Sicherheit
Bei jedem Schritt, den Beatrijs auf ihren Krücken machte, wunderte sie sich über den Effekt: Sie kam tatsächlich voran, es ging vorwärts. Im Schneckentempo zwar, aber nach so langem Leerlauf war Bewegung an sich schon etwas Unvorstellbares, ja nahezu Magisches. Während sie sich, ein wenig eiernd zwar, aber immerhin aus eigener Kraft durch den langen Gang der Klinik zum Fahrstuhl vorarbeitete, sah sie sich plötzlich in einem völlig neuen Licht: als eine, die sich atemlos vor Lachen in sonnigen Straßencafés niederließ oder ein Wochenende in Paris auf Einkaufsbummel ging. Als eine, die energisch, sexy und sorglos war und voller witziger Ideen steckte. Dass das Gefühl, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, so was mit einem machen konnte!
Da waren endlich die Fahrstühle. Mit ihrer Krücke stieß sie ausgelassen auf alle drei Rufknöpfe.
Leander, der ihre beiden Taschen mit Karten, Kinderzeichnungen, Toilettenutensilien und ausgebeulten Pyjamas trug, sagte: »Jetzt kommen gleich drei nach oben.«
»Sei nicht so knauserig! Ich passe nicht mehr in einen einzigen Fahrstuhl.« Sie lachte ihn an, während sie sich aufs Hinterteil klopfte. Langes Liegen war Gift für die schlanke Linie. Sie hatte sich oft wie ein immer größer werdender Maulwurfshügel oder wie ein unappetitlicher Kuhfladen gefühlt, aber das kam ihr jetzt absurd vor. So was dachten nur einsame, ungeliebte Frauen, die nie mit einem Geliebten an der Seine entlangspaziert waren. Dicke Menschen hatten ein sonnigeres Gemüt, das war allgemein bekannt. Aber im Grunde war ihr Gewicht nicht von Belang. Zwei Monate lang war sie einzig und allein Knie gewesen, es wurde höchste Zeit, dass der Rest auch wieder mal Beachtung fand. Sie sah schon vor sich, wie Leander ihr, noch bevor sie zu Hause über die Schwelle wären, die Kleider vom Leib streifen und sie langsam und hingebungsvoll von oben bis unten und wieder zurück ablecken würde, wie ein Eis. Während der Besuchszeiten in der Klinik hatten sie sich immer irgendwie anders behelfen müssen, weil man ja nie wusste, wer unverhofft hereingeschneit kam. Darüber, wie man das mit dem Sex lösen sollte, wenn man für längere Zeit im Krankenhaus lag, hörte oder las man nie was Vernünftiges.
Die erste Tür öffnete sich, und sie stiegen ein. Im Fahrstuhl standen zwei Küchenhilfen mit ihren Tablettwagen und unterhielten sich, sodass sie sich über ihre Gedanken zu dem Thema nicht laut mit Leander austauschen konnte. Sie hätte sich gern bei ihm eingehakt, aber das ging mit den Krücken nicht. Sie musste sich ein Kichern verkneifen, das vermutlich leicht hysterisch geklungen hätte.
Unten wartete sie auf einer Bank bei der Drehtür, während er das Auto holte. Es war ein dunkler Vormittag, typisch Dezember. Aber der Mangel an Tageslicht, der normalerweise so deprimierend war, störte sie heute nicht. Sie durfte nach Hause. Der Physiotherapeut hatte sie bis gestern Nachmittag auf die Folter gespannt, ob sie noch das Wochenende über bleiben musste oder nicht. Im Nachhinein hatte es sich als gut erwiesen, dass er ihre Entlassung erst im letzten Moment abgesegnet hatte, sonst hätte sie jetzt Yaja am Hals gehabt. Leander hatte bedeppert gesagt: »Wenn ich gewusst hätte, dass du schon nach Hause darfst, hätte ich sie ja das Wochenende über hier behalten können.«
Man sollte natürlich immer danach streben, ein guter Mensch zu sein, keine Frage. Aber jeden Tag war das vielleicht doch nicht nötig.
Unterwegs sprachen sie nicht viel. Leander, der es hasste, Auto zu fahren, saß verkrampft neben ihr am Steuer. Sie hütete sich, ihn jetzt anzufassen, sondern schaute aus Solidarität genauso konzentriert durch die Windschutzscheibe wie er. Ampeln sprangen um, Straßenbahnen tauchten bimmelnd auf, übermütige Radfahrer gebärdeten sich lebensmüde, Hunde machten auf dem Gehweg ihr Geschäft. Allein schon, dass sich alles um sie herum bewegte, ermattete sie. Als sie vor der Haustür hielten, war sie sehr müde. Vielleicht hätten sie vorhin für den langen Gang durch die Klinik besser einen Rollstuhl nehmen sollen. Jetzt musste sie nur noch aussteigen, ohne das schlimme Bein zu sehr zu belasten. Krücke links, Krücke rechts. Nicht schwindlig werden. Nur noch ein paar Sekunden, und sie würde sich auf ihrer eigenen Chaiselongue ausstrecken können.
Leander ging ihr mit den Taschen voran. Behutsam, um nicht auszurutschen oder zu fallen, mühte sie sich hinter ihm her. Beim Üben war der Physiotherapeut immer hinter ihr gegangen, die Hände an ihrer Taille oder was davon übrig war. »Gut so. Gut so. Gut so.« Dank ihm war sie sich ganz groß vorgekommen. Jetzt hielt der Mann natürlich längst eine andere fest oder schlief sich neben seiner Frau aus. Vielleicht hatte er ihrer Entlassung nur zugestimmt, um heute nicht früh aufstehen zu müssen.
»Willkommen zu Hause«, sagte Leander und öffnete die Tür.
Sie humpelte hinein. Und gleich fiel ihr auf, wie kahl und abgetreten der schmale Flur war, wie fahl und farblos. »Kaffee?«, fragte Leander.
»Warte mal eben«, sagte sie und blickte sich betreten um.
War es dies, wovon sie die ganze Zeit geträumt hatte, eingesperrt inmitten des Resopals ihres Krankenzimmers?
»Jetzt setz du dich erst mal hin.« Er ging in die Küche.
Sie schleppte sich ins Wohnzimmer. Die beiden verschlissenen beigefarbenen Kordsessel am Kamin waren mit alten Zeitungen überhäuft. Benutztes Geschirr stand kreuz und quer auf dem Holzfußboden herum. Auf einem kleinen Stapel ungeöffneter Post balancierte ein verschmierter Eierbecher. Der Papierkorb schien seit Monaten nicht geleert worden zu sein. Das Haus sah wieder genauso aus wie damals, als sie bei Leander eingezogen war. Es schrie ihr ins Gesicht, dass er kein Mann war, der für sich selbst sorgen konnte. Er brauchte sie.
Während sie einen Arm voll Wäsche zur Seite schob, um sich auf ihre Chaiselongue setzen zu können, wurde ihr wieder mal bewusst, dass sie ohne ihn ein Mensch wäre, der keine erwähnenswerte Rolle spielte. Wen machte sie denn beispielsweise glücklich? Die Kinder, ja, die Kinder ihrer Freunde: Die konnten immer auf sie zählen, wenn sie schnell jemanden zum Entführen brauchten. Nur bekamen sie dafür hinterher eins auf den Deckel. Verflixt, nicht einmal als Tante war sie ein reiner Erfolg.
Leander kam ins Zimmer, stellte den Kaffee vor sie hin und setzte sich in seinen eigenen Sessel am Kamin, der kalt war und voller Asche. »So. Da wären wir wieder. Was guckst du denn so?«
Die Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines Betonblocks: Wenn sie sich in den vergangenen Monaten nach ihrem normalen Leben gesehnt hatte, dann hatte sie dabei immer ihr altes Appartement vor Augen gehabt. Die glänzend polierten antiken Möbel, die bunten Kissen und Decken, das überreichlich bestückte Bücherregal, ihre Alice-im-Wunderland-Sammlung hinter den Kristallglasscheiben der Vitrine.
»Ich habe dich etwas gefragt, Beatrijs. Ist irgendwas?«
Ausweichend sagte sie: »Komisch, wie man alles mit ganz
neuen Augen betrachtet, wenn man eine Weile weg war.« »Ja, das hat eine erfrischende Wirkung. Da lernt man seine
Umgebung wieder umso mehr schätzen, nicht wahr?« »Nein«, entfuhr es ihr unwillkürlich. »Das finde ich nicht.« »Aber es ist so.«
»Das findest du vielleicht, aber ich deswegen noch lange nicht.«
Ungläubig sah er sie an. »Es ist so, habe ich gerade gesagt. Aber lass uns das beenden. Was sind deine Wünsche für heute?«
Sie dachte: Neue Tapeten. Ein Fleur-de-Lys-Muster zum Beispiel mit hübscher kontrastierender Blende. Ihr Leben lang hatte sie sich mit sorgfältig und bedachtsam ausgewählten Dingen umgeben. Schönheit machte etwas mit der Seele, sie hatte etwas Erhebendes. Ein bisschen Stil, ein bisschen Format... Bewies man damit nicht letztendlich, dass man das Dasein dankbar annahm?
»Möchtest du dich ausruhen, oder hast du gerade davon allmählich genug? Du brauchst es nur zu sagen, Göttin.«
Mit einem Mal fürchtete sie, gleich in Tränen auszubrechen. »Lass mich mal eben. Ich weiß selbst nicht, was mit mir ist. Irgendwie ist das alles ein leichter Dämpfer.«
Er sah sie verletzt an. Dann erhob er sich und verließ den Raum.
Schlagartig wich ihre weinerliche Stimmung handfester Verärgerung. Sie dachte nicht dran, ihm nachzulaufen. Sie trank ihren Kaffee. Er hätte ruhig ein paar Kekse oder so etwas dazu besorgen können. Und Blumen hinstellen. So eine große Kunst war es nun auch wieder nicht, das Leben ein wenig zu verschönern. Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Vielleicht konnte sie Frank fragen, ob sie nicht doch den Nussbaumsekretär haben durfte. Wenn sie den hier an die Querseite stellte und diese ollen Kordsessel rausschmiss ... Das Telefon klingelte, und sie griff zu ihren Krücken. Aber als sie sich gerade erhoben hatte, hörte sie, dass Leander schon in seinem Arbeitszimmer abnahm.
Da sie nun ohnehin stand, ging sie ein wenig umher. Sie hatte das Bedürfnis, Gegenstände zu berühren und umzustellen, den Dingen ihren Stempel aufzudrücken: Ich bin wieder da.
Leander kam herein. »Das war Yaja.«
»Ach.« Sie setzte eine neutrale Miene auf. Nicht urteilen, Beatrijs. Denn du weißt, Göttin, wenn du urteilst, legst du alles fest. Und so war es doch auch, oder? Sie war das in den letzten acht Wochen nur nicht mehr gewöhnt gewesen. Dreiundzwanzig Stunden am Tag ohne ihn. Dreiundzwanzig Stunden Zeit, den Tonarm auf der Schallplatte des Lebens in die alte, verabscheuenswerte Rille zurückfallen zu lassen.
