* 33

Susan

 

»Zum Teil war es die Art, wie du deine Zigarette rauchst«, erklärte Keith. »Jeder Mensch ist anders. Du hältst die Zigarette gerade zwischen Zeige- und Mittelfinger, wie eine echte Lady oder als würdest du nur so tun, als ob du rauchst.« Er grinste. »Aber weshalb diese neue Aufmachung? Du siehst so feminin aus. Was nicht heißen soll, dass du vorher nicht feminin ausgesehen hättest, es ist nur ...« Er verstummte.

  Sue lächelte und schnippte ihre Zigarette in den Sand. »Wie sagt man so schön: Abwechslung wirkt Wunder.« Warum zum Teufel musste er wieder auftauchen? Was sollte sie jetzt mit ihm anstellen?

  »Hast du ein Wunder gesucht?«

  »Nein, Abwechslung.«

  Beide lachten.

  »Aber im Ernst, Martha«, beharrte er, »das ist ja fast so, als wolltest du jemandem aus dem Weg gehen. Stimmt das?«

  »Es ist nur ein Rock und eine Bluse. Du tust ja so, als hätte ich mich als Richard III. verkleidet.«

  »Aber die Perücke?«

  Sue berührte das falsche Haar. »Ich hatte genug von den kurzen Haaren. Und keine Geduld, zu warten.«

  »Und das Make-up?«

  »Kann eine Frau nicht mal etwas Lippenstift benutzen?«

  Keith lächelte. »Das überzeugt mich noch nicht. Ich glaube, du bist eine Spionin. Ich weiß nur nicht, auf welcher Seite du stehst.«

  Trotz der Verstimmung, mit der sie sich getrennt hatten, freute er sich anscheinend, sie wiederzutreffen. Doch an der Art, wie er sie musterte, merkte sie, dass er misstrauisch war. Er hatte sie ohne große Schwierigkeiten erkannt, so viel stand fest. Vielleicht lag es daran, dass sie ihm gefiel, denn wenn einem jemand gefällt, achtet man auf solche Kleinigkeiten, wie der andere die Zigarette hält oder wie er geht. Sie war sich sicher, dass Fremde, Menschen, denen sie zufällig auf der Straße begegnet war oder die neben ihr in einem Pub gesessen hatten, sie nicht mit der kurzhaarigen, knabenhaften Martha Browne in Verbindung brächten. Doch Keith könnte ein Problem sein.

  »Was machst du hier oben?«, fragte er.

  »Ich mache nur einen Ausflug. Und du? Ich dachte, du wärst schon längst in Edinburgh.«

  »O nein, ich reise sehr langsam. Erst Sandsend, dann Runswick Bay und jetzt Staithes.« Sue fiel wieder auf, wie ausgeprägt sein australischer Akzent war: Staithes klang bei ihm wie Steithes. »Ich habe es nicht eilig«, fuhr er fort. »Vielleicht komme ich nie wieder hierher. Außerdem war das Wetter verdammt schön. Nach allem, was ich vorher gehört habe, ist das schon wieder einmalig für England. Bist du noch in Whitby?«

  »Ja.«

  »Immer noch in der gleichen Pension?«

  »Ja.«

  »Immer noch Black Pudding zum Frühstück?«

  »Meistens.«

  Sues Gedanken rasten. Zunächst einmal wollte sie mit ihm nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden und sie konnten sich kaum deutlicher präsentieren als hier an der Hafenmauer. Zum Glück war im Moment so gut wie niemand in der Nähe. Am Strand saßen ein paar Leute, doch die schauten aufs Meer, und nahe des Cod and Lobster standen zwei blonde Kinder, die wie Zwillinge mit weißen Shorts und blaurot gestreiften T-Shirts gekleidet waren und Eis aßen. Die anderen Leute waren entweder im Pub, in den Läden oder warteten im Restaurant auf ihr Essen. Zudem schreckte der steile Abstieg ins Dorf wahrscheinlich eine Menge älterer Besucher ab, dachte Sue. Egal wie warm es war, die Leute blieben am liebsten direkt vor dem Meer in ihren Wagen sitzen, und das konnten sie hier nicht. Es war zwar ziemlich leicht, hinab zum Strand zu kommen, der Weg zurück den Berg hinauf war für viele jedoch bestimmt ein zu hoher Preis für einen kurzen Ausflug an die Küste.

