Das Picknick
Panisch sperrte Laurens die Augen auf. Sein Herz hämmerte. Er schwitzte wie ein Tier. Erst nach einigen beklommenen Momenten erkannte er die Dachbalken wieder, die verblichenen Tapeten an den Wänden und die spinnwebartige Häkelarbeit, die Gwen mit Heftzwecken vor dem Dachgaubenfenster befestigt hatte. Er setzte sich auf. Er war gar nicht auf der Intensivstation. Nicht das Piepsen des Monitors hatte ihn geweckt, sondern der Gesang der ersten Vögel, die unbeschwert in der Dachrinne zwitscherten. Veronica hätte gesagt: Hörst du den Unterschied denn wirklich nicht? Tiiht! macht die Heckenbraunelle. Zi-zi-zi-tä! macht die Kohlmeise. Und der Zilpzalp ruft seinen eigenen Namen. Ist doch ganz einfach, Schatz. Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du nicht einmal das Lied der Amsel erkennst? Laurens! Komm her, ich pfeif es dir ins Ohr, ich puste dich um, du Dummerjan, komm mal her mit deinem Ohr.
»Veer«, flüsterte er. »Wo bist du?«
Als wüsste er das nicht genau. Tief unter der Erde.
Er stand jetzt besser auf, sonst starrte er für den letzten Rest der Nacht wieder mit brennenden Augen zwischen ihr und diesem verdammten Monitor hin und her.
Im Etagenbett, das an der Längswand des Gästezimmers stand, bewegten sich seine Jungs im Schlaf. Toby mit an der Seite herunterbaumelnden Armen. Niels, wehrlos auf dem Rücken liegend, leise schnarchend. Laurens’ Herz füllte sich so mit Angst und Liebe, dass er den Blick abwenden musste. Halb fünf? Fünf Uhr?
Er zog seine Sandalen an. Sonderbar war das. Höchst sonderbar sogar, dass man tagsüber kompetent einen Betrieb zu leiten schien, Verhandlungen führte und Verträge unterzeichnete, Papier einkaufte und neue Druckmaschinen bestellte, Leute einstellte oder entließ, während man sich Nacht für Nacht in totaler, pechschwarzer Verzweiflung fragte: Und wer nimmt sich meiner an, wer sorgt für mich?
Der Gedanke ärgerte ihn. Er sagte sich: Ich selbst natürlich, wer sonst?
Mit sich unzufrieden, ging er die Treppe hinunter. In der Küche nahm er ein Stück Brot aus dem Brotkasten. Bedächtig kauend ging er nach draußen und blieb einen Moment auf der Terrasse stehen.
Der Geruch taufrischer Gewächse wehte ihm entgegen. Er konnte vielleicht eine Eiche nicht von einer Ulme unterscheiden, aber er war doch gern im Freien. Er war gerade auf den Rasen gegangen, um die frische Luft mit zurückgelegtem Kopf tief in seine Stadtlungen einzusaugen, als er am noch bleichen Himmel etwas Rätselhaftes wahrnahm. Mit großer Geschwindigkeit schwirrte dort etwas heran, das aussah wie ein Schwarm. Zunächst fürchtete er, es seien Timos Bienen, die um Sonnenauf- und -untergang herum am aktivsten waren. Er wollte schon zurückweichen, aber nein, es konnten gar keine Bienen sein, die flogen ja viel tiefer. Er spähte nach oben und musste unwillkürlich an Ufos, ja sogar an Kornkreise denken. Niemand würde ihn je behaupten hören, dass es zwischen Himmel und Erde nichts gab. Vielleicht war das ja gerade sein Problem.
Mit einem Schwenk begann sich die Wolke abwärts zu bewegen. Zu seiner großen Verblüffung wurde jetzt sichtbar, dass sie aus lauter undefinierbaren, bunten Teilchen bestand. Blau, Grün und Gelb wirbelten umeinander herum. Er war völlig gefangen von diesem Anblick. Hatte der Allmächtige beschlossen, es heute Morgen aus seiner mächtigen Hand Konfetti regnen zu lassen, speziell für ihn?
Schmetterlinge waren es nicht, die hatten weniger Masse und flogen auch nicht so schnell.
In sich kreisend flog der bezaubernde Schwarm mit einem merkwürdig schnarrenden Geräusch über seinen Kopf hinweg, wobei er sich anscheinend immer zielgerichteter abwärts bewegte, um dann hinter einer Eiche oder Ulme außer Sicht zu geraten. Laurens zögerte nicht eine Sekunde und rannte hinterher. Er war aufgeregt, so als hätte eine tief in seinem Inneren vor sich hin schlummernde Weisheit sofort eine Verbindung zwischen diesem unerklärlichen, märchenhaften Phänomen und seinem eigenen Leben erkannt. Als werde ihm hier, in Gwens Garten, neue Inspiration, neue Motivation, ja vielleicht sogar die Ahnung einer neuen Zukunft eröffnet.
Er rannte an den Rhododendren und der Reihe von Bäumen vorbei, nicht linksab zur Kerzenmacherei, sondern den anderen Weg entlang. Diese Richtung hatte die Konfettibö eingeschlagen, aufs Sommerhaus zu.
Mit ausgebreiteten Armen stand Bobbie in einem weißen Nachthemd reglos im Gras vor ihrem Haus, ein glückseliges Lächeln auf dem Vollmondgesicht. Um sie herum flatterten Dutzende kleiner Sittiche, jetzt sah er es erst, es waren Sittiche oder kleine Papageien. Flügelschlagend pickten sie nach dem Futter, das Bobbie in den Händen hielt. Einige waren so kühn gewesen, auf ihren Schultern zu landen, und einer spazierte vorwitzig auf ihrem Kopf hin und her. Die Sonne stand gerade hoch genug, um ein breites Band zarten Lichts über das Dach des Hauses zu werfen. Vor dem Hintergrund der düsteren Bäume und Büsche wirkte das wie ein auf die Szenerie gerichteter Scheinwerfer.
Laurens stand da wie am Boden festgenagelt. Die Welt taugte nichts, das Leben war ein Kreuz, der Mensch war sterblich und in der Regel auch noch erschreckend herzlos, aber dann auf einmal das hier: ein Sommermorgen mit einer Frau in weißem Nachthemd und einem Schwarm Sittichen.
Als Bobbie ihn sah, lachte sie ihm lautlos zu. Vorsichtig hob sie die Hand und winkte ihm mit den Fingern.
Und blitzartig sah er den Rest seines Lebens vor sich, hier, im Sommerhaus, wo nie die Dunkelheit anging. Jeden Morgen würde es Konfetti regnen, und jeden Abend würden Bobbie und er zusammen die Kassenlade auf dem Küchentisch auskippen und das Geld zählen, das sie am Tage eingenommen hatten. Toby und Niels würden das ganze Jahr über Baumhäuser bauen können, und nie mehr würde er denken müssen: Mir darf nichts passieren, weder jetzt noch sonst irgendwann, denn dann sind meine Kinder verloren.
»Bobbie!«, sagte er und trat einen Schritt vor.
Sofort flogen die Vögel auf, in einem Gewirr von Farbe und Gekrächz.
»Trampeltier!«, entfuhr es Bobbie aus tiefster Seele. Sie schaute den davonschwärmenden Sittichen nach und sah dann zu ihm herüber. »Ja, na, also wirklich, Laurens. Echt.«
Er kam sich bescheuert vor. »Mist. Jetzt hab ich sie verscheucht.«
»Ach.« Schon wieder lakonisch, zuckte sie die Achseln. »Morgen kommen sie wieder.«
»Kommen sie denn jeden Tag?«
»Ich stell extra den Wecker für sie. Ich hab nämlich einen Wecker!«
»Aber wo kommen die denn her? Und seit wann...«
Sie musterte ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung. »Ich koch jetzt Kaffee. Magst du auch, oder hattest du schon einen?«
»Nein. Gern. Aber...« Es berührte ihn, wie unbefangen sie dastand, in ihrem zerknitterten Nachthemd, barfuß.
