57. Lev

Alles ist friedlich. Alles ist ruhig. In der Oase des Arápache-Reservats ist von der Realität draußen vor den Toren und Mauern nichts zu spüren. Zum Beispiel die Forderung, das U-17-Gesetz außer Kraft zu setzen und das Alter für die Umwandlung wieder auf achtzehn anzuheben, vielleicht noch höher. Verurteilten Verbrechern das Gehirn zu entfernen und den Rest ihres Körpers umzuwandeln. Zu erlauben, dass sich Erwachsene gegen Bezahlung freiwillig umwandeln lassen. All diese Entwicklungen, vielleicht noch schlimmere, ziehen am Horizont auf und könnten wahr werden, wenn ihnen niemand Einhalt gebietet. Wie Connor weiß auch Lev, dass er etwas unternehmen muss.

»Wirf einen Stein in den Fluss, und er sinkt einfach zum Grund«, sagt Elina. »Leg einen Fels hinein, und der Fluss fließt außen herum. Was geschieht, geschieht, egal, was du tust.«

Elina hat viele Qualitäten, doch ihre fatalistische Weltanschauung gehört nicht dazu. Leider herrscht diese Weltanschauung im ganzen Reservat vor.

»Aus vielen Felsen baut man einen Damm«, entgegnet Lev.

Elina öffnet den Mund – zweifellos, um mit weiteren Bildern zu antworten, vielleicht: »Wenn der Damm bricht, überschwemmen die Fluten das Land« –, überlegt es sich aber anders und sagt stattdessen: »Frühstücke erst mal, das hebt die Laune.«

Lev fügt sich und mampft Pfannkuchen aus Süßkartoffeln, zu denen es Elina zufolge früher immer Agavensirup gab. Seit die Agave ausgestorben ist, müssen sie sich mit Ahornsirup begnügen. Lev muss zugeben, dass er zum Teil deswegen hier ist: um Schutz vor der Welt zu finden, bei Menschen, die ihm wichtig sind und denen er wichtig ist. Aber er hat auch noch höhere Ziele.

Im Glücksvolk gibt es einen Spruch: »Wie es den Arápache geht, so ergeht es auch den anderen.« Da die Arápache der finanziell erfolgreichste und politisch einflussreichste Stamm des Glücksvolks sind, werden ihre Errungenschaften und Neuerungen oft von anderen Stämmen übernommen. Die Arápache leben besonders zurückgezogen und führen an eigenen Grenzstationen Passkontrollen durch. Viele andere Stämme, besonders diejenigen, die nicht vom Tourismus leben, tun es ihnen mittlerweile gleich und schränken den Zugang zu ihrem Hoheitsgebiet ein. Kaum jemand da draußen weiß, wie viele Felsbrocken bereits im Fluss liegen. Wenn es Lev gelingt, diese Felsen aufzuschichten, könnte das den Lauf der Geschichte ändern.

Das Problem ist Wil Tashi’ne und was ihm zustieß, als Lev das erste Mal hier war.

Wie Una sehen alle Arápache in Lev einen Unglücksboten. Er mag ein Opfer seiner Gesellschaft sein, aber wie die Träger der Pest bringt er ihnen einen Vorgeschmack auf Dinge, von denen sie nichts wissen wollen. Wenn er etwas bewegen will, muss er Überzeugungsarbeit leisten.

 

Am Samstag kündigt er den Tashi’nes an, dass er in die Stadt geht.

»Im Héétee-Park spielt eine Band«, erzählt er. »Die möchte ich mir gern anhören.«

»Glaubst du, es ist klug, dich zu zeigen?«, fragt Chal. »Der Rat sieht weg, solange du nicht auffällst, aber je sichtbarer du bist, desto eher stören die sich an dir.«

»Ich kann mich ja nicht ewig verstecken«, erwidert Lev. Was er wirklich vorhat, behält er für sich.

