26.
Peking, China
Verbotene Stadt
Palast der Gesammelten Eleganz
25. September 1860
Ortszeit: 16.45 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 206
»Ihr hättet den Blauäugigen nicht herbringen sollen«, sagte Prinz Kung leise. »Wenn der Sohn des Himmels davon erfährt, wird Euch das als Verrat ausgelegt werden.«
»Der mächtige Hsien Feng ahnt nicht einmal, wer er ist«, entgegnete Cixi zuversichtlich. »Der Sohn des Himmels wird mit seinem Hofstaat in Jehol aufgehalten – unwissend und abgeschieden von allem, was hier vorgeht.« Sie warf ihre Haare über die rechte Schulter. »Darum muss ich das Risiko auf mich nehmen. Wir sind in einer verzweifelten Lage. Der Blauäugige ist gewiss die Ursache für die bisherigen Siege der roten Teufel.« Sie ging einen Schritt rückwärts und sah durch die Säulenhalle, wo die Sonne durch die Fenster schien. »Ich brauche ihn aus einem bestimmten Grund in meiner Nähe, mein Bruder.«
»Aber wenn wir ertappt werden?«, flüsterte Prinz Kung nervös.
Cixi betrachtete den jungen Prinzen. Sein längliches Gesicht war weich, seine Haut dunkler als die seines Bruders. Er hatte den kahlen Scheitel und den langen Zopf der Mandschu und trug ein schwarzes kaiserliches Gewand mit einer schwarzen Perlenkette. Sie sah die Angst in seinen Augen und wollte ihn am liebsten ohrfeigen, ihn zum Starksein zwingen, so sehr frustrierte sie seine Schwäche. Doch sie beherrschte sich vollkommen.
»Ihr habt recht, vorsichtig zu sein«, sagte sie sanft. »Doch es gibt Zeiten, da man gegen die Regeln verstoßen muss. Das Überleben der Qing-Dynastie hängt von unserer Entscheidung ab – und vor allem von Eurer Unterstützung. Die roten Teufel stehen mit ihrem Heer bei Tongzhou und bereiten einen Angriff auf Peking vor. Seht Euch um. Wer wird uns vor dem Einmarsch schützen?« Sie zeigte auf die vier Eunuchen, die an der Wand standen. »Diese?«
»Der Blauäugige sollte nicht in der Verbotenen Stadt sein«, wiederholte Prinz Kung ängstlich.
»Er wird als mein Gast in den Westlichen Palästen bleiben.«
»Aber nach Einbruch der Dunkelheit darf sich kein Mann außer dem Sohn des Himmels dort aufhalten«, flüsterte er.
»Nur dort kann seine Anwesenheit geheim gehalten werden«, erklärte Cixi. »Er wurde in die Liste der Eunuchenkrieger aufgenommen. Und er wurde zu meinem Leibwächter ernannt, sein Quartier grenzt an diesen Palast.«
»Das ist zu gefährlich«, beharrte Prinz Kung und sah sich hektisch um, als erwartete er Spione in jeder Ecke.
Cixi legte die Hand an seine Wange. »Ihr müsst mir vertrauen, mein Bruder. Der Sohn des Himmels und der Kriegsrat werden es nicht erfahren.« Sie schoss ihren vier Eunuchen einen durchdringenden Blick zu, unter dem sie erbebten. »Wer sich einfallen lässt, mich zu hintergehen, wird ein Schicksal erleiden, das schlimmer ist als der Tod. Das schwöre ich bei meinen Vorfahren.« Sie wandte sich wieder Prinz Kung zu und strich ihm über die Wange. »Ihr müsst stark sein. Haltet Euch vor Augen, dass das Schicksal der Qing-Dynastie von der Hilfe des Blauäugigen abhängt, der keine fünfhundert Schritte von uns entfernt wartet. Er verfügt über Wissen, das uns aus dieser Lage befreien kann – das spüre ich.«
»Bitte, seid vorsichtig«, flehte der Prinz. »Wenn wir versagen, bringt man uns die seidene Schnur.«
»Wenn wir versagen, verlieren wir unseren Kopf an die Barbaren.«
Prinz Kung schaute zu Boden und nestelte nervös mit den Händen in seinen weiten Ärmeln. »Ihr habt meine Unterstützung«, sagte er schließlich. »Ich bin Euer treuer Diener, Edle Kaiserliche Gemahlin.«
»Ich werde Euch heute Abend jemanden zur Aufheiterung schicken«, sagte sie lächelnd. »Und Ihr werdet augenblicklich die Nöte unseres Reiches vergessen. Morgen, wenn wir uns beraten, werdet Ihr Euch gestärkt fühlen und meinen Plan zuversichtlich anhören.«