»Ob ich sie abhole. Sie fühlt sich überhaupt nicht wohl bei Gwen.«
»Warte doch erst mal ab. In einer Stunde ist sie bestimmt wieder bester Laune.«
»Das sollte ich dann also rasch machen.«
»Rasch? Es sind anderthalb Stunden Fahrt! Und du hast am Steuer schon nach zehn Minuten genug vom Autofahren. Kann sie nicht mit dem Zug kommen?« Sofort bedauerte sie ihre Worte. Damit segnete sie Yajas Kommen gleichsam ab.
»Wenn ich sie abhole, kann ich noch kurz mit Gwen reden. Das scheint mir besser zu sein, als Yaja mit Wut im Bauch auf eigene Faust von dannen ziehen zu lassen.«
Das war lieb und aufmerksam von ihm. Sie konnte nichts dagegen einwenden. Außer, dass sie es ihr selbst gegenüber nicht sonderlich herzlich fand, wenn er am Tag ihrer Heimkehr unbedingt den Taxichauffeur für seine Tochter spielen musste. Doch wenn sie diesen Gedanken aussprach, würde sie nur einen kindischen, egogetriebenen, emotionalen Eindruck machen. »Ich komme mit«, sagte sie. Sie überraschte sich selbst.
»Hältst du das für vernünftig? Du musst dich ein bisschen schonen.«
Eigentlich war das eine großartige Idee. Alles war besser, als miesepetrig hier herumzusitzen und diese Kordsessel anzustarren. Bei Gwen und Timo war es bestimmt gemütlich. Auf einmal hatte sie es eilig, wegzukommen. Ihre Taschen packte sie dann später aus, deren Inhalt hatte ihr in den vergangenen Monaten ohnehin schon gewaltig zum Hals herausgehangen. »Dann lass uns mal gleich fahren.«
»Es wäre mir lieber, du bliebest zu Hause. Es ist viel zu ermüdend für dich.«
»Ich bin doch nicht krank oder so.« Sie gab ihm einen gut gemeinten Rippenstoß und humpelte zur Tür. Im Flur zog sie ihren Mantel an. Sie konnte die Gelegenheit nachher gleich dazu nutzen, Gwen Näheres über ihre finanziellen Probleme zu entlocken. Sie war eine Frau mit einer Mission, ja, das war sie. Trotzdem blieb das nagende Gefühl, dass sie gerade in Windeseile aus ihrem eigenen Zuhause floh. Ich muss mir etwas Zeit geben, um mich einzugewöhnen, sagte sie zu sich selbst, es ist eine ziemliche Umstellung, das ist alles.
Erst im Auto fiel ihr wieder ein, dass sie eigentlich stundenlang mit Leander hatte schmusen wollen. War es nicht dazu gekommen, weil sie sich ihm so eigenartig fern gefühlt hatte? Aber lag das nicht gerade daran, dass es so lange keine wirkliche körperliche Intimität zwischen ihnen gegeben hatte? Betroffen legte sie die Hand auf sein Knie. »Du hast mir gefehlt.«
»Das holen wir schon wieder auf«, sagte er, während er kurz ihre Finger drückte.
Ihr Herz machte einen Salto mortale vor Erleichterung. »Mir fällt da gerade etwas ein, Beatrijs. Der Donnerstag, der bleibt für Gwen und mich. Das verstehst du doch, oder?«
»Sie war von Anfang an in die Sitzungen einbezogen. Wir sind inzwischen völlig aufeinander eingespielt.«
»Schön.«
»Es wäre nichts damit erreicht, wenn man das änderte.«
Sie zog die Hand zurück. Eine gewisse Gereiztheit befing sie. Sie hatte doch schon gesagt, dass es von ihr aus völlig okay war. Warum ritt er so darauf herum? Ein Gefühl, das sie schon fast vergessen hatte, kam wieder über sie: Irgendetwas sagte ihr, dass sie auf der Hut sein musste.
Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Du vermutest doch wohl nichts dahinter, oder?«
Sie schwieg verwirrt.
»Siehst du, gleich wirst du bockig.«
»Ich bin überhaupt nicht bockig.«
»Weißt du eigentlich, dass du mir schon den ganzen Morgen widersprichst? Ich bekomme regelrecht Kopfschmerzen davon.«
»Aber ich sagte doch gerade...«
»Jetzt geht das schon wieder los. Kann es sein, dass du Streit suchst?«
»Warum sollte ich, in drei Teufels Namen?«
»Das musst du nicht mich fragen.«
Aber vielleicht traf es ja zu, vielleicht fuchste es sie mehr, als
sie sich selbst eingestehen wollte. »Du freust dich überhaupt
nicht, dass ich wieder zu Hause bin«, brach es aus ihr heraus. »Das dürfte eine Projektion sein.«
Wie sie dieses Wort hasste! Es war so unwiderlegbar. Du projizierst. Ich projiziere gar nicht. Doch, du projizierst. Und wenn man nicht projizierte, tja, dann urteilte man. Oder man wollte etwas heimzahlen. Sowie man etwas Unliebsames sagte, bekam man den Ball zurück und wurde eines zweifelhaften Verhaltens bezichtigt, statt dass man mit seinen Klagen ernst genommen wurde. »Du könntest mir auch mal einfach zuhören.« Sie war plötzlich so wütend, dass sich ihre Stimme überschlug. »Du hast nicht mal Blumen für mich besorgt. Und kaum bin ich mal nicht deiner Meinung, rennst du gleich wieder böse aus dem Zimmer. Und du hast mir noch nicht eine Sekunde...«
»Was hast du denn plötzlich?«
Sie wusste es selbst nicht. Sie wollte eigentlich nur, dass er die Arme nach ihr ausstreckte.
»Ich lasse nur mal Gwens Namen fallen, und du überhäufst mich gleich mit diversen Vorwürfen, von denen du nie zuvor etwas gesagt hast. Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du eifersüchtig bist, weil ich weiterhin mit ihr zusammenarbeiten werde?«
»Ganz und gar nicht!«
»Wenn das der Wahrheit entspräche, würdest du nicht so schreien. Nein, halt, Beatrijs, du hast sehr wohl geschrien. Ich sage dir doch, dass du geschrien hast! Es fehlte noch, dass du dir einbildest, es sei etwas zwischen Gwen und mir. Und dann kann ich hoch und heilig schwören, dass dem nicht so ist – aber wenn du dich erst mal auf etwas versteift hast, habe ich keine Chance mehr auf eine faire Behandlung. So bist du nun mal.«
Nach Atem ringend presste sie die Hände zusammen. Was war denn das jetzt für ein Schattenkampf?
»Also weißt du was? Ich gebe dir einfach von vornherein Recht, da du es ja sowieso darauf anlegst. Das erspart uns eine Menge Hin und Her. In der Tat, Gwen und ich haben ein leidenschaftliches Verhältnis, wir können einfach nicht die Finger voneinander lassen. Zufrieden?«
Einen Augenblick lang empfand sie tiefe Abneigung gegen ihn. »Deine Art der Argumentation ist nicht sonderlich erhebend, finde ich.«
Er reagierte nicht.
Sie betrachtete sein unnahbares Profil. »Ich bitte dich, Leander!«
Er schwieg weiterhin.
»Lass uns doch nicht wegen nichts und wieder nichts so dumm zanken.«
Er zuckte nicht mit der Wimper.
»Jetzt sag doch was! Erst quatschst du mir die Ohren voll, und dann hältst du plötzlich den Mund.«
»Ich habe gesagt, was ich sagen wollte.«
Den größten Teil der Fahrt wurde kein Wort mehr gewechselt. Beatrijs versuchte, ihre kreiselnden Gedanken in den Griff zu bekommen. Wenn diese blöden Krücken nicht wären, hätte sie Leander anhalten lassen und wäre ausgestiegen. Hilfe suchend blickte sie auf die vorüberziehenden winterlichen Äcker. Hier würde sie nicht so schnell ein Taxi finden. Gleich darauf erschrak sie über sich selbst. Sie waren noch keinen halben Tag zusammen, und sie wollte schon weg? Das konnte doch nicht wahr sein. Sie war durch das lange Liegen nur ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten, sie war nicht mehr an intensiven menschlichen Umgang gewöhnt, und sie hatte zu hohe Erwartungen mit ihrer Heimkehr verbunden. Morgen würden sie zusammen darüber lachen.
Während des letzten Stücks am Kanal entlang schien Leander ein wenig aufzutauen. Er kommentierte die Umgebung, das Wetter, die Beschaffenheit der Straße. Obwohl sie froh war, dass die würgende Stille endlich durchbrochen war, kam es ihr vor, als steckte eine kalte Scherbe in ihrem Herzen.
Auf dem vorderen Hof der Imkerei stand ein roter Kombi mit fröhlichen bunten Aufklebern auf der Heckscheibe. Im selben Moment, als sie das Auto erkannte, sagte Leander mit tonloser Stimme: »Dein Freund Laurens ist allem Anschein nach auch da. Wie kann er nur!« Er drehte den Zündschlüssel um und schlug die Arme übereinander.
»Erstaunlich, dass du sein Auto erkennst«, sagte sie, schlagartig wieder gespannt wie eine Feder.
»Ja, der hat gestern Abend direkt vor unserer Haustür gestanden, während Laurens mir auf der Eingangstreppe auflauerte. Er ist mir auf den Leib gerückt, als ich aus der Klinik zurückkam.«
Nach einem Moment sagte sie flach: »Wirklich? Und das erzählst du jetzt erst?«
»Ist doch nicht weiter wichtig. Ich habe ihn abgewimmelt.«
»Und nur, weil er hofft, dass du ihn doch noch anhörst«, sie konnte sich die Worte einfach nicht verkneifen, »taucht er jetzt wieder hier auf? Leander, er wusste nicht mal, dass wir heute auch nur in der Nähe sein würden. Das wussten wir vor zwei Stunden selbst noch nicht.«
»Nein, aber er wusste schon, dass Yaja hier übernachtet. Das habe ich ihm gestern selbst erzählt.«
Sie war ratlos. Mein Gott, dass Laurens ernsthaft hinter Yaja her sein sollte, war noch um einiges ungereimter, als dass er etwas von Leander wollte! Das sah doch schon ein Kleinkind!
Aber Leander offenbar nicht, denn er sagte: »Na gut, er hier, das ist ein Grund mehr, Yaja mit nach Hause zu nehmen.«
Wie kam er nur auf solche paranoiden Ideen? Das machte ihr richtig Angst. Wenn Menschen zwanghaft dachten, sie oder die Ihren würden verfolgt, was stimmte dann nicht mit ihnen?
Aber manche Fragen konnte man nicht stellen, ohne damit das eigene Glück zu untergraben. Sie meinte fast, Veronicas Stimme wieder zu hören, wie sie das damals gesagt hatte. Der Schweiß brach ihr aus, und um sich selbst einen Riegel vorzuschieben, klammerte sie sich kurz am Bild ihrer Freundin fest, das wie eine sichere und vertraute Bake vor ihr aufstieg. Es war bei jenem Mal kurz vor ihrem Tod gewesen, als Veronica ihr von Laurens’ unerwartet heftiger Reaktion auf ihre Eskapade erzählt hatte. »Er hört nicht auf, Dinge zu fragen, über die er besser gar nichts weiß.« Davon ausgehend, dass er genauso über die Absurdität der Situation lachen würde wie sie, hatte sie ihm einfach alles erzählt. Dumm. Aber da sah man mal wieder: Man glaubte jemanden in- und auswendig zu kennen, aber dann kamen nach all den Jahren doch noch unerwartete Züge ans Licht. Und was machte man dann? Wie bekam man den Geist je wieder in die Flasche zurück? Wie übersah man am anderen dasjenige, was man lieber nicht sehen wollte? »Konzentrier dich mal eine Weile auf seine guten Seiten, und achte nicht so sehr auf den Rest«, hatte sie Veronica geraten. Und Veronica hatte niedergeschlagen geantwortet: »Das gelingt mir nie, dafür bin ich viel zu bissig. Das ist eher was für dich. Du hast nun mal die Gabe, Menschen zu bewundern.«
Neben ihr sagte Leander: »Ich hätte ihn gestern viel härter anfassen müssen, diesen elenden Stalker.« Er stieg aus und ging um den Wagen herum. Auf ihrer Seite wartete er, während sie mit ihren Krücken herumstümperte.