»Wie jetzt, nein oder gern?« Sie kicherte mädchenhaft. »Du musst dich schon entscheiden, Laurens, sonst wird das nichts.«
»Kaffee, gern.« Vielleicht brauchte man auch nicht alles zu wissen, alles zu verstehen. Das war ein angenehmer, leichter Gedanke. Das Bild der Vögel noch auf der Netzhaut, folgte er Bobbie ins Haus.
Drinnen setzte er sich an den Küchentisch, der mit rot-weiß kariertem Wachstuch bedeckt war. Keineswegs wahllos, denn im Regal über der Arbeitsplatte standen, immer hübsch abwechselnd, rote und weiße Becher, und in Streifen kehrte das Motiv auch in den Topfhandschuhen und Geschirrtüchern an den Haken neben dem Herd wieder. Sogar der Pfeifkessel war rot. »Donnerwetter, du hattest bestimmt einen Innenarchitekten im Haus«, sagte er.
Darüber musste Bobbie mächtig lachen.
Auf der Fensterbank stand ein Glas mit Samenkörnern. Er stellte sich Bobbie auf ihrem Fahrrad vor, mit dem Korb vorne drauf, auf dem Weg zur Zoohandlung, um Körner für die Sittiche zu kaufen. Bobbie die Vogelfee, blind darauf vertrauend, dass die Tierchen weiterhin kommen würden, jeden Tag wieder. Bobbie, für die das Wundersame völlig normal war und das Normale wundersam.
Sie bereitete den Kaffee auf die altmodische Art zu, mit Filter und kochendem Wasser aus dem Kessel. Unterdessen plapperte sie endlos über einen Streich, den die Engel ihr kürzlich gespielt hatten. »Ich bin natürlich wieder darauf reingefallen«, sagte sie schmunzelnd.
»Du bist einfach eine Supertante. Dank dir...«
Mit einem Mal bebten ihre Lippen, und sie stieß hervor: »Aber es ist natürlich viel schöner, wenn es die eigenen Kinder sind.«
Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.
»Jemine, ich glaub, ich krieg ’n roten Kopf«, sagte Bobbie und fasste sich mit beiden Händen an die Wangen.
Unbeholfen entgegnete er: »Das macht doch nichts!«
Sie kehrte ihm den Rücken zu und fing an, mit Geschirr herumzuklappern. Der Kragen ihres Nachthemds war nach innen gedreht. Ein kleines gelbes Daunenfederchen klebte daran. Das gab Laurens den Rest: Seine Augen füllten sich mit Tränen. Was man nicht besaß und nie besitzen würde, konnte offenbar genauso viel Schmerz verursachen wie etwas, was man gehabt und verloren hatte. In jedem Leben gab es Kummer über irgendetwas, was man vermisste.
»So was aber auch«, sagte Bobbie, wie um sich selbst zu ermahnen. Dann drehte sie sich um, eine Tasse Kaffee in jeder Hand. »Milch hab ich nicht, aber Zucker. He, hast du was im Auge?« Fürsorglich beugte sie sich zu ihm herüber. Unter dem dünnen weißen Stoff ihres Nachthemds bewegten sich ihre Brüste.
Er setzte sich auf. »Ist schon weg.«
»Jetzt noch einen Keks dazu.« Sie holte eine Dose aus einem der Küchenschränke, nahm den Deckel ab und stellte sie auf den Tisch. Sie war rot mit weißen Punkten.
»Jetzt setz dich doch endlich mal, Mensch.«
»Ich kann arbeiten wie ein Pferd«, sagte sie stolz. »Hat Timo selbst gesagt.«
»Und Gwen findet das auch.«
Sie winkte ab. »Gwen ist zu gut für diese Welt.«
»Wenn du mich fragst, besteht eure Familie aus lauter Kanonen.« Er dachte: Vielleicht können sie mich und die Jungen ja adoptieren! Die Unsinnigkeit dieses Gedankens machte ihm wieder bewusst, wie ratlos er war. Würde so sein weiteres Leben aussehen: dass er sich bei jedem Schritt nur knapp am Rand des Abgrunds seiner Verzweiflung vorbeibewegte?
»Ich hab Gwen bei allen Babys geholfen«, sagte Bobbie verträumt. »Baden, anziehen, einfach alles haben ich und Gwen zusammen gemacht.«
»Baden? Das fand ich immer lebensgefährlich.« Einfach weiterreden, weiteratmen, weitermachen.
»Aber sie können doch schwimmen! Das verlernen sie erst, wenn sie ein Jahr alt sind.« Sie maß ihn mit leicht zweifelndem Blick, als frage sie sich plötzlich, ob seine Kinder wohl normal waren, und falls nicht, wessen Schuld das dann wohl war. Dann sagte sie nachsichtig: »Aber wir geben ihnen natürlich auch Gelée royale.«
Es half nicht mehr. Der Moment war vorüber. Nicht einmal ein zweiter Schwarm Sittiche würde ihm jetzt noch aus dem Tief heraushelfen. Er musste weg, bevor sie ihm etwas anmerkte und dachte, es liege an ihr. Schnell trank er seinen Kaffee aus. »Ich werde mal sehen, ob Toby und Niels schon auf den Beinen sind.«
»Bestimmt schon längst. Um wieder mit den Mädchen Menschenfresser zu spielen. An so einem schönen Tag wie heute sowieso.«
»Menschenfresser?«
»Ja, Marleen sagte, dass es so heißt.«
»Wie geht das denn?«
Sie zog die Schultern hoch. »Das kapieren wir doch sowieso nicht, Laurens. Dafür braucht man Fantasie.« Sie sprach das Wort mit einer gewissen Ehrfurcht aus.
»Menschenfresser«, wiederholte er, bestürzt. Sollte man nun darüber lachen, oder musste man sich Sorgen machen? Mein Gott, diese Wankelmütigkeit neuerdings, diese Zweifel bei allem und nichts, dieses Aufbauschen jeder Unsicherheit heraus. Jungs, Papa muss mal eben ernsthaft mit euch reden. Erklärt mir mal, was ihr hier den ganzen Tag treibt, nur so, sicherheitshalber... ihr seid schließlich die Einzigen, die ich noch habe.
Die würden sich bedanken! Wenn man anfing, bei seinen Kindern Halt zu suchen, war man wirklich der letzte Arsch.
Sie waren gestern Abend auf sein Rufen hin gehorsam angetrottet gekommen, und er hatte Toby auf seine Schultern genommen und Niels bei der Hand gefasst. Dabei hatte er dessen glattes Haar an seinem nackten Arm gespürt. Die beiden hatten vor allem erleichtert gewirkt, dass sie endlich ins Bett abgeführt wurden. Sie waren hundemüde gewesen, aber sie übertrieben es hier immer ein bisschen, weil sie sich gegen die Engel behaupten mussten und gegen das ganze unbegreifliche Mädchengehabe. »Weiber«, sagte Niels seit kurzem mit dem ganzen Abscheu eines Siebenjährigen, wobei er die Oberlippe schief hochzog und die Nase rümpfte.
»Na komm«, sagte Bobbie, »ich schenk dir noch mal nach. Auf einem Bein kannst du nicht stehen.«
Beatrijs war in ungewöhnlich entschlossener Stimmung aufgewacht. Dieser Tag hatte ein Ziel, das war an allem zu spüren. Es gab Morgen, genau genommen waren es die meisten, an denen man bloß dachte: Mal sehen, was der Tag bringt, ich lass mich treiben. Aber hin und wieder mal war es doch anders, und man wusste gleich beim Aufwachen, dass man just gegen den Strom schwimmen musste, um etwas zustande zu bringen. Wie mit einem Gravierstichel ins Hirn geritzt hieß es dann unumgänglich: zehn Pfund abzunehmen oder jemandem die Wahrheit sagen, na ja, eben lauter Sachen, die man normalerweise nicht schaffte.
Mucksmäuschenstill, um Leander nicht zu wecken, stieg sie aus dem Bett und huschte in die Duschkabine.
