8.

Arizona, Nordamerika
Northern Ridge
20. Juni 2084
Ortszeit: 8.05 Uhr
64 Tage vor dem Esra-Transport

Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Wilson Dowling in der gleißenden Sonne und überlegte noch einmal, ob das eine so gute Idee war. Sein Herz klopfte wie verrückt. Es war Angst, was er erlebte – genau das flüchtige Elixier, das er suchte.

Tu’s einfach, sagte er sich.

Er leerte seinen Kopf so gut es ging, holte tief Luft und rannte auf den glatten Felsrand zu, den er sich zum Absprung ausgesucht hatte. Er musste eine Endgeschwindigkeit von mindestens 32 Stundenkilometern erreichen – wenn nicht, würde er auf die dreihundert Meter hohe Felsspitze nahe der Steilwand auftreffen und der Fallschirm würde sich nicht ordentlich öffnen, wenn überhaupt.

Und dann hätte er seinen letzten Atemzug getan.

Wilson rannte gegen seine Angst an und zwang sich über seine körperliche Leistungsfähigkeit hinaus. Unwillkürlich stieß er einen Schrei aus, dann warf er sich von der Felskante in die Luft. Nun hatte er einen 1.500 Meter tiefen Fall vor sich, vorausgesetzt er traf nicht die besagte Felsspitze, und dann einen senkrechten Fallschirmflug hinab zum Colorado.

Der Himmel war klar, hellblau. Oberhalb der Schlucht war es windstill, kein Lüftchen regte sich. Nirgends Wolken. Die Vormittagssonne sorgte bereits für eine Temperatur von dreißig Grad Celsius, eine schöne, trockene Hitze.

Plötzlich fegte Wilson ein Windstoß um die Ohren, als er über den Abgrund und einen Moment lang in die Höhe schnellte, bevor ihn die Schwerkraft unerbittlich wie die Hand Gottes nach unten zog.

Unter ihm klaffte der Grand Canyon, die größte Steilwandschlucht der Welt, fast 450 Kilometer lang und an manchen Stellen 28 Kilometer breit. Der Colorado hatte sie über einen Zeitraum von sechs Millionen Jahren durch Tausende Gesteinsschichten hindurch ausgewaschen und einen gefährlichen Ort von verblüffender Schönheit geschaffen.

Diese Stelle war die tiefste, über 1500 Meter waren es bis zum Boden, und darum hatte Wilson sie ausgesucht. Er war bereits in die tiefsten Schluchten der Welt gesprungen: in den Hell’s Canyon in Oregon und die Cotahuasi-Schlucht in Peru. Darum war es ihm passend erschienen, auch den Grand Canyon auf seine Liste zu setzen. Von dieser Stelle hatte es vor ihm noch keiner probiert, und für ihn war das bisher praktisch der gefährlichste Versuch.

Es waren noch keine fünfzig Leute in den Grand Canyon gesprungen. Wegen der Gefährlichkeit, aber auch weil es organisatorisch schwierig war, den Springer hinterher aus der Schlucht herauszubringen, wussten die Hopi solche Absichten zumeist zu vereiteln. Wilson hatte mit dem Hopi-Häuptling zwei Jahre lang verhandelt. Dann waren sie übereingekommen, das Harvard-Stipendienprogramm der Enterprise Corporation ins Leben zu rufen, mit dem jährlich die zwei begabtesten Hopi-Studenten als Vollstipendiaten zur Universität geschickt werden sollten und das auf zwanzig Jahre angelegt war. Wilson war jetzt offiziell Mitglied des Stammes und durfte springen, wann immer er wollte.

Der Wind pfiff ihm um die Ohren, und Wilson breitete die Arme aus, schob das Kinn vor und streckte sich so weit er konnte, um jeden möglichen Vorteil zu nutzen. Er trug einen gelben Wingsuit aus leichter kevlarverstärkter Baumwolle. Von den Ellbogen spannten sich Flügel aus Fallschirmseide bis zur Hüfte, die für Auftrieb sorgten. Dazu trug er einen leichten Helm, Schuhe und einen Fallschirm – jedes zusätzliche Gramm Gewicht konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Die Augen schützte er mit einer ultraleichten gebogenen Sportbrille.

Schon im Augenblick nach dem Absprung wusste er, dass er es nicht schaffen würde. In der dünnen, trockenen Luft fiel er zu schnell. Die gezackte Spitze paläozoischen Gesteins war nur noch neunzig Meter entfernt und lag genau in der Falllinie. Er drehte sich, um vielleicht noch ausweichen zu können, und verlor dadurch noch mehr Luftwiderstand.