  Bisher hatte noch niemand richtig Notiz von ihnen genommen. Als Erstes musste sie Keith irgendwo hinlotsen, wo nicht so viel los war, dann würde sie klar denken können. Ihr gefiel die Idee nicht, die sich formte, die sich ihr praktisch aufdrängte, doch bisher war ihr noch kein anderer Ausweg eingefallen.

  »Was hast du jetzt vor?«, fragte er.

  »Tja«, sagte Sue, »ich wollte an der Küste entlang nach Runswick Bay gehen und dann dort den Bus nach Whit-by nehmen. Was meinst du? Ist es zu weit?«

  »Nein, überhaupt nicht. Ich bin die Strecke selbst gelaufen. Kein großes Ding. Weißt du was? Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mitkommen. In meiner Karte ist allerdings ein noch besserer Weg eingezeichnet. Man geht entlang der Klippen bis Port Mulgrave, dann durch einen Wald zurück landeinwärts und gelangt in einem Bogen auf die Hauptstraße. Auf der kommst du zu deiner Bushaltestelle und ich zurück nach Staithes. Was meinst du?«

  »In Ordnung. Bist du sicher, dass du nichts anderes zu tun hast?«

  »Wie gesagt, ich bin im Urlaub. Keine Pläne, keine Zeitungen, kein Fernsehen. Ferien von der Welt.«

  Sue erinnerte sich, dass er schon bei ihrem letzten Treffen gesagt hatte, dass er keine Zeitungen las. Das gab ihr ein wenig Sicherheit - besonders da er auch Jack Grimleys Tod nicht erwähnt hatte. Doch es blieben immer noch zu viele Möglichkeiten, dass jemand wie Keith zufällig auf ein Verbrechen in der Gegend aufmerksam wurde: etwa durch ein Foto von Grimley und eine Bitte um Informationen, die in irgendeinem Pub oder Café entlang der Küste aushingen. Oder durch eine Zeitung, in der eines Abends sein Fish and Chips eingewickelt war. Vielleicht schaute gerade jemand im Aufenthaltsraum seiner Pension Lokalnachrichten im Fernsehen, während er hereinkam, um sich eine Tasse Tee zu machen. Und er würde sich erinnern, das war das Problem. Er hatte sie selbst in ihrer Verkleidung erkannt, also würde er mit Sicherheit Jack Grimley wiedererkennen, denn er hatte gesehen, wie sie den Mann im Lucky Fisherman angestarrt hatte. Je mehr sie sich ängstlich fragte, was Keith wusste, desto mehr merkte sie, dass sie sich ganz und gar nicht sicher fühlte. Warum war er nicht geradewegs nach Schottland gefahren oder hatte ein Flugzeug zurück nach Oz genommen?

  Keith interpretierte ihr Schweigen als Zögern. »Hör zu, Martha«, sagte er, kratzte sein Ohrläppchen und schaute hinaus aufs Meer. »Ich weiß, dass ich etwas zu weit gegangen bin, damals, als ... du weißt schon ... und es tut mir Leid. Ich möchte, dass du weißt, dass es mir nicht nur um das eine geht. Ich fände es nur nett, einen Spaziergang mit dir zu machen. Ich werde nichts probieren. Ehrlich.«

  Sue stand auf und wischte den Sand von ihrem langen Rock. Sie schmiedete einen Plan, und wenn er glaubte, sie überreden zu müssen, würde das ihren Absichten nur zugute kommen. »Schon in Ordnung«, sagte sie. »Ich wollte nicht so schroff zu dir sein. Ich bin ja keine Nonne oder so. Es ging einfach zu schnell. Ich kannte dich ja kaum.« Sie lächelte ihn an.

  Keith sah überrascht aus. »Ja, gut ... äh ... wollen wir dann los?«

  »Hast du nichts weiter dabei?«

  »Was soll ich denn dabeihaben? Lieber Gott, für so einen einfachen Spaziergang muss man doch nichts mitnehmen.« Er musterte sie von oben bis unten. »Du könntest sogar in deinem Aufzug losgehen, obwohl ich es nicht empfehlen würde. Nein, ich habe nur meine Karte dabei.« Er klopfte auf die Gesäßtasche seiner Jeans.