Ihr Knie tat bestimmt weh, nachdem es so lange in der gleichen Position gewesen war, doch das wurde ihr kaum bewusst. Die Gabe, Menschen zu bewundern, hatte Veronica es genannt. Viele andere Gaben und Talente, die ihr Freude machten, besaß sie nun auch wieder nicht. Mit dem unbestimmten Gefühl, dass ihr etwas genommen worden war, zog sie sich aus dem Autositz heraus und zuckelte hinter Leander her zur Imkerei.
In Tante Gwens Küche herrschte wie immer ein Heidendurcheinander, aber man konnte mit eigenen Augen sehen, dass die Dinge es ganz gemütlich fanden, wie sie so dalagen. Wie sollte eine Socke sonst je in eine Obstschale gelangen oder ein Stück Käse mit einem schiefen Messer darin in einen umgedrehten Seiher?
Niels stellte sich vor, dass alle Gegenstände einander nachts, wenn die Menschen schliefen, aufgeregt von ihren Abenteuern erzählten. Was ich heute wieder erlebt habe, bester Kochlöffel! Ach Gottchen, Frau Topflappen, und ich erst! Wenn er ein Ding wäre, würde er auch gern hier liegen oder, was auch schön wäre, in einem Geschenkprospekt für Weihnachten stehen, zwischen blinkenden Dinky Toys, die nur dazu da waren, jemandem eine Freude zu bereiten.
Das waren schöne Gedanken, doch nach einer Weile bekam er das Gefühl, dass er diese verrückten Einfälle nur hatte, um an gewisse andere Dinge nicht denken zu müssen. Es war gerade so, als schriebe in seinem Kopf ein kleines Männchen aus Leibeskräften fröhliche Briefe an ihn, nur um ihn abzulenken. Trotz der vertrauten Unordnung war die Atmosphäre im Haus nämlich anders als sonst. Schwerer. Fremder. Babette lag oben in ihrer Wiege und war in Sicherheit, daran konnte es also nicht liegen. Und trotzdem kam es ihm vor, als lauere in einer der dunklen, unordentlichen Ecken etwas Unbenennbares, bereit zuzuschlagen, bereit, etwas zu Ende zu führen, was einst, vielleicht aus Versehen, in Gang gesetzt worden war. Aber zeichneten sich Unglück und Unheil nicht gerade dadurch aus, dass man sie nicht vorhersah?
Neben ihm schlürfte Toby konzentriert seinen Kakao, aber Niels sah es schon kommen, dass sich sein kleiner Bruder jeden Augenblick wieder langweilen würde. Draußen hatte er es auch schon nicht lange ausgehalten. Dabei war es doch gerade so toll gewesen auf der Bienenweide, wo man sonst nie hindurfte. Jeder war eifrig damit beschäftigt gewesen, alles Mögliche abzureißen und wegzuschaffen. Er hatte eine Zeit lang wie wild mitgearbeitet, um den Schnallen mal so richtig zu zeigen, dass er seinen Mann stehen konnte. Aber als Toby, der für alles noch viel zu kurze Arme hatte, der Rotz aus der Nase gelaufen war, hatte seine Tante gesagt: »Geh mal eben mit ihm rein, zu Papa und Timo, damit er etwas Warmes trinken kann.«
Und da saßen sie nun, meilenweit vom Geschehen entfernt. Wenn Toby je das Glück haben sollte, ein Ding zu werden, was für ein Ding würde er dann wohl sein? Etwas Kleines und Dummes natürlich. Das Stöckchen von einem Lutscheis zum Beispiel. Und wetten, dass der Zwerg gleich denken würde, er sei von einem Magnum? Vor Ärger gab er ihm einen Rippenstoß.
Bei dem Gebrüll seines Bruders sah ihr Vater von den großen Mappen auf, über die Onkel Timo und er sich auf der anderen Seite des Küchentischs gebeugt hatten. Er schob seine Lesebrille auf seine Stirn hoch. »Niels, wenn du unbedingt stänkern willst, dann mach das bitte woanders.«
»Äh, Laurens, entschuldige, aber wieso soll ausgerechnet das hier genau stimmen?« Onkel Timo tippte mit dem Finger auf eine der Zahlenreihen.
»Das ist die Abrechnung vom Laden. Bei Bobbie stimmt es immer auf den Cent genau.«
Hinter vorgehaltener Hand sagte Niels zu Toby: »Aus dir
wird das mickrige Stöckchen von einem Lutscheis.«
Sein Bruder war nicht damit einverstanden. Wütend begann er ihn mit seinen kleinen Fäusten zu traktieren. »Niels! Toby!«
Auch Onkel Timo lehnte sich jetzt kurz auf seinem Stuhl zurück. »Yaja ist oben, Jungs. Warum unternehmt ihr nicht etwas mit ihr zusammen?«
Niels holte tief Luft und hörte auf, Tobys Schläge abzuwehren. »Ist Yaja denn hier?«
»Ja, sie übernachtet bei uns.« Onkel Timo schaute wieder auf die Mappe voller Zahlen.
Vielleicht war das das Bedrohliche, das er gerade gespürt hatte: Yaja war im Haus. Er hatte überhaupt keine Lust auf diese Tropfsteinhöhle. Aber wenn sie nun was mit Toby zusammen machen würde, sodass er selbst wieder zur Bienenweide konnte? Er stand auf und zog den Zwerg mit. Im Vorübergehen hielt sein Vater ihn kurz an. Leise sagte er: »Lass dich nicht zu Spielchen verleiten, die dir später Leid tun, ja?«
Mechanisch schüttelte Niels den Kopf. Seinen kleinen Bruder vor sich hertreibend, lief er aus der Küche, den Flur hinunter und die Treppe hinauf.
Oben stand die Tür zum Gästezimmer offen. Yaja lag der Länge nach auf dem unteren der Etagenbetten und blätterte in einer Zeitschrift. Ihr mattschwarzes Haar hing in Strähnen über den Rand der Matratze. Es war so lang, dass es fast den Fußboden berührte. Mit giftiger Miene schaute sie auf. »O Gott«, stöhnte sie, »die Schlaffnasen.«
»Hallo«, sagte Niels so gleichgültig wie möglich.
Toby bemerkte beunruhigt: »Das ist mein Bett. Da schlaf ich immer drin, wenn wir hier sind.«
»Na und?« Yaja schlug die Zeitschrift zu. Sie gähnte so sehr, dass man ihr bis hinten in den Rachen schauen konnte. Dann setzte sie sich auf und kratzte sich lustlos unter der Achsel, worauf sie kurz an ihren Fingern schnupperte. »Ich langweile mich zu Tode. Das Einzige, was man hier machen kann, ist, auf dieser dreckigen Weide arbeiten. Und wenn man keine Lust hat, sich schinden zu lassen, kann man sehen, wo man bleibt. Na, zum Glück hab ich meinen Vater angerufen.« Sie schnippte mit den Fingern. »Er kommt mich gleich abholen.«
Toby kletterte neben ihr aufs Bett. »Niels sagt, ich werd das Stöckchen von einem Eislutscher.«
Ein Hauch von Interesse glitt über ihr Gesicht. »Ach ja? Und wie willst du das hinkriegen? In deinem nächsten Leben, oder wie? Dämel! Du kannst gar nicht unterhalb von einer Pflanze oder einem Tier reinkarnieren, und dazu musst du auch schon mindestens achtundfünfzig Loser umgelegt oder deiner Mutter die Hände abgehackt haben, du Knirps.«
Wenn es jetzt nicht schnell ging, war Yajas Vater gleich da, und dann war Niels’ Chance vertan, auf der Bienenweide seine Muskeln spielen zu lassen. »Kannst du ihm nicht ein bisschen vorlesen? Dschungelbuch mag er gern. Das liegt im Zimmer von Klaar und Karianne.«
Sie schien ihn nicht zu hören. Mit ihren schwarzen Nägeln harkte sie sich die Haare aus dem Gesicht, wodurch oberhalb ihrer weißen Schminke ein rosa Rand sichtbar wurde, wie neue Haut unter einer Kruste, oder als ob es zwei Yajas gab und die eine unter der harten Schale der anderen steckte. Langsam sagte sie: »Weißt du, was ich megageil fände? Im nächsten Leben als Katze wiederzukommen. Dann darf man bei jedem auf den Schoß und wird den ganzen Tag gestreichelt, und alle haben einen lieb.«
In dem Augenblick begann eine Tür weiter Babette meckernd zu weinen.
»Und man braucht dafür bloß ein Lotterleben zu führen, das ist noch das Schönste dran.« Der sehnliche Zug auf ihrem Gesicht verschwand, sie streckte sich und sprang auf. »Mal schauen, was mit Babette ist.«
Womöglich kam sie nicht zurück. Mit Toby an der Hand lief Niels hinter ihr her ins Babyzimmer. Es roch dort nach Puder und nassen Lappen. Babette lag mit rotem Kopf in ihrer Wiege und schrie. Sie hatte die kleinen Fäuste geballt und strampelte mit den Beinchen. Sie sah aus, als könnte sie jeden Moment explodieren.
Yaja hob sie hoch. »Ja, was ist denn, was ist denn, meine süße Kleine?«, gurrte sie mit hoher Stimme.
»Vielleicht will sie ihr Fläschchen«, sagte Niels. Babys mussten den ganzen Tag essen, das war bekannt.
Yaja ließ Babette auf ihrem Arm hoch- und runterhopsen.
»Ich glaub, sie möchte spazieren gehen, in ihrem Wagen. Der Timo hat einen irren Karren für sie gebaut. Ich bin gestern mindestens eine Stunde lang mit ihr drin rumgelaufen. He, kleiner Schreihals, Klappe zu, sonst glauben wir noch, was Bobbie über dich gesagt hat.«
»Was hat sie denn gesagt?«
Yaja setzte eine sensationslüsterne Miene auf. »Neulich dachten alle, Babette wäre krank, aber Bobbies Meinung nach war sie eigentlich vom Teufel besessen. Fett, was?«
Niels schwieg fassungslos. Auch Babette hielt jetzt den Mund. Sie war immer noch knallrot, und ihr Näschen war ganz schrumpelig vom Weinen. Sie fasste Yaja in die Haare und zog daran.
»Vom Teufel besessen«, wiederholte Yaja in feierlichem Ton. »Seht ihr.«
»Ich auch!«, rief Toby inbrünstig aus.
