40.
Gizeh-Plateau, Ägypten
Basis der Cheops-Pyramide
21. Dezember 2012
Ortszeit: 7.02 Uhr
Unternehmen Jesaja – siebenundzwanzigster Tag
Immer wieder schlugen Blitze in die Chephren-Pyramide ein und rissen sie für Sekundenbruchteile aus dem Dunst.
Wilson fühlte, wie Helena ihn auf die Füße zog. Er war erschöpft und wusste nicht so recht, was eben passiert war.
»Stehen Sie auf«, rief sie wütend. »Wir müssen von hier verschwinden!«
Wilson fand das Gleichgewicht, während das strömende Regenwasser seine Knöchel umspülte. Der Wüstensand war mit den Wassermassen, die vom Himmel stürzten, hoffnungslos überfordert. Der Pegel stieg mit jeder Sekunde.
Helena übernahm die Führung und zog Wilson durch das Unwetter, während hinter ihnen die Blitze niederzuckten. Wilsons Gelenke schmerzten, und er fühlte sich wund, als hätte er am ganzen Körper Schläge kassiert. Er war vom Blitz getroffen worden, schloss er. Er erinnerte sich bloß noch, wie er die letzten Blöcke der Pyramide hinuntergeklettert war – dann war der Film gerissen. Schwärze und Stille, bis Helena ihn schreiend ins Bewusstsein zurückholte und auf die Beine zog. Nach Helenas Vorbild hielt er sich beide Hände über Mund und Nase, um bei dem Regen Luft zu bekommen. Sie platschten an der scheinbar endlosen Grundmauer einer weiteren Pyramide entlang, der Cheops, deren Stufen sich in einen Wasserfall verwandelt hatten.
Allmählich trat die Silhouette eines modernen Gebäudes aus dem Regenschleier hervor. Es war genau das, wonach Helena gesucht hatte. Sie rannte auf den Eingang zu und rüttelte an den Glastüren. Sie waren mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert. Eine Wand aus schäumendem Wasser rollte auf sie zu wie eine Brandungswelle. Helena zielte und gab einen Schuss auf die Türscheibe ab, die ein Netz von Rissen bekam. Helena trat sie ein, als die Woge den Hauseingang verschluckte. Wilson wurde in die Stille des Treppenhauses gespülte und mühte sich neben seiner Begleiterin die Betonstufen hinauf. Das wirbelnde Wasser strömte immer weiter in das Gebäude, während sie die Treppe hinauf ins Trockene stiegen.
»Das ist ein Museum«, sagte Helena. »Das einzige moderne Gebäude hier. Hier ist irgendein königliches Boot ausgestellt.«
Wilson schmerzte noch immer jede Bewegung.
Von der Treppe gelangten sie in eine weite Halle, in der ein einzelnes restauriertes Boot stand. Das schlanke Schiff war an Masten befestigt. Es war ganz aus Zedernholz, gute dreiundvierzig Meter lang, hatte einen geschwungenen Bug und ein Deck, das sich an beiden Enden elegant verjüngte. Fünf dicke Riemen ragten an beiden Seiten aus dem Rumpf, und am Heck schaute ein langes Ruder hervor.
Der Regen prasselte auf das schräge Glasdach des Museums.
Blitze leuchteten durch die Fenster.
Mit triefenden Haaren und Kleidern las Helena ein Kupferschild an dem Podest, wie um sich abzulenken. »Es hat Pharao Cheops gehört«, sagte sie. »Hier steht, dass dieses Boot ihn ins nächste Leben getragen hat. Es wurde 2566 vor Christus als Teil seiner Schätze mit ihm bestattet.«
Die Königsbarke war außerhalb der großen Pyramide in einem dreißig Meter langen Hohlraum eingemauert und in 650 Teile zerlegt gewesen. Nach der Entdeckung und fünf Jahren der Restaurierung war sie in neuer Schönheit in das brandneue Museum gebracht worden, das genau auf der Stelle stand, wo das Boot so lange verborgen gewesen war.
Draußen tobte noch immer das Gewitter.
Wilson gingen Bilder durch den Kopf, wie das Schiff vor 4500 Jahren, von Sklaven gerudert, langsam den Nil hinunterglitt. Er stellte sich den Pharao mit prunkvollem Kopfputz und Lendenkleid vor. Seine vier Frauen ruhten an Deck. Kleine Kinder, auch sein ältester Sohn Chephren, spielten rings um ihn in der Sonne.
Helena strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Was glauben Sie, wie lange das Unwetter noch anhält?«
Wilson wusste es nicht, sagte aber: »Nicht mehr lange.« Mit schmerzenden Muskeln stieg er mühsam die Stufen zur nächsten Besichtigungsebene hoch, die über die gesamte Seite der Halle reichte. Das Boot war prachtvoll, das Holz dunkel wie reife Pflaumen, und jede Verbindung präzise und festgefügt. Auf dem hinteren Deck gab es eine rechteckige Kajüte. Wilson schaute hinein. Sie hatte Chiffongardinen in Rosa und Hellblau und ein niedriges, goldverziertes Bett, auf dem Dutzende Seidenkissen lagen.
