Kannibalen

 

Hinten im verwilderten Garten, an der Grenze zur Bienenweide, waren die Kinder in ein aufgeregtes Spiel verwickelt, dessen Regeln sie sich nach und nach ausdachten. Verschwitzt jagten sie einander im mannshohen Gesträuch hinterher. Im Weg hängende Zweige schlugen sie mit den Kochlöffeln zur Seite, die sie in der Küche gefunden hatten. Trotzdem waren sie mit Schrammen und Brennnesselpusteln übersät.

Die vier Mädchen waren im Vorteil: Sie kannten das Gelände. Sie wussten genau, wo Schleichwege waren und wo man sich am besten verstecken konnte. Laurens’ Jungen mussten regelmäßig die Verfolgung abbrechen, um sich verwirrt umzuschauen, die Ohren auf ein Kichern aus dem Gebüsch gespitzt. Keuchend hielten sie einander an der Hand. Niels, der Ältere der beiden, beruhigte seinen kleinen Bruder immer wieder nervös. Wir gewinnen. Wir gewinnen ganz bestimmt.

Auf der Terrasse beim Haus saßen ihre Eltern schon seit dem Mittagessen und redeten mit der Entspanntheit von Menschen, die alle Zeit der Welt haben, über dies und das und jenes. Es war warm, und sie füllten immer wieder ihre Gläser. Timo blieb bei Wasser. Er müsse, wie er wiederholt sagte, vor Einbruch der Dunkelheit noch ein Bienenvolk vom Korb in den Kasten umsiedeln, und Alkoholdunst mache die Bienen ganz irre. Seine Frau Gwen trank Saft, da das Baby noch gestillt wurde. Nur Laurens hatte sich an den Weißwein gemacht.

Sie saßen in ihren kurzen Hosen auf wackligen Holzstühlen um einen Tisch, der früher etwas weit Würdigeres und alles andere als ein Gartentisch gewesen war. Gegen die neue Rolle im Freien protestierte die Tischplatte, indem sie tückische Krater aufwarf. Auch die Tischbeine beteiligten sich nach Kräften: Strich man mit nackter Haut daran entlang, riss man sich unweigerlich Splitter ein. Sogar das scheinbar samtweiche Moos, das unter dem Tisch aus den Fugen zwischen den Terrassenfliesen hervordrang, hatte etwas Störrisches, ja beinahe schon Aggressives. Und im ungemähten Gras schlossen vergessene Stofftiere und Plastikpuppen drohend die Reihen.

Ach, Quatsch! So war es bei Timo und Gwen doch von jeher gewesen: eine Lotterwirtschaft eben. Efeu wuchs hier ungehindert in den Dachrinnen, auf den Fensterbänken standen vertrocknete Blumensträuße, Zeitschriften hingen über Stuhllehnen, und wo man auch hintrat, knirschte oder klebte irgendetwas unter den Füßen, verstreuter Zucker, Kuchenkrümel, zerquetschte Rosinen, eine mit Staubflocken panierte Olive. Gwen und Timo kümmerte das nicht. Vielleicht war das ja eines der Geheimnisse einer langen und guten Ehe: dass man Nebensächliches nebensächlich sein lassen konnte.

Es war nur ein beiläufiger Gedanke, doch bei Laurens löste er ein Gefühl mörderischer Einsamkeit aus.

Ihm gegenüber schraubte Timo gerade wieder die Mineralwasserflasche auf. Er kam erneut auf seine Bienen zu sprechen. Dabei redete er so schnell, dass er fast über die eigenen Worte stolperte. Wie ein eifriger kleiner Junge, der ein Referat hielt. Irgendwie war Timo auch noch ein Kind, hatte dieses unversieglich Begeisterte, Verwunderte auch, eines Sechsjährigen. Selbst bei starkem Gegenwind radelte er noch fröhlich pfeifend am Kanal entlang. Ein pfeifender Mann auf dem Fahrrad am Wasser, das blonde Haar im Wind wehend: Er könnte sofort in einem Werbefilm des Fremdenverkehrsamtes auftreten.

Dankbar für die Ablenkung hörte Laurens ihm zu und nickte von Zeit zu Zeit, um sein Interesse zu bekunden. Derweil studierte er die verblühten Rhododendren, die von den Schnecken angefressenen Lupinen, die Maulwurfshügel im Gras. Deren Timo-Sorglosigkeit und Gwen-Lakonie. Er fühlte sich schon wieder ein wenig besser. Vielleicht sollte er einfach noch ein Glas Wein trinken, dann konnte er über alles lachen. Auf dem sonnenbeschienenen Tisch stand die Flasche griffbereit im Kühler. Aber mit Alkohol musste man vorsichtig sein, als Gast hatte man Anstand zu wahren. Bei diesem Gedanken lebte die Erinnerung an seinen Ausbruch beim Mittagessen wieder auf. Wie hatte er sich nur so gehen lassen können. Abrupt stand er auf, beschämt und verärgert über sich selbst.

