26. Lev
Dass sie im Reservat bleiben, geht Connor auf die Nerven, das weiß Lev, aber hat er es nicht verdient, dieses eine Mal egoistisch zu sein?
»Du kannst bleiben, solange du möchtest«, hatte Elina ihm angeboten.
Pivane dagegen hatte es ein bisschen praktischer ausgedrückt: »Du kannst bleiben, solange es nötig ist.« Die Frage ist also, wie viel von Levs Verlangen hierzubleiben ist Notwendigkeit und wie viel ist Wunsch?
Seine Seite ist immer noch blutunterlaufen, und da die Arápache keine Schnellheilungsmittel verwenden, dauert es sicher noch einige Zeit, bis seine Rippen und die geprellten Organe geheilt sind. Er kann vorbringen, dass er diese Zeit braucht, aber davon will Connor bestimmt nichts wissen – und seine Enttäuschung wäre begründet. Sie haben eine Mission und dürfen sich nicht von den Verlockungen eines bequemen Lebens ablenken lassen. Lev braucht eine Mission von gleichwertiger Bedeutung.
Gegen Ende ihrer zweiten Woche im Reservat verändert sich die Situation auf einmal ganz deutlich, und alle sind sehr verstört.
Es ist Abendessenszeit. Heute nur in einer kleinen Runde: Am Tisch bei den drei Gästen sitzen nur noch Elina, Kele und Chal, Elinas Mann, der endlich von seinem Prozess zurückgekommen ist. Seit seiner Ankunft behandelt er Lev mit anwaltlicher Zurückhaltung und Höflichkeit, als ob er sich ihm gegenüber weder zu einer bestimmten Handlung noch zu einem bestimmten Gefühl verpflichten wolle. »Elina hat mir alles erzählt. Ich freue mich, dass du hier bist«, sagt Chal, als er Lev begrüßt, aber ob er es wirklich meint oder ob er nur höflich ist, kann Lev aus seiner Stimme nicht heraushören. Auf Connor und Grace reagiert er ebenfalls sehr verhalten.
Pivane kommt heute zu spät zum Essen. Seine besorgte Miene zerstreut Elinas Ärger. »Das müsst ihr euch anschauen«, sagt er, zuerst nur zu Elina und Chal, aber dann wendet er sich auch an Lev und Connor: »Ihr alle müsst es euch anschauen.«
Während sie vom Tisch aufstehen, schaltet Pivane den Fernsehapparat auf der anderen Seite des großen Zimmers an. Er zappt durch die Programme, bis er einen Nachrichtensender findet.
Wenn es je in Frage stand, wie dieser Abend verlaufen würde, bestehen jetzt keine Zweifel mehr: Auf dem Bildschirm hinter dem Nachrichtensprecher erscheint Connors Gesicht.
»… Die Jugendbehörde setzte den Gerüchten und wilden Spekulationen ein Ende und bestätigte, dass Connor Lassiter, der seit über einem Jahr für tot gehalten wurde, tatsächlich am Leben ist. Lassiter, auch bekannt als ›Flüchtling aus Akron‹, war eine Schlüsselfigur in der Revolte im Ernte-Camp Happy Jack, die mit neunzehn Toten und der Flucht von vielen hundert Wandlern endete.«
Connor und Lev starren fassungslos auf den Bildschirm. Der Nachrichtensprecher fährt fort:
»Man nimmt an, dass er mit Lev Calder und Risa Ward unterwegs ist, die beide in der Revolte eine wichtige Rolle spielten.«
Auch Risas und Levs Bild erscheint auf dem Bildschirm. Nicht Lev, wie er jetzt aussieht, sondern wie er damals aussah: adrett, unschuldig und unwissend.
»Ist das schlecht?«, fragt Grace und beantwortet ihre Frage gleich selbst. »Ja, das ist schlecht.«
Der Sender schaltet zu einem Interview mit einem aufgeblasenen Vertreter der Jugendbehörde, der ein Bild von Connor und einem schmuddelig aussehenden Jungen hochhält. Wahrscheinlich Grace’ Bruder, wie Lev annimmt. Der Typ von der Jugendbehörde scheint verärgert darüber zu sein, dass er diese Information preisgeben muss, aber er braucht die Hilfe der Öffentlichkeit.
»Unsere Analysten haben bestätigt, dass dieses Foto echt ist und vor gut zwei Wochen aufgenommen wurde. Der junge Mann auf diesem Bild, Argent Skinner, und seine Schwester, Grace Skinner, werden derzeit vermisst. Wir glauben, dass Lassiter sie entweder entführt oder getötet hat.«
»Was!« Connors Aufschrei klingt wie ein Quaken.
»Wer Informationen über diesen Flüchtling hat, soll bitte sofort die Behörden kontaktieren. Versuchen Sie nicht, sich ihm zu nähern, denn er ist bewaffnet und gilt als gefährlich.«
Lev wendet seine Aufmerksamkeit vom Fernsehapparat zu Connor, der bereits am Ausflippen ist. Wer ihn nicht kennt, würde ihn in diesem Augenblick für ziemlich gefährlich halten.