»Jetzt übertreib mal nicht, ja? Immer schön auf dem Teppich bleiben.«
Toby lief fast so rot an wie Babette und stampfte wütend auf. »Wohl!«
Niels brannte darauf, wegzukommen. Wenn die Bienenkästen abgerissen waren, würden sie angezündet werden. Er wusste nicht, ob er es Toby je vergeben konnte, wenn er das Feuer verpasste.
»Ich hab das auch, mit dem Teufel!«, schrie sein kleiner Bruder.
»Warte mal«, sagte Yaja. Sie hatte plötzlich etwas ungewohnt Lebendiges an sich. »Wenn du willst, kann ich ja mal testen, ob du Recht hast. Wie hat der Typ in Der Exorzist das noch gemacht? Warte, fällt mir gleich wieder ein.«
Toby strahlte.
»Okay dann«, sagte Niels eilig. Ehe Yaja es sich anders überlegen konnte, war er schon aus dem Babyzimmer hinaus, höchst zufrieden, dass Toby unter Dach und Fach gebracht war. Er schoss die Treppe hinunter, sagte im Rücken seines Vaters kurz in die Küche hinein, dass er zur Bienenweide ging, schnappte sich seine Jacke und rannte zur Tür hinaus. Es war nirgendwo Rauch zu sehen: Er kam bestimmt noch rechtzeitig.
Er sprintete über den Kieselpfad an Bobbies Haus vorbei und tauchte dann ins Gebüsch, um den Weg abzukürzen. Hier hatten sie im Sommer Menschenfresser gespielt. Es schien Jahre her zu sein.
Am Rand der Bienenweide blieb er stehen. Heute Morgen hatte die Weide noch fast wie immer ausgesehen, mit der doppelten Reihe Bienenkästen auf ihren Wackelbeinen und dem Gestell mit den Körben für die Schwarmvölker beim Schuppen. Aber die Gurken waren in seiner Abwesenheit nicht untätig geblieben: Nichts erinnerte mehr an den Ort, wo sein Onkel immer pfeifend in seinem Raumanzug und mit seiner Rauchpumpe herumgelaufen war und wo die Bienen mit dicken Pollenklumpen an den Beinchen an- und abgeflogen waren. Überall lagen jetzt zersplitterte Bretter herum, die die Engel mit verbissenen Gesichtern zu einem schon hoch aufragenden Holzstoß schleppten. Klaar und Karianne hauten das Holz mit einem Geißfuß noch weiter zu Brei. Ihre Mutter ruhte sich, auf eine Heugabel gestützt, gerade etwas aus. Sie bemerkte Niels und winkte ihm. Trotz der fröhlichen Gebärde sah sie müde und bekümmert aus.
Und auf einmal erinnerte er sich wieder daran, wie böse er vorigen Sommer auf sie gewesen war, weil es so ausgesehen hatte, als hätte sie seine Mutter schon ganz und gar vergessen. So böse, dass er Babette unter anderem auch deshalb weggewünscht hatte, um Gwen eine Lektion zu erteilen. Es spielte keine Rolle, dass jemand wegwünschen gar nicht ging, er war darauf aus gewesen, ihr einen gemeinen Streich zu spielen.
Und es tat auch nichts zur Sache, dass sie das nicht mal wusste. Er wusste es. Zögernd trat er näher.
»Na, Niels. Sind Timo und Laurens noch nicht fertig?« »Das weiß ich nicht.« Dabei schaute er starr auf das Holz. »Ein ganz schönes Chaos, was?«
Er nickte verlegen.
»Und wenn man bedenkt, dass wir schon fast den kürzesten Tag des Jahres haben. Normalerweise hätten wir längst mit der Einwinterung angefangen. Im Sommer lebt eine Biene sechs Wochen, aber im Winter müssen sie sechs Monate überstehen. Wusstest du das?«
»Hör auf, Mam«, sagte Marleen, während sie ein paar Bretter auf den Boden warf. »Du klingst ja schon wie Papa.« »Ach ja?« Gwen sah ein bisschen erstaunt aus.
»Phänomenal, wie sie die Temperatur in der Traube von sich aus auf exakt zwölf Grad halten können«, sagte Marise.
Klaar und Karianne fingen an zu lachen.
»Ja, und während der Winterruhe geht die Zahl der Bienen in einem Volk ganz von allein auf ein Viertel zurück!«, sagte Marleen zu Marise.
»Jungejungejunge.« Marise rieb sich die Hände. »Man kann sich einfach nicht daran satt sehen, was? Man kann nur immer wieder staunen.«
Jetzt musste auch Tante Gwen lachen. In einem Ton, als falle es ihr schwer, das zuzugeben, sagte sie: »Na ja, an Begeisterungsfähigkeit hat es hier jedenfalls nie gemangelt. Hopp, Mädchen, es gibt noch einen Haufen Arbeit. Hilfst du auch mit, Niels?«
Er schämte sich so dafür, dass er ihr im Sommer etwas Böses hatte zufügen wollen, dass er nun unbedingt etwas sagen wollte, was sie gern hören würde. »Ich habe von Onkel Timo ganz viel über die Bienen gelernt.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie hob die Heugabel.
»Zum Beispiel...«, er dachte angestrengt nach, »dass ein Volk eigentlich wie ein einziges Lebewesen ist, weil die Bienen alle genau dasselbe wollen, nämlich gemeinsam heil und gesund bleiben.«
»Das hast du gut behalten«, sagte sie anerkennend, aber es klang irgendwie betroffen. Sie wandte sich ab.
Marleen stieß ihn gegen die Schulter. »Kommst du heute noch mal in die Gänge, du Weichei?«
Sofort spuckte er sich in die Hände, rannte zum Rand der Weide und fing an, Bretter zu schleppen.
Laurens setzte die Brille ab und rieb sich die Augen. »Es wird natürlich stark davon abhängen, wie schnell du im nächsten Frühjahr mit neuen Bienen ernten kannst«, sagte er, »aber der Betrieb ist im Großen und Ganzen immer so ordentlich gelaufen, dass ein Überbrückungskredit kein Problem sein dürfte. Und die verseuchten Kästen, die jetzt vernichtet werden müssen, waren den Büchern zufolge ohnehin schon abgeschrieben. Du musst das einfach als Durchstart sehen.« Er hob den Kopf. Hatte Toby oben einen ängstlichen Schrei ausgestoßen? Aber es war schon wieder still.
»Durchstart? Das sagt mir nichts«, sagte Timo. Er schenkte sich noch einmal Kaffee ein.
»So nennt man das heutzutage, wenn man aus einem Tief wieder aufsteigt.«
»Und du glaubst allen Ernstes, dass das möglich ist?«
»Ich würde auf jeden Fall den Versuch wagen, wenn ich du wäre. Und wieder einen vernünftigen Steuerberater nehmen. Der zahlt sich mit Sicherheit aus.« Er lächelte ermutigend und hoffte, dass er es richtig sah. Wenn man jemandem das Beste wünschte, trübte das manchmal das Urteilsvermögen.
Timo streckte die Beine aus. »Junge, was für eine Erleichterung. Wie soll ich dir je...« Es klopfte an der Küchentür, und er drehte sich um. Auch Laurens blickte über die Schulter hinter sich.
»Beatrijs!«, entfuhr es Timo, und er errötete vor Freude. »Hallo, Timo«, sagte Beatrijs in der Türöffnung. Leander stand neben ihr.
Timo sprang auf, lief zu ihr und umarmte sie. »Meine Güte, haben sie dich endlich gehen lassen? Wie fühlt es sich an, wieder auf eigenen Beinen?«
»Noch ziemlich wacklig.« Umsichtig mit ihren Krücken manövrierend, kam sie weiter in die Küche herein, sichtlich angespannt und unsicher. »Tag, Laurens. Du auch hier?«
Er war völlig überrumpelt. Automatisch zog er einen Stuhl für sie vom Tisch zurück. »Du bist mir eine. Konntest es wohl nicht lassen, uns gleich deine Künste vorzuführen!«
Sie lachte nervös und setzte sich. »Es ist noch alles sehr ungewohnt. Puh, gut, dass ich wieder sitze.«
»Brauchst du nicht irgendeine Stütze für das Bein?«, fragte er, weil er nicht wusste, wie er Leander begrüßten sollte, der mit langsamen Schritten näher kam. Er fürchtete, irgendetwas total Schwachsinniges zu sagen, sowie er den Mund aufmachte. Andererseits, was konnte er schon Schwachsinnigeres hervorbringen als: Du hattest in gewissem Sinne schon Recht, als du sagtest, ich dächte nur an mich selbst.
»Ich gehe Gwen holen«, sagte Timo. »Die wird sich aber freuen, dich zu sehen, Beatrijs.« Um das Gesagte auch gleich in die Tat umzusetzen, schob er sich an Leander vorbei aus der Küche. Damit war Timo schon mal aus den Schneider.
Es trat eine kurze Stille ein. Danach sagte Leander: »Scherz beiseite, Laurens. Wir sind hier, um Yaja abzuholen.« Er stand an der Arbeitsplatte und studierte seine Hände.
»Das ist schön«, sagte Laurens, während er sich erhob. »Aber da ihr nun schon hier seid, würde Bobbie es, glaube ich, auch nett finden, Beatrijs noch kurz zu sprechen.«
Mit dem Gefühl, das größte Arschloch der Welt zu sein, ging er innen hindurch zum Laden. Die funzelige Birne, unter der er Leander vor Monaten zum ersten Mal angesprochen hatte, baumelte noch immer genauso bedenklich an ihrem Kabel wie damals. Hier hatten sie gestanden und geredet. Und es hatte alles zu nichts geführt. Wieso kam er sich dann eigentlich wie ein Arschloch vor? Weil es letztlich komischerweise sehr wohl zu etwas geführt hatte und er einfach nicht den Großmut besaß, das auch offen anzuerkennen?
Noch mit sich ringend, öffnete er die Tür zum Laden.
Bobbie saß hinter dem Ladentisch und schlief. Ihr Kopf hing zur Seite, und sie schnarchte leise. Nach ihrem Block zu urteilen, hatte sie heute noch keine Kunden gehabt.
Er berührte sie an der Schulter.
Sie fuhr hoch. »He, Laurens«, sagte sie, gleich vollkommen munter. »Was machst du denn für ein bedrücktes Gesicht?«
»Sag mal ehrlich: Bin ich ein Arschloch?«
Sie lachte. »Eher selten.«
»Na, da kann ich ja schon froh sein. Hör mal, Beatrijs ist gerade gekommen. Du möchtest sie doch bestimmt sehen.«
»O ja, gern. Aber dann musst du kurz auf den Laden aufpassen.«
Das war eine prima Lösung. »Selbstverständlich«, sagte er dankbar.
Sie reichte ihm ihren Kittel. »Gut aufpassen mit dem Wechselgeld, ja? Und die Wabenkerzen sind diese Woche im Angebot.«
»Zwei zum Preis von einer?«
»Ja, was sonst?« Sie sah ihn an, als zweifle sie plötzlich an seinen Fähigkeiten.
»Ich habe alles unter Kontrolle, Bobbie. Es kann bestimmt nichts schief gehen.«
Als sie weg war, zog er nach kurzem Zögern ihren Kittel an. War das so gemeint gewesen? Er war ihm unter den Armen zu eng, aber das machte nichts. Ach, könnte man doch durch das Tragen der Kleidung eines anderen auch dessen Persönlichkeit annehmen. In Bobbies Herz herrschte gewiss größerer Frieden als in seinem.