Unsicher lächelte Gwen ihm unter ihrem verschwitzten blonden Pony zu. »Was ist denn auf einmal in dich gefahren?« »Mal eben schauen, was die Kinder aushecken.«

»Die werden sich schon nichts antun«, sagte Timo.

»Jetzt lass Laurens sich doch mal die Füße vertreten, Mensch«, entgegnete Gwen. »Gib ihm ein Weilchen frei. Du schwadronierst ja schon seit Stunden über deine Bienen.«

Die gute Gwen. Wenn Krieg ausbrechen sollte, würde man, ohne lange zu überlegen, bei ihr untertauchen. Auch unter schlimmsten Bedingungen würde bei ihr auf dem Herd ein Topf Suppe köcheln, und irgendwo tief in Gwen drinnen würden noch ungeborene Kinder plappernd und schnatternd und unerschütterlich wie eh und je bunte Papierstreifen falten und kleben. Gwen warf immer paarweise. Das jüngste Baby war ihr erster Einling.

Laurens lockerte seine Muskeln, die vom langen Sitzen ganz steif waren. »Ob sie noch mal wiederkommen?«, fragte er unvermittelt. »Was meint ihr?«

Timo, aus dem Konzept gebracht, schwieg. Gwen kratzte sich am Bein.

»Was findet Beatrijs nur an diesem Kotzbrocken?« Laurens konnte sich schon wieder über den unerwünschten Eindringling in ihre Runde ereifern.

»Ach, er ist nur etwas...«, versuchte Gwen einzulenken.

»Spar dir die Mühe, Schatz«, fiel Timo ihr ins Wort. »Der Mann ist ein unglaubliches Trampeltier.« Es war nicht ganz eindeutig, ob er damit den Kotzbrocken meinte oder Laurens.

»Na, wir werden sehen«, sagte Gwen. »Sie wissen ja, wann es hier Abendessen gibt.«

»Ihre Sachen stehen auch noch hier«, gab Timo zu bedenken.

»Dann bleibt uns das also nicht erspart.« Laurens vergrub die Hände in den Hosentaschen und trat resolut auf den Rasen hinaus, um auf andere Gedanken zu kommen. Er konnte gerade noch einem Berg Legosteine ausweichen.

Da er sich nun ohnehin in Gang gesetzt hatte, konnte er ja auch wirklich mal nach den Kindern sehen. Ein Ziel, und sei es noch so nichtig, verlieh dem Leben Sinn und Bedeutung. Also los. Wo mochten sie stecken, die kleinen Landstreicher? Sie konnten hier überall und nirgends sein. Das alte Gehöft von Gwen und Timo war zwar nicht Aufsehen erregend groß, aber es gab etliche Nebengebäude, und in den Augen eines Städters war das Grundstück riesig. An der Schleuse hieß der Besitz von alters her, und so hatten sie auch ihren Betrieb genannt. Am Rand des Grundstücks, zum Kanal hin, stand ein selbst gemaltes Schild mit einer honigprallen, emsig vor An der Schleuse herumkreisenden Biene. Vorüberfahrende Binnenschiffer und die Freizeitkapitäne von Vergnügungsbooten zollten diesem Kunstwerk wenig Beachtung. Weit mehr Wirkung hatte es dagegen auf Radfahrer und Spaziergänger. Die gönnten sich gern eine kleine Pause für einen Besuch des winzigen Lädchens im Vorderhaus, wo sie ein Glas Schleuderhonig aus eigener Erzeugung erwerben konnten oder ein paar Kerzen, die Gwen mit blühendem Unkraut beklebt hatte, an dem noch Reste von Erde hingen.

Über den Kiesweg zwischen den seit Jahren nicht gestutzten Büschen lief Laurens an der Kerzenmacherei vorbei. Der Wachsgeruch, der durch die offen stehende Tür ins Freie zog, war so durchdringend, dass er auch ohne hineinzuschauen die vielen Reihen blasser Kerzen in den hölzernen Trockengestellen vor sich sah. An einem warmen Tag wie diesem war das Summen der Bienen etwas weiter weg gut zu hören, ein tiefes, anhaltendes Brummen, als fahre jemand geduldig mit dem Staubsauger durch Klee und Thymian.