An verschiedenen Stellen des Museums rann der Regen durch das Dach und sammelte sich zu immer größeren Pfützen.
»Wenn das Unwetter noch schlimmer wird«, sagte Wilson, »sollten wir hoffen, dass dieses Ding schwimmt.«
Helena dachte daran, wie sie um Wilson getrauert hatte, als er scheinbar tot in ihren Armen lag. Das Gefühl war überwältigend, selbst jetzt noch. Sie betrachtete ihn, seinen Gang, seine nackte Brust, den Bauch, das Lächeln, mit dem er sie bedachte und dabei ein restloses Selbstvertrauen verströmte. Sie fand ihn gutaussehend, nicht mehr enervierend wie sonst. Während sie Wilson in die Kajüte folgte, öffnete sie ihre Kevlar-Weste und ließ sie fallen. Ihre nassen Sachen klebten an jeder Rundung ihres Körpers.
Sie sah ihm in die Augen.
Schon wie sie ihn anblickte, machte ihn verlegen.
»Solange dieses Wetter anhält, können wir hier nicht weg«, sagte sie leise. »Stimmt’s?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Dann sitzen wir hier fest?«, stellte sie halb fragend fest.
Wilson blickte durch die Scheiben an der Ostwand. Das Unwetter schien immer noch zuzulegen. Das Dach ächzte und knirschte, als würde es jeden Moment davonfliegen.
»Da könnten Sie recht haben«, sagte er und hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, als sie die Lippen auf seine drückte und ihm leidenschaftlich die Zunge in den Mund schob. Dann zog sie sich zurück und ließ ihn stehen.
War das nur ein Experiment, um zu sehen, ob er den Kuss erwidern würde?
Helena beobachtete, wie er überlegte.
Ein Wassertropfen kullerte ihr aus den Haaren über die Wange. Sie leckte ihn weg, als er die Oberlippe erreichte, hob die Hände an den obersten Hemdknopf und öffnete nacheinander alle Knöpfe. Der Sturm wütete gegen die Mauern des Museums, während sie sich das militärische Kleidungsstück auszog, sodass sie wie Wilson mit nacktem Oberkörper dastand.
Bei ihrem Anblick waren seine Muskelschmerzen vergessen, und er ließ sich rückwärts aufs Bett sinken. Helena kroch langsam über die Seidenkissen zu ihm und drückte sich an ihn. Ihre Lippen trafen sich zu einem sanften Kuss, der schnell drängender wurde. Der Wind pfiff durch das Dach des Museums, doch die Luft in der Kajüte der Königsbarke war vollkommen still. Nasse Kleidungsstücke wurden eins ums andere ausgezogen und landeten klatschend auf dem Boden. Ihre Haut war heiß und wurde schnell trocken.
Als Wilson mit der Nummer 23 gesegelt war, hatte er solche Phantasien gehabt – und nun wurden sie wahr. Alles war so natürlich, so unkompliziert, als sie sich aneinanderdrängten und verlangend küssten.
Helena verlagerte ihre Küsse auf seinen Hals und die Brust. Wilson betrachtete die sanften Wölbungen ihres Körpers, als sie sich bewegte. Einen Moment lang fragte er sich, ob der Pharao seine Frauen auf diesem Bett geliebt hatte. Aber wenn, war es bestimmt nicht mit dem vergleichbar, was er jetzt erlebte.
Helena spürte Wilsons Körperkraft, und das beflügelte ihr Verlangen. Wer war dieser Mann? Wahrscheinlich würde sie es nie ganz erfahren, doch sie fühlte sich zu ihm hingezogen, und je mehr sie sich berührten, desto heißer brannte das Feuer ihrer Leidenschaft.
Hingerissen von Helenas Schönheit hielt Wilson einen Moment inne. Das dunstige Blau ihrer Augen war umwerfend. Er zog sie auf sich, und sie setzte sich rittlings und küsste ihn so leidenschaftlich, wie sie noch nie geküsst hatte. Ganz gleich, was sie sonst noch für ihn empfand, ihr Verlangen nach ihm war überwältigend. Sie wollte ihn jetzt, egal was danach käme – sie wollte nicht länger warten.
Helena streckte sich auf ihm aus, und er glitt in sie hinein.