  »Ich meinte deine Sachen, deinen Rucksack und so weiter.«

  »Der ist in der Pension. Ich bin nur kurz durchs Dorf geschlendert. Nein, ich bin so bereit, wie ich bin.« Mit ausgebreiteten Armen stand er vor ihr: großgewachsen, schlank, mit schmalem Gesicht und braun gebrannt. Seine lockigen, dunklen Haare glänzten wieder, als wäre er gerade aus der Dusche gestiegen, und in seinen Augen spiegelte sich ein blaueres Meer als das, das vor ihnen lag.

  »Was meinst du damit, dass ich nicht richtig angezogen bin?«, fragte Sue.

  »War nur Spaß. Es ist keine schwierige Wanderung. Aber Röcke bleiben gerne an Dornen oder so hängen und in diesen Pumps werden dir die Füße höllisch wehtun.«

  »Warte hier einen Moment.«

  Sue eilte in die öffentliche Toilette, stellte sicher, dass niemand in der Nähe war, und ging in eine Kabine, um sich umzuziehen. Zuerst nahm sie die Perücke ab, kratzte sich danach erleichtert den Kopf, stieg anschließend in ihre Jeans und zog ein dunkelblau kariertes Hemd und ihre Turnschuhe an. Vorsichtig rollte sie die Perücke, den langen Rock, die weiße Bluse und die Strickjacke zusammen und steckte alles in ihre Tasche. Manchmal war es eine Plage, das verdammte Ding überallhin mitnehmen zu müssen, dachte sie, doch andererseits war die Tasche nicht besonders schwer, und wenn sie wollte, konnte sie sie am Riemen über der Schulter tragen.

  Für den Fall, dass es hoch oben auf den Klippen kühl wurde, legte sie die Steppjacke zuoberst auf die anderen Sachen. Schließlich kämmte sie sich in dem angeschlagenen, schmierigen Spiegel über dem Waschbecken die Haare und prüfte ihr Make-up. Nicht schlecht. Da sie den Tag nicht in Whitby verbringen wollte, hatte sie am Morgen ohnehin nicht zu viel aufgelegt, da war es jetzt überflüssig, sich komplett abzuschminken. Es könnte jemand hereinkommen. Sie tupfte nur schnell ihre Lippen mit Kleenex ab und lief dann hinaus zu Keith.

  »Dann geh mal vor«, sagte sie, machte einen Diener und ließ ihm den Vortritt.

  Keith lachte. »Bist du sicher, dass du keine Spionin oder Schauspielerin oder so bist?«

  »Ganz und gar nicht.« Sue schenkte ihm ein Lächeln, das geheimnisvoll sein sollte, dann gingen sie los.

  Neben der Missionskirche von St. Peter dem Fischer stiegen sie auf gewundenem Weg hinauf, folgten dann der Ausschilderung zum Cleveland Way, der an einigen Bauernhöfen vorbei und über ein paar Zaunübertritte direkt den Berg hinauf zum Klippenrand führte. Unter ihnen breitete sich das Dorf aus. Obwohl es ein klarer, warmer Tag war, drifteten aus manchen Schornsteinen träge Rauchfahnen. Oben auf der Klippe wehte eine kühle Brise vom Meer. Während sie anhielt, um zu verschnaufen, zog Sue die Steppjacke an, die sie in ihrer Tasche getragen hatte.

  »Was hast du in dem Ding?«, fragte Keith. »Dein Lebenswerk?«

  »So was in der Art.«

  Der ungesicherte Pfad führte nah am Klippenrand entlang und der Abgrund war jäh. Nachdem Keith stehen geblieben war, um ihr die Boulby Cliffs weiter die Küste hinauf zu zeigen, gingen sie im Gänsemarsch weiter. Der Pfad war zwar nicht befestigt, doch größtenteils ebenerdig, und bald fielen sie in einen angenehmen Gehrhythmus. Keith redete fast die ganze Zeit, wobei er seinen Kopf halb umwandte, um sie anzuschauen. Er erzählte, wie sehr ihm England gefiel, obwohl er immer noch Heimweh verspürte, und er erzählte von einer Leiche, die am Strand von Sandsend angespült worden sei, während er gerade dort übernachtet habe. Nein, genau gesehen habe er sie nicht. Als er bemerkt habe, dass etwas passiert war, habe sich eine Menge Schaulustiger versammelt, und die Polizei sei auch schon da gewesen.