Wie schön hatten sie es hier doch immer alle gehabt, Sommer für Sommer. Und nun hatten sie diesen Besserwisser am Hals, mit dem Beatrijs neuerdings das Leben zu teilen beliebte. Ausgerechnet jetzt. Als müssten sie sich nicht noch alle mühsam an die Lücke gewöhnen, die Veronica hinterlassen hatte, oder besser gesagt, die zahllosen Leerstellen, in denen sie sich bemerkbar machte. Immer wieder der Schock des Verlusts. Ihre traditionelle Schokoladentorte zum Nachtisch am ersten Abend, die jetzt gefehlt hatte. Ihre schrägen Limericks bei Tisch, die Lieder, mit denen sie den Kindern über den gigantischen Abwasch hinweghalf, ihre urkomischen Erzählungen zu den spätabendlichen Gläsern Wein, die laufend wieder gefüllt wurden: Sie hatten ohne das alles auskommen müssen. Jeder Moment, jede Handlung, jeder untereinander gewechselte Blick ließ ihre Abwesenheit tiefer ins Bewusstsein eindringen. Gerade dadurch, dass sie nicht mehr da war, war sie in gewissem Sinne anwesender denn je: Hinter jeder Tür erwartete man immer noch halb ihre Stimme, ihre Schritte.

Was hatte ein Wildfremder dabei zu suchen, jemand, der Veronica nicht mal gekannt hatte?

Ein Knacken im Gebüsch lenkte Laurens ab, und er blieb stehen.

Gwens Zwillinge waren berüchtigt für ihre Hinterhalte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich aus einem Baum auf ihn herabfallen ließen. Vorsichtig begab er sich ins Gestrüpp. Unter seinen Füßen zerbrachen Zweige. Auch eine Fallgrube war ihnen zuzutrauen. Vor allem die beiden Achtjährigen, die Timo in für ihn ungewöhnlich sardonischer Art die Engel nannte, waren Wildfänge. Es war Laurens ein Rätsel, wie ein so sanftmütiger Mann zu solchen Töchtern kam. Bis hin zum Äußeren, mit zu einem dicken Balken zusammengewachsenen Brauen, waren sie die reinsten Räuberkinder. Das Einzige, worin sie sich voneinander unterschieden, war, dass Marleen eine Furche in ihrem stets entschlossenen Kinn hatte und Marise ein Grübchen. »Wo steckt ihr, ihr feigen Lauselümmel?«, rief er. Er fand das Gespann einfach großartig.

Im Unterholz knackte es erneut. Er meinte, aus dem Augenwinkel kurz ein knallrosa T-Shirt gesehen zu haben. Das musste eine von den kleineren Schwestern sein, Klaar oder Karianne. Das jüngere Duo verlor in diesem Sommer zusehends seine molligen Ärmchen und runden Knie. Sie begannen, staksig in die Höhe zu schießen, und auf ihren breiten, sommersprossigen Frätzchen lag nicht mehr dieser permanente Ausdruck des Erstaunens darüber, wie groß die Welt war: Im Eiltempo traten sie bereits in die glutheißen Fußstapfen der Engel.

Äste und Zweige beiseite schlagend, machte sich Laurens an die Verfolgung. Hier, am Rande der Weide, auf der die Bienen ihren Honig sammelten, war Gwens Garten Eden am wildesten. Hier war jeglicher Versuch der Kultivierung aufgegeben worden beziehungsweise am entschiedenen Widerstand der alten Bäume und Sträucher gescheitert. Man wähnte sich in einem undurchdringlichen Wald und nicht etwa auf dem Gelände eines Gehöfts, an dem ein kerzengerader, von Menschenhand gegrabener Kanal entlangführte. Laurens kam es so vor, als rücke die verzauberte Wildnis Jahr für Jahr weiter vor, aber das konnte auch Einbildung sein.

Mit den Armen rudernd bahnte er sich eine Schneise durch das nächste Gebüsch. Er erwartete, dass es sich dahinter lichtete und Sonnensprenkel durch das Blattwerk fallen würden. Doch das Laub war so dicht, dass er für einen Moment fast gar nichts mehr sah. Er musste die Hände ausstrecken und sich von Baum zu Baum tasten. Die Rinden fühlten sich leicht schleimig an, weil sie hier so wenig Tageslicht abbekamen, und sie gaben einen säuerlichen, erdigen Geruch von sich. Der Sommer schien plötzlich ganz weit weg zu sein. Laurens war schon drauf und dran umzukehren, als er gegen etwas stieß, das dumpf hallte. Es war ein großer Blechkessel, der ihm etwa bis an den Saum seiner kurzen Hose reichte, so einer, wie Gwen sie in der Kerzenmacherei benutzte.