Sie waren mit Yaja zusammen in dem alten Tagelöhnerhäuschen hinten auf dem Grundstück untergebracht. Auf ihre sorglose Art hatten Gwen und Timo es für Ferienaufenthalte nutzbar gemacht: Es waren einfache sanitäre Einrichtungen angebracht worden und eine Ikea-Miniküche mit je vier Exemplaren von allem: vier Gläser, vier Teller, vier Löffel, vier Eierbecher. Meistens gelang es den beiden sogar, das Häuschen zu vermieten. Die Lage war ja auch ideal: Jeder, der die Pieterpad-Wanderung machte, kam direkt daran vorüber und ließ sich leicht zu dem Entschluss verleiten, später noch mal für eine Woche zu diesem idyllischen Flecken zurückzukehren.
Frank hatte jeden Sommer gesagt, dass sie Gwen und Timo ihren Aufenthalt hier vergüten müssten. Und dann hatte sie mit abgewandtem Gesicht entgegnet, dass sie das Geld längst überwiesen habe. Er hatte das gewiss lieb gemeint, aber irgendwie war es auch so schrecklich daneben gewesen. Geld durfte in einer Freundschaft doch keine Rolle spielen. Man brachte besser ein paar Kartons Wein mit, und man sorgte natürlich dafür, dass man mit Gwen oder Timo zusammen in den Supermarkt ging, damit man an der Kasse blitzschnell das Portemonnaie zücken konnte: Das war um einiges weniger herablassend, als Geld zu überweisen. Armer Frank.
Es störte sie, dass sie an ihn dachte. Sie drehte die Dusche auf und versuchte, ihre zielgerichtete Stimmung wieder zu beleben. Sie wollte Gwen heute mal so richtig verwöhnen, um ihr zu zeigen, was ihr ihre Freundschaft bedeutete. Die hatte sie in den vergangenen Monaten, seit sie Leander kannte, ein bisschen schleifen lassen. Nicht einmal Babettes Geburt hatte sie wirklich Beachtung geschenkt. Aber das hatte Gwen hoffentlich auf die ihr eigene gutmütige Art ausgelegt und es schon im Vorhinein entschuldigt.
Nach ihrer ersten Fehlgeburt hatte Gwen gesagt: »Zuerst richtig ausweinen, Bea, und dann einfach noch mal von vorn.« Nach der zweiten hatten sie zusammen geheult. Und als es danach erneut schief gegangen war, hatte sich Gwen mit leichenblassem Gesicht für ihre eigene Fruchtbarkeit entschuldigt. So unsinnig das auch war, es waren genau die richtigen Worte gewesen.
Sie hatte erstickt erwidert: »Dein nächstes Baby klau ich dir einfach.«
Aber alles bekam mit der Zeit seinen Platz. Man machte weiter, was immer auch passierte. Man berichtigte seine Pläne und machte das Beste draus. Es gab immer noch Schlimmeres. Also gut. Von Veronica hatte sie damals ein Abo geschenkt bekommen, womit sie sich einmal im Monat in einer Kureinrichtung verwöhnen lassen durfte. Wie man sein Leben je ohne Freundinnen überstehen sollte, war ihr ein großes Rätsel. Zumal wenn man mit jemandem wie Frank verheiratet war. Jetzt, mit Leander, war es anders. Jetzt hatte sie einen Mann, mit dem sie über alles reden konnte, was sie bewegte. Einen Mann, der wusste, dass alles einen Sinn hatte und im Universum nie etwas verloren ging, auch nicht lebensfähige Kinder nicht. Ihr unglückliches Dreiergespann war noch irgendwo. Das konnte er ihr aus tiefster Überzeugung versichern.
Sie merkte, dass sie die Schultern weit hochgezogen hatte und ließ sie ganz bewusst, ruhig atmend, fallen.
Sie machte sich nicht die Mühe, sich anzuziehen. Im Morgenmantel ging sie nach draußen und stapfte durch das noch nasse Gras zu Gwens Küche hinüber. Frühstück ans Bett würde es werden, mit frisch gepresstem Saft, einem luftigen Omelett und diesen witzigen Dampfbrötchen, von denen sie neulich gelesen hatte.
Sie fand Mehl und Hefe in einem der Küchenschränke. Wenn sie den Teig dann gleich bei niedriger Temperatur in den Backofen stellte, würde er im Nu aufgehen. Schnell machte sie sich ans Werk. Alle hielten sie für einen unpraktischen Wirrkopf, aber hier stand sie und sorgte für das tägliche Brot. Sie mischte und knetete. Während sich Leander hundert Meter entfernt gerade im Schlaf auf die andere Seite drehte. Vielleicht hätte sie auf ihrem Kissen eine Nachricht für ihn hinterlassen sollen. Er machte sich immer so schnell Sorgen um sie. Frohgemut und zugleich beklommen begann sie Obst zu schneiden, um im Mixer Saft daraus zu machen. Es kümmerte ihren Geliebten, wie es ihr ging.
»Du bist aber früh dran.«
Sie drehte sich um. Das zufriedene Lächeln wich von ihren Lippen. »Du aber auch.«
Laurens blieb einen Moment in der Türöffnung stehen, als spüre er, dass er nicht willkommen war. Er sah unglücklich und verkrampft aus.
Sie riss sich zusammen. »Ich mach gerade Fruchtsaft. Möchtest du ein Glas?«
»Du bist heute Morgen schon die Zweite, die mich laben möchte. Das Leben lacht mir von allen Seiten zu.«
Obwohl es nicht leicht fiel, freundlich zu bleiben, wenn jemand so zynisch war, schenkte sie ihm ein Glas Saft ein. »Wenn du dich noch einen Moment geduldest, gibt es auch Dampfbrötchen.«
»Donnerwetter, du wirfst dich aber ins Zeug. Kann ich vielleicht auch einen Beitrag dazu leisten?«
»O nein, o nein, ich mach das lieber...«
Er verfiel in ein freudloses Lachen. »Selber? Ohne mich jedenfalls?«
Sie fühlte sich in die Enge getrieben. »Ach,
Laurens. Treib doch nicht alles so auf die Spitze. Können wir nicht
einfach...« Er öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen,
überlegte
es sich aber anders, als schäme er sich plötzlich für sich selbst.
Zu ihrer Verwirrung kam er auf sie zu, umfasste ihr Gesicht mit den Händen und gab ihr unvermittelt einen Kuss
auf die Nasenspitze. »So ein großer Mann gegen so ein kleines
Mädchen, entschuldige, Beatrijs, das darf’s bei uns nicht
geben.«
Etwas Weiches strich über ihre Wange, und aus dem Augenwinkel sah sie eine kleine gelbe Feder in seinen Fingern. »Was hast du denn da?«, fragte sie, um ihre widerstreitenden Empfindungen zu überspielen: Typisch Laurens, seinen Charme zum Einsatz zu bringen, und typisch sie, gleich dankbar zu sein, dass er wieder ein bisschen umgänglicher war.
Er hielt die kleine Feder zwischen Daumen und Zeigefinger und kitzelte damit erst ihr und dann sich selbst über die Wange. »Glaubst du an Zeichen?«
»O ja!«, sagte sie aus tiefstem Herzen. Diese Wendung gab ihr die Möglichkeit, ihn Leander näher zu bringen. Das war ein Gottesgeschenk, nicht weniger als ein Wunder, was an sich schon bewies, dass es Zeichen gab, das gehörte schließlich in dieselbe Kategorie.
»Guten Morgen«, sagte Leander in dem Augenblick trocken.
Vor Schreck hätte sie beinahe einen kleinen Satz gemacht.
Er stand genauso in der Türöffnung wie eben noch Laurens. Ein Blick genügte, und ihr war klar, dass er den Kuss und das Spielchen mit der Feder gesehen hatte. Sie fühlte sich unwillkürlich versucht, den Gürtel ihres Morgenmantels enger zu ziehen. Zu alledem war sie noch nicht mal richtig angezogen. »Schatz! Wir sprachen gerade von...«
»Ich freue mich, dich hier bei guter Gesundheit anzutreffen«, sagte ihr Geliebter ruhig. »Genauso gut hättest du gerade in tausend Nöten sein können, Beatrijs.« Er drehte sich um und ging in den Garten hinaus.
»Bei guter Gesundheit?«, fragte Laurens erstaunt. »Fehlt dir denn irgendwas?«
Sie hatte jetzt, genau genommen, zwei Dinge zu tun: ihm eine gehörige Ohrfeige verpassen und dann hinter Leander herlaufen. Doch sie blieb stehen, wo sie war, hilflos, erschrocken über den unnötigen Kummer, den sie verursacht hatte, und besorgt, was das nun wieder nach sich ziehen würde. Aus dem Backofen roch es verbrannt.