  Jetzt stand für Sue fest, dass sie ihn umbringen musste. Er war einfach eine zu große Gefahr, als dass sie ihn laufen lassen durfte. Sie wusste nicht, wie die Polizei mit ihren Ermittlungen zu Grimleys Tod vorankam, sie war sich jedoch sicher, dass man sie ohne Keith nicht mit dem Toten in Verbindung bringen konnte. Vielleicht hatte Keith die Leiche nicht gesehen, doch es bestand die Möglichkeit, dass er herausfand, wer der Tote war, und sich, sollte er befragt werden, an diese seltsame Frau erinnerte, die sich so verhalten hatte, als würde sie den Mann kennen ... die Frau, die ständig ihr Äußeres veränderte.

  Doch sie wusste nicht, ob sie es tun konnte. Keith hatte ihr nichts getan; er hatte nur versucht, sie zu küssen. Aber er könnte sie verraten, bevor sie ihre Aufgabe beendet hatte, und das durfte sie nicht zulassen, nach allem, was geschehen war. Der Tod von Grimley war ein Fehler gewesen, durch den sie beinahe schreiend zurück nach Hause gelaufen wäre. Jetzt Keith. Dabei hatte sie doch nur den Mann finden wollen, der sie verstümmelt und die anderen Mädchen ermordet hatte, um ihn zu töten und sein Gemetzel ein für alle Mal zu beenden. Und jetzt hatte sie sich bereits selbst mit Blut besudelt, ohne ihn gefunden zu haben. Wie weit würde sie noch gehen müssen?

  Nur mit Mühe verdrängte sie diese negativen Gedanken. Sie hatte ja keine andere Wahl, sagte sie sich. Irgendwie würde sie den Mut aufbringen müssen. Schließlich war er ein Mann, oder? Und im Grunde waren alle Männer gleich. Hatte er nicht versucht, sich plump an sie heranzumachen, und würde er es nicht wieder tun? Sie erschauderte bei dem Gedanken.

  Hier oben wäre es einfach. Nur ein leichter Stoß über den Rand oder ein kurzer Tritt in die Knöchel, der ihn stolpern und stürzen ließ. Ein Unfall. Doch der Weg war zu ungeschützt, sie konnte zwei andere Spaziergänger sehen, die sich aus der Gegenrichtung näherten. Es waren echte Wanderer mit Ferngläsern, Wanderstiefeln und Rucksäcken, die zwar weit mehr an den entfernten Meeresvögeln interessiert zu sein schienen als an anderen Menschen, doch es durfte keine Zeugen geben und keine zeitraubende gerichtliche Untersuchung der Todesursache. Als die Männer an ihnen vorbeikamen, schaute Sue in die andere Richtung. Obwohl sie bisher sicher war, dass sich niemand daran erinnern würde, sie mit Keith gesehen zu haben, gab es keinen Anlass, sorglos zu sein.

  In der Sonne funkelnde Möwen schwebten in geringer Höhe über die Klippen und um Sues Kopf schwirrten neugierige Insekten. Es dauerte nicht lange, und sie konnte unten den zerbröckelnden Pier von Port Mulgrave sehen, dann begannen sie mit dem Abstieg in das winzige Dorf. Keith wollte auf eine Tasse Tee und ein Sandwich im Boat House Tea Room einkehren, doch Sue drängte ihn weiter, sagte, sie wäre noch satt vom Mittagessen. Jetzt, da sie ihre Entscheidung getroffen hatte, war sie nervös, und das ließ sie auf der Hut sein. Als sie seine Hand nahm, ließ er sich allzu gern darauf ein, und sie gingen weiter die Straße entlang nach Hinderwell.

