Martha
Als Martha am nächsten Morgen zum Frühstück nach unten kam, saßen die anderen Gäste bereits dort. Nur ein kleiner Tisch, für zwei Personen gedeckt, war noch frei. Hinter dem Erkerfenster schien die Sonne auf die Abbey Terrace, der Himmel war wieder blau.
Neben der Tür stand ein Teewagen, von dem man sich selbst bedienen durfte: Krüge mit Orangen- und Grapefruitsaft, Milch und Miniaturpackungen Cornflakes, Special K, Rice Krispies, Alpen und Frosties. Martha nahm eine Portion Alpen, goss sich ein Glas Saft ein und setzte sich. Aus der rostfreien Metallkanne auf dem Tisch schenkte sie sich eine Tasse Tee ein. Der Farbe nach zu urteilen, hatte der Tee zu lange gezogen. Sie betrachtete den Platz ihr gegenüber und hoffte, dass sich niemand zum Frühstück zu ihr gesellen würde. Als typischer Morgenmuffel hatte sie sich schon dazu zwingen müssen, den anderen Gästen zuzunicken und Hallo zu sagen. Ein Gespräch käme nicht in Frage.
Während sie ihren Tee trank, schaute sie sich im Raum um. Im Erker saß ein altes Paar. Das dunkle Haar des Mannes war von seiner zerfurchten Stirn gerade nach hinten gekämmt und mit Frisiercreme auf den Kopf geklatscht worden. Er hatte gelächelt, als sie hereingekommen war, und dabei fleckige und schiefe Zähne entblößt. Sein graues Gesicht hatte das faltige und ausgehöhlte Äußere eines Kettenrauchers und seine kurzen, emphysematischen Atemzüge bestätigten die Diagnose. Seine Frau hatte nicht gelächelt. Sie hatte Martha nur mit argwöhnischem Blick angestarrt, als wollte sie sagen: »Ihren Typ kenne ich, junge Dame.« Blaugraues Haar schwebte wie Nebel über ihrem mondförmigen Kopf.
Vor der gegenüberliegenden Wand saß ein junges Paar, wahrscheinlich in den Flitterwochen, vermutete Martha. Beide sahen sehr ernsthaft aus. Der Mann war dünn, dunkel, bärtig und akkurat beim Einschenken des Tees; das Gesicht der Frau war, vornübergebeugt wie sie dasaß, fast vollständig von ihren wallenden, glänzend schwarzen Haaren verdeckt. Wenn sie zu ihm aufschaute, erleuchtete ein schüchternes, verstecktes Lächeln ihre Augen. Die beiden hatten Martha nicht einmal wahrgenommen, als sie hereingekommen war.
Der meiste Lärm kam vom dritten Tisch nahe des Teewagens, wo sich eine müde aussehende junge Frau und ein ähnlich erschöpft wirkender Mann bemühten, mit tapferer Miene zwei quengelige Kinder im Zaum zu halten. Die Kinder sahen aus wie Zwillinge, sie hatten das gleiche blonde Haar und die gleichen nörgelnden Stimmen: »Ich mag keine Shreddies, Daddy! Warum gibt es keine Sugar Puffs? Ich will Sugar Puffs!« »Nimm doch Frosties«, sagte die blasse Mutter in dem vergeblichen Versuch, sie zu beschwichtigen. Der Vater, mit weißen Hosen und einem hellblauen Sporthemd, das die lockigen, kupferroten Haare auf seinen Unterarmen sehen ließ, für einen Tag am Strand gekleidet, schaute herüber zu Martha und zuckte mit den Achseln: Was soll man nur mit ihnen machen?
Die Frau des Inhabers kam herein, um die Bestellungen aufzunehmen. Große Auswahl gab es allerdings nicht: Man konnte seine Eier hart oder weich bekommen, seinen Speck medium oder knusprig. Die Frau hatte einen entschlossenen Zug um den Mund, sie ging ihrer Arbeit mit einer brüsken, humorlosen Bestimmtheit nach, auch wenn sie die ganze Zeit ein Lächeln aufsetzte und auf das Geplänkel über das Wetter reagierte. Wenn in diesem Haus jemand die Hosen anhatte, dachte Martha, dann war es wohl die Frau. Ihr Mann ging wahrscheinlich einem anderen Beruf nach und war nur zufällig da gewesen, weil Martha am späten Nachmittag angekommen war. Vielleicht war er sogar Fischer. Wenn sie die Gelegenheit bekäme, einmal unverbindlich mit ihm zu plaudern, könnte sie vielleicht etwas darüber herausfinden, wie der hiesige Fischereibetrieb funktionierte.