Er setzte sich auf ihren Stuhl, verschränkte die Arme auf der Ladentheke und legte seinen Kopf darauf. Er sah Niels wieder vor sich, gestern Abend, mit Veronicas Parfümfläschchen in der Hand. Wieder war ihm, als bebte die Erde unter seinen Füßen.
Es konnte also keine Rede davon sein, dass sie es auf ihn abgesehen gehabt hätte. Wie sollte sie auch? Sie war tot. Das war seine wirkliche Strafe: Dass sie tot war, unwiderruflich, für immer.
Sie hatten noch versucht, sie zu reanimieren. Er hatte die halbe Nacht neben ihr und diesem Monitor gesessen, fassungslos vor Angst und Selbstvorwürfen. Als keine Hoffnung mehr bestanden hatte, hatte der Dienst habende Arzt gesagt, wie grausam es doch sei, dass das so ohne weiteres passieren könne, sogar bei jungen, kerngesunden Menschen: Ein schwaches Blutgefäß, das platzte, und man war Vergangenheit.
Nur war es nicht so ohne weiteres passiert. An jenem Abend hatte er ihr zum wer weiß wie vielten Mal über ihr Abenteuer im Zug auf den Zahn gefühlt, bis zur Erschöpfung. Gleich nach der Arbeit, noch im Mantel, hatte er sie in der Küche angefahren. Niels war beunruhigt herbeigelaufen, gerade als er sie eine Schlampe geschimpft hatte.
»Was ist eine Schlampe?« Das Gesicht des Jungen.
Er hatte sich beherrscht, aber nicht lange. Kaum lagen die Kinder im Bett, waren seine verletzten Gefühle wieder mit ihm durchgegangen.
»Erzähl doch mal, seid ihr eigentlich beide gleichzeitig gekommen?«
»Laurens, damit quälst du dich doch nur selbst.«
»Oder war er so nobel, dass er dir den Vortritt ließ, bevor er seinen Samen in dich spritzte?«
»Hör auf, mich so in die Enge zu treiben!«
»Und welches Stadium der Entkleidung muss ich mir im Übrigen dabei vorstellen, so im Zug? Kam er an deine Titten ran?«
»Das ist krank, weißt du das, wie du...«
»Ach, gesund ist es dann wohl, sich vom erstbesten Teenager ficken zu lassen, der gerade des Weges kommt. Hatte er überhaupt schon Haare auf den Eiern? Veronica? Ich hab dich was gefragt!«
Er wusste nicht mal, was er eigentlich von ihr wollte, aber er war wie aufgezogen. Stundenlang konnte er so weitermachen, sie ununterbrochen bedrängen. Er musste und würde alles haarklein erfahren, konnte dabei aber nicht mal recht auseinander halten, ob sein Ekel nur sie betraf oder auch ihn selbst. In der dumpfen Ahnung, dass er sich erst würde beruhigen können, wenn er bis in die kleinsten Einzelheiten wusste, wozu seine Frau imstande war, löcherte er sie weiter. Keine Ahnung zu haben, wie es genau abgelaufen war, das war es, was ihn zum Wahnsinn trieb.
Doch sosehr er auch bohrte, triezte, drohte, plädierte, sie gab bitterwenig preis. Es würde ihm dann nur noch schlechter gehen, wenn er alle Details wüsste, sagte sie. Ach ja? Ach ja? Wie spektakulär war es da wohl zugegangen, wenn sie glaubte, ihm diese Fakten verschweigen zu müssen? Wenn Genaueres ihn zum Durchdrehen brächte, dann war es offenbar noch viel toller zugegangen, als er ohnehin schon befürchtet hatte. Dann war es nicht einfach nur ein Ausrutscher gewesen, sondern wohl ein unvergessliches Erlebnis.
»Mann, ich hätte es längst vergessen, wenn du nicht so darauf herumhacken würdest, tagaus, tagein.«
»Ach, so ist das bei dir also? Völlig egal, wer seinen Schwanz in dich steckt, Hauptsache schnell mal gevögelt und dann zurück zur Tagesordnung?«
Und so erschien ihr Fehltritt mit jedem Wort, das er doch noch aus ihr herauszupressen verstand, immer größer. Er wandte seine ganze Willensstärke auf, um sie mit dem Rücken gegen die Wand zu spielen, bis in alle Fasern lauerte er auf Widersprüche, Verdrehungen oder Ausflüchte. Er hatte nichts anderes, woran er sich klammern konnte, als seine eigene Hartnäckigkeit. Es war eine Frage der Beharrlichkeit. Einem solchen pausenlosen, endlosen Kreuzverhör konnte kein Mensch standhalten.
Wurde sie schon mürbe?
Sie sah ihn ruhig an und sagte: »Du bist lächerlich, weißt du das?«
Aber diese Ruhe war nur Schein. Ihre Lippen bebten. Sie war weiß geworden wie das Shirt, das sie trug, und der Schweiß war ihr ausgebrochen. Ihre Augen drehten sich weg. Sie öffnete den Mund, als schnappe sie nach Luft. Und dann glitt sie seitlich vom Stuhl, auf dessen Kante sitzend sie wieder den ganzen Abend trotzig geschwiegen hatte, und landete mit einem dumpfen Plumps auf dem Boden, zu seinen Füßen.
Einen Moment lang hatte er gedacht, das wäre Absicht. Dass sie sich aus purem Frust auf den Boden warf, so wie Toby es immer machte, wenn er sich überfordert fühlte. Dass sie ihn jetzt bei den Fußgelenken fassen und ihn anflehen würde, mit dieser Folter aufzuhören.
Die Erinnerung ging ihm so nahe, dass er hinter dem Ladentisch hervorkommen und durch den Laden tigern musste. Es mochte ja stimmen, dass selbst im Gehirn einer kerngesunden, fitten Frau wie Veronica spontan ein Blutgefäß platzen konnte, aber erhöhte sich diese Wahrscheinlichkeit nicht um ein Vielfaches, wenn die Betreffende unaufhörlich gepiesackt, gequält und unter Druck gesetzt wurde? Im letzten Moment ihres Lebens musste sie gedacht haben: Laurens treibt mich lieber in den Tod, als damit aufzuhören.
Und warum? Einzig und allein, weil er die ganze Geschichte auf sich bezogen hatte. Weil er, in der Tat, nur an sich selbst gedacht hatte. Und nach ihrem Tod hatte er das gewissermaßen fortgesetzt. Er hatte sie eigenhändig aus ihrem Grab gezerrt und einen rachsüchtigen Geist aus ihr gemacht.
Auch in der Hinsicht hatte Leander Recht gehabt. Er hatte seine Frau nicht in Liebe losgelassen, er hatte ihr keine Ruhe gegönnt. Im Gegenteil. Na komm, Veronica, zahl es mir heim. Denn wenn Rechnungen beglichen wurden, wurde letztlich Schuld getilgt, so war es doch, und das war der springende Punkt. Strich hindurch. Aus der Welt.
Vor dem Fenster blieb er stehen und starrte nach draußen. Der Hof lag verlassen da. Auch die Straße am Kanal wirkte wie ausgestorben. Es war ein grauer Tag. So ein Tag, an dem die meisten Menschen am liebsten drinnen blieben. Ihr hatte das Wetter nie etwas ausgemacht. Sie hätte heute mit Vergnügen einen langen Spaziergang gemacht und wäre zurückgekehrt mit einer Erzählung über Brachvögel, die sie auf einer überschwemmten Wiese gesehen hatte, oder über eine Gruppe ungewöhnlicher Schwäne, Höckerschwäne könnten es nicht gewesen sein, sie seien viel schlanker gewesen, vielleicht Singschwäne, die aus dem fernen Lappland gekommen seien, um hier zu überwintern.
Ihn übermannte erdrückende Reue. Zwölf Jahre lang war sie seine Verbündete gewesen, sein kluges, wunderschönes, witziges Mädchen. Sie war mit ihm in See gestochen und hatte ihn auf Kurs gehalten, sie hatte ihn geneckt und ausgelacht, es war kein Tag vergangen, an dem sie ihn nicht zu verblüffen gewusst hatte, sie hatte ihn bis ins Mark erwärmt, sie hatte ihm das Pokern beigebracht und wie man Oberhemden bügelte, und sie hatte immer vorbehaltlos hinter ihm gestanden, in ihrem kornblumenblauen Kleid. Und er war noch nicht einmal ihrem Andenken gerecht geworden.
Nach der Beerdigung hatte Gwen gesagt: »Komisch, so ein unerwarteter Tod, als ob es vorherbestimmt gewesen wäre.«
Doch selbst wenn es tatsächlich unumstößlich festgestanden hatte, dass es seiner Veer vorherbestimmt war, an einem Frühlingsabend vorzeitig einem Schlaganfall zu erliegen, hätten sie in dem Moment auch zärtlich zusammen im Bett liegen können. Das war der Punkt.
Er kniff die Augen zusammen, damit die Tränen herausliefen, und ging zu dem Regal, auf dem Bobbie immer den Honig so kunstvoll auftürmte. Er nahm sich ein Glas Thymianhonig, gut für die Atemwege. Am Ladentisch zog er sein Portemonnaie hervor, zählte den passenden Betrag heraus und tat das Geld in die Kasse. Dann steckte er das Glas in die Tasche und machte einen Strich auf Bobbies Block.
Die Räumung der Bienenweide hatte Gwen stärker zugesetzt, als sie erwartet hätte. Unter den kahlen Linden lief sie missmutig an den Beeten entlang, in denen jedes Frühjahr Skimmien, Goldlack und Mahonien geblüht hatten, jeden Sommer Kornblumen, Lavendel, Goldruten und Natternkopf und im Herbst Erika, Schleierkraut und viele, viele Astern, purpurn mit gelben Herzen: Für alles eine eigene Jahreszeit. Alles war so übersichtlich gewesen. Beinahe so, als gebe es eine Beständigkeit, die gar nicht anders konnte, als ruhig ihren Gang zu gehen.
Die Kinder schleppten das letzte Holz auf den Holzstoß. Gleich konnte sie ihn anzünden. Sie fragte sich, ob sie Timo Bescheid sagen sollte, und das verwirrte sie. Sie musste es doch im Gefühl haben, ob er zuschauen wollte oder nicht, wenn seine Kästen in Rauch aufgingen, oder? Aber zum Glück kam er gerade von selbst angelaufen.
Sein Gang hatte etwas Munteres, das beinahe fehl am Platze wirkte: Er bewegte sich, als sei der Himmel völlig wolkenlos. Warum war er nur immer so verdammt frohgemut und unverwüstlich? Ein richtiges Stehaufmännchen. Keine Macht der Welt konnte ihn umwerfen. Während sie hier inmitten der Trümmer seines Traums stand, blieb er unerschütterlich wie eh und je.
»Beatrijs ist da«, rief er ihr zu.