Befremdet sah er sich das Ungetüm an, obwohl es natürlich typisch Gwen war, verrosteten alten Schrott einfach ins Gestrüpp zu schmeißen. Er fasste den Rand an. Das Metall war kalt. Das Ding stand bis obenhin voll Wasser. Man hätte ein stattliches Ferkel darin kochen können.

Plötzlich ertönte weiter entfernt schrilles Geschrei. Laurens ließ den Kessel Kessel sein und eilte in die Richtung, aus der das Geschrei kam, dem Sonnenlicht entgegen. Auf der Grenze zur Bienenweide verlangsamte er seine Schritte: Dort drüben rannten seine beiden Söhne gefährlich nah an den Kästen entlang.

»Niels! Toby! Vorsicht da hinten!«

Sie hörten ihn nicht. Lauthals schreiend preschten sie weiter, ganz mit sich beschäftigt, zwei kleine Hänflinge in Badehose.

Sie müssen dringend zum Frisör, dachte Laurens, und sie brauchen neue Schuhe, und mit den T-Shirts, die er neulich auf dem Markt für sie gekauft hatte, war doch auch was nicht in Ordnung, die waren falsch genäht oder so. Da hatte er einfach Kleidung gekauft, die nichts taugte. Mutlosigkeit überkam ihn. Und doch war es einzig und allein seiner Kinder wegen, dass er es morgens fertig brachte, aus dem Bett zu kommen, jeden schmerzlichen Tag wieder. In seinen Träumen lebte Veronica meistens noch. Es war ja auch so unvorhergesehen passiert, oder vielleicht widersetzte sich sein Geist einfach mit aller Macht dem Unvermeidlichen. Jedenfalls war der Kontrast zwischen Schlafen und Erwachen so grausam, dass er jeden Morgen nur eines wollte: Sich für immer neben ihr ausstrecken und vergessen, was geschehen war.

Seine Jungen waren nirgends mehr zu sehen. Die Bienen summten unvermindert.

Hätte er dieses Jahr überhaupt herkommen sollen? Er hatte seinen Freunden momentan nicht viel zu bieten. Aber seine Söhne hatten sich so sehr auf den Besuch gefreut. Nach der Beerdigung hatte Niels ihn tränenüberströmt gefragt: »Fahren wir jetzt nie mehr in Ferien, Pap?« Erstaunlich, wie klar ein Siebenjähriger seine Gefühle in Worte fassen konnte. Denn was bedeutete diese Frage anderes als: Wird das Leben je wieder normal, je wieder schön? Beschwörend dachte er: Ich krieg das schon hin, sagte er zu sich selbst. Drei Monate waren noch eine so kurze Zeit, es musste erst ein Jahr darüber vergehen. Aber dann, so hörte man manchmal, ging es erst richtig los. Denn Verlust konnte sich doch, wenn man es genau betrachtete, nur immer weiter auftürmen, bis in alle Ewigkeit.

Bei diesem Gedanken wurde ihm so beklommen zumute, dass er sich hastig wieder in Bewegung setzte. Er beschloss, zurück den längeren Weg zu nehmen, am alten Sommerhaus vorbei. Der Kiesweg war von einem gelben Unkraut gesäumt, dessen Namen er immer vergaß. Wenn man einen Stängel davon abbrach, kam ein leuchtend orangefarbener Saft heraus, den man kaum von den Händen bekam. Veronica hatte es ihren Jungen jedes Jahr wieder begeistert demonstriert. Unzählige Male war sie hier entlanggegangen, auf ihren langen Stelzen, ihren Storchbeinen, wie sie selbst sagte. Unzählige Male auch waren sie hier gemeinsam gegangen, schwatzend und lachend oder, im Gegenteil, in Gedanken versunken, vielleicht sogar übellaunig schweigend. Ob sich die Kiesel noch an ihre Füße erinnerten, mit den seinen daneben? Ein Ehepaar, das erkannte so ein Weg natürlich sofort, ein leichter Schritt neben einem schwereren: Schau an, ein Paar. Es schien das Normalste von der Welt zu sein.

