11. Wachposten am Reservat

Trotz aller Verlautbarungen und Meinungsmache des Stammesrats ist es absolut keine dankbare Aufgabe, als Wachposten am Tor zu einem Arápache-Reservat zu stehen. Früher, als die Vereinigten Staaten nur ein Verbund aus zusammengewürfelten Kolonien waren und lange bevor Zäune und Mauern das Land der Arápache begrenzten, war das anders. Damals war ein Grenzposten ein Krieger. Heute stand er einfach in einer blauen Uniform in einem Unterstand, prüfte Pässe und Papiere und sagte híísi’ honobe. Das heißt soviel wie »einen schönen Tag noch« und beweist, dass selbst die Arápache nicht immun sind gegen die Geistlosigkeit der modernen Gesellschaft.

Mit achtunddreißig ist der Wachposten heute der älteste der drei Diensthabenden am Osttor und darf aufgrund seines Dienstalters als Einziger eine Waffe tragen. Allerdings ist seine Pistole längst nicht so elegant und bedeutungsvoll wie die Waffen aus früheren Zeiten, als sie noch Indianer genannt wurden anstatt Glücksmenschen … oder »Zocker«. Dieses grässliche Schimpfwort, mit dem genau die Leute sie belegten, die das Spielen in Casinos zur einzigen Möglichkeit machten, wie die Stämme ihrer Eigenständigkeit, ihre Selbstachtung und ihr Vermögen wiedererlangen konnten, das ihnen im Laufe der Jahrhunderte genommen worden war. Die Casinos sind zwar längst weg, aber die Namen sind geblieben. Das Wort »Glücksmenschen« ist ihr Orden, »Zocker« ihre Narbe.

Inzwischen ist es später Nachmittag. Am Tor für die nicht Ortsansässigen an der Grand-Gorge-Brücke wartet eine Schlange von mindestens dreißig Autos. Ein guter Tag. An schlechten Tagen stauen sich die Autos bis zur anderen Seite der Brücke. Ungefähr die Hälfte der Wagen wird abgewiesen. Nur wer hier lebt oder rechtmäßigen Geschäften nachgeht, darf das Reservat betreten.

»Wir wollen nur ein paar Fotos machen und ein bisschen Kunsthandwerk von den Glücksmenschen kaufen«, sagen die Leute immer. »Wollt ihr eure Waren nicht verkaufen?« Als wenn ihr Überleben davon abhinge, dass sie wertlosen Plunder an Touristen verhökern.

»Sie dürfen einen U-Turn nach links machen«, sagte er dann höflich zu ihnen. »Híísi’ honobe!« Er empfindet Mitleid mit den enttäuschten Kindern auf dem Rücksitz, aber schließlich ist es die Schuld ihrer Eltern, dass sie keine Ahnung von den Arápache und ihrer Lebensweise haben.

Natürlich haben nicht alle Stämme eine so isolationistische Politik, andererseits ist es auch nicht vielen Stämmen so erfolgreich wie den Arápache gelungen, eine blühende, unabhängige und zugegebenermaßen wohlhabende Gemeinschaft zu schaffen. Sie gehören zu einem »Hoch-Reservat«-Stamm, der von gewissen anderen »Niedrig-Reservat«-Stämmen, die ihre alten Casinoeinkünfte eher vergeudet als in ihre Zukunft investiert haben, bewundert, aber auch schief angeschaut werden.

Die Tore gingen aber erst nach dem Umwandlungsabkommen auf. Wie andere Stämme erkannten die Arápache die Rechtmäßigkeit des Umwandelns nicht an – so wie sie auch am Heartland-Krieg nicht teilgenommen hatten. Kritiker hatten sie in jener Zeit »Schweizer-Käse-Ureinwohner« genannt, weil die Gebiete der Glücksmenschen Löcher der Neutralität inmitten einer kriegführenden Nation bildeten.