Sie erschrak. »Wieso? Sie ist doch heute Morgen erst entlassen worden, und da kommt sie gleich hierher?«
»Oh, danach hab ich nicht gefragt.« Timo schaute sich um. »Donnerwetter, ihr seid gut vorangekommen. Was meinst du, sollen wir in der nächsten Saison da hinten links wieder mal ein paar Felder Glockenheide setzen? Wenn wir die Pflanzen jetzt klein einkaufen, kosten sie uns so gut wie nichts.«
Sie war zu durcheinander, um ihm zuzuhören. Hatte Bea den Braten jetzt schon gerochen und kam, um sie zur Rechenschaft zu ziehen? Was sollte sie ihr denn um Himmels willen sagen? Ach, Kind, so was kann halt passieren, was macht es schon groß aus, dass wir einander unser Leben lang blind vertraut haben, schon seit der Zeit, als du noch Bessie Turf warst und ich Daisy Duck? Was spielt es schon für eine Rolle, dass wir einander einst mit Herzblut ins Poesiealbum schrieben: »Rosen, Tulpen, Nelken, alle drei verwelken, Stahl und Eisen bricht, aber unsere Freundschaft nicht«? Warum sollte es auch ins Gewicht fallen, dass wir als kleine Krümel vertraut unsere Mützen tauschten und stolz die Handschuhe der anderen trugen, dass wir später treu die Hausaufgaben voneinander abschrieben, dass wir zusammen unsere erste Zigarette rauchten und unsere ersten Kondome kauften, dass wir einander argwöhnischen Erwachsenen gegenüber deckten, dass es keine Träne und kein Lachen gab, die wir nicht miteinander geteilt hätten? Wen kümmert das schon? Unsere Freundschaft stammt aus der Zeit, als das Böse dieser Welt uns noch nichts anhaben konnte, aber die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage werden Babys am helllichten Tag gestohlen und Monate später in aller Gemütsruhe an denselben Ort zurückgelegt, ohne dass man sich das zu Herzen nehmen darf, eine Zeit also, in der alles möglich ist, was man immer für unmöglich gehalten hätte. Verlass dich besser auf nichts mehr. Denn jetzt heißt es schlichtweg: Jeder ist sich selbst der Nächste.
Erschrocken dachte sie: Aber so jemand möchte ich gar nicht sein.
»Willst du nicht reingehen, Maus?«, fragte Timo. »Ich mach das dann hier fertig, mit den Kids.«
Ein wenig schwindlig entfernte sie sich von den kahlen Rabatten, in denen die Skimmien, die Goldruten und die Tausende von Astern die Bienen jahraus, jahrein fleißig gehalten hatten. Sie wappnete sich und betrat die Küche.
Beatrijs saß mit Bobbie am Tisch, der immer noch mit Timos Papieren übersät war, sie unterhielten sich. Leander stand an der Arbeitsplatte und trank Kaffee. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass er natürlich auch da sein würde: Beatrijs konnte ja gar nicht Auto fahren. Er stellte seine Tasse ab und nickte ihr so ausdruckslos zu, dass es ihr für einen kurzen, hoffnungsvollen Moment gelang, sich einzubilden, es wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. Doch gleich darauf fühlte sie sich leer und enttäuscht.
»Gwen!«, rief Beatrijs aus und rappelte sich halb in den Stand. Es war überdeutlich, dass sie sich freute, sie zu sehen.
»Bleib sitzen.« Gwen wedelte mit den Armen, hin- und her- gerissen zwischen Erleichterung und schlechtem Gewissen.
»Was machst du denn hier, du Verrückte? Solltest du nicht lieber mit einer Kanne Tee zu Hause auf dem Sofa sitzen?«
»Leander kommt Yaja holen. Und da fand ich es gemütlich, kurz mit zu fahren.«
»Ach, ich dachte Yaja würde das ganze Wochenende bleiben?«
»Ist sie oben?«, mischte sich Leander in beiläufigem Ton ein. »Dann rufe ich sie gleich mal.« Er fühlte sich bestimmt auch nicht wohl in seiner Haut. Mit eingezogenem Kopf verließ er die Küche.
Sofort beugte sich Beatrijs vor. »Ich weiß nicht recht, wie ich es taktvoll formulieren soll, Gwen.« Ihr Blick war sowohl besorgt als auch nervös. »Wie sieht es denn nun eigentlich finanziell bei euch aus? Du weißt doch hoffentlich, dass ihr euch jederzeit an mich wenden könnt, wenn ihr in Verlegenheit seid! Du brauchst es nur zu sagen, wenn ich etwas vorschießen soll.«
Unter dem Blick aus diesen treuherzigen braunen Augen brach sie fast zusammen. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, zog sie ihren Pferdeschwanz zurecht.
»Das sagst du so einfach, aber wir sind bestimmt teuer«, sagte Bobbie kopfschüttelnd. »Wir sind hier ja ziemlich viele.«
Ihre Worte bereiteten Gwen noch größere Gewissensbisse. Beatrijs hatte nur Leander. Mit belegter Stimme sagte sie: »Wie lieb von dir, Bea, so etwas anzubieten, wo du es doch unserer Rasselbande zu verdanken hattest, dass du monatelang lahm gelegt warst.«
»Aber da steckte doch Yaja dahinter. Lass dich nicht täuschen, die kleine Transuse ist zu allem fähig. Aber warte nur, bis ich sie zwischen die Finger bekomme. Ich hab nämlich beschlossen, mir nicht mehr auf der Nase herumtanzen zu lassen.«
»Natürlich nicht«, sagte Bobbie erstaunt. »Wenn man das zulässt, machen sie mit einem, was sie wollen. Das sieht man an Gwen. Die ist viel zu gut für diese Welt.«
»Aber Gwen ist nicht so eine Memme wie ich. Ich lass mir von meinem eigenen Leasing-Kind die Butter vom Brot nehmen.« Unvermittelt trat ein Lächeln auf ihr Gesicht, und alle Nervosität fiel von ihr ab. »Ach, herrlich, seinem Herzen mal eben Luft machen zu können.«
»Siehst du, mit uns kann man über alles reden!« Bobbie tätschelte Beatrijs’ Hand. »Ich und Gwen, wir sind nicht zurückgeblieben, weißt du.«
Beatrijs schien einen Moment zu zögern. »Aber würdet ihr es mir auch ehrlich sagen, wenn ihr der Meinung wärt, dass ich einen Fehler mache?«
Drei Frauen um einen Küchentisch: Es gab Gwen das Gefühl, dass plötzlich wieder alles so war, wie es zu sein hatte, und es, genau betrachtet, sehr wohl Beständigkeit gab, wenn man nur einen Blick dafür hatte. Um Beatrijs nicht antworten zu müssen, erhob sie sich, als wäre ihr plötzlich etwas eingefallen, was sie sofort erledigen musste. Beinahe stieß sie mit Leander zusammen, der gerade wieder in die Küche kam.
Er sah noch bleicher aus als sonst. Händeringend stieß er hervor: »Da stimmt was nicht mit dem Kleinen von Laurens. Er liegt im Babyzimmer auf dem Fußboden und reagiert nicht mehr.«
Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, stob Gwen an ihm vorbei in den Flur. »Toby!«, rief sie, während sie die Treppe hinaufrannte, zwei Stufen auf einmal nehmend. Oben stürmte sie in Babettes Zimmer.
In einer Pfütze Erbrochenem lag Toby mit dem Gesicht nach unten auf dem gelb gestrichenen Holzboden.
Sie ging in die Hocke. Vor Schreck war ihre Kehle wie ausgedörrt. Dass einem Kind hier im Haus so etwas zustieß! Aber vielleicht war dieses Haus kein sicherer Ort mehr. Durch ihr Zutun hatte der Betrug hier Einzug gehalten. Neben dem gleichgültigen Bösen, das ohne Ansehen der Person zuschlug, gab es schließlich auch noch Unheil, das man selbst in Gang setzte. Für das man selbst verantwortlich war.
Sie zwang sich zur Ruhe. Handeln. Keine Zeit verlieren. Toby vorsichtig auf die Seite legen, darauf kam es jetzt an, damit das Erbrochene herauslaufen konnte. Mit bebenden Händen drehte sie das Kind auf seine linke Seite. Die mit weißen Brocken durchsetzte braune Masse verklebte ihm die Nasenlöcher. Sie zwängte die Finger zwischen die schlaffen Lippen und zog sie auseinander. Noch mehr Erbrochenes rann heraus. Bitte, Gott, bitte tu Laurens und Niels das nicht an. Jetzt gleich beatmen, also auf den Rücken legen. Versuchen, die Lage des Kopfes möglichst stabil zu halten. Moment, zuerst sein Herz fühlen. Herzchen, Herzchen, wo bist du? Hier. Es schlug. Es schlug noch. Schlug ein Kinderherz immer so flach?
Auf einmal kniete Bobbie neben ihr, einen entsetzten Zug im Gesicht. »Hör auf mit dem Theater, Toby«, dröhnte sie. »Hörst du mich? Dein Vater hat doch nur ein Krokodil.«
»Warte, ich mache Mund-zu-Mund-Beatmung«, sagte Gwen. Innerlich heilige Eide schwörend, sog sie Luft ein und beugte sich über den Jungen.
Im selben Moment fing Toby an zu husten. Seine Wimpern zitterten. Seine Augenbrauen hoben sich. Und plötzlich öffnete er die Augen. Dösig sah er sie an. Dann wurde sein Blick langsam klar. »Bah«, sagte er aus tiefster Seele, während er sich mit einer Hand über den Mund wischte.
Gwen brauchte einen Moment, ihre Sprache wiederzufinden. »Wir machen dich gleich schön sauber«, sagte sie. »Aber sag mir erst mal, ob dir irgendwo was wehtut.«
Mit angeekeltem Gesicht schüttelte er den Kopf. Er würde bestimmt gleich in Tränen ausbrechen.
»Das sieht ja vielleicht aus«, sagte Bobbie ehrfürchtig. »Es klebt überall, sogar in deinen Haaren.« Mit einem Schwung schaufelte sie Toby vom Fußboden hoch.
»Bob-bie«, sagte er schwerfällig, aber seine Wangen bekamen schon wieder etwas Farbe.
Auch Gwen erhob sich. »Ich rufe Laurens.«
»Der bekommt einen Herzinfarkt, wenn er Toby so sieht.« Resolut lief ihre Schwägerin ins Badezimmer. Sie hatte natürlich Recht. Gwen folgte ihr, um Wischlappen und Eimer zu holen.
Toby machte ein bestürztes Gesicht, als Bobbie ihn mitsamt Kleidern in die Duschwanne stellte. Doch sowie ihn der Wasserstrahl traf, fing er aus vollem Halse an zu lachen. Das war die Wucht. Begeistert spritzend sprang er im Kreis herum, schon wieder voller Lebenslust.
Erschöpft, als hätte sie einen halben Marathonlauf hinter sich, schaute Gwen zu und sammelte Mut für das Aufwischen des Fußbodens.
»Ist dir einfach so schlecht geworden?«, fragte Bobbie. »Nein, Yaja wollte, dass ich was Grünes spucke. Deshalb hat sie die ganze Zeit an meinem Kopf rumgedreht.«
»Das gibt’s doch nicht. Was sind denn das für Spielchen, einander zum Spucken zu bringen?«
»Grün spucken«, verbesserte Toby. »Aber es ging nicht.« »Ich verstehe kein Wort. Wieso solltest du das denn?« »Das hatte Yaja in einem Film gesehen. Dass man grün
kotzt, wenn man einen Teufel in sich hat.«
»Ich dachte, dann müsste man was mit Knoblauch machen – oder so. Aber wie seid ihr denn auf diese verrückte Idee gekommen? Du bist doch nicht vom Teufel besessen!«
»Doch«, rief Toby empört aus. »Bin ich wohl! Genau wie Babette.«
Ruckartig drehte Gwen sich um. Mit drei Schritten war sie wieder in Babettes Zimmer und bei der Wiege unter dem Fenster. Die Decke war zu einem dicken Wulst zusammengedrückt. Als sie sie wegzog, blickte sie in ein leeres Bettchen. Vor Schreck stieß sie einen Schrei aus.
