpels von früher betrinken? Er saß wie gelähmt auf der Bank, hielt das Glas mit der inzwischen lauwarmen Bowle umklammert, unfähig, klar zu denken.
»Ich mein ja nur. So unner Freundn«, nuschelte Wiethölter, kippte sein Bier in einem Zug herunter und rülpste.
»Du hast recht.« Nowak stand auf. »Ich geh mal nach ihr gucken.«
»Ja, mach das, Alter ...«
Tina würde sich nie und nimmer mit Heiko Schmidt oder einem anderen Kerl einlassen, und wenn, wäre es ihm egal, aber er nutzte die Gelegenheit zur Flucht. Er kämpfte sich durch das Gedränge verschwitzter Leiber, nickte hier und da jemandem zu und hoffte, weder seiner Frau noch einer ihrer Freundinnen in die Arme zu laufen. Wann war ihm klar geworden, dass er Tina nicht mehr liebte? Er wusste selbst nicht, was sich verändert hatte. Es musste an ihm liegen, denn Tina war so wie immer. Sie fühlte sich wohl in ihrem Leben, das ihm plötzlich zu eng geworden war. Unauffällig verschwand er aus dem Festzelt und nahm die Abkürzung durch die Vereinskneipe. Zu spät bemerkte er seinen Fehler. Sein Vater, der mit seinen Kumpels am Tresen saß, wie beinahe jeden Abend, hatte ihn schon erspäht.
»He, Marcus! « Manfred Nowak wischte sich mit dem Handrücken den Bierschaum aus dem Schnauzbart. »Komm mal her!«
Marcus Nowak fühlte, wie sich in ihm alles zusammenzog, gehorchte aber. Er erkannte, dass sein Vater schon ordentlich einen im Tee hatte, und wappnete sich innerlich. Ein rascher Blick auf die Uhr an der Wand zeigte ihm, dass es gleich halb zwölf war.
»Ein Weizen für meinen Sohn!«, orderte sein Vater mit dröhnender Stimme, dann wandte er sich an die anderen älteren Herren, die immer noch in Trainingsanzügen und Sportschuhen herumliefen, obwohl ihre bescheidenen sportlichen Erfolge Jahrzehnte zurücklagen.
»Mein Sohn kommt jetzt ganz groß raus! Er baut nämlich die Frankfurter Altstadt wieder auf, Haus für Haus! Da staunt ihr, was?«
Manfred Nowak klopfte Marcus auf den Rücken, aber in seinen Augen lagen weder Anerkennung noch Stolz, sondern purer Hohn. Er fuhr damit fort, ihn zu verspotten, und Marcus sagte keinen Ton, was seinen Vater noch mehr in Fahrt brachte. Die Männer grinsten. Sie wussten alle bestens Bescheid über den Bankrott von Nowaks Bauunternehmen und Marcus’ Weigerung, die Firma zu übernehmen, denn in einem Örtchen wie Fischbach blieb nichts verborgen, schon gar nicht eine solch grandiose Niederlage. Die Bedienung stellte das Weizenbier auf den Tresen, doch er rührte es nicht an.
»Prost!«, rief sein Vater und hob das Glas. Alle tranken, bis auf Marcus.
»Was ist? Bist dir wohl zu fein dafür, mit uns zu trinken, was?«
Marcus Nowak sah den trunkenen Zorn in den Augen seines Vaters.
»Ich hab keine Lust mehr auf deine blöden Sprüche«, sagte er. »Erzähl das deinen Freunden, wenn du willst. Vielleicht glaubt es dir noch einer.«
Der lang aufgestaute Groll seines Vaters entlud sich in dem Versuch, seinem jüngsten Sohn eine Ohrfeige zu verpassen, wie früher so häufig. Der Alkohol verlangsamte jedoch seine Bewegungen, und Marcus wich dem Schlag ohne große Mühe aus. Er sah mitleidslos zu, wie sein Vater das Gleichgewicht verlor, mitsamt Barhocker krachend zu Boden ging, und suchte das Weite, bevor er wieder auf die Beine kam. Vor der Tür des Vereinsheims atmete er tief durch und überquerte mit schnellen Schritten den Parkplatz. Er setzte sich ins Auto und gab mit quietschenden Reifen Gas. Keine zweihundert Meter weiter stoppte ihn die Polizei.
»Na«, der eine Beamte leuchtete ihm mit seiner Taschenlampe ins Gesicht, »schön in den Mai getanzt?«
Das klang gehässig. Er erkannte die Stimme. Siggi Nitschke hatte beim SV Ruppertshain in der ersten Mannschaft gespielt, als Marcus über Jahre hinweg Torschützenkönig der Kreisliga gewesen war.
»Hallo, Siggi«, sagte er deshalb.
»Ach, schau an. Der Nowak. Der Herr Unternehmer. Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte.«
»Hab ich nicht dabei.«
»So ein Pech aber auch«, spottete Nitschke. »Dann steigen Sie mal aus.«
Marcus seufzte und gehorchte. Nitschke hatte ihn noch nie leiden können, hauptsächlich deshalb, weil er als Fußballspieler immer eine Klasse schlechter gewesen war. Ihn nun angehalten zu haben musste für Nitschke ein innerer Reichsparteitag sein. Er ließ es sich widerspruchslos gefallen, wie ein Schwerverbrecher behandelt zu werden. Sie ließen ihn in den Alkotester blasen und waren offensichtlich sauer, als auf dem Display des Gerätes eine Null erschien.
»Drogen?« So leicht wollte Nitschke ihn nicht entkommen lassen. »Was geraucht? Oder durch die Nase gezogen?«
»Quatsch«, erwiderte Marcus, der keinen Ärger wollte. »So was hab ich noch nie gemacht. Das weißt du genau.«
»Keine plumpen Vertraulichkeiten. Ich bin im Dienst. Polizeimeister Nitschke für Sie, verstanden?«
»Ach, lass ihn doch fahren, Siggi«, sagte sein Kollege halb laut. Polizeimeister Nitschke starrte Marcus grimmig an und überlegte angestrengt, wie er ihn doch noch drankriegen konnte. Auf eine Gelegenheit wie diese würde er für den Rest seines Lebens warten müssen.
»Spätestens um zehn Uhr morgen früh legen Sie meinen Kollegen auf dem Kelkheimer Revier Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere vor«, sagte er schließlich. »Na los, verpiss dich. Hast Glück gehabt.«
Ohne noch etwas zu sagen, stieg Marcus ins Auto, ließ den Motor an, legte den Gurt an und fuhr los. Alle guten Vorsätze hatten sich in Luft aufgelöst. Er ergriff sein Handy und schrieb eine kurze Antwort. Bin auf dem Weg. Bis gleich.