Er blieb stehen und wippte langsam auf und ab, sodass der Kies unter seinen Fußsohlen knirschte. Bis ihm dämmerte, dass er das tat, weil er blödsinnigerweise auf irgendeine Antwort hoffte. So was wie ein dünnes Stimmchen: Hallo, hier spricht der Kiesel dort unten links, nein, etwas weiter nach rechts, ja, der, das bin ich, und ich bin noch von Ihrer Frau betreten worden, Sie können mich gern als Andenken mitnehmen.

Hör auf, Laurens, hör endlich auf!

Sie war hier auch ohne ihn schon gegangen. Die Tradition dieser Sommerwoche in der Imkerei stammte bereits von vor seiner Zeit. Veronica, Gwen und Beatrijs hatten seit ihrer Schulzeit jedes Jahr eine gemeinsame Woche anberaumt, in der sie mal wieder ausführlich miteinander reden und lachen, sich betrinken und Berge von Spaghetti zusammen kochen konnten. Und das war, als sie geheiratet hatten, unverändert fortgesetzt worden: Ihre Männer und später ihre Kinder waren einfach Teil der alljährlichen Woche geworden, waren in die Tradition hineingeschoben worden, wie Gwen ein Blech Brötchen in den Backofen schob. Und da man die Imkerei keine sieben Tage lang sich selbst überlassen konnte, war An der Schleuse, wo man mit einer so großen Gesellschaft auch viel mehr Bewegungsfreiheit hatte als bei den anderen zu Hause, von nun an ihre feste Adresse gewesen.

Auf den zahllosen Fotos, die im Laufe der jeweiligen Sommer gemacht wurden, waren die drei Freundinnen immer gleichermaßen prominent und frech abgelichtet, Arm in Arm, Grimassen schneidend, entspannt und vertraut. Gwen: ganz Mutter Erde natürlich, mit schmuddligen nackten Füßen, sonnengebleichtem Kleid und Schmutzstreifen auf der Stirn. Beatrijs: Stets auf Bleistiftabsätzen, die gedrungene Figur in die frivolsten Kreationen gepresst, mit einem etwas verblüfften Blick, als sei ihr gerade ein Gedanke gekommen, der ihren Verstand überstieg. Veronica: Die blitzenden Augen halb hinter ihrem dunklen Haar versteckt, mysteriös, scheinbar distanziert, aber unweigerlich mit vergnügt gekräuselten Mundwinkeln. Hinter den dreien die vagen Konturen ihrer Lieben. Man sah die breiten Schultern eines Ehemannes oder das pausbäckige Gesicht eines kleinen Kindes, das den Kopf zwischen den Knien der Erwachsenen hindurchgezwängt hatte. Doch selbst die Fotos, auf denen sie alle zusammen wie eine große italienische Familie um den Tisch saßen, verrieten, dass die Männer und die Kinder in dieser einen Woche im Jahr nur Nebensache waren. Statisten oder zufällige Passanten im Leben der Frauen.

Worüber hatten die Freundinnen in all diesen Jahren geredet? Welche Geheimnisse hatten sie einander anvertraut? Laurens wollte es gar nicht wissen. Entschieden marschierte er weiter und folgte dem Pfad um die Ecke.

Direkt vor der Tür des Sommerhauses saß Timos Schwester Bobbie in der Spätnachmittagssonne und enthülste Dicke Bohnen.

»Bobbie!«, rief er.

Sie zeigte keinerlei Reaktion. Mit unverändert heftigen Bewegungen brach sie die Hülsen auf. »Ich ess heut Abend mein eigenes Essen, hier bei mir zu Hause! Mit dem Mann setz ich mich nicht mehr an einen Tisch!«, murmelte sie streitlustig vor sich hin.

Laurens zögerte kurz. Meinte sie ihn oder den Kotzbrocken? Dann ging er aber doch zu ihr und setzte sich neben sie auf die Bank.

Sie warf eine Hand voll Bohnenkerne in den kleinen Topf auf ihrem Schoß. »Ich hab hart gearbeitet. Ich hab ein Recht auf meine Ruhe.« Da erst bemerkte sie ihn und lächelte.

»Viel los gewesen, heute Nachmittag?«, fragte er. Bobbie war der Ansicht, sie sei diejenige, die in dem kleinen Laden im Vorderhaus den Unterhalt für sie alle verdiente. Die Kunden dort bezahlten wenigstens mit echtem Geld, und das konnte man von den Männern, die ständig mit ihren Lieferwagen kamen und gingen, um ganze Paletten Honig und Kerzen mitzunehmen, nicht behaupten. Bobbies Meinung nach waren ihr Bruder und ihre Schwägerin nicht ganz bei Trost, dass sie tagaus, tagein so viel weggaben, ohne je einen greifbaren Euro dafür zu sehen. Jeden Abend um Punkt sechs Uhr brachte sie die Kassenlade ins Bauernhaus, um den anderen die Münzen und Scheine zu zeigen, die sie, als Einzige, an diesem Tag verdient hatte. Die zwei konnten froh sein, dass sie sie hatten.