»Dafür danke ich Euch.«
Nach Cixis Erfahrung konnte der Schwache in unheilvollen Zeiten zum Starken werden, in diesem Fall Prinz Kung. Einen homosexuellen Mann fand sie leichter zu manipulieren als einen, der nach ihren körperlichen Genüssen verlangte; das erforderte wesentlich mehr Vorausschau und Planung. Bei einem Mann wie Prinz Kung war das Risiko geringer, und sie war nicht so sehr auf Diskretion angewiesen wie bei einem Mann, bei dem sie ihren eigenen Körper als Lohn einsetzte. Ein homosexueller Prinz war verwundbar, denn das Bekanntwerden seiner Neigung wäre mit einem Gesichtsverlust des Kaisers verbunden. Cixi zog seit drei Jahren ihren Vorteil daraus, da sie Prinz Kungs Geheimnis wahrte – und seiner Neigung Nahrung gab, um sie am Leben zu erhalten. So kam es nur noch darauf an, außerhalb der Verbotenen Stadt Männer und Knaben zu finden, die sich mit Gold bewegen ließen, sich zu ihm zu legen. Wenn einer zu gierig wurde, ließ sie ihn so beiläufig töten, wie sie eine Haarnadel aus ihrem Knoten zog. Auf diese Weise war Prinz Kung zu ihrem loyalsten Unterstützer geworden. Wie ein Löwenbändiger fütterte sie das Raubtier mit Fleisch und richtete sein Geheimnis als Waffe gegen ihn. Er war ein Verbündeter, auf den sie sich verlassen konnte.
»Ihr müsst ruhig bleiben, mein Bruder. Wenn auch nur ein Wort über den Blauäugigen nach Jehol dringt, werden wir es als Erste erfahren. Mein Diener Li Lien-ying hält die Stellung in den Gemächern Hsien Fengs. Auf mein Betreiben wurde er zu seinem Masseur ernannt. Seine Gabe, Schmerzen zu lindern, ist für den Himmlischen Prinzen eine Wohltat, besonders da sich seine Krankheit in der kalten Luft der Berge verschlimmern wird.«
»Ich werde Vertrauen haben«, versprach Prinz Kung.
»Das Blatt hat sich bereits zu unseren Gunsten gewendet«, fügte sie hinzu. »Jetzt brauchen wir nur noch zu nutzen, was wir in der Hand halten. Begebt Euch auf den Weg, mein Bruder, und bleibt zuversichtlich.«
Nachdem Prinz Kung hinausgegangen war, plante sie die Verführung des Blauäugigen. Der Gedanke beschleunigte ein wenig ihren Atem, denn sie konnte nicht sicher sein, welche Art Mann er war. Es schien, als würde er sie kennen, sie verstehen und ihr beipflichten, noch ehe sie den Mund aufmachte … oder ihre Beine spreizte. Er war ihr ein Rätsel, und sie freute sich darauf, ihn zu ergründen. Er wirkte nicht einmal nervös, stellte sie fest. Er benahm sich, als wäre es ihm bestimmt, sich in der Verbotenen Stadt aufzuhalten, sich gar darin niederzulassen. Als sie ihn über den Hof der Höchsten Harmonie führte – den größten und eindrucksvollsten –, hatte er nicht die Pracht der Bauwerke bestaunt, und sie wollte wissen, warum.
Sie würde ihre weiblichen Listen einsetzen, und das durfte sie diesmal nicht langsam tun, obwohl ihr das eigentlich lieber wäre. Bei langsamer Verführung entwickelten die Männer eine unbeherrschte Leidenschaft, die, einmal entzündet, nicht so leicht zu löschen war. Doch für solche Feinheiten war keine Zeit. Sie musste das Geheimnis des Blauäugigen aufdecken, und zwar schnell. Die roten Teufel standen vor den Toren. Der Kaiser und die Herrschaft der Qing waren in Gefahr und somit auch die Thronnachfolge ihres Sohnes. Alles, was sie bisher erreicht hatte, konnte innerhalb eines Augenblicks zunichte werden, wenn sie keine Eile an den Tag legte.
Während sie vor dem Spiegel stand und zwei Eunuchen sie frisierten und ankleideten, dachte sie über den kommenden Abend nach. Noch vor Mitternacht würde sie die Männlichkeit des Blauäugigen in sich spüren, beschloss sie. Sie griff unter ihre Kleider und zwischen ihre Beine. Die Nässe war erstaunlich. Sie zog die Finger hervor, um das Sekret genau zu betrachten. Ihre Säfte waren wässrig und süß – sie war nicht in der fruchtbaren Phase.