»Ist was, Gwen?«, rief Bobbie.
Aber sie war schon die Treppe hinunter und schoss in die Küche. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. »Wo ist Yaja?«
»Ist mit Toby alles in Ordnung, Gwen?«, fragte Beatrijs besorgt.
»Ja, aber wo ist Yaja?«
Mit einem rauen Klang in der Stimme sagte Leander: »Wieso? Hast du sie für irgendetwas nötig?«
Nötig. Nötig. Er konnte nur »nötig« gesagt haben, aber sie hatte verstanden: »Göttin«.
Sie wurde immer hysterischer. Sie hatte Träume und Gedanken gehabt, in denen für Babette kein Platz gewesen war. Und das kam dabei heraus, wenn man sein Kind verleugnete! Sie riss die Tür auf und stürzte nach draußen. Mit Seitenstichen rannte sie zur Bienenweide. Schon von weitem sah sie den Rauch und die Glut des Feuers, das Timo inzwischen angezündet hatte.
»Wie findest du unser Feuer, Mama?«, rief Marleen und sprang dabei vor Begeisterung vom einen Bein auf das andere. Timo saß, die Arme um Klaar und Karianne gelegt, auf einem Baumstrunk und schaute zu. Marise und Niels stocherten mit Stöcken im Feuer, dass es Funken regnete, als schwärmten leuchtende Bienen umher.
Jetzt nur keine Panik verbreiten. Mit dem Handrücken wischte sie sich den klammen Schweiß von der Stirn. »Super«, brachte sie hervor. »Aber kommt, ihr müsst mir helfen, Yaja zu suchen. Beatrijs und Leander wollen mit ihr nach Hause.«
»Och, nö!«, riefen ihre Mädchen im Chor.
»Doch, ihr tut jetzt, was Mama sagt. Das Feuer brennt wirklich noch Stunden weiter«, sagte Timo, während er den Kleinen einen Schubs gab. Unter beleidigtem Murren trollte sich die ganze Bande.
Er streckte einen Arm nach ihr aus. »Setzt du dich kurz zu mir?«
Mit eigenartiger Schärfe sah sie seine breiten Schultern, sein gutmütiges Gesicht. Das kahle Winterlicht machte ihn nicht schöner, als er war. Von ihm ging kein heller weißer Schein aus, wie sie es manchmal bei Leander zu sehen gemeint hatte. Er war einfach Timo. Solide und verlässlich.
»Yaja hat Babette bei sich, glaube ich«, sagte sie, mit vor Selbstvorwürfen bebender Stimme.
Er stemmte sich mit beiden Händen vom Baumstrunk hoch. Sie dachte schon, er wollte ihr an die Gurgel gehen. Aber das tat er nicht. Er sagte auch nicht: Ich hab dir gleich gesagt, dass ich das Mädchen nicht hier haben will. Sondern er sagte: »Dann müssen wir schnell in Aktion treten. Ich fahr mal mit dem Fahrrad herum. Vielleicht ist sie zum Teich.«
Hinter ihm tauchte am grauen Himmel ein Schwarm Pfeifenten auf. Sie flogen so tief, dass ihre durchdringenden Rufe hörbar waren. Wiiuh, wiiuh, wiiuh! Veronica hatte immer gesagt, das bedeute: »Alles sicher? Alles sicher?« Direkt über der Bienenweide machten sie in ungeordneter Formation einen kurzen Schwenk von links nach rechts. Dann ballte sich der ganze Schwarm wieder zusammen und zog zielgerichtet ab.
Während sie den Vögeln mit dem Blick folgte, stammelte Gwen: »Gut, dann gehe ich in die andere Richtung.« Sie trabte an der Reihe Linden entlang. Über den Knick hinweg ging es auf den schmalen Treidelpfad. Nun, da sie nicht mehr auf eigenem Grund und Boden war, lief sie noch schneller. Die Welt war so entsetzlich groß.
Weit vor ihr flogen die Pfeifenten als kerzengerade Strichellinie über der Straße am Kanal dahin. Warum war sie nicht einfach dankbar für Babettes Rückkehr gewesen? Nur weil sie unbedingt eine Erklärung gewollt hatte, Halt gesucht hatte, hatte sie alles, was ihr lieb war, aufs Spiel gesetzt.
Vom Rennen tanzten ihr Flecken vor den Augen. Die Landschaft hüpfte in Streifen und Kästchen an ihr vorüber. Vor ihr schimmerte ein himmelblaues Viereck auf, so blau wie der Bollerwagen, den Timo für Babette gebaut hatte, mit ihrem Namen in silbernen Lettern auf der Seite.
Der Bollerwagen stand am Kanalufer, neben der Bank, auf der Yaja saß. Das Mädchen starrte untätig aufs Wasser. Dass sie damit beschäftigt gewesen wäre, Babette den Kopf vom Rumpf zu drehen, konnte man beim besten Willen nicht behaupten. Sie bemerkte Gwen erst, als die sich neben sie fallen ließ.
»Mann ey, du erschreckst einen ja zu Tode«, sagte sie schrill.
Gwen keuchte so sehr, dass sie keinen Ton herausbekam. Nach Atem ringend, beugte sie sich über den Wagen. Babettes große Augen leuchteten auf. Ein sonniges Lächeln trat auf ihr Gesicht.
Vor Erleichterung fing sie an zu zittern. Sie nahm ihre Tochter auf den Arm und drückte sie an sich, tief den Geruch ihres Köpfchens in sich aufsaugend. »Wenn du mir das noch einmal antust, Yaja, dann...«
»Ich werd wohl noch mit Babette spazieren gehen dürfen!« »Nicht ohne meine Zustimmung.«
Yaja sah tief verletzt aus. »Ich wollte ihr nur was Gutes tun. Babette hat sich gelangweilt wie die Pest.«
»Während du dabei warst, Toby zum Spucken zu bringen? Das ist wirklich die Höhe.« Auf einmal war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen. »Du unverantwortliches Drecksgör! Wie kannst du den Kleinen nur in seinem eigenen Erbrochenen liegen lassen? Er hätte ersticken können! Sieh mich an und antworte!«
Yaja sprang auf und stemmte die Hände in die Seite. »Du hast mir gar nichts zu sagen, Bitch.«
»Du bist zu weit gegangen. Das weißt du genau!«
Yajas Wangen röteten sich. Sie schlug die Augen nieder. Dann sagte sie: »Gottogott! Und ich dachte, du würdest dich freuen, dass ich wenigstens was Schönes mit Babette gemacht hab.«
»So leicht kommst du mir nicht davon.«
»Denn von dir hat sie ja nichts zu erwarten. Dir ist es ja schon zu viel, ihr auch nur das Fläschchen zu geben. Mann, bist du ’ne Scheißmutter. Scherst dich einen Dreck um sie!«
Mit bebenden Lippen stieß Gwen hervor: »Geh mir aus den Augen! Pack deine Sachen, und sag deinem Vater, dass er dich mitnehmen soll. Jetzt sofort. Ich gebe dir zehn Minuten.«
»Du kannst ja nur die Wahrheit nicht ertragen. Ach, leck mich doch!« Yaja versetzte der Bank einen Tritt, warf die Haare über die Schulter und rauschte wütenden Schrittes davon.
Leander würde nicht gerade begeistert sein, dass sie seine Tochter weggeschickt hatte, aber das war ihr gleichgültig. Sie fühlte sich wie betäubt. Sie zählte bis zehn. Sie zählte bis hundert. Aber auch wenn sie bis tausend zählte, würde es nichts daran ändern, dass von allen Menschen auf Erden ausgerechnet dieses egoistische kleine Biest sie so genau durchschaut hatte. Natürlich war es nicht so, dass sie Babette nicht liebte, aber sie konnte es sich ruhig eingestehen: Sie tat es aus Selbsterhaltungstrieb, mit gewissen Vorbehalten, immer ein wenig auf der Hut. Dass Heranwachsende verschwanden und wieder auftauchten, wie es ihnen beliebte, war eine Sache. Aber ein Baby? Sie hob ihr Töchterchen hoch und schaute es forschend an.
Es wäre doch wirklich absurd, ihr irgendetwas übel zu nehmen. Aber der Punkt war, dass Babette sie immer wieder unvermutet an das Ungewisse erinnerte. Sie konnte ihr nicht in die Augen sehen, ohne sich bewusst zu werden, dass das Leben erheblich weniger sicher und verlässlich war, als sie ertragen konnte. Seit ihrem wundersamen Abenteuer verkörperte ihre Tochter gleichsam das Allerunerträglichste: Unsicherheit.
Sie legte sie in den Bollerwagen zurück und zog ihr mit einem Gefühl der Machtlosigkeit die Decke bis zum Kinn. Wiiuh, wiiuh, wiiuh!, ertönte es über ihrem Kopf. Die Pfeifenten waren zurückgekehrt. Die ersten ließen sich auf der Weide jenseits des Wassers nieder, während der Rest des Schwarms nervös umherkreiste. Alles sicher? Alles sicher?
Gwen folgte ihnen mit den Blicken. Es machte sie betroffen, dass auch den Vögeln oder den Bienen keinerlei Sicherheit vergönnt war. Unsicherheit war offenbar ein Wesensmerkmal des Daseins. Plötzlich schämte sie sich. Man hatte sich halt damit abzufinden, dass man nie wusste, woran man war. Wenn die gesamte Natur das konnte, sollte es ihr doch wohl auch gelingen.
Babette girrte zufrieden, als stimme sie ihr zu. Wie weise sie war, die Kleine. Erst sechs Monate alt, doch sie hatte schon einen ganzen Teil des Lebens hinter sich, von dem ihre Mama nie etwas erfahren würde. Aber sie selbst würde sich auch nicht daran erinnern können. Das war komischerweise ein Trost. »Wir kriegen das schon hin, wir zwei«, sagte Gwen leise. »Wir versuchen es zumindest mal. Oder was meinst du?«
Vor sich hinmurmelnd kam Bobbie mit Toby an der Hand in die Küche. Seine Haare waren nass, und er trug den Judo-Anzug von einem der Engel, dessen Saum ihm ungefähr bis auf die nackten Zehen ging. »Tante Rollmops!«, rief er überrascht aus.
»Ja, wen haben wir denn da!«, sagte Beatrijs und breitete die Arme aus. »Na, du siehst aber stark aus.« Sie fing ihn auf und zog ihn zu sich auf den Schoß, sich den stechenden Schmerz in ihrem Knie verbeißend.
»Ich konnte auf die Schnelle nichts anderes finden«, sagte Bobbie. »Seine Sachen sind alle im Trockner, mitsamt seinen Turnschuhen.« Sie sah aufgebracht aus.
In den übergroßen Ärmeln suchte Beatrijs nach Tobys schmalen Händchen und drückte sie. »Was war denn nun passiert, Jungchen?«
»Erzähl mal«, sagte Bobbie. »Erzähl mal, was Yaja mit dir gemacht hat.«
Erschrocken schaute Beatrijs zu Leander. Aber sie verspürte auch so etwas wie Triumph. Bekam Yaja jetzt endlich mal einen Denkzettel verpasst?