 

Das Konzert hat bereits begonnen, als Lev ankommt. Es sind vielleicht zweihundert Leute da, die sich auf Decken und Campingstühlen über den Rasen verteilt haben und den warmen Augusttag genießen. Die Band ist gut. Sie spielt eine interessante Mischung aus traditioneller Musik, Pop und Oldies. Für jeden etwas.

Lev bemüht sich, nicht aufzufallen, doch er sieht, dass hier und da jemand auf ihn deutet und mit seinem Nachbarn tuschelt. In ein paar Minuten werden sie wirklich etwas zu reden haben.

Lev geht durch die Menge nach vorn, und als die Band eine Pause einlegt, zieht er zwei Blatt Papier aus der Tasche und klettert auf die Bühne. Er zieht das Mikrophon des Leadsängers zu sich herunter, damit er sprechen kann, ohne dass sein Gesicht verdeckt ist.

»Entschuldigung«, sagt er. »Entschuldigung, dürfte ich um eure Aufmerksamkeit bitten?« Er ist erschrocken, weil seine Stimme so laut dröhnt. »Ich heiße Levi Jedediah Garrity, aber ihr kennt mich wahrscheinlich unter dem Namen Lev Calder. Ich bin der Mahpee, der von der Familie Tashi’ne aufgenommen wurde.«

»Wir wissen, wer du bist«, ruft jemand aus dem Publikum. »Und jetzt verschwinde von der Bühne.«

Hier und da ertönt zustimmendes Brummen und verächtliches Lachen. Lev ignoriert es. »Ich war dabei, als sich Wil Tashi’ne den Teilepiraten im Austausch gegen mehr als ein Dutzend Menschenleben angeboten hat, meins inklusive. Einer der Teilepiraten kam zwar ums Leben, aber die beiden, die überlebten, nahmen Wil mit und verkauften ihn, so dass er umgewandelt wurde. Und sie kamen damit durch.«

»Ja, wissen wir, erzähl uns was Neues«, schreit einer dazwischen.

»Das habe ich vor«, sagt Lev. »Ich habe ihre Namen herausgefunden, und ich weiß, wo sie zu finden sind.«

Er hält die beiden Blätter in die Höhe, jedes mit dem Bild eines Teilepiraten. Dem einen fehlt ein Ohr, der andere hat ein Gesicht wie ein Ziegenbock.

Plötzlich ist es still.

»Chandler Hennessey und Morton Fretwell. Eine Zeit lang haben sie flüchtige Wandler in Denver gejagt, aber jetzt sind sie in Minneapolis.« Er lässt die beiden Blätter wieder sinken und geht noch näher ans Mikrophon. »Ich werde sie jagen und herbringen, damit sie ihre gerechte Strafe erhalten.« Und dann, in perfektem Arápache: »Wer hilft mir?«

Es ist mucksmäuschenstill.

»Ich habe gefragt: Wer hilft mir?«

Eine gefühlte Ewigkeit meldet sich niemand, doch dann hört er von ganz hinten eine Stimme, die Stimme einer Frau.

»Ich«, sagt sie in Arápache.

Es ist Una. Lev hat sie gar nicht gesehen. Er ist dankbar und gleichzeitig beunruhigt. Er hat gehofft, er könnte einen schönen altmodischen Suchtrupp zusammenstellen. Was haben sie zu zweit für eine Chance, die Piraten einzufangen?

Während Una durch die Menge zur Bühne geht, ruft jemand anders: »Kommt schon! Klatscht für den Klatscher!«

Die Leute beginnen zu applaudieren, erst langsam, dann immer schneller, und als Una auf die Bühne klettert, jubelt die Menge. Levs Zweifel sind verflogen. Er wird versuchen, die Arápache für sich zu gewinnen, und wenn es ihm gelingt, werden sie ihm in der Schlacht gegen die Umwandlung zur Seite stehen. Er wird seinen Damm bekommen!

»Weißt du auch, was du da tust, kleiner Bruder?«, fragt Una ihn über den Lärm der Menge hinweg.

Lev lächelt sie an. »So genau wie noch nie in meinem ganzen Leben.«