Gleich nachdem sie knusprigen Speck und pochierte Eier bestellt hatte, kam der letzte Gast herunter, gab seine Bestellung ab und bediente sich mit Müsli und Saft, kam damit zu Marthas Tisch und ließ sich ihr gegenüber nieder. Er war groß und sah athletisch aus, wahrscheinlich ein Jogger, mit tiefer Sonnenbräune, einem schmalen Gesicht, Adlernase und lebhaften, blauen Augen. Sein kurzes, gelocktes schwarzes Haar glitzerte noch von der Dusche. Er roch nach Old Spiee Aftershave.
Er schenkte sich Tee ein und grinste breit, wobei er perfekte und blendend weiße Zähne entblößte, eine Seltenheit in englischen Mündern. Mein Gott, dachte Martha, ein Morgenmensch. Wahrscheinlich war er vor dem Frühstück schon durch die Stadt gejoggt. Sie rang sich ein dünnes, kurzes Lächeln ab und schaute dann wieder weg, um zu sehen, wie das Paar mit den beiden Kindern zurechtkam.
»Gut geschlafen?«
»Entschuldigung?«
Der junge Mann beugte sich erneut vor und senkte seine Stimme. »Ich fragte, ob Sie gut geschlafen haben?«
»Gut, danke.«
»Ich nicht.«
»Ach?«
»Man hat mich genau neben dem Badezimmer einquartiert. Um sechs ging der Aufmarsch los - einer nach dem anderen - und jeder musste die Klospülung betätigen. Ich hatte das Gefühl, die Rohre laufen durch mein Bett. Wo wir gerade vom Krach reden: Ich heiße übrigens Keith.« Er streckte seine Hand aus und lächelte. »Keith McLaren.« Sein Akzent war eindeutig australisch, dachte Martha, aber da sie sich nur auf regionale britische Dialekte spezialisiert hatte, konnte sie ihn keiner bestimmten Region zuordnen.
Martha nahm widerwillig seine Hand und schüttelte sie kurz und schlaff. »Martha Browne.«
»Und bevor Sie fragen, ja, ich bin ein Aussie. Ich habe mir nur ein bisschen von der Universität freigenommen, um Ihr schönes Land zu bereisen.«
»Sie studieren?«
»Ja. Surfen und Sonnen auf Magister an der Bondi-Beach-Universität.« Er lachte. »Stimmt nicht. Ich wünschte, es wäre so. Ich studiere Jura, was nicht halb so interessant ist. Ich reise die Küste entlang bis nach Schottland. Dort habe ich Familie.«
Martha nickte höflich.
»Und die Seemöwen«, sagte Keith ohne Zusammenhang, soweit Martha feststellen konnte.
»Was?«
»Die verdammten Möwen haben mich auch geweckt. Haben Sie sie nicht gehört?«
»Möwen, sagen Sie?« Die Frau des Inhabers kam zu ihrem Tisch und stellte zwei Teller ab, die sie mit Topfhandschuhen getragen hatte. »Vorsicht, die sind heiß. Möwen, ja? Man gewöhnt sich dran, wenn man hier wohnt. Geht ja nicht anders.«
»Sie werden nie von ihnen aufgeweckt?«, fragte Keith.
»Nie. Seit den ersten paar Monaten nicht mehr.«
»So lange werde ich leider nicht bleiben können.« Er schaute wieder Martha an. »Morgen geht's weiter. Wenn möglich fahre ich immer mit dem Bus. Wenn nicht, gehe ich zu Fuß oder trampe.«
»Na, dann viel Glück«, sagte die Frau und ging weiter.