»Na, jedenfalls ist der kleine Kerl schon wieder putzmunter.« Mit verkniffenem Lächeln nickte Leander Toby zu. »Das ist doch das Wichtigste. Oder?«
Die Tür flog auf, und Yaja stürmte herein. Sie war bleich vor Wut. »Aha!«, rief sie und blickte reihum. »Zieht ihr hier schön über mich her? Bin ich wieder an allem schuld? Seid ihr wieder alle einer Meinung? Nur zu, tut euch keinen Zwang an! Die Meckerzicke hat mich rausgeschmissen! Das ist echt die...«
»Führ dich nicht so auf«, sagte Beatrijs. »Du wolltest doch selbst von hier weg.«
Yaja feuerte einen Blick voll kaltem Abscheu auf sie ab. »Kannst du die Alte nicht abservieren, Pa? Du wolltest mich doch decken! Und jetzt bekomme ich doch noch die Schuld! Du hast selbst gesagt: Geh schnell mit...«
»Ich habe sofort Hilfe geholt«, sagte Leander. Er sprach sehr leise, als nahe eine Migräneattacke.
»Und dieser Gwen wolltest du sagen, dass ich längst weg war! Auf dich kann man sich auch nicht verlassen! Sülzkopf!
Erst soll ich unbedingt hierher, weil du mich nicht bei dir haben willst, und dann kann ich wieder abstinken, weil sie mich nicht will. Ich bin doch kein Sack Kartoffeln, den man ständig in der Gegend herumverfrachten kann. Ich will auch irgendwo hingehören.« Ohne Übergang fing sie an zu weinen.
Es blieb einen Moment still.
Beatrijs blickte starr auf Tobys nassen Scheitel. Sie war sich nicht sicher, ob sie all das, was Yaja gerade vorgebracht hatte, genau verstanden hatte, aber das wollte sie auch eigentlich gar nicht. Irgendetwas sagte ihr, dass es sie furchtbar unglücklich machen würde.
Leander zog ein Taschentuch hervor und ging auf seine Tochter zu. »Niemand gibt dir für irgendetwas die Schuld, und niemand nimmt dir etwas übel. Es ist ja schließlich gar nichts passiert.«
»Ach nein?«, brauste Bobbie auf, die am Herd stand. »Das ist ja wohl verkehrte Welt! Jetzt reicht’s aber!«
Leander blieb stehen und fuhr sich mit der Hand an die Stirn. Als müsse er unendliche Geduld an den Tag legen, sagte er: »Es ist nichts Irreparables passiert, Bobbie. Oder wolltest du das Gegenteil behaupten? Das hast du dann selbst zu verantworten. Aber was ich eigentlich vermute, ist, dass du das einfach nicht so ganz begreifst. Das geschieht häufiger, nicht wahr?«
Beatrijs’ Herz krampfte sich zusammen, als sie sah, wie Bobbies Augen etwas tiefer in ihre Höhlen zu sinken schienen. Weißt du, was ich gerne mal möchte, Beatrijs? Auch mal über irgendwas ganz viel wissen.
»Leander!«, rief sie geschockt.
Er beachtete sie nicht. »Hier, Yaja, trockne dir die Tränen ab.«
Ohne ein Wort riss Yaja ihm das Taschentuch aus der Hand und warf es auf den Boden. Die Tränen hatten schwarze Spuren auf ihren Wangen hinterlassen, wodurch ihr Gesicht eingefallen wirkte, nur noch Haut und Knochen.
Nach einem Moment bückte sich Leander und hob das Taschentuch auf. Ungehalten sagte er: »Aber ich wollte dich trösten.«
»Na und? Ich will gar nicht von dir getröstet werden, Loser!«
»Warum auch?« Sichtlich ihren Mut zusammennehmend, trat Bobbie näher. »Eins auf den Deckel geben sollte man dir! Das ist schon seit Jahren überfällig, scheint mir. Irgendwer müsste mal den Mumm haben, dir Manieren beizubringen. Das würde dir verdammt gut tun.«
Yaja streckte den Mittelfinger in die Höhe. Dann stampfte sie aus der Küche. Laut hallten ihre Schritte auf der Treppe.
Leander befeuchtete seine Lippen. »Was starrst du mich denn so an, Beatrijs?«
Der Schweiß brach ihr aus: Sie war ganz Bobbies Meinung. »Ich weiß nicht«, sagte sie. Sie fand sich selbst zum Kotzen. »Yaja sollte in der Tat mal härter angefasst werden. Das ist nur in ihrem eigenen Interesse. Da wirst du mir doch recht...«
»Beeindruckend.« Er wippte auf seinen Füßen. »Woher plötzlich dieser Sachverstand, wenn ich fragen darf? Selbst Kinder, oder was? Ach, da ist sie schon wieder.«
Ihre verschlissene Wochenendtasche schleppend, kam Yaja herein, ohne jemanden eines Blickes zu würdigen. Leander wollte ihr die Tasche abnehmen, doch sie drückte sie schnell an ihre Brust, als sei der schwarze Fetzen ihr einziger Halt. Seine Hand stockte auf halbem Weg. Er hüstelte kurz. »Wir gehen. Kommst du, Beatrijs?«
Mit noch sausendem Kopf sah sie Yaja zur Tür schlurfen. Sie hatte immer gedacht, Leander hätte mal für sie und gegen dieses Kind Partei ergreifen sollen. Aber vielleicht hätte sie eher Yaja vor ihm in Schutz nehmen sollen. »Ich bleibe lieber noch ein Weilchen«, sagte sie und überraschte sich damit selbst.
Ungläubig weiteten sich seine Augen. »Wieso?«
Sie schwieg. Sie brauchte etwas Zeit zum Nachdenken, das war alles.
»Du bist schon den ganzen Tag nicht du selbst.«
»Ich bleibe hier«, sagte sie ruhig. »Ich ruf dich noch an.«
Sie sah, wie seine Lippen weiß wurden. »Beatrijs, so kenne ich dich gar nicht. Du bist doch keine Frau, die es so mir nichts, dir nichts, ohne irgendeine Erklärung, wagen würde...«
»Die dicke Kuh schickt dich in die Wüste, Pa«, stellte Yaja fest. »Also lass uns abschwirren. Aber glaub bloß nicht, dass ich das restliche Wochenende Rommee mit dir spiel.«
»Warte mal, Yaja!« Leander machte ein Gesicht, als erfasse er erst jetzt die ganze Tragweite von Beatrijs’ Worten.
Aber Beatrijs gab nicht nach. Die Wahrheit war wohl, dass die zwei einander verdienten. »Ich ruf dich an«, wiederholte sie, diesmal mit etwas mehr Wärme.
Brüsk wandte er sich ab.
Sie sah seine hoch gewachsene Gestalt durch Gwens Tür hinaus gehen. Seltsamerweise tat er ihr einen Moment lang sogar Leid. Sie war nicht die Frau, die er zu kennen glaubte. Aber vielleicht hatte sie selbst auch in letzter Zeit ein bisschen vergessen, wer sie eigentlich war.
»Das hätten wir«, sagte Bobbie. Es war ihr anzusehen, dass sie sich nur mit Mühe einen höhnischen Kommentar verkneifen konnte.
»Sag ruhig, was du denkst«, meinte Beatrijs bitter.
»Nichts. Nichts«, beteuerte Bobbie eilig. »Aber soll ich nicht schnell eine Torte holen? Janna von gegenüber macht erstklassige Obsttorten.«
Es war ein langer Tag gewesen: Als Laurens endlich mit seinen Jungs nach Hause fuhr, schliefen sie hinten im Auto alle beide gleich ein. Von Zeit zu Zeit schaute er kurz in den Rückspiegel. Toby hatte seinen Kopf an die Schulter seines großen Bruders gelehnt. Niels, die Wangen noch voller Rußspuren, hatte den Arm um ihn gelegt.
Auf dem Beifahrersitz rollte das Glas Thymianhonig aus Bobbies Laden langsam von links nach rechts. Es war sehr gut möglich, dass dieser Honig von Bienen stammte, die Veronica noch sorglos in Gwens Garten hatten reden und lachen hören. Und jetzt waren sie genauso tot wie sie. Er musste Bobbie bei Gelegenheit mal fragen, ob es einen Bienenhimmel gab. Bestimmt würde er eine großartige Geschichte zu hören bekommen.
Er verstand selbst nicht so recht, warum er sich so friedvoll fühlte. Seines Wissens hatte er nichts unternommen, woraus diese erhabene Stimmung resultieren könnte. Früher hätten die drei Freundinnen ihm über so was gehörig auf den Zahn gefühlt, während Timo, Frank und er die Gläser noch einmal gefüllt und von der Tapenade gekostet hätten. »Laurens, du Schafskopf. Jetzt überleg doch mal selbst!« Aber musste er wirklich alles haarklein ergründen wollen?
Er schaltete und schaute mechanisch in den Spiegel. Auf Niels’ Gesicht lag ein glückseliger, verliebter Zug. Er lächelte: Nicht schwer zu erraten, von wem er träumte.
Leicht amüsiert dachte Laurens, dass es bestimmt eine solide Grundlage war, wenn man die erste Liebe mit zweiundzwanzig Klassenkameraden teilen musste. Irgendwann würde sein Großer ein erwachsener Mann sein, mit erwachsenen Gefühlen und Problemen. Hoffentlich wurde er besser damit fertig als sein Vater.
Denk dran, Niels, Toby immer ein gutes Vorbild sein!
Wenn Toby Wind davon bekam, dass sein großer Bruder mit Nicky zu Veronicas Grab ging, würde er natürlich auch gleich hin wollen. Aber wenn schon, dann ging er eben mit ihm hin. Es wurde Zeit, endlich mal auf den Friedhof zu gehen.
Schau mal, Toby, hier liegt Mama, in ihrer Kiste.
Er wusste gar nicht, ob er das Grab noch finden würde. Wahrscheinlich musste er den Friedhofswärter danach fragen. Wissen Sie, es hat eine Weile gedauert, bis ich wirklich begriffen habe, dass meine Frau tot ist. Ja, Sie sagen es, sehr merkwürdig. Aber vielleicht gibt es noch merkwürdigere Dinge. Dass es zum Beispiel immer wieder etwas gibt, was unser Herz trotz allem mit Hoffnung erfüllt, und sei es nur die demütige Hoffnung, dass unsere Kinder eine bessere Ausgabe von uns selbst sein mögen. Und das Allermerkwürdigste ist, dass sich diese Hoffnung sogar meistens erfüllt.
In einer plötzlichen Anwandlung, die er sich selbst nicht erklären konnte, bog er von der Autobahn auf einen Parkplatz ab. Die Rastfläche lag wie ausgestorben da. Um seine Söhne nicht zu wecken, ließ er den Motor an, als er ausstieg. In der Ferne war der durchdringende Ruf einer Eule zu hören, rau und wehmütig. Es war kalt und dunkel. So dunkel, dass jeder Stern am Himmel sichtbar war. Die Hände in den Hosentaschen, stand er neben seinem leise schnurrenden Auto, legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben.
Na, Laurens, was geht dir gerade so alles durch den Kopf? Ich habe Thymianhonig für dich gekauft.
Wenn er nur lange genug schaute, würde er sie ganz bestimmt sehen.