Ihm schossen völlig nutzlose Informationen durch den Kopf … Der Felsen, auf den er aufschlagen würde, war im Paläozoikum entstanden, also vor über fünfhundert Millionen Jahren. In dieser erdgeschichtlichen Periode hatte die gesamte Landmasse einen großen Superkontinent gebildet, Pannotia genannt. Die erste Eiszeit war gerade vorbei, und die tektonischen Platten brachen mit der Geschwindigkeit eines wachsenden Fingernagels auseinander, einige trieben voneinander weg, andere drängten gegeneinander. Ozeane öffneten sich, Gebirge wurden aufgefaltet, das Leben auf der Erde begann.

Wilson flog seitlich gegen die Felswand, mit dem Kopf und der linken Schulter prallte er gegen die lockere Schieferformation.

Augenblicklich von allen Gedanken befreit, kollerte er kopfüber an dem 80-Grad-Gefälle entlang, riss sich den Wingsuit auf, verfing sich mit den Fallschirmgurten an Felskanten und trudelte schließlich wie ein Derwisch, sodass er viele von den gnadenlosen Schlägen mit Helm und Schultern abfing. Das Blut hatte nicht einmal Zeit gehabt hervorzuquellen, als Wilsons Hals ein neuerlicher Stoß traf. Sein Vorwärtsschwung war nahezu verbraucht, als sein schlaffer Körper schließlich von der Felsschräge kollerte und den 1400 Meter tiefen Fall zum Grund der Schlucht antrat, wo der Colorado floss.

Die zunehmende Kraft des Windes spreizte ihm die Arme und Beine. Plötzlich sah er Helena Capriarty vollkommen klar vor seinem geistigen Auge. Es war gut, dass er mit ihr zusammen gewesen war, dachte er verträumt, dass er sie angefasst und geküsst hatte. Aber seitdem war sein Leben so leer gewesen, so bedeutungslos. Es war genau drei Jahre her, dass er aus der Vergangenheit zurückgekehrt war. Sie waren durch eine Barriere von über achtzig Jahren voneinander getrennt. Es war ein grausames Schicksal, ein Zeitreisender zu sein, der zu der Frau, die er liebte, niemals zurückkehren konnte.

Das war der Grund für diesen Sprung gewesen: der dritte Jahrestag seiner Rekonstruktion in der Transportkapsel. Der Abschluss einer Reise in die Vergangenheit und, was höchst wichtig war, der erfolgreiche Abschluss seines Auftrags.

Aber eben auch der Tag, an dem sein Leben leer wurde.

So unvorstellbar es war, Wilson besaß eine seltene genetische Eigenschaft, die ihm ermöglichte, sich durch die Zeit befördern zu lassen – departikelisiert von Energiewellen und transportiert durch das Magnetfeld der Erde. Doch der Glanz dieser Tage war für ihn inzwischen vorbei. Er war nur noch der Mentor anderer Zeitreisender, zum Beispiel von Randall Chen, der demnächst solch einen Zeitsprung machen würde.

Ein anderes Ergebnis seiner erfolgreichen Mission war sein enormer Reichtum. Er besaß drei Häuser, eines in Kalifornien, gleich neben der Enterprise Corporation im Del Norte State Park, eines bei Aspen in Colorado, seinem bevorzugten Skigebiet, und ein großes in Sydney, seiner Heimatstadt, das auf einer Anhöhe über dem Hafen stand. In Pacifica war er geboren, und er erzählte jedem stolz, er habe keinerlei Ausbildung, nur eine unabgeschlossene Doktorarbeit an der Universität in Sydney. Wenn er betrunken war, verkündete er jedoch, er habe einen Doktor in Überlebensfähigkeit.

Durch das Geld führte er ein bequemes Leben. Es verschaffte ihm Unabhängigkeit und Privilegien, machte ihn aber nicht glücklich. Freude wird geschenkt oder verdient, aber bestimmt nicht erkauft.

Inzwischen war Wilson gut neunhundert Meter in die schattige Schlucht gefallen. Er war benommen und ab und zu sogar bewusstlos. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, Schichten präkambrischen Gesteins – Tausende roter und schwarzer Sedimentlinien – rauschten an ihm vorbei. Der blaue Himmel schrumpfte, während Wilson dem Grund entgegenstürzte.

Sein Höhenanzeiger wurde rot.