Nachdem sie ein Bad genommen hatte, das mit Honig und Limonen parfümiert gewesen war, verließ sie den Palast der Gesammelten Eleganz bekleidet mit einer Ao-Jacke und einem Qun-Rock. Die scharlachrote Jacke war oben nicht zugeknöpft. So konnte sie die Rundung ihrer Brust zeigen, wenn sie sich bückte. An den Füßen trug sie schlichte rote Sandalen. Sie hatte keine Unterwäsche an, und ihre nackten Waden schauten unter dem Rock hervor. Um den Hals trug sie zwei Ketten, eine mit goldenen, eine mit Muschelperlen. Die Haare waren zu einem lockeren Knoten aufgesteckt und mit drei Jadestäbchen befestigt.
Es war ein schöner Herbstnachmittag, und die untergehende Sonne warf ihre Strahlen auf die Mauern der Verbotenen Stadt, in die vielen Höfe und Gärten der Westlichen Paläste. Die Luft war kühl, aber der Sonnenschein wärmte noch. Bis auf den Eunuchen, der hinter ihr ging, war keine Menschenseele zu sehen. Hsien Feng hatte fast alle mitgenommen, und auf Cixis Anordnung befanden sich die verbliebenen Konkubinen, Eunuchen und Dienerinnen an diesem Abend im Östlichen Palast.
Als sie den Fuß auf die unterste Stufe des Gästehauses setzte, schickte sie Lo Min voraus, damit er sie ankündigte.
Mit einem Hämmerchen schlug er an die Kupferglocke neben der Tür und rief: »Die Edle Kaiserliche Gemahlin nähert sich.« Seine Stimme war hell und heiser. Lo Min schlug die Glocke ein zweites Mal, und sie klang ein Weilchen nach.
Die rote Tür des Gästehauses öffnete sich, und zwei Eunuchenkrieger in grüner Seide traten hastig auf den Treppenabsatz. Das Schwert in der Hand kreuzten sie die Arme vor der Brust und neigten den Kopf.
Cixi wartete am Fuß der Treppe. Die Nachmittagssonne warf ihren Schatten an die Mauer. Der Gedanke an die von ihr inszenierte Begegnung erfüllte sie mit Vorfreude. Ohne den Sohn des Himmels regierte sie allein in den Westlichen Palästen – und der Mann, der gleich in die Tür treten würde, war ihr Spielzeug.
Randall zog sich die Jacke zurecht und ging zur Tür. Die Sonne schien herein, und er war froh, endlich das kleine Gästehaus verlassen zu können. Er hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, da diese zwei Eunuchenkrieger bei ihm wachten. Obwohl er wusste, dass Cixi seine Anwesenheit schätzte, schloss er nicht aus, dass sie seine Ermordung anordnen könnte.
Trotzdem freute er sich, sie wiederzusehen, das ließ sich nicht leugnen. In Ihrer Gegenwart fühlte er sich seltsam berauscht. Und schon der Gedanke an sie beschleunigte seinen Atem und machte ihm Gänsehaut. Es war schwer zu sagen, wieweit das an ihrer Schönheit lag und wieweit es daher rührte, dass er sich schon vor seinem Transport so viel mit ihr beschäftigt hatte. Sie war wie ein Traum, der zum Leben erwacht war. Unglaublich, dass er nun mit einer der begehrtesten und mächtigsten Frauen der Geschichte zusammen agierte, und er ermahnte sich beständig, sich davon nicht überwältigen zu lassen. Wilson hatte ihn eindringlich gewarnt, wozu diese Frau fähig war und welche Risiken aus der Begegnung mit ihr erwachsen würden.
Als er vor die Tür trat, stand sie drei Stufen unter ihm auf der Treppe. Mit raschem Luftholen überspielte er seine plötzliche Erregung. Mit einem Blick nahm er in sich auf, wie das satte Rot der Seide neben ihrer makellosen Haut leuchtete, wie ihre schwarzen Haare in der Sonne schimmerten, wie die grünen Jadestäbchen hinter ihrem Kopf hervorlugten.
Er genoss diese Momente, in denen er nichts weiter als ein Mann sein und eine schöne Frau betrachten konnte. Als wüsste Cixi genau, wie er sich fühlte, blieb sie ruhig stehen und lächelte ihn offen an.
»Ihr seid wirklich eine Augenweide«, sagte er schließlich.
»Ihr ebenfalls«, erwiderte sie, gab einen knappen Wink, und die drei Eunuchen verschwanden eilig um die Ecke. »Ich nehme an, dass Euch ein Spaziergang durch den Garten Freude machen würde?«, sagte sie.
»Er soll außergewöhnlich schön sein.«
»Der Palast bietet viel Erstaunliches.«
»Daran zweifle ich nicht.« Randall stand nun vor ihr auf der untersten Treppenstufe. »Soll ich den Weg bestimmen?«
Seine Selbstsicherheit rief bei ihr ein Lächeln hervor, das sie nicht zu spielen brauchte. »Ja, das wäre schön.«
Sie war nicht überrascht, als er sie zu der richtigen Tür in der Mauer führte. Randall zog den Riegel beiseite und drückte sie auf.