Der Rest des Landes und ein großer Teil der Welt gewöhnten sich also daran, Jugendliche, die man nicht wollte oder nicht brauchte, zu recyceln, während die Nation der Arápache zusammen mit dem Rest des amerikanischen Stammeskongresses zwar nicht ihre Unabhängigkeit, aber wenigstens ihren Widerstand verkündete. Sie wollten dem Gesetz des Landes, so wie es war, nicht folgen, und als sie unter Druck gesetzt wurden, spaltete sich der gesamte Stammeskongress von der Union ab und machte so aus den Vereinigten Staaten einen echten Schweizer Käse. Und da man gerade erst einen kostspieligen Bürgerkrieg hinter sich hatte, war man in Washington so klug, das einfach auf sich beruhen zu lassen.

Natürlich wird seit Jahren vor Gericht darum gestritten, ob die Arápache das Recht haben, an den Grenzen ihres Territoriums Passkontrollen durchzuführen, aber der Stamm ist inzwischen sehr geübt im Umgang mit dem ganzen rechtlichen Kram. Der Wachposten bezweifelt, dass diese Streitfrage jemals geklärt wird. Jedenfalls nicht zu seinen Lebzeiten.

Er fertigt ein Auto nach dem andern ab. Der Himmel über ihm ist bewölkt und regenschwer, hält aber sein Wasser zurück wie ein widerspenstiges Kind. Einige Leute dürfen durchfahren, andere werden abgewiesen.

Und dann kommt ein Auto mit flüchtigen Wandlern.

Er erkennt sie als Wandler, kaum dass sie vorgefahren sind. Ihre Verzweiflung wabert wie Moschusduft zu ihm heraus. Obwohl kein Stamm das Umwandeln unterstützt, gehören die Arápache, zum permanenten Ärger der Jugendbehörde, zu den wenigen, die flüchtigen Wandlern auch Unterschlupf gewähren. Das wird zwar nicht beworben oder offen zugegeben, aber die Information sickert durch, so dass der Umgang mit EAs zur Routine geworden ist.

»Kann ich euch helfen?«, fragt er den jugendlichen Fahrer.

»Mein Freund ist verletzt«, antwortet der. »Er braucht einen Arzt.«

Der Wachposten schaut auf den Rücksitz, wo ein Junge in sehr schlechter Verfassung mit dem Kopf auf dem Schoß eines etwa zwanzigjährigen Mädchens liegt, das ein bisschen daneben aussieht. Der Junge auf dem Rücksitz scheint seinen Zustand nicht vorzutäuschen.

»Am besten dreht ihr um«, sagt der Wachposten. »In Cañon City ist ein Krankenhaus, das ist viel näher als die Medizinhütte im Reservat. Ich gebe euch eine Wegbeschreibung, wenn ihr mögt.«

»Das geht nicht«, sagt der Fahrer. »Wir brauchen einen Unterschlupf. Asyl. Verstehen Sie?«

Er hatte also recht gehabt. Sie sind flüchtige Wandler. Der Wachposten taxiert die Schlange von Autos, die darauf warten, durch den Flaschenhals zu gelangen. Ein anderer Wachposten schaut zu ihm herüber und wartet ab, was er tut. Ihre Bestimmungen sind sehr klar, und er muss für seine Mitarbeiter ein Exempel statuieren. Wachposten zu sein ist keine dankbare Aufgabe.

»Leider kann ich euch nicht helfen.«

»Seht ihr?«, sagt das Mädchen auf dem Rücksitz. »Ich hab’s ja gesagt, dass das keine gute Idee ist.«

Aber der Fahrer lässt sich nicht abweisen. »Ich dachte, Sie nehmen flüchtige Wandler auf.«

»Die Wandler müssen unterstützt werden, wenn wir sie aufnehmen sollen.«

Der Junge kann seine Enttäuschung nicht verhehlen. »Unterstützt? Ist das Ihr Ernst? Woher soll ein flüchtiger Wandler Unterstützung bekommen?«

Der Wachposten seufzt. Muss er wirklich so deutlich werden? »Ihr müsst einen Sponsor haben, damit ihr offiziell aufgenommen werdet«, sagt er. »Wenn ihr inoffiziell reinkommt, habt ihr gute Chancen, jemanden zu finden, der euch unterstützt.« Erst jetzt kommt dem Wachposten das Gesicht des Jungen irgendwie bekannt vor, aber er kann nicht einordnen, wo er ihn zuvor gesehen hat.