Gwen rollte sich ermattet von Timo herunter. Das linke Bein, das sich im Laken verfangen hatte, ließ sie über seiner Hüfte liegen. Sie wartete, dass sich ihre Atmung sich wieder normalisierte und der Schweiß auf ihrer Haut zu trocknen begann.
Timo fasste sie beim Fußgelenk und lachte leise.
»Was denn?«
»Nichts, Maus.«
Gwen dachte: Zu Haus heiß ich Maus. Sie unterdrückte ein Schmunzeln. »Jetzt sag schon.«
»Ich sah plötzlich vor mir, dass einer deiner Freunde hereingestürmt käme, um uns ein Sonntagsfrühstück ans Bett zu bringen, während wir...«
»Einer meiner Freunde?«
»Ja, wer sonst?«
Sie stützte den Kopf in die Hand. »Tiem. Gefällt es dir nicht, dass sie hier sind?«
»Hauptsache, du genießt es.« Er ließ ihr Fußgelenk los, schob ihr Bein zur Seite und richtete sich auf. Das Bett wackelte kurz. Es hatte nur drei Beine, schon seit Jahren. Ein Stapel alter Telefonbücher ersetzte das vierte. »Der Tag ruft.«
»Der Anfang ist schon gemacht«, sagte sie.
»Und wie!« Er bückte sich, um ihr einen Kuss zu geben.
»Hör ich Babette? Hol sie mal eben, dann stille ich sie gleich.« Sie hatte ihre jüngste Tochter Victoria nennen wollen, ein Name wie eine Burg, ein Name mit einem sicheren Graben drum herum, aber diesmal hatte die Entscheidung bei Timo gelegen.
Sie döste noch ein wenig weiter, aber da Timo die Schlafzimmertür weit hatte aufstehen lassen, gelang es ihr nicht, noch einmal einzuschlafen. Aus dem Gästezimmer drangen die Stimmen von Laurens’ Jungen. Von unten kamen Geräusche, als ob jemand mit einem Rost aus dem Backofen kämpfte. Es war aber auch ein lästiger Herd, man wusste nie, was man tun musste, um ihn... Mit einem Mal hellwach, dachte sie: Vero, pass auf, verbrenn dir nicht die Hände! Wo kam bloß dieser aberwitzige Gedanke her? Veronica stand nicht in der Küche, sie war tot.
Auf der Treppe wurden Schritte laut. Schnell tauchte sie wieder unter die Decke.
»He, Gwen!«, sagte Laurens draußen auf dem Flur verlegen.
Es kam natürlich durch seine Anwesenheit im Haus, dass sie ihre Freundin plötzlich vor sich gesehen hatte, als wäre sie noch gesund und munter. Das passierte sonst nie, aber in seiner Nähe erwartete man sie noch immer jeden Augenblick. Nicht dass Veronica so eine folgsame, biedere Ehefrau gewesen wäre. Zu Lebzeiten jedenfalls nicht.
»Ich will mal nachsehen, ob die Jungen schon auf sind.« »Ja. Klar, die sind wach.«
»Schön, dann sag ich ihnen mal hallo.«
Sie richtete sich auf, das Betttuch vor die Brust geklemmt. »Laurens? Hör mal...« War es nicht so, dass ein plötzlicher Tod die Seele irreführen konnte? Das hatte sie doch mal irgendwo gelesen. Wusste Veronica überhaupt, dass sie tot war? Klammerte sie sich vielleicht über Laurens am Leben fest?
Abwartend lehnte er am Türrahmen.
Sie bekam es nicht über die Lippen. »Ich meine, ist mit dir alles okay?«
»Ja, ja, bestens. Ich fragte mich gerade, was ich heute mal mit Toby und Niels unternehmen könnte.«
»Lass sie sich doch einfach mit den Mädchen austoben. Sie denken sich zusammen die verrücktesten Spiele aus und sie...«
Er versteifte sich. »Ich möchte auch hin und wieder mal was als Familie unternehmen.«
Das hörte sich irgendwie nach einem Vorwand an. Eltern waren doch im Allgemeinen froh und glücklich, wenn sich die Kinder so gut miteinander beschäftigen konnten. »Ach, na dann. Geht doch rudern! Wenn du am Kanal entlang bis zum Ortsende radelst, stößt du linker Hand auf diesen Bootsverleih, weißt du noch, von dem Mann, der so lispelt.«
»Das ist eine gute Idee. Tausend Dank, Gwen.« Er riss sich vom Türrahmen los und verschwand aus ihrem Blickfeld. Kurz darauf hörte sie ihn mit seinen Söhnen reden.
Sie dachte wieder an Veronica. O ja, sie würde eine spezielle Kerze für sie machen, gleich heute. Eine Kerze, die sie auf ihrem Weg ins Licht begleiten sollte. Es konnte nicht gut sein, wenn sie an ihrem irdischen Leben hängen blieb. Aber vielleicht kam das dadurch, dass sogar Tote so etwas wie Verlust kannten. Dass auch sie schmerzlich um das trauerten, was sie verloren hatten. Dass auch sie Zeit dafür brauchten, sich von ihren Lieben zu lösen. Es musste ja auch unerträglich sein, wenn man sich klarzumachen hatte, dass die Kinder ohne einen aufwachsen würden, dass der Mann eines Tages eine neue Frau küssen würde, dass alles immer weiter- und weiter- und weiterging, bis man vergessen war.
»Was sinnierst du denn vor dich hin?«, fragte Timo, als er ihr Babette in die Arme legte.
»Ach, nichts Besonderes.« Sie liebte ihn sehr, aber er war nicht der Typ Mann, dem man mit Reflexionen über ein Leben nach dem Tod kommen durfte. Kompost, sagte Timo, das sei alles, was von einem übrig bleibe.
Während er schnell in seine Kleider schlüpfte und nach unten ging, stillte sie Babette, die eine trockene Windel bekommen hatte und nun wieder allerbester Laune war. Es war unvorstellbar, aber auch dieses gerade erst begonnene kleine Leben würde unwiderruflich in Tod und Vergessen enden. Irgendwann würde Babette dort landen, wo Veronica jetzt schon war. Es hatte allerdings etwas Tröstliches, dass Vero sie dort erwarten würde, erfreut, das Baby endlich kennen zu lernen. Aber nein, was für ein morbider Gedanke. Babette würde ein verschrumpeltes altes Mütterchen sein, wenn Veronica schließlich die Arme nach ihr ausstrecken konnte, sie hatte noch ihr ganzes Leben vor sich.
Was waren das nur alles für trübe Gedanken über ihr Töchterchen? Das mussten die Hormone sein.
Auf einmal hatte sie es eilig, sich an den Entwurf von Veronicas Kerze zu machen. Sie ließ das Baby sein Bäuerchen machen und legte es in die Wiege. Dann duschte sie und ging nach unten. Im Wohnzimmer war niemand. Durch die Verandatür ging sie in den Garten hinaus.
Auf dem Rasen spielten die Engel mit viel Geschrei Federball. Yaja saß mit bösem Gesicht am Gartentisch und lackierte sich die Nägel schwarz. In der Ferne hörte man Timo auf dem Weg zur Bienenweide vor sich hinpfeifen. Es war wieder ein strahlend schöner Vormittag.
Über die Terrasse lief Gwen in die Küche. »Oh, hier seid ihr«, sagte sie zu Klaar und Karianne. Ihre Töchter, beide gleich blond und gleich schmuddlig, saßen nebeneinander auf der Arbeitsplatte und ließen die verschrammten Beine baumeln, während sie Butterbrote mit Nuss-Nougat-Creme von dem großen Stapel aßen, den Beatrijs emsig schmierte. Sie grinsten Gwen an, als sie sie sahen, aber sie waren zu sehr mit ihrem Frühstück beschäftigt, um ihr die Gunst ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit zu gewähren.
Fünf Jahre alt, und doch schon wieder so groß. So selbstständig und unabhängig. Obwohl das bei Zwillingen natürlich schnell ging.