»Heute war der Bär los.« Sie blähte die Wangen auf und rollte mit den Augen. »Dreimal, nein, viermal hatte ich Leute da. Liegt am Wetter.«

Laurens nahm einen Bohnenkern aus dem Topf und steckte ihn sich in den Mund. »Aber jetzt ist Samstagabend. Jetzt hast du frei. Und darum hättest du es gern gemütlich und hast keine Lust auf einen Unbekannten, der noch dazu...«

»Laurens !« Sie schlug nach seiner Hand, als er sich noch eine Bohne nehmen wollte. »Davon kriegst du was, wenn du die roh isst!«

»Ich nicht. Ich krieg nie was. Ich bin ein Mann aus Stahl.«

Sie musterte ihn skeptisch. »Wo soll der Stahl denn sein?«

Er klopfte sich auf den Brustkasten. »Hier drinnen.« Er war ihr Ritter, er war beim Essen heute Mittag für sie eingetreten. Darauf konnte er stolz sein, das war kein Grund, sich Vorwürfe zu machen.

»Kann nicht sein«, sagte sie entschieden. »Glaub ich nicht. Möchtest du ein Bier?« Sie erhob sich und ging ins Haus.

Er hörte sie in der Küche leicht entrüstet mit sich selbst reden: »Er zieht dich durch den Kakao, hör nicht auf ihn, mach einfach die Ohren zu, verstanden?«

Als sie mit einer Dose Bier in der Hand wieder nach draußen kam, sagte er rasch: »He, Bobbie, ich hab noch mal gefühlt, und du hattest Recht, da sind nur Knochen. Ich hab mich geirrt.«

»So, so.« Sie zog die Dose auf und reichte sie ihm, während sie sich mit der anderen Hand das dicke Haar hinter die Ohren strich.

Um sie milde zu stimmen, fragte er: »Warum heißt das hier eigentlich noch immer das Sommerhaus? Das ist doch ein Name von früher.«

Vertraulich beugte sie sich zu ihm herüber. »Weil bei mir immer die Sonne scheint. Bei mir«, sie lachte unvermittelt aus vollem Hals, »bei mir geht nie die Dunkelheit an.«

»Gut gesagt«, lobte Laurens und nippte von seinem Bier. »Ach«, relativierte Bobbie. Sie nahm den Topf Bohnen und stellte ihn sich wieder auf den Schoß.

 

Gwen war hineingegangen, um ihrer Tochter im Babyzimmer die Windel zu wechseln. Eine beschauliche Arbeit, und doch musste sie dabei einen Seufzer unterdrücken. Es blieb einfach gewöhnungsbedürftig, ein einzelnes Baby, es sah so unfertig aus, nur eines: ein Mädchen, das sein Leben lang allein dastehen würde. Timo fand, dass das Quatsch war, und das wurmte sie. Andere sahen schließlich auch, dass da etwas nicht ganz stimmte. Erst kürzlich noch hatte Bobbie zum Beispiel so etwas Wunderliches gesagt. Auf ihre bedächtige, klare Art hatte sie mit einem Mal bemerkt: »Ein Baby ist noch kein Mensch. Aber es ist natürlich auch kein Tier. Nur, was ist es dann?« Bei den Engeln hatte sie sich diese Frage nie gestellt, und bei den Kleinen auch nicht.

Veronica hätte bestimmt eine passende Antwort gewusst. Sie hätte irgendetwas Verrücktes gesagt, das trotzdem logisch und vernünftig geklungen hätte.

Gwen schloss die Windel, hob ihr Mädchen hoch und gab ihm einen Kuss aufs Köpfchen. Dann legte sie es in die Wiege. Sie ließ kurz das ausgeleierte Gummiband mit den bunten Plastikentchen hin und her schaukeln. Dann zog sie am Bändchen der Spieluhr. Schlaf, Kindlein, schlaf.

Sie wartete, bis die klaren Gucker zufielen. Es wurde höchste Zeit, dass sie mit dem Kochen anfing. Aber zuerst duschen. Bei diesem Wetter machte man das am liebsten dreimal am Tag.