»Ganz ruhig, Connor«, sagt Lev. »Sie wollen, dass du wütend bist. Je wütender du bist, desto mehr Fehler machst du und desto leichter kriegen sie dich. Dass sie an die Öffentlichkeit gehen, heißt, sie haben keine Ahnung, wo du bist. Du bist also immer noch in Sicherheit.«
Aber in diesem Augenblick scheint Connor nichts anderes zu hören als den Tumult in seinem Kopf. »Verdammter Mist! Wenn sie mir den ganzen gottverdammten Heartland-Krieg in die Schuhe schieben könnten, würden sie es tun. Ich war zwar damals noch nicht mal geboren, aber sie würden schon einen Weg finden!« Connor schlägt mit seiner transplantierten Hand gegen die Wand und verzieht das Gesicht vor Schmerz.
»Eine Lüge«, sagt Elina ruhig, »ist eine mächtige Waffe, und die Jugendbehörde weiß sie sehr gut einzusetzen.«
Grace schaut sie verängstigt der Reihe nach an: »Warum wird Argent vermisst? Was ist mit ihm?«
Dann tönt es hinter ihnen: »Wer ist Argent? Ist er wirklich tot? Hat Connor ihn getötet?«
Sie drehen sich zu Kele um, den sie in diesen erschütternden Augenblicken vollkommen vergessen hatten.
Levs und Elinas sachliche Logik können Connor nicht beruhigen, aber der ängstliche Ausdruck auf Keles Gesicht scheint seine Wirkung zu tun.
»Nein, ist er nicht, und nein, habe ich nicht.« Connor hat seine Stimme wieder ein bisschen mehr unter Kontrolle. »Wo immer er ist, ich bin sicher, es geht ihm gut.«
Kele scheint nur halbwegs überzeugt zu sein, und das beunruhigt Lev. Er ist nämlich ein bisschen unberechenbar. Während Levs Anwesenheit im Reservat zumindest »inoffiziell« bekannt ist, weiß niemand, dass der berüchtigte Flüchtling aus Akron sich ebenfalls hier aufhält. Kele hatte versprochen, seine Anwesenheit hier geheim zu halten, aber konnte er das noch, jetzt da das Geheimnis so bedrohlich groß geworden war?
»Was sollen wir tun?«, fragt Lev Elina, obwohl er weiß oder wenigstens hofft, was sie sagen wird.
»Ihr bleibt natürlich in unserer Obhut«, sagt Elina.
Lev atmet aus. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte.
»Den Teufel werden wir tun«, blafft Connor.
Lev packt ihn an der Schulter, damit er nicht wegstürmen kann.
»Das ist aber im Moment das Klügste. Da draußen weiß niemand, dass wir hier sind. Wir verstecken uns einfach, bis wir nicht mehr in den Nachrichten sind.«
»Wir werden immer in den Nachrichten sein, Lev! Und das weißt du ganz genau.«
»Aber wir werden nicht immer der Aufmacher sein wie heute. Lass uns ein paar Wochen abwarten. Vielleicht schaffen wir es dann, uns unsichtbar zu machen. Jetzt aufzubrechen, ist das Dümmste, was wir tun können.«
»Und während wir hier rumsitzen, wandeln sie die Kids vom Friedhof um!«
»Und was bringt es ihnen, wenn du gefasst wirst?«, gibt Lev zu bedenken. »Solange du auf freiem Fuß bist, haben sie Hoffnung und Mut.«
»Nur Feiglinge verstecken sich!«, widerspricht Connor.
»Aber Krieger liegen auf der Lauer«, mischt sich Elina ein. »Der einzige Unterschied besteht darin, ob Furcht dich antreibt oder ein Ziel.«
Das bringt Connor wenigstens für den Augenblick zum Schweigen. Elina ist immer gut darin, Leuten mit Stoff zum Nachdenken den Mund zu stopfen. Connors Augen glühen noch ein bisschen nach, dann lässt er sich schicksalsergeben auf einen Esszimmerstuhl fallen. Er betrachtet seine Fingerknöchel. Sie sind aufgeschürft und bluten. Das tut bestimmt weh, aber er scheint eine gewisse Befriedigung aus dem Schmerz zu ziehen.