»Du auch eine Schnitte?«, fragte Beatrijs.
»Ja, gern. Hast du gut geschlafen? He, aber was ist denn das für ein Geruch hier?«
»Ein misslungenes Experiment.«
Sie biss in die Schnitte, die Beatrijs ihr reichte. Sie fragte besser nicht weiter nach. Auf dem, was Beatrijs in der Küche ausheckte, ruhte selten Segen. In ihrer Beziehung zum Essen schwang irgendetwas Dunkles mit, das verhinderte, dass sich Zutaten an die Regeln hielten. Unter ihren Händen wurde Sahne spontan sauer, Pudding fiel in sich zusammen, sogar simple Hähnchenschlegel verwandelten sich in Gummiknüppel. Ein anderer hätte es schon hundertmal aufgegeben, aber Beatrijs hielt eisern durch. Mit ungebrochenem Enthusiasmus studierte sie Kochbücher und schnitt ehrgeizige Rezepte aus der Zeitung aus. Nicht unterzukriegen. Sie selbst brauchte einen Blumenkohl nur anzusehen, und er war schon gar. »Lass uns heute Nachmittag was Schönes unternehmen, ja?«, schlug sie vor.
Ihre Freundin hielt den Zipfel eines Geschirrhandtuchs unter den Wasserhahn und säuberte damit andächtig die Schokoladenmäulchen der Zwillinge.
»Ein Stück spazieren gehen«, drängte Gwen, »und dann in irgendein Café, wo man draußen sitzen kann.«
Klaar horchte sofort auf. Ihre Augen begannen bedrohlich zu funkeln. »Welches Café?«
»Wo’s Eis gibt?« Das war Karianne.
»Na klar, Mädchen«, sagte Beatrijs, »das ist euch sicher.« »He, Bea! Ich dachte, nur wir beide. Timo kann ja heute mal was mit den Kids unternehmen.«
Beatrijs hängte das Geschirrtuch über die Herdstange.
Ohne aufzuschauen, sagte sie: »Ich bleibe lieber hier. Ich muss Leander ein bisschen...«, sie machte eine vage Handbewegung. Im Sonnenlicht funkelte der auffällige Ring, den sie seit kurzem trug.
Die Enttäuschung stieß Gwen auf wie Galle. Was war nur mit allen los? Zuerst Laurens, der offenbar nicht wollte, dass seine Kinder mit ihren spielten, und nun Beatrijs, die nicht mit ihr wegwollte. Sie war auf einmal so wütend, dass sie den Rest ihrer Schnitte auf die Arbeitsplatte klatschte und hinausrauschte.
Bei Bobbie Kaffee trinken, das war ein probater Stimmungsaufheller. Aber gerade als sie den Weg zum Sommerhaus einschlagen wollte, kam Leander auf sie zu. Na toll. Nun auch noch der, der zu ihrer Schwägerin gesagt hatte, sie sei eine misslungene Inkarnation, denn darauf lief es doch im Klartext hinaus, das war die Botschaft des Herrn Psychometrikers gewesen, mochte der Himmel wissen, was das eigentlich für ein Beruf war. Und danach ungerührt eine fünfstündige Fahrradtour machen, was ja wohl nur heißen konnte: Ich bin überall lieber als bei Timo und Gwen und ihrer Saubande. Kampfeslustig verschränkte sie die Arme vor der Brust.
»Ha, Gwen, guten Morgen«, sagte er warm. »Dich suchte ich gerade.«
Perplex starrte sie ihn an.
»Hast du den Wetterbericht gehört? Heute ist wahrscheinlich der letzte schöne Tag. Also dachte ich mir: Wollen wir nicht alle zusammen picknicken gehen?«
Sie traute ihren Ohren nicht. Wollte er denn nicht wieder in trauter Zweisamkeit etwas mit Beatrijs unternehmen? Damit rechnete Beatrijs doch selbst auch. »Wie, alle zusammen?«
Er beugte sich leicht herab. Einem so großen Mann kamen seine Mitmenschen wahrscheinlich alle wie Zwerge vor. »Warum nicht?«
Sie schwieg verdattert. Er suchte Anschluss, das war es wohl. Er kam sich natürlich wie das fünfte Rad am Wagen vor. Und sie hatte den Eindruck, dass er nicht der Typ Mann war, der sich damit begnügen würde.
»Aber Beatrijs wollte, glaub ich, lieber...«
»Weißt du, ich habe Beatrijs schon ganz für mich. Das ist doch klar, oder? Darum brauchen wir nicht mehr zu streiten, das Rennen ist gelaufen.«
Diese unerwartete Wendung brachte sie noch mehr aus der Fassung. Was er da so seelenruhig sagte, verursachte ihr beinahe eine Gänsehaut.
»Was kann dagegen einzuwenden sein, dass man die Frau, die man liebt, für sich haben will?« Er lachte kurz.
Für sie zählte vor allem, dass das Leben einfach und gut war. Dass man gern zusammen war, Freude aneinander hatte, darum ging es. Sich auf dieses Picknick einzulassen war wohl die beste Lösung. »Was für eine gute Idee«, sagte sie. Und fügte hinzu: »Und auch schön für Yaja.«
Wieder beugte er sich herab. »Wie lieb, dass du auch an sie denkst.«
»Sie ist in einem so schwierigen Alter. Da steht man sich selbst so sehr im Weg.«
Er hob die Hände, die vollkommen unbehaart waren und trotz des schönen Wetters der letzten Wochen noch ganz weiß. »Da sagst du was, Gwen. Du hast wirklich ein Auge für andere. Weiß Timo überhaupt, was für ein Glückspilz er ist?«
Aufgedreht schleppten die Kinder Plaids und Kühlboxen zur Wiese an dem kleinen Teich. Ein lauschiges Fleckchen: Wasser, Sonne, aber auch genügend Schatten, alles da. Und im Hintergrund sah man schwarz-weiße Kühe, die träge wiederkäuten.
Die beiden Zwillingspärchen hatten den ganzen Vormittag Erdbeeren gepflückt und gewaschen, Leberwurstbrote gestrichen, Eier gekocht, Plastikbecher und -teller zusammengesucht und Eistee in Flaschen abgefüllt. Mit ihnen stand und fiel die gesamte Unternehmung, diese Überzeugung war deutlich in den Gesichtern zu lesen.
Niels bemühte sich, größtmögliche Verachtung für das Weibergetue zur Schau zu tragen. Aber auch er war aufgekratzt. Ein Picknick war weitaus verlockender als die Aussicht, mit seinem lustlosen Vater und seinem kleinen Bruder in einem Ruderboot hocken zu müssen.
Auf der Wiese war es noch ruhig. Am Wasser saßen einige andere Familien, es wurde Frisbee gespielt, das war alles. Alle guten Plätze bei den Bäumen waren unbesetzt. Man saß dort zwar nahe an dem belebten Radweg, aber es war angenehm kühl. Sie beschlossen, ihr Quartier unter dem Schutz einer uralten Kastanie aufzuschlagen. Hier breiteten sie die Plaids aus.
Ein Stück weiter weg bellte ein Hund, es klang hoch und erschrocken. Vielleicht war er im Wasser gelandet, weil er die Entengrütze für Gras gehalten hatte. Den Unterschied konnte man bei dem Teich auch kaum erkennen. Auf dem Radweg flitzte ein Pulk Rennradfahrer vorbei, dicht aufeinander, mit gekrümmten Schultern und rotierenden Beinen.
Weil es nichts weiter zu tun gab, dachte Niels an seinen Autofriedhof. Den hatte er Anfang Sommer zu Hause angelegt, hinten im Garten. Er wusste nicht genau, warum. Oft wurde er wach, sowie die Sonne aufging, während Toby und sein Vater noch schliefen, und der Moment war dann einfach wie geschaffen dafür, rasch ein Auto zu begraben. Auf dem Regal über seinem Bett stand eine ganze Reihe Dinky Toys. Jedes davon hatte seine eigene Geschichte. Von jedem Exemplar wusste er noch genau, zu welchem Anlass er es bekommen hatte: Als er fünf geworden war oder als er sich den Kopf aufgeschlagen hatte und das Loch im Krankenhaus zugenäht werden musste, als Toby zur Welt gekommen war oder als er zum ersten Mal beim Zahnarzt gewesen war. Es waren nicht irgendwelche Autos, sie gehörten zu ihm und zu niemand anders.