»Nach Euch«, sagte er.
Cixi war es nicht gewohnt, in Gegenwart eines Mannes den Vortritt zu haben. Ihr Platz war hinter dem Mann, auch wenn sie zur kaiserlichen Gemahlin erhoben war. »Mir scheint, Ihr kennt Euch hier aus«, bemerkte sie neugierig.
»Ich kenne mich mit vielem aus.«
»Mir ist bekannt, dass Ihr vor sechs Monaten schon einmal hier gewesen seid, Randall Chen. Euer Eindringen ist mir nicht verborgen geblieben.«
»Einer Eurer Wachen hat mein Gesicht gesehen, und ich war gezwungen, in den Graben zu tauchen.«
»Warum wart Ihr hier?«
»Das darf ich Euch nicht sagen.«
»Ihr seid wahrhaftig ein Rätsel«, gab sie zu. »Ein Mann mit geheimnisvollem Wissen, der beträchtliche Macht entfaltet, wenn Heere aufeinanderprallen. Es herrscht Krieg, während wir miteinander plaudern. Die Verbotene Stadt wird von Barbaren bedroht. Der Sohn des Himmels hat Schwäche gezeigt, als er hätte aufstehen und kämpfen sollen. Die Politik des Kriegsrates droht alles zu vernichten, was sich in zweitausend Jahren fest gefügt hat. Und so hängt die Welt der Qing am seidenen Faden und mein Leben ebenfalls.« Sie schaute zu dem gut aussehenden Mann auf. »Wer wird mich vor dem Wüten der Barbaren schützen?«
»Eure Worte malen ein düsteres Bild, Edle Kaiserliche Gemahlin. Doch es gibt nichts zu fürchten. Mit meiner Hilfe werden die Mauern der Verbotenen Stadt nicht fallen. Euer Gemahl wird seinen Thron behalten, und Euer Sohn Tung Chi wird ihm als der achte Qing-Herrscher nachfolgen.«
Sie traten durch eine weitere scharlachrote Tür in den nächsten Garten. Vor ihnen lag die Halle der Pflege des Geistes, die zu den bedeutenderen zählte. Beete mit gelben Magnolien säumten den Spazierweg und bildeten einen leuchtenden Kontrast zu dem dunkleren Zinnober der Mauern.
Cixi blickte ihn fragend an. »Und welches ist der Preis für Euren Schutz?« Sie bückte sich, um eine Blüte von den unteren Zweigen zu pflücken. Dabei war ihre linke Brust zu sehen.
Als Randall ihre Haut und die helle Brustwarze hervorblitzen sah, schoss ihm das Blut in die Lenden. Seit Hongkong war er nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen, und ihm wurde bewusst, dass er von Cixi verlangen konnte, was er wollte.
Sie beobachtete seine blauen Augen. »Bitte, seht mich nicht auf diese Weise an. Ich bin nur eine bescheidene Dienerin des Himmlischen Prinzen. Ich muss ihn um jeden Preis beschützen. Ich bete nur, dass Ihr nicht zu viel verlangt.«
Randall hatte große Lust, sie auf der Stelle zu nehmen. Das Verlangen durchdrang ihn wie ein schwerer Sommerregen die Erde. Egal, was er forderte, in diesem Augenblick würde sie es ihm geben. Er sah sich um – niemand war zu sehen. Er konnte sie sofort haben, wenn er wollte.
»Ich möchte nur eines«, sagte er und zog sie am Ärmel zu sich heran.
Cixi sank gegen ihn, als wäre sie eine Gliederpuppe, deren Fäden er zog. »Bitte, fordert nicht zu viel von mir«, sagte sie sanft und drängte sich gleichzeitig gegen ihn.
Randall schaute in ihre verführerischen Augen. »Ich möchte die kaiserlichen Gärten sehen«, sagte er. »Dann besprechen wir, wie wir die Verbotene Stadt vor der Invasion bewahren können.« Er fasste sie am Oberarm und schob sie von sich.
Cixi traf es wie ein Schlag, und das machte sie wütend. Sie war noch nie von einem Mann, ob jung oder alt, zurückgewiesen worden – sie war es, die zurückwies. Es schien, dass der geheimnisvolle Blauäugige mehr über sie wusste, als er in den zwei Tagen von ihr gesehen hatte.
»Ich werde Euch hinbringen«, sagte sie und verneigte sich anmutig. »Es freut mich, dass Ihr nicht mehr verlangt. Doch ich warne Euch auch: Glaubt nicht, dass Ihr mich beherrschen könnt. Meine Treue gilt dem Himmlischen Prinzen, meinem geliebten Gemahl. Ich bitte, das stets zu beachten.«