  Bald näherten sie sich auf einem holperigen Weg einem Campingplatz für Wohnwagen, dann wandten sie sich nach rechts, überquerten ein paar Felder und gingen einen steilen Abhang hinunter zu einer Fußwegbrücke über einen Bach. Es war ein abrupter Wechsel der Landschaft von der Küste in das Tal landeinwärts. Als sie Dornen- und Brombeerbüsche durchquerten, merkte Sue, was Keith mit dem Hängenbleiben ihres Rockes gemeint hatte. Selbst in Jeans musste sie vorsichtig gehen. Hier roch es auch anders. Der Geruch nach verwestem Fisch und Seetang war nur noch Erinnerung und einer süßen, mit Insekten erfüllten Luft gewichen, die nach zerdrückten Beeren und Bärlauch roch.

  Hinter den Dornensträuchern gelangten sie in den Wald. Der Pfad war zu beiden Seiten von dichten Büschen und hohen Bäumen gesäumt. Sie begegneten einem älteren Paar, das lächelte und grüßte, und nachdem sie dann einige Minuten durch den stillen Wald gegangen waren, schlug Sue vor, dass es Zeit für eine Pause war.

  »Aber hier kann man sich nirgendwo hinsetzen«, sagte Keith. »Nur auf den Pfad.«

  »Aber es gibt den Wald, oder?« Sue machte sich los und lief durch das Unterholz. »Komm, hier ist es schön!«, rief sie. »Kühl und dunkel. Hier finden wir bestimmt einen Platz zum Hinsetzen.« Keith lief hinter ihr her.

  Als sie weit genug gegangen waren, um vom Weg aus nicht mehr gesehen zu werden, zeigte Sue auf eine kleine Mulde zwischen zwei Bäumen. »Da. Perfekt.« Sie setzte sich und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Gefiltertes grünes Licht flimmerte durch das Laub und von ihren weit oben gelegenen Nestern riefen Vögel und warnten ihre Artgenossen vor den Eindringlingen. Keith ließ sich neben Sue nieder, so nah, dass sich ihre Arme berührten.

  Wie sie erwartet hatte, dauerte es nicht lange, bis er sich ihr näherte. Zuerst berührten seine Hände nur ihre Haare und ihren Hals. Die Spannung in ihr war fast unerträglich, doch sie versuchte, sich nicht zu versteifen. Dann küsste er sie. Sie ließ ihn gewähren. Während sie ihre Steppjacke auszog, um sie als Kissen gegen die raue Borke zu legen, begann er an den Knöpfen ihres Hemdes herumzufummeln. Sie ließ auch das zu. Ein Knopf, zwei Knöpfe, drei Knöpfe ... einer ihrer Arme lag um ihn, der andere tastete in ihrer Tasche. Ihr Mund war trocken, sie schmeckte immer noch den fettigen Kabeljau. Vier Knöpfe. Jetzt lag ihr Büstenhalter frei, und er beugte sich vor und küsste das dunkle Dekollete. Sie seufzte. Seine Finger wurden schneller und hatten das Hemd bald bis zur Taille aufgeknöpft. Ohne sich die Mühe zu machen, ihn auszuziehen, schob er ihren BH über die Brüste. Sie ließ ihn gewähren. Ihre freie Hand streichelte seinen Nacken, Tränen liefen über ihre geröteten Wangen.

  Plötzlich erstarrte er.

  »Mein Gott, Martha! Was ist passiert? Was ist passiert, um Himmels willen?«

  Er wich zurück und starrte entsetzt auf die Narben, die im Zickzack über die Haut ihrer Brüste verliefen. Sie sahen aus wie die Euter einer alten Hexe, wie Sue nur zu gut wusste. Ihre Hand schloss sich um den Briefbeschwerer.

  »Nichts«, sagte sie leise. »Nichts, worüber du dir Gedanken machen musst. Warum, stößt es dich ab?«

  »Ah, nein«, stammelte er verlegen. »So habe ich es nicht gemeint. Ich bin nur ...«

  »Dann mach weiter, Keith. Na los. Küss sie, wenn du magst.«

  Sie legte ihre freie Hand auf seinen Hinterkopf und zog ihn an sich. Als sie merkte, dass er sich sträubte, drückte sie heftiger. Sie konnte sein öliges Haar unter ihren Fingern spüren und die Kraft seiner Nackenmuskeln, als er sich ihr widersetzte. Tränen der Wut brannten in ihren Augen. Seine Lippen berührten die tote Haut, wo die durchtrennten Nervenstränge nie wieder zusammengewachsen waren. Er wich zurück, doch sie drückte ihn weiter nach unten. Als sein Mund die Stelle erreichte, wo einmal ihre rechte Brustwarze gewesen war, schlug sie den Briefbeschwerer auf seine Schläfe.