»Dafür haben wir keine Zeit! Sieht er aus, als könnte er über einen Zaun klettern?« Der Fahrer zeigt auf den halbbewusstlosen Jungen auf dem Rücksitz, der irgendwie auch vertraut aussieht. Angesichts des traurigen Zustands, in dem der Junge ist, überlegt der Wachposten, ob er sie selbst unterstützen soll. Aber das würde ihn den Job kosten. Er wird dafür bezahlt, die Leute draußen zu halten, nicht dafür, Wege zu finden, sie hereinzulassen. Mitgefühl steht nicht in seiner Arbeitsplatzbeschreibung.

»Tut mir leid, aber …«

Da fängt der verletzte Junge an zu reden, wie aus einem traum. »Freund von Elina Tashi’ne.«

Das überrascht den Wachposten. »Der Medizinfrau?« Viele tausend Menschen leben in dem Reservat, aber einige sind bekannt, für ihren guten Ruf. Die Familie Tashi’ne ist hoch angesehen, und jeder kennt die schreckliche Tragödie, die ihr widerfahren ist. Einzelne Autos in der Schlange beginnen zu hupen, aber er beachtet sie nicht. Das hier wird langsam interessant.

Der Fahrer dreht sich zu seinem Freund im Delirium um, als ob ihn das ebenfalls überrasche.

»Rufen Sie sie an«, sagt der verletzte Junge. Dann schließen sich seine Augen mit flatternden Lidern.

»Sie haben gehört, was er gesagt hat!«, drängt der Fahrer. »Rufen Sie sie an!«

Der Wachposten ruft in der Medizinhütte an und wird rasch zu Dr. Elina durchgestellt. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagt er, »aber hier am Osttor sind ein paar Jugendliche, und einer behauptet, Sie zu kennen.« Er wendet sich an den Jungen auf dem Rücksitz, aber der hat das Bewusstsein verloren, deshalb fragt er den Fahrer: »Wie heißt er?«

Der Fahrer zögert, sagt aber schließlich: »Lev Garrity. Aber sie kennt ihn wahrscheinlich als Lev Calder.«

Der Wachposten muss zweimal hingucken. Mit einem Schlag erkennt er Lev und auch den Fahrer. Das ist der Typ, den man den Flüchtling aus Akron nennt. Connor irgendwas. Der angeblich tot ist. Und Lev war berühmt-berüchtigt im Reservat, bevor er der »Klatscher, der nicht klatscht« wurde. Man kann den Namen des armen Wil Tashi’ne nicht aussprechen, ohne an Lev Calder zu denken und wie er in diese Tragödie verstrickt ist. Seine Freunde hier wissen das wahrscheinlich nicht einmal. Er kann sich gut vorstellen, dass Lev nicht erzählt hat, was an diesem schrecklichen Tag passiert ist.

Der Wachposten versucht, seinen Schreck zu verbergen, aber es gelingt ihm nicht besonders gut. Connor registriert leise Empörung. »Sagen Sie es ihr einfach, ja?«

»Halten Sie sich fest«, sagt er ins Telefon. »Es ist Lev Calder. Und er ist verletzt.«

Eine lange Pause folgt. Die hupenden Autos formieren sich zu einem misstönenden Chor. Endlich sagt Dr. Elina: »Lassen Sie ihn rein.«

Er legt auf und wendet sich an Connor. »Glückwunsch.« Jetzt fühlt er sich ein kleines bisschen nobler. »Ihr werdet unterstützt.«