»Sie glauben, dass Risa bei uns ist«, sagt Connor. »Ich wäre froh, wenn es so wäre.«
»Sobald sie die Nachrichten sieht«, erklärt Lev, »weiß sie, dass du noch am Leben bist. Und das ist gut.«
Connor wirft ihm einen fast schon angeekelten Blick zu: »Deine Begabung, immer die Sonnenseite von allem zu sehen, macht mich krank.«
In den Nachrichten geht es inzwischen um den Klatscher-Angriff der Woche, und Pivane schaltet den Fernseher aus. »Mal realistisch gesehen: Wie lange können wir Connors Anwesenheit hier noch geheim halten?«
Lev bemerkt, dass Kele immer schuldbewusster ausschaut, deshalb fragt er ihn unverblümt: »Wem hast du davon erzählt, Kele?«
»Niemandem«, antwortet Kele, aber als Lev ihn weiterhin ansieht, rückt er mit der Wahrheit heraus: »Nur Nova. Aber sie hat versprochen, es nicht weiterzusagen, und ich traue ihr.« Dann fügt er hinzu: »Ich hab gedacht, er ist sicher. Die Jugendbehörde ist doch hinter ihm her, und Connor ist doch kein Jugendlicher mehr, oder?«
»Das spielt keine Rolle«, erklärt Chal. »Seine sogenannten Straftaten hat er begangen, als er unter ihrer Rechtsprechung stand, und das bedeutet, dass sie ihn bis ins hohe Alter verfolgen können.«
Pivane geht im Zimmer auf und ab. Elina reibt sich die Stirn, als würde sie Kopfschmerzen bekommen, und Kele sieht so elend und verzweifelt aus, als wäre gerade sein Hund gestorben. Lev kann sich jetzt schon vorstellen, wie die ganze Geschichte ins Rollen kommt.
»Wenn sich das herumspricht«, sagt Chal, »und die Jugendbehörde uns auffordert, ihn und Lev zu übergeben, können wir uns weigern. Ich kann auf politisches Asyl plädieren – und ohne einen Auslieferungsvertrag hat die Jugendbehörde keine Handhabe.«
Elina schüttelt den Kopf. »Sie setzen den Stammesrat unter Druck, und der Rat wird nachgeben – wie immer.«
»Aber das verschafft uns Zeit. Und ich kann ihnen immer wieder Hindernisse in den Weg legen, um weiter Zeit zu schinden.«
Da mischt Grace sich ein. »Wisst ihr, was besser ist als Hindernisse?«, fragt sie. »Umleitungen!«
Lev und die andern halten Grace für ein bisschen begriffsstutzig, Connor jedoch kennt sie besser.
»Was du meinst damit, Grace?«
Da sie jetzt im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, wird sie ganz lebhaft und fuchtelt so sehr mit den Händen, dass es fast an die Zeichensprache der alten Welt erinnert. »Wenn ihr sie mit Hindernissen stoppt, werden sie sie früher oder später durchbrechen. Eine bessere Strategie wäre es, sie einen gewundenen Weg hinunterzuschicken, der sich ewig hinzieht, so dass sie denken, sie kommen voran. Aber in Wirklichkeit treten sie auf der Stelle.«
Einen Augenblick lang herrscht verblüfftes Schweigen, dann grinst Pivane. »Das leuchtet tatsächlich ein.«
Lev schaut Connor mit hochgezogenen Augenbrauen an. Grace hat offenbar mehr auf dem Kasten, als man auf den ersten Blick sieht.
Chals Gesicht nimmt einen geistesabwesenden, aber sehr nachdenklichen Ausdruck an, als ob er über einer Gleichung brüten würde: »Die Hopi wollen unbedingt, dass ich sie in einem größeren Rechtsstreit um ein Stück Land vertrete. Ich könnte mich dazu bereit erklären, und im Gegenzug könnte der Hopi-Rat verkünden, dass die Hopi Connor und Lev Asyl gewähren.«
»Und wenn dann«, fügt Connor alles zusammen, »die Leute hier anfangen zu reden, werden die JuPos nichts hören, weil sie sich auf die Hopi stürzen. Und wenn sie dann endlich herausgefunden haben, dass wir gar nicht dort sind, sind sie wieder genauso weit wie zuvor!«
Die gedrückte Stimmung, die nur einen Augenblick zuvor von Verzweiflung gezeichnet war, schlägt rasch in Hoffnung um. Lev jedoch spürt einen dicken Kloß im Hals: »Würdet ihr euch für uns wirklich so weit aus dem Fenster lehnen?«, fragt er seine Gastgeber.
Zuerst antworten sie nicht. Pivane weicht seinem Blick aus, und Elina lässt Chal den Vortritt. Endlich spricht Chal für sie alle: »Wir haben dir Unrecht getan, Lev. Das ist die Chance, es wiedergutzumachen.«
Pivane packt Lev so fest an der Schulter, dass es schmerzt, aber Lev lässt sich nichts anmerken. »Ich muss zugeben, ich bin sogar ein bisschen stolz darauf, modernen Volkshelden Unterschlupf zu gewähren.«
»Wir sind keine Helden«, antwortet Lev.
Darüber muss Elina lächeln: »Wahre Helden glauben nie, dass sie welche sind«, sagt sie zu ihm. »Mach nur so weiter, Lev, und leugne es mit jeder Faser deines Daseins.«