  Er zuckte nicht umher wie Jack Grimley und dafür war sie dankbar. Sie wusste nicht, ob sie das ertragen hätte, ohne verrückt zu werden. Er sank nur nach vorn in ihre Arme. Sie rollte ihn zur Seite, und er fiel zu ihren Füßen auf den Rücken. Über seinem Ohr quoll Blut durch seine glänzenden Haare auf den Boden. Diesmal beging sie nicht den Fehler, die Wunde zu berühren. Ihr Herz schlug wie wild, doch immerhin wurde ihr nicht schlecht. Vielleicht fiel einem, wie alles andere, auch Mord mit etwas Übung leichter.

  Gerade als Sue erneut mit dem Briefbeschwerer ausholen wollte, stoppte sie ein Rascheln im Unterholz. Mit pochendem Herzen schaute sie in die Augen eines großen, hechelnden Collies. Der Hund starrte sie mit heraushängender Zunge und zur Seite geneigtem Kopf an, als würde er sich fragen, was hier vor sich ging. Unter seinem Blick fühlte sich Sue nackter, als sie es vor Keith getan hatte. Schnell zog sie den Büstenhalter herunter und knöpfte ihr Hemd zu. Der Hund stand einfach nur da und betrachtete sie mit diesem mitleiderregenden und verdutzten Ausdruck in seinen Augen.

  Dann hörte sie in der Ferne einen leisen Ruf. Der Hund spitzte die Ohren, wandte sich mit einem letzten verzweifelten Blick von ihr ab und lief durch das Dickicht davon zu zwei entfernten Gestalten, die auf dem Pfad standen. Die Stelle war zu gefährlich; sie musste hier weg, bevor noch jemand kam. Zuerst nahm sie Keiths Landkarte aus seiner Gesäßtasche, damit sie den Weg zurück zur Hauptstraße fand. Dann fühlte sie seinen Puls. Sie wusste nur aus Fernsehfilmen, wie man das machte, konnte jedoch am Handgelenk nichts fühlen. Zur Sicherheit schlug sie schnell noch einmal zu. Bestimmt hatte einer der Schläge seinen Schädel zertrümmert, dachte sie. Vorsichtig wischte sie den Briefbeschwerer an seinem Hemd ab, wickelte ihn in Papiertaschentücher und verstaute ihn wieder in der Reisetasche.

  Als Nächstes häufte sie so viele lose Zweige und trockenes Laub über Keiths Leiche, wie sie finden konnte. Wie er so dalag, sah er ganz unschuldig aus, wie ein im Wald ausgesetztes Baby. Dann erinnerte sie sich an den Druck seiner Muskeln, als er sich von ihr weggedrückt, sich ihr widersetzt hatte, und an den Bruchteil der Sekunde, in der ihrer beider Kräfte gleichwertig waren und sie ihn getötet hatte. Sie fuhr sich durchs Haar, wischte das Laub und die Zweige von ihrer Jeans und eilte dann zurück zum Pfad. Als sie sich umdrehte, konnte sie nichts von Keith erkennen, sondern nur den kleinen Haufen, der wie ein alter Baumstumpf aussah. Mit Hilfe der Karte gelangte sie nach ungefähr einer Dreiviertelmeile auf die Hauptstraße, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Doch das spielte auch keine Rolle. Wenn sich tatsächlich jemand an sie erinnern sollte, würde man sich an Martha Browne erinnern. Möglicherweise würde Keith schnell entdeckt werden und die Polizei würde Ermittlungen anstellen und auch den Busfahrer aufspüren. Doch auch er würde sich nur an Martha Browne erinnern. Und sobald sie zu den Toiletten am Busbahnhof in Whitby kam, würde Martha Browne für immer verschwinden, und zurückkehren würde Sue Bridehead.

  An der Bushaltestelle verschnaufte sie, setzte sich dann auf die warme Backsteinmauer am Fuße eines Gartens, wo sie die Ameisen beobachtete und eine Zigarette rauchte, während sie auf den Bus um 16:18 Uhr nach Whitby wartete.