Sie bewegte sich sanft mit einer Kraft, die Wilsons Sinne überwältigte. Jeder Stoß war reine Ekstase. Helena kratzte sanft über Wilsons Haut und stöhnte voller Lust. Als sie den Orgasmus kommen fühlte, warf sie sich herum und zog Wilson auf sich, sah zu, wie er sie liebte, sie anbetete, sie mit Blicken verschlang. Die Minuten schrumpften zu Sekunden, als die Flut ihrer Vereinigung stieg und zurückwich wie das Meer unter dem Mond. Das Tempo steigerte sich, bis sie eine Welt erreichten, die sie beide noch nicht kannten, während Woge auf Woge der Lust durch ihre Körper brandete.
Es war, als ob jedes Quäntchen Leidenschaft, das Wilson je empfunden hatte, sich zu diesem Moment verdichtete. Teils lag es an der überraschenden Art ihrer Verbindung, teils daran, dass er in den letzten paar Tagen dem Tod ein paarmal knapp entkommen war. Seine Gefühle für Helena hatten sich in einem Maße intensiviert, das ihn erschreckte. Schwer atmend legte er sich neben sie und hielt sie fest.
Plötzlich fühlte er sich entblößt und wollte sie seine Gefühle nicht merken lassen. Doch er konnte nicht ahnen, dass sie in diesem Moment mit seinen Augen sah. Seine Tränen waren kein Geheimnis für sie.
Die Vision verblasste, als die Sonne durch die Wolken brach und auf den Bug des königlichen Bootes schien. Das Unwetter war vorbei, und sie hatten es nicht einmal bemerkt.
»Vielleicht hat dein T-Shirt doch nicht gelogen«, meinte Helena leise.
Wilson konnte sich kein Lachen abringen, und so betrachtete er nur Helenas Hand auf seiner Haut. Er wollte diesen Moment für immer in Erinnerung behalten.
Dann verdichtete sich die Erkenntnis in ihm, dass er eine Grenze überschritten hatte und dass es ein schwerer Fehler gewesen war, mit ihr zu schlafen – ein Fehler, den er zutiefst bereute.
»Warum bist du hier?«, fragte Helena, als reagierte sie auf seine Gedanken. »Du musst es mir sagen.«
Er küsste sie sanft auf die Stirn und versuchte verzweifelt, den Augenblick festzuhalten, doch er hatte sich bereits zurückgezogen.
»Hast du dich je gefragt, warum man das Gefühl hat, dass jedes Jahr schneller vorübergeht?«, fragte er. »Warum die Zeit schneller vergeht, je älter man wird?«
»Oh ja.«
»Es hängt mit der Schumann-Frequenz zusammen. Die Zeit läuft schneller, als es der Fall sein sollte, auch in diesem Augenblick. Und ich wurde geschickt, um sie abzubremsen.«
»Die Pyramiden können die Zeit abbremsen?«
»Sie wurden gebaut, um den Fluss der Zeit im Universum zu regulieren. Sie können die Zeit beschleunigen oder bremsen.« Wilson erzählte ihr vom Buch Jesaja und den Bauplänen für die Zeitmaschine. Er versuchte, ihr das alles in ein paar Minuten nahezubringen, redete über das Mercury-Team, die Qumran-Bruderschaft und Vespasians Einmarsch in Judäa. Nach allem, was sie zusammen durchgemacht hatten, hatte sie das Recht zu erfahren, warum er gekommen war. Nur die Existenz der Kupferrolle verschwieg er ihr – der Schlüssel zum Verständnis der geheimen Algorithmen. Diese Information war zu kostbar und zu gefährlich, um sie weiterzugeben.
»Darum ist die Welt so voller Gewalt«, sagte er. »Wegen der Schumann-Frequenz. Wenn ihr Wert zu hoch ist, so wie jetzt, kann sie die Leute verrückt machen.«
Helena schoss das Bild ihrer Mutter durch den Kopf. Und sie konnte Wilson nur beipflichten. Die Welt war extrem gewalttätig.
»Und was kommt als Nächstes?«, fragte sie.
»Du meinst das dritte Portal? Es ist in England, an einem alten Druidenplatz bei Salisbury.«
»Stonehenge?«
»Ja.«
»Ich habe mich immer gefragt, wozu das Monument gebaut worden ist.« Zum ersten Mal, seit Helenas Visionen begonnen hatten, ergab alles einen Sinn. Sie war wie betäubt von dem, was sie erfahren hatte.
»Die Maschine meines Vaters steht auf dem Kairoer Flughafen«, bot sie an.
»Wenn ich das dritte Portal öffne«, sagte Wilson in nüchternem Tonfall, »werde ich in meine Zeit zurücktransportiert … in die Zukunft. Dein Leben wird normal weitergehen.«
Wilson versuchte bereits, seine Gefühle für Helena zu vergraben. Das wundervolle Zwischenspiel auf der Cheops-Barke war vorbei. Von nun an war kein Platz mehr für verwirrende Gefühle.
Er machte sich von Helena los und zog sich an. »Komm«, sagte er, »wir müssen gehen.«