Es folgte ein lautes Piepen.

Es war Zeit, die Reißleine zu ziehen.

Normalerweise machte es ihm Spaß, bis zum letzten Moment zu warten, weshalb der Selbstauslösemechanismus abgeschaltet war. Heute war das eine Entscheidung, die er bereuen würde. Wenn ihm die mentale Klarheit fehlte, um rechtzeitig über die Brust zu greifen und den Griff zu ziehen, wäre das sein Tod.

Bei dieser Geschwindigkeit blieben ihm nur noch sechs Sekunden Zeit.

Nur sechs Sekunden.

Erinnerungen strömten in seinen Kopf wie Wasser in einen leeren Eimer … Bilder seiner Reise in die Vergangenheit, von Helena, von den Gefahren, die sie zusammen gemeistert hatten. Die Maya-Ruinen. Stonehenge. Die Blitzschläge und Erdbeben. Er sah sich im Innern der Transportkapsel, wo ihn die Angst übermannte, weil er nicht wusste, was passieren würde. Er hatte nur Bartons beruhigende Versprechungen gehabt. Dann das Gefühl, wie die Laserstrahlen seinen Körper durchdrangen. Der unbeschreibliche Schmerz beim Eindringen der Pistolenkugel, und die plötzliche Erleichterung nach dem Omega-Befehl, mit dem er immer seine Wunden heilte.

Omega-Befehl … Aktiviere Nachtigall, kam es über seine Lippen, und ein warmes Gefühl durchdrang seinen gesamten Körper, als würde heißes Wasser durch seine Adern gepumpt; von der Brust ausgehend strahlte es bis in die Zehen und Fingerspitzen. Augenblicklich bekam er einen klaren Kopf und griff über die Brust, um die Reißleine zu ziehen.

Es waren nur noch 45 Meter bis zum Grund der Schlucht.

Der Fallschirm kam aus dem Rucksack, es folgte der heftige Ruck durch das Straffen der Leinen. Der Gleitschirm sprang auf, als sich die Luftzellen mit einem Knall blähten. Wilsons Fallgeschwindigkeit wurde beträchtlich gebremst, und dennoch schlug er mit so großer Wucht auf, dass es ihm die Luft aus den Lungen trieb. Gezogen von dem ungesteuerten Gleitschirm, rollte er über den felsigen Boden und prallte mit dem Kopf gegen einen Felsblock, ehe er mit den Füßen voran in den zehn Meter breiten Colorado rutschte.

Beim Kontakt mit dem Wasser löste sich Wilsons Gurtzeug, und der Gleitschirm flog auf und davon.

Aufgrund des Nachtigall-Befehls hatte er keine Schmerzen; sein Kopf war klar, sein Denken präzise. Die starke Strömung erfasste ihn und drückte ihn unter Wasser. Er wusste nicht, wo oben und unten war. Vollkommen ruhig ließ er sich in dem braunen Wasser treiben und wartete. Langsam nahm er seinen Helm ab und ließ ihn los. Wenn er nicht bald an die Luft kam, würde er ertrinken, das stand fest. Er merkte, dass sein Herz allmählich langsamer schlug. Wo war oben?

Halte aus, sagte er sich. Keine Panik.

Dann stieß er mit dem Knie irgendwo an. Er musste am Grund des Flusses sein. Während er sich seine Umgebung vergegenwärtigte, atmete er das bisschen Luft aus, das er noch in der Lunge hatte, ließ sich ein Stückchen sinken, zog die Beine an und stieß sich kräftig vom Boden ab. Mit gestrecktem Körper schoss er dem Licht entgegen, bis er die Wasseroberfläche durchbrach und den ersten Atemzug seit einer guten Minute tat. Mit gefüllten Lungen tauchte er dicht unter der Oberfläche entlang bis zum schlammigen Ufer. Träge zog er seinen zerschlagenen Körper an Land, ließ sich, noch halb im Wasser, auf den Rücken sinken und seufzte laut.

Aus den vielen Platzwunden im Gesicht und am Hals sickerte Blut.

Es war Zeit, zur Enterprise Corporation zurückzukehren, befand er und schüttelte sogleich den Kopf.

Was für ein blöder Gedanke in solch einem Moment.

Sein Blick wanderte zu dem leuchtenden Streifen Wüstenhimmel. Es war das dritte Mal in diesem Monat, dass er sich fast umgebracht hätte.

»Was tue ich hier eigentlich?«, fragte er laut.