Im Badezimmer warf sie ihre Kleider in den wie immer überquellenden Waschkorb. Die letzte Wäsche war noch in der Maschine, wenn sie sich recht entsann. Die musste nachher raus, bevor sie anfing zu müffeln. Mit dem Fuß schob sie eine leere Shampooflasche, einige Schwämme und ein Feuerwehrauto beiseite und stieg in die Duschwanne. Der harte Wasserstrahl ließ ihre Kopfhaut prickeln. Sie dachte: Der Tod ist nur einer von vielen Daseinszuständen. Irgendwo im Kosmos lebte Veronica weiter, im Glitzern der Sterne, im Rauschen des Meeres oder vielleicht sogar in dem Dampf, der jetzt in der Duschkabine aufstieg. Aber wenn sie einfach auf der Erde geblieben wäre, hätte sie selbst niemals so etwas Verletzbares wie ein einzelnes Kind zur Welt gebracht, das wusste sie mit düsterer Gewissheit. Wenn ein Mensch starb, richtete er unbeabsichtigt alles Mögliche im Leben anderer an. Das sah man auch an Beatrijs.

Gwen trocknete sich ab und band die nassen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Barfuß lief sie ins Schlafzimmer. Dabei sah sie die ganze Zeit Beatrijs vor sich, verliebt und strahlend. Wenn eine der besten Freundinnen mit sechsunddreißig aus heiterem Himmel an einem Schlaganfall starb, hatte Beatrijs gesagt, dann schaute man sich doch schließlich selbst mal tief in die Augen und fragte sich, was man eigentlich so trieb. Und mitunter fand man dann plötzlich den Mut, bestimmte Knoten durchzuhauen und Schritte zu tun, die man schon längst hätte tun müssen. Dann blieb man eben nicht mehr in einer Ehe hängen, deren Haltbarkeitsdatum längst überschritten war. Sondern warf sich ohne Zögern in neue Arme.

Beatrijs mit einem neuen Mann. Gwen wusste genau, was Vero dazu gesagt hätte. Wenn jemand ein bisschen Glück verdiene, dann Bea. Ein wenig schuldbewusst dachte sie an Frank, den Beatrijs so mir nichts, dir nichts fallen gelassen hatte und den sie jetzt vermutlich nie wiedersehen würde. Frank war zwar nicht gerade die Stimmungskanone unter ihnen gewesen, aber er hatte doch irgendwie dazugehört.

Obwohl der Tag schon seinem Ende zuging, war es noch immer warm. Widerstrebend öffnete sie ihren Kleiderschrank. Sie beschloss, ein Kleid anzuziehen, das Timo gefiel, das mit den Sonnenblumen. Dass sie beide jetzt das einzige noch intakt gebliebene Paar waren... Man würde sich schon daran gewöhnen. Man gewöhnte sich ja an alles. Doch sie war auf einmal, ganz übergangslos, ungewöhnlich missmutig. Da starben Menschen so einfach oder halsten einem ihre neuen Partner auf! Alle dachten immer, sie wäre unerschütterlich und würde mit allem fertig. Wie kamen sie darauf? Sie wollten sich einfach alle auf sie stützen. Komm zu Gwen, und alles wird gut. Komm zu Gwen, und alles wird dir verziehen.

Um sich zu beruhigen, trat sie ans offene Fenster und holte ein paarmal tief Luft. Unter ihr, auf der Terrasse, sagte Laurens gerade etwas zu Timo. Sie beugte sich vor. »...überall gewesen, aber ich finde sie nirgends«, fing sie auf.

Timo erwiderte: »Dann kümmere ich mich gleich noch mal drum.«

»Die Jungen schon, die waren auf der Bienenweide, aber diese...«

Gwen streckte den Kopf hinaus. »Laurens! Wie oft soll ich es dir noch sagen: Das musst du ihnen verbieten! Nicht einmal unsere Kinder dürfen in die Nähe der Bienen kommen! Timo, geh sie bitte sofort holen!«

Die beiden Männer schauten zu ihr herauf. Timo erhob sich von seinem Stuhl, winkte ihr kurz zu und ging in den Garten. Mit dem Kopf im Nacken blieb Laurens stehen und starrte sie ein wenig treudoof an. »Tut mir Leid, Gwen«, sagte er nach einigen Augenblicken. Dann wandte auch er sich ab.

