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Martha

 

Auf den Grabsteinen waren keine Namen zu sehen. Martha stand auf dem Friedhof neben der St. Mary's Church hoch auf der Klippe und starrte erschrocken. Die meisten Steine waren an den Rändern schwarz verfärbt, und dort, wo die eingemeißelten Daten hätten sein sollen, war nur vernarbter Sandstein. Auf manchen konnte sie schwache Spuren von Buchstaben erkennen, viele waren jedoch vollkommen leer. Es muss an dem salzigen Wind liegen, dachte sie, der vom Meer kommt und die Namen auslöscht. Das machte sie plötzlich und unerklärlicherweise traurig. Sie schaute hinab auf das gekräuselte blaue Wasser und die schmale geschäumte Linie, wo die Wellen auf den Strand brachen. Es kam ihr ungerecht vor. Die Toten sollten nicht vergessen werden, denn sie vergaß sie auch nicht. Zitternd trotz der Hitze ging sie hinüber zur Kirche.

  Im Innern war es ein beeindruckendes Bauwerk. Sie missachtete den an eine Wand angebrachten historischen Abriss, nahm stattdessen einen gedruckten Führer und schlenderte umher. Vorne stand eine gewaltige, dreistufige Kanzel, darunter erstreckte sich eine Wabe rechteckiger Kabinen mit Kirchenbänken, die angeblich den Zwischendecks hölzerner Kriegsschiffe ähneln sollten. An den Türen mancher Kabinen waren Messingschilder angeschraubt, in denen Namen eingraviert waren, die anzeigten, dass sie für bedeutende Familien des Ortes reserviert waren. Die meisten dieser reservierten Kabinen befanden sich im hinteren Bereich, den der Priester aufgrund der geriffelten Säulen dazwischen kaum im Blick haben konnte. Die Reichen konnten also ungestraft seine Predigten verschlafen. Vorne jedoch, genau unter seinen Augen, waren manche Kabinen mit FREI markiert, andere mit NUR FÜR FREMDE.

  Das bin ich, dachte Martha, öffnete die Tür einer dieser Kabinen und trat hinein: Nur eine Fremde.

  Als der Riegel hinter ihr einrastete, gab ihr die enge Abgeschlossenheit ein seltsames Gefühl der Isolation und Zuflucht innerhalb der gut besuchten Kirche. Um sie herum gingen Touristen umher, Kameras blitzten auf, doch die Kabine schien die Außenwelt abzudämpfen und auf Distanz zu halten. Sicherlich eine abwegige Vorstellung, doch genau das fühlte sie in diesem Moment. Sie fuhr mit einem Finger über den abgewetzten grünen Fries, der die Seiten der Kabine verkleidete, und über die Bank selbst. Es gab sogar einen roten Teppich und gemusterte Kissen, auf denen man knien konnte. Nun war sie noch weiter entfernt von der Außenwelt. Das wäre ein gutes Versteck, wenn es jemals so weit kommen sollte, dachte sie. Niemand würde sie in einer Kirchen-kabine finden, die NUR FÜR FREMDE gekennzeichnet war. Als wäre sie unsichtbar. Sie lächelte und ging wieder hinaus.

  Über den Parkplatz neben der Abteiruine führte ein Fußweg, der Teil des Cleveland Ways war. Laut Marthas Karte führte er direkt von East Cliff bis Robin Hood's Bay. Sie beschloss, erst einmal eine kurze Strecke des Weges zu erforschen. Unterwegs hielt sie Ausschau nach Keith McLaren, wie sie es auch schon bei ihrem Besuch des Friedhofs und der Kirche getan hatte. Sie wusste bereits ziemlich genau, welche Geschichte sie ihm am Abend erzählen würde, und wenn er zufällig sehen sollte, wie sie auf dem Gelände von St. Mary's und dem Klippengipfel herummarschierte, würden ihre Lügen nur glaubwürdiger sein. Gleichzeitig wollte sie ihm nicht unvorbereitet über den Weg laufen.

  Direkt am Rand der hohen Klippen führte ein schmaler Holzsteg entlang. An manchen Stellen fehlten einige Querstreben und die Erosion hatte das Land bis zum Pfad weggespült. Zwischen dem Weg und dem jähen Abhang befand sich ein Zaun, doch auch der war hier und dort eingestürzt. Schilder warnten die Wanderer, vorsichtig und im Gänsemarsch zu gehen. Wenn man hinab auf das Meer schaute, das um die schroffen Felsen schwappte, konnte einem schwindelig werden.

  Als sie nach Saltwick Nab kam, einem langen, verwitterten und ins Meer ragenden Felsvorsprung, entdeckte Martha baufällige Holzstufen und einen nach unten führenden Pfad. Langsam stieg sie hinab zu dem rosaroten Felsen. Er begann nahe des Fußes der Klippe als großer Buckel, senkte sich dann, so dass er für ein kurzes Stück kaum aus dem Wasser ragte, und erhob sich schließlich zu einem zweiten Buckel weiter draußen im Meer. Er sah aus wie ein untergetauchtes Kamel mit einem weiten Abstand zwischen den beiden Höckern, dachte sie. Da niemand in der Nähe war, setzte sich Martha in das spärliche Gras, um eine Rast einzulegen. In der Ferne, zwischen den Höckern, fuhr ein weißer Tanker langsam am Horizont entlang. Wellen klatschten seitwärts auf den niedrigen Bereich des Nab und sprühten Gischt über den Felsen.

  Martha zündete sich die zweite Zigarette des Tages an. Draußen an der frischen, salzigen Luft schmeckte sie anders. Sie schlug ihre Beine übereinander und betrachtete den Rhythmus des Meeres, das auf den Felsen klatschte und zurückschwappte. Bald konnte sie, wenn sie die Wellen kommen sah, vorhersagen, wie stark sie brechen würden.

  Mittlerweile hatte sie ein Gefühl für den Ort gewonnen; sie fühlte sich beinah zu Hause. Soweit sie sehen konnte, gab es keine Probleme - vielleicht mit Ausnahme des Australiers. Doch selbst er erschien reichlich naiv und harmlos. Sie würde ihn bei ein paar Drinks hinhalten können und morgen würde er verschwunden sein. Jetzt musste sie nur denjenigen finden, den sie suchte. Das könnte ein oder zwei Tage dauern, aber sie würde Erfolg haben. Er war in der Nähe, daran gab es keinen Zweifel. Sie spürte wieder ein ängstliches Schaudern, ihr Selbstvertrauen schwankte. Wenn es an der Zeit war, würde sie all ihren Mut zusammennehmen müssen und tun, was getan werden musste. Sie steckte eine Hand in ihre Tasche und tastete nach ihrem Talisman. Der würde ihr natürlich helfen - er und die Seelen, die sie führten.

  Nach einer Weile schnippte sie die Zigarette ins Meer und stand auf. Angst ist etwas für die Passiven, sagte sie sich. Wer handelt, hat keine Zeit, Angst zu haben. Sie wischte das Gras und den Sand von ihrer Jeans und ging zurück zum Pfad.