Mit geschlossenen Augen stellte er sich vor das Regal, streckte die Hand aus und griff aufs Geratewohl zu. In dem Moment konnte er immer alle Dinge genauer fühlen als sonst: Wie die Rippen von der Matte vor seinem Bett in seine Fußsohlen drückten, wie das erste Sonnenlicht warm in seinen Nacken schien. Manchmal war es ein altes Wrack, das er unter die Erde brachte, aber manchmal erwischte er auch ein funkelnagelneues Exemplar ohne den kleinsten Kratzer, ein Auto, das noch hunderttausend Kilometer vor sich hatte und glänzte, als käme es direkt aus dem Schaufenster des Autohauses, wie zum Beispiel sein Lieblings-Mustang vom Schwimmabzeichen. Der blinde Zufall bestimmte, was er in die Hand bekam und was somit dazu verdammt war, wenige Sekunden später aus der Kurve zu fliegen, in der Leitplanke zu enden, auf einen Geisterfahrer zu treffen oder sonst wie zu verunglücken. Wie es zuging, war egal. Es war schon passiert, wenn er die Augen wieder aufmachte und mit einer Mischung aus Bestürzung und Mitleid den Trümmerhaufen inspizierte.
Das Wrack an sich drückend, ging er durch die Hintertür nach draußen. Ihr Garten war nicht sehr groß. Aber es stand ein Fliederbaum darin, dessen Zweige bis auf den Boden hinabhingen. Niels brauchte nur darunterzukriechen, um nicht mehr gesehen zu werden. Er kniete sich auf die noch feuchte Erde und grub mit Tobys Schaufel ein Loch. Es musste richtig tief sein, so tief, dass man nie mehr herankam.
Sein Auto stand am Rand der Grube bereit.
Beim Anblick des Wagens, der gerade noch von keiner Gefahr gewusst hatte und nun für immer unter die Erde musste, bekam er einen Kloß im Hals. Nur mit Mühe brachte er die richtigen Worte heraus: »Nun nehmen wir für immer Abschied.« So gehörte es sich. Ihm lief Rotz aus der Nase. Zornig wischte er ihn weg, mitsamt den Tränen. Mann, bloß das nicht! Wozu war man denn schließlich auf einem Autofriedhof?
Über seinem Kopf, hoch oben im Flieder, schmetterte ein Vogel ein aufgeregtes Lied, kurz und selbstbewusst.
Hast du das gehört, Niels? Tiiht!, macht die Heckenbraunelle. Daran kannst du sie erkennen.
Erneut wischte er sich mit der Hand über die laufende Nase. Er schob das verunglückte Auto in die Grube. Jetzt noch das Grab zubaggern und einen Stein drauflegen. Er hatte hübsche Kieselsteine in der Hosentasche, die hob er extra überall auf.
Niels schrak aus seinen Gedanken auf, weil Klaar neben ihm auf dem Plaid plötzlich zischte: »Da kommt diese Assel.«
In der Tat kam Yaja als Erste von den Großen gemächlich auf den Picknickplatz geschlurft.
Niels sah die Engel sofort in Kriegsstellung gehen: Da kam die Tussi, die dachte, man könnte sich einfach so die Schwester von jemand anderem unter den Nagel reißen. Auf ihren Gesichtern erschien ein tatendurstiger Ausdruck, der ihm das gestrige Spiel in Erinnerung brachte, das Spiel, das noch zu Ende gespielt werden musste, egal wie, und bei diesem Gedanken brach ihm der Schweiß aus.
Ohne auch nur hallo zu sagen, setzte sich Yaja mitten auf eines der Plaids und öffnete eine Kühlbox.
»Hier wird nicht genascht«, zischte Marleen, wie gewöhnlich allen voraus. »Wir warten, bis alle da sind. Also Finger weg und Deckel wieder drauf.«
»Das Ganze hier war die Idee von meinem Vater. Tut bloß nicht so, als hättet ihr euch das ausgedacht. Und ich hab echt voll Hunger.« In aller Seelenruhe begann Yaja, ein Ei zu pellen. An ihrem einen Ohr baumelte ein silbernes Skelett, das ihr bis auf die Schulter reichte. Ihr weiß getünchtes Gesicht drückte nichts als Langeweile aus, eine so gähnende Langeweile, dass man fast davon angesteckt wurde und sich am liebsten mit ausgestreckten Armen und Beinen nach hinten fallen lassen würde, um sich nicht mehr zu rühren, bis bessere Zeiten anbrachen.
Niels prickelten die Haarwurzeln vor Unmut. Was hing er hier eigentlich zwischen den Weibern rum? »Picknick! Echt was für alte Knacker«, sagte er böse.
»Was erwartest du denn? Er ist doch auch ’n alter Sack«, erwiderte Yaja. Sie schlug ihre scharfen kleinen Zähne in das Ei und biss ihm den Kopf ab. Sie kaute träge, fast ohne die Kiefer zu bewegen.
Just in dem Augenblick kam ihr Vater vom Radweg her. Er ging ein wenig gebeugt, und seine Knie stießen beim Laufen gegeneinander. Er hatte was von einem Dromedar.
»Seht euch das an«, sagte Yaja voller Abscheu. »Ein wandelnder Alzheimer. Wenn ich nur dran denke, dass es Leute gibt, die es mit so ’ner lebenden Leiche machen wollen...«
»Was machen?«, fragte Karianne.
Niels rückte etwas näher an Toby heran. Das gab jetzt Weibergewäsch, das konnte er riechen. Und das Wissen, dass er wieder mal nichts davon kapieren würde, machte ihn rasend.
Hinter vorgehaltener Hand fuhr Yaja fort: »Na ja, der angeschimmelte Rollmops, den er sich geangelt hat, hätte natürlich eh nichts Besseres abgekriegt.«
Die Engel prusteten los. Karianne und Klaar gackerten ebenfalls drauflos und kugelten sich übereinander. Ihre sommersprossigen Gesichter waren schief vor Lachen.
»So«, sagte Yajas Vater zur Begrüßung und ließ sich in die Hocke nieder. »Was ist denn so lustig?«
Yaja warf einen Blick in die Runde, als wolle sie sagen: Achtung, jetzt wird’s erst richtig witzig. »Ach, weißt du, Pa, wir sprachen gerade über morphologische Felder.«
»Mann, was für ’ne Schnalle«, raunte Niels Toby abfällig zu. Man konnte auch Gurke sagen. Das sagten die großen Jungs auf dem Schulhof, mit den Händen in den Taschen.
»Na, so was.« Leander lachte überrascht.
Yaja schnippte mit den Fingern. »Du kannst das besser erklären als ich. Von den Hamstern und so. Los, erzähl mal.«
In der Hoffnung, endlich etwas Interessantes zu hören zu bekommen, spitzte Niels die Ohren. Aber er verlor schon bald den Faden. Und zu lachen gab es auch nicht viel. Das morphologische Feld sei ein wundersames Phänomen, sagte Leander. Es bestehe aus energetischen Kräften, die mittels einer noch unverstandenen Synchronizität schöpfend und ursächlich wirkten. Beim Sprechen bildeten sich kleine Schaumbläschen in seinen Mundwinkeln. Er hatte außergewöhnlich dünne, straffe Lippen, als sei ihm die Haut viel zu eng.
»Mach mal ’n bisschen Tempo«, sagte Yaja, mit der abgeknickten Hand wedelnd.
Wenn zum Beispiel, fuhr Leander doppelt so schnell fort, irgendwo auf der Erde, sagen wir mal in Amsterdam, ein Hamster in seinem Käfig gelernt habe, aus einem umgedrehten Fläschchen Wasser zu trinken, könnten das fortan auch seine Nachkommen mühelos, aber nicht nur die, sondern alle Hamster im weiten Umkreis, ja sogar in Tokio oder Mailand. Das sei eines der unerklärlichen Dinge, die...
Ohnmächtig vor Lachen sackte Yaja in sich zusammen. »Ogottogott! Stellt euch das mal vor!«
All die blöden Hamster, die weltweit an ihren Fläschchen nuckelten und auch noch dachten, sie wären was Besonderes. Das war wirklich zum Totlachen. Niels konnte es sich nicht verkneifen. Er lachte mit. Mit unsicherem Blick taxierte ihn sein kleiner Bruder. Der Zwerg kapierte nicht die Bohne.
»Aber das Beste kommt noch«, brachte Yaja hicksend hervor. »Das gilt nicht nur... das gilt nicht nur... nicht nur für Hamster!«
»Soll ich lieber warten, bis ihr ausgelacht habt?«, erkundigte sich Leander.
»Nein, mach weiter, mach weiter!« Die schwarzen Ränder unter Yajas Augen waren total verlaufen. Sie sah aus wie eine Tropfsteinhöhle.
In dem Moment tauchte Tante Beatrijs auf. Mit ihren hohen Absätzen sank sie bei jedem Schritt im Gras ein. Schon von weitem rief sie Leander in erregtem Ton zu: »Du bist ja schon hier! Ich hab dich überall gesucht!«
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, setzte Yajas Vater seine Ausführungen fort. Das war vielleicht ein Labersack, echt nicht normal. Man konnte auch Schwalli sagen, das lief aufs selbe hinaus. Aber er machte wenigstens den Mund auf. Er stammelte nicht nur, von wegen er wisse es auch nicht. Im Gegenteil, er wusste alles. Und es hörte sich auch so an, als sei er sich ganz sicher.
»Oh, das morphologische Feld«, erfasste Tante Beatrijs. Sie hatte sich vorsichtig mit ausgestreckten Beinen auf einem der Plaids niedergelassen. Ihr Rock war so weit hochgerutscht, dass ihre dicken Oberschenkel zu sehen waren und dass sie so kleine Dellen darin hatte. »Ja, das übersteigt jede Logik.«
»Da erst offenbart sich die Wahrheit, Beatrijs«, entgegnete Leander kühl.
»Mann, ey! So kommen wir nie weiter«, stöhnte Yaja. Sie beugte sich vor und zeigte mit dem Finger auf Niels. »Du da, Shithead! Ja, sogar du kannst schon zur Evolution beitragen und die ganze Menschheit auf eine höhere Ebene bringen! Brauchst dich dazu nur auf ein morphologisches Feld einzutunen.« Ihre Schultern begannen wieder zu zucken vor Lachen.
»Es funktioniert natürlich nur«, fuhr Leander fort, »wenn man mit Leib und Seele hinter einem Ziel steht. Man kann das mit einem kleinen Wunsch üben. Das nennt man von innen heraus ansteuern. Ihr werdet sehen, dass...«
»Und so weiter«, sagte Yaja. Noch kichernd nahm sie sich ein zweites Ei.
Das mit dem Wunsch war mächtig imponierend. Unbegreiflich, was Yaja daran so lächerlich fand. Aber so war das eben mit Schnallen, die hatten kein Gefühl für Logik. Man konnte auch Bitch sagen. Oder Gurke. Oder Schlampe. Schlampe war das Wort, das Papa zuletzt immer benutzt hatte.
»Hallo!« Da kamen die anderen. Vorneweg Onkel Timo und Tante Gwen, in kurzen Hosen und T-Shirts, die tausendmal zusammen gewaschen worden waren und inzwischen alle gleich fahl aussahen. Hinter ihnen Bobbie, stolz mit Babette im Tragesack vor dem Bauch und mit einer wahnsinnig altmodischen Sonnenbrille auf der Nase. Sein Vater bildete das Schlusslicht. Die Haare hingen ihm in die Augen. Er musste sie sich dringend mal schneiden lassen.
»Hallo, Niels!«, sagte Tante Gwen ein bisschen außer Atem. »Tobylein! Ist das nicht gemütlich?« Sie setzte sich ins Gras und schlug die braunen Beine übereinander. Unter ihren Achseln waren Schweißflecken.
Niels blieb auf der Hut. In seinen Gedanken wirbelte es noch von morphologischen Feldern. Da war der alltägliche Anblick seiner Tante irgendwie ein zu großer Übergang. Dieses immer etwas feuchte Gesicht hatte ihm schon zugenickt, als er noch in der Wiege gelegen hatte. Und noch davor war Tante Gwen mit seiner Mutter zusammen zur Schule gegangen. Einmal mehr erfasste ihn rasende Wut. Das war alles so gemein. So total schrecklich, hundsgemein gemein. Wenn man es doch bloß jemandem heimzahlen könnte. Wenn man das doch könnte. Wenn man doch irgendwas könnte.
Munter schnatterte Tante Gwen: »Alle zusammen, ach, ist das schön! Ist denn für die Großen an ein Gläschen gedacht, Tiem?«
Alle zusammen? Aus den Augen, aus dem Sinn, nannte man das. Knallhart war Tante Gwen. Sie hatte jetzt schon glatt vergessen, dass seine Mutter dazugehört hätte.
Sein Onkel begann, den Rucksack auszupacken. Gläser, eine vor Kälte beschlagene Flasche, ein Korkenzieher.
»Spitze«, sagte Papa. Er hatte sich immer noch nicht hingesetzt. Zum Glück hatte er wenigstens seine Sonnenbrille auf, da sah man seine traurigen Augen wenigstens nicht.
»Sie fangen wieder an zu saufen«, sagte Marleen zu Marise. Prompt taten die Kleinen, als müssten sie sich übergeben.
»Yaja, auch Wein?«, fragte Tante Gwen.
Stinkig schaute die Tropfsteinhöhle in die entgegengesetzte Richtung.
Das musste man ihr lassen, ködern ließ sie sich nicht. Sie dachte natürlich: Die soll bloß abstinken, die Schnalle mit ihren Schwitzflecken! Es munterte ihn auf, dass jemand so was über Tante Gwen zu denken wagte. Die Gwen, die immer so nett tat und so gefühllos war wie ein Stein. Das war jetzt wohl klar.
»Yaja, Mädchen? Möchtest du kein Glas Wein?«, fragte Leander.
»Ich schon gern, Gwen«, sagte Tante Beatrijs. Sie sah aus, als ob sie sich plötzlich furchtbar über irgendwas aufregte. Mit unwirschen Bewegungen begann sie, in einer der Kühlboxen zu kramen.
»Angeschimmelter Rollmops«, sagte Niels in Tobys Ohr. Er erschrak kurz über die eigene Frechheit, lachte dann aber, schwindlig vor Triumph. Entzückt lachte sein kleiner Bruder mit.
»Die Eier sind schon alle auf!«, rief Klaar. »Die hat Yaja gegessen.«
»Jesus fucking Christ«, sagte Yaja, ohne die Stimme anzuheben. »Wenn ich mich hier schon dumm und dusslig langweile, muss ich doch wohl nicht auch noch verhungern! Und es waren im Übrigen auch nur zwei.«
Abrupt wandte sich Tante Beatrijs ihm zu und fragte: »Habt ihr auch eure Badehosen mitgebracht, Jungs?« In ihren Augen war jetzt ein Ausdruck, der Unterstützung erheischte. So guckten Erwachsene immer, wenn es nicht so lief, wie sie wollten. Als zählten sie darauf, dass man sich, ohne die geringste Ahnung zu haben, worum es eigentlich ging, schon irgendetwas einfallen lassen würde, damit alles wieder in Ordnung kam. Sie hielten einen offenbar für ein morphologisches Feld. Aber Niels tat ihr nicht den Gefallen, er schüttelte den Kopf.
»Baden!«, rief Toby begeistert.
»Na ja, wir können sie immer noch schnell holen.«
»Aber zuerst der Wein«, sagte Onkel Timo und goss die Gläser voll.
Auch Bobbie und Papa hatten sich jetzt endlich hingesetzt. Sie hatten das Baby aus dem Tragesack genommen. Babette lag auf dem Rücken, wedelte mit den Händchen und blubberte vor sich hin. Bobbie setzte ihr einen knallgrünen Sonnenhut auf und linste dann über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg zu Leander hinüber. »Es ist doch wirklich verrückt, dass man dem Mann neuerdings überall begegnet«, sagte sie laut. Dann zupfte sie mit hastigen, nervösen Bewegungen Babettes Hütchen noch etwas zurecht.