Sie blickte zu ihm hinab, während er ziellos auf der Terrasse herumstakte, und dachte: Du hast Tag und Nacht mit ihr gelebt, du hättest etwas bemerken müssen, irgendein Vorzeichen, Kopfschmerzen, Schwindel. Wohl wieder mal zu viel um die Ohren gehabt, wieder mal irgendeine dämliche Krise in deiner Druckerei, was? Glaub bloß nicht, dass ich nichts von dir weiß! Mach dir nur ja keine Illusionen, wie Freundinnen über ihre Männer reden!

Am Rand des Rasens bückte er sich und hob ein T-Shirt auf. Nicht das geringste Gefühl für Prioritäten, hatte Veronica immer lachend gesagt: Sich über nichts und wieder nichts aufregen, aber vor sich hinträumen, wenn es wirklich darauf ankommt, echt, bei Laurens weißt du die meiste Zeit nicht, wo er mit den Gedanken ist.

Mit dem Shirt in der Hand drehte er sich um. Und plötzlich berührte sie sein Gesichtsausdruck. »Was ist denn, Laurens?«, rief sie aus dem Fenster.

Wie ertappt schaute er auf und hielt das Kindershirt in die Höhe. Es wirkte sehr klein in seinen großen Männerhänden. »Die Ärmel sind so eng«, brachte er heraus. »Schau mal, sie kräuseln sich richtig. Das fühlt sich doch bestimmt unangenehm an.«

Ihr sprang vor Rührung fast das Herz aus der Brust. »Soll ich mir das mal ansehen? Das krieg ich schon wieder hin.« Sie fuhr in ein Paar Slipper und rannte die Holztreppe hinunter, die Timo vor einigen Monaten abgeschliffen, aber immer noch nicht neu lackiert hatte. Immer fehlte ihnen die Zeit, angefangene Projekte auch zu Ende zu bringen.

Draußen saß Laurens am Gartentisch, das T-Shirt vor sich ausgebreitet. »Siehst du, was ich meine?«, fragte er. Unbeholfen zog er an den Nähten.

»Ja. Aber das kann ich beheben.«

»Sie hat sie immer so nett angezogen. Das wird mir nie gelingen. Dank ihr habe ich zwei tolle Jungen, Gwen. Aber dank mir werden sie früher oder später wie die letzten Idioten herumlaufen. Ich weiß nicht mal, was ich beim Frisör sagen soll.« Seine Augen wurden feucht.

»Ich setz dir die Ärmel heute Abend im Handumdrehen neu ein, keine Sorge.« Und bei diesen Worten spürte sie, wie sie gleichsam wieder mit sich, mit ihrem irdischen Selbst, eins wurde. Das hier war vertraut und überschaubar: Nachher noch kurz eine Näharbeit machen, und die Welt konnte sich wieder in Ruhe weiterdrehen.

Die Sonne hatte sich hinter die oberen Äste der alten Eichen gesenkt. Es war bestimmt schon nach sieben. Und die Kinder mussten noch in die Badewanne oder duschen, alle mussten noch alles Mögliche. »Ich geh jetzt mal schnell in die Küche.«

»Ich komme mit«, sagte Laurens. »Im Hacken und Schnetzeln bin ich Spitze.«

Als sie sich erhoben, berührten sich kurz ihre Arme. Verlegen dachte sie: Veros Mann.

In der Küche stand noch der Abwasch vom Mittagessen auf der Spüle. Mechanisch begann sie, Teller und Besteck abzuspülen. »Ich muss mich erst wieder hineinfinden«, sagte sie. »Ich fürchte, es fängt hier jedes Jahr ein bisschen chaotisch an. Irgendwie kann ich nie über den ersten Abend hinausdenken, ich weiß auch nicht, wieso.«

»Aber den hattest du perfekt im Griff.« Laurens ließ nie eine Gelegenheit aus, ein Kompliment zu machen: eine wundervolle Eigenschaft. Sie nahm es sich selbst immer noch übel, dass sie gestern nicht daran gedacht hatte, eine Schokoladentorte zu besorgen.

»Wo finde ich ein Geschirrtuch?«

In der Waschmaschine vermutlich. Sie sagte: »Das Geschirr lasse ich einfach abtropfen. Aber vielleicht könntest du schon mal den Tisch decken.«

»Für wie viele Personen?«

Über die Schulter warf sie ihm einen Blick zu. »Was dachtest du denn?«

Ostentativ schaute er auf seine Armbanduhr. »Du glaubst doch nicht, dass sie jetzt noch...«

»Sonst hätte Beatrijs angerufen. Oder uns von Dingsbums telepathisch eine Nachricht schicken lassen.«

»Leander.«

»Ach ja, Leander.« Vielleicht war »Koriander« eine