Keith starrte auf seinen Teller und stocherte mit seiner Gabel in einem dunklen, runden Klumpen herum. »Was ist denn das?«, fragte er, rümpfte seine Nase und beugte sich vor, um zu flüstern. »Was auch immer es ist, ich kann mich nicht erinnern, es bestellt zu haben.«
Martha betrachtete, was auf seinem Teller lag. Das Gleiche wie auf ihrem: Speck, Eier, gegrillte Tomate und Pilze, geröstetes Brot und das Ding, auf das Keith zeigte. »Black Pudding, nehme ich an«, sagte sie. »Muss das Tagesgericht sein.«
»Woraus wird das gemacht?«
»Das wollen Sie nicht wissen. Nicht so früh am Morgen.«
Keith lachte und langte zu. »Na ja, es schmeckt jedenfalls nicht übel. Das gefällt mir an diesen Pensionen. Man bekommt immer ein Frühstück, das einen für den ganzen Tag stärkt. Bis zum Abendessen brauche ich nicht mehr als ein Sandwich. Essen Sie hier?«
»Abends nicht, nein.«
»Das sollten Sie aber. Ich komme für gewöhnlich zurück. Na ja, ich sage für gewöhnlich, dabei ist das erst mein dritter Tag. Sie machen ein anständiges Abendessen. Auch nicht teuer.«
Als er sich wieder seinem Frühstück widmete, hörte er auf zu reden und ließ Martha in Ruhe. Sie aß schnell und hoffte, gehen zu können, bevor er wieder begann, obwohl sie wusste, dass ein hastiges Essen ihren Magen verstimmen würde. Am anderen Ende des Raumes schnippte eines der Kinder mit seinem Löffel eine Tomatenscheibe an die Wand. Sie klatschte an die ausgeblichene Tapete mit Rosenmuster, rutschte hinab und ließ eine rosa Spur zurück. Der Vater wurde rot und nahm ihm wütend den Löffel weg, während die Mutter aussah, als würde sie vor Scham sterben.
Martha schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Entschuldigen Sie mich«, sagte sie zu Keith. »Ich muss los. Ich habe eine Menge zu tun.«
»Wollen Sie Ihren Tee nicht mehr?«, fragte Keith.
»Ich hatte schon zwei Tassen. Er ist sowieso zu bitter.« Und dann eilte sie hinauf in ihr Zimmer. Sie verschloss die Tür, öffnete das Fenster und rauchte genüsslich eine Zigarette, während sie auf der Fensterbank lehnte und die kleinen, weißen Wolken über St. Mary's betrachtete.
Nachdem sie die Rothmans aufgeraucht hatte und auf der Toilette gewesen war, nahm sie ihre Tasche und ging wieder hinaus zur Treppe. Auf dem Gang der ersten Etage stieß sie mit Keith zusammen, der gerade aus seinem Zimmer kam. Muss mein Glückstag sein, dachte sie.
»Wollen Sie mich nicht herumführen?«, fragte er. »Wir beide sind hier ganz allein ... Ich meine, das ist doch eine Schande.«
»Sie kennen sich hier bestimmt besser aus als ich. Ich bin gerade angekommen und Sie sind schon drei Tage hier.«
»Ja, aber Sie sind eine Einheimische. Ich bin nur ein armer, unwissender Fremder.«
»Tut mir Leid«, sagte Martha, »ich muss arbeiten.«
»Ach? Was denn?«
»Recherche. Ich arbeite an einem Buch.«
Sie gingen die letzte, mit Teppich ausgelegte Treppe hinunter in den Korridor. Martha konnte sich nicht einfach von ihm verabschieden. Sie wollte sehen, in welche Richtung er ging, damit sie die andere nehmen konnte.
»Tja, vielleicht können wir heute Abend etwas zusammen trinken, nachdem Sie Ihre Arbeit erledigt und ich mir meine armen Füße wund gelaufen habe?«
»Tut mir Leid, aber ich weiß nicht, wann ich fertig sein werde.«
»Ach, kommen Sie. Sagen wir sieben Uhr, okay? Sie wissen doch, was man sagt: Erst die Arbeit, dann das Vergnügen ... Gleich am anderen Ende der Straße gibt es einen netten, ruhigen kleinen Pub. The Lucky Fisherman, heißt er, glaube ich. Verabredet? Morgen bin ich ohnehin weg, Sie müssen mich also nur dies eine Mal ertragen.«
Martha dachte eilig nach. Sie waren mittlerweile durch die Tür gegangen und gingen bereits die Stufen hinab auf den Pfad. Wenn sie nein sagte, würde es in der Tat sehr merkwürdig aussehen, und das Letzte, was sie wollte, war, aufzufallen. Hier war es schon schlimm genug, als Frau allein zu sein. Wenn sie sich seltsam verhielt, würde dieser Keith nur einen Grund haben, sie als eine komische Figur in Erinnerung zu behalten, und das durfte nicht sein. Wenn sie jedoch zustimmte, mit ihm etwas zu trinken, würde er ihr zweifellos alle möglichen Fragen über ihr Leben stellen. Doch es hinderte sie ja nichts daran, ihm einen Haufen Lügen aufzutischen. Für eine Frau mit ihrer Fantasie sollte das kein Problem sein.
»In Ordnung«, sagte sie, als sie die Gartenpforte erreichten. »Sieben Uhr im Lucky Fisherman.«
Keith strahlte. »Großartig. Bis dann. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
Er wandte sich nach links und Martha nach rechts.