»Ciao, Babette«, gurrte Yaja und kroch auf allen vieren zum Baby hinüber. »Hallo, mein Schnuckelchen.«
»Sie ist aber nicht dein Schnuckelchen«, begann Karianne auf der Stelle.
»Fall doch nicht jedes Mal darauf rein, Dummerchen«, sagte Onkel Timo. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas und streckte sich dann rücklings im Gras aus. »Aah, tut das gut«, murmelte er und machte schläfrig die Augen zu.
Yaja nahm eines der Babyfäustchen und tat so, als knabbere sie daran. »Mm, hast du zartes Fleisch! Ich könnte dich glatt fressen. Mit Haut und Haaren fress ich dich auf!«
Bei dem Anblick fuhr Niels der Schreck in alle Glieder. Schweiß trat ihm in den Nacken, und die Haare standen ihm zu Berge. Angenommen, Yaja, die sich alles traute, würde sich in ihr Spiel einmischen, das mit grausamer Geduld darauf wartete, zu Ende gespielt zu werden. Was dann passieren würde, war so grausig, dass man es sich gar nicht vorstellen mochte. Schon mit nur den Zwillingen als möglicher Beute war es schlimm genug gewesen. Aber Babette, die man noch nicht mal zu den Weibern, Schnallen, Gurken oder Schlampen zählen konnte, die bloß ein Baby war... nein, das wäre zu gemein, zu schlimm, schrecklich, hundsgemein gemein.
Hilfe suchend schaute er zu seinem Vater. Doch da sank ihm gleich der Mut: Papa verstand rein gar nichts davon, ein Unglück abzuwenden. Wenn es darauf ankam, rührte der keinen Finger.
Babette stieß einen kleinen Schrei aus, und alle lachten. Diese steinharte Gwen am lautesten von allen.
Aber womöglich würde Yaja wirklich beißen, würde die kleine Babyfaust verschlingen wie ein Ei, und dann wäre es zu spät. Und er hätte es machtlos geschehen lassen, statt Babette zu beschützen. Er wäre genauso ein Esel wie sein Vater, der nichts getan hatte, um zu verhindern, dass Mama starb. Und genauso ein blindes Huhn wie Tante Gwen, die vor lauter Egoismus nicht mal merkte, dass ihr Kind in Gefahr war. Eigentlich hatte sie es verdient, dass Yaja Babette auffraß. Dann würde sie auch mal zu spüren bekommen, wie es war, wenn man jemanden vermisste.
War denn hier niemand, der ihm helfen konnte, niemand mit Muskeln, niemand mit Mut, Durchblick oder guten Ideen? Ja, Onkel Timo, aber der schlief, die Arme über der Brust gekreuzt, die eine Schulter nass von dem Wein, der umgefallen war.
Und Leander. Leander gab’s auch noch. Der saß im Schneidersitz da und starrte, mit den Händen im Schoß, einfach ins Weite.
Niels versuchte, seinem Blick zu folgen. Leander sah etwas, das sah man sofort. Und er war nicht irgendwer, er war jemand, der Dinge wusste. Der wusste, dass man sich nur etwas zu wünschen brauchte, allerdings mit Leib und Seele, um schlagartig so mächtig zu werden, dass man alles steuern konnte, wie man es gern hätte. Wer weiß, was man sich alles erfüllen konnte mit ein wenig Übung. Niels krümmte sich kurz, so heftig war sein Verlangen danach. Aber tot, das war für immer. Dagegen war kein morphologisches Feld gewachsen.
»Wir dürfen heute Abend nicht vergessen, in unser Ferientagebuch zu schreiben«, sagte Gwen, während sie sich noch einmal einschenkte. »Stimmt’s, Niels? Das machen wir nämlich immer.«
Er atmete tief durch. Das Ferientagebuch war Mamas Idee gewesen, nicht ihre. Sie erinnerte sich offenbar nicht mal mehr, dass seine Mutter je existiert hatte. Sofort stand sein Entschluss fest. Er würde ihr eine Lektion erteilen.
Hinterher würde sich Gwen noch tausendmal die Haare raufen. Hätte sie doch ihre Vorgefühle ernst genommen. Hätte sie doch auf die Stimme ihres Herzens gehört. Doch als sie das zu dem Polizisten gesagt hatte, hatte der sie nur komisch angeguckt.
Er war übrigens sehr nett gewesen, genau wie sein Kollege, dem ein Eckzahn fehlte, sie hatte die ganze Zeit an den freundlichen Lispler vom Bootsverleih am Kanal denken müssen. So detailliert wie möglich hatte sie den beiden erzählt, wie der Nachmittag verlaufen war, zumindest soweit sie das überblickte. Bei so einer großen Gesellschaft war immer etwas los. Alle naselang musste Kindergezänk beschwichtigt werden, ein mitgenommener Ball war verloren gegangen, ein Weinglas zerbrochen. Auf jeden Fall war Timo, nachdem die Kühlboxen geleert waren, mit den Engeln zum Baden an den Teich gegangen. Bobbie und die Kleinen hatten sich in ein wildes Spiel verstrickt, bei dem es darum gegangen war, einander so oft wie möglich zu Boden zu werfen. Laurens war ein wenig über das Gelände geschlendert, unglücklich, gequält. Seine Jungs waren in eine der großen Kastanien geklettert und im Blätterdach verschwunden. Beatrijs war in der Sonne eingeschlafen. Yaja hatte Kopfhörer aufgesetzt, aus denen irgendwelche kreischenden hohen Frauenstimmen zu hören gewesen waren. Und sie selbst war irgendwann mit Leander ans Wasser spaziert, um sich kurz die Beine zu vertreten. Es war nicht nett, wenn keiner sich um ihn kümmerte.
Auf der Spielwiese war es unterdessen voll geworden, es war schließlich Sonntagnachmittag. Man musste sich seinen Weg zwischen faulenzenden Menschen und ihren herumtollenden Kindern hindurch bahnen. Timo und die Mädchen waren nicht mehr im Wasser gewesen, die hatten sie offenbar gerade verpasst.
Warum Leander und sie so lange weggeblieben waren, konnte sie nicht recht erklären. Sie hatte einfach nicht gemerkt, wie viel Zeit verstrichen war. Vielleicht lag es an den unerwartet interessanten Dingen, die er ihr über seine Arbeit erzählt hatte. Oder vielleicht hatte sie es einfach genossen, mal ein Weilchen von der ganzen Horde erlöst zu sein.
Als Leander und sie endlich kehrtgemacht hatten, war außer Laurens von der ganzen Gesellschaft niemand mehr übrig gewesen. Er konnte angeben, dass Yaja als Erste gegangen war, gähnend vor Langeweile. Die Kleinen hatten auch bald genug gehabt und hatten Bobbie überredet, nach Hause zu gehen und zusammen Pfannkuchen zu backen. Darauf waren auch Toby und Niels angesprungen. Kurz darauf war Beatrijs aus dem Schlaf hochgefahren und wie der Blitz verschwunden, weil sie, wie sich später herausstellte, dachte, Leander warte schon zu Hause auf sie. Und eine halbe Stunde später hatte Timo die nassen Engel mit nach Hause genommen, weil es angefangen hatte, sich zu bewölken. Damit war nur Laurens übrig geblieben.
Sie hätte natürlich Lunte riechen müssen. Aber sie war gar nicht dazu gekommen, ihre Gedanken zu ordnen. Leander und Laurens so nah beieinander, da musste sie verhindern, dass die beiden sich in die Haare bekamen, und so redete sie den ganzen Nachhauseweg von Marleens und Marises Judo- Unterricht. Es war ja so nützlich, dass kleine Mädchen lernten, wie sie sich verteidigen konnten, aber schade, dass sie es überhaupt lernen mussten.
Erst zu Hause war es ans Licht gekommen, als es Zeit wurde, das Baby zu stillen. Sie war mit größter Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass Timo Babette im Tragesack mitgenommen hatte. Oder Bobbie. Oder Beatrijs. Oder Yaja, die sich als Erste verzogen hatte.
Doch genauso hatten alle anderen automatisch angenommen, dass Babette die ganze Zeit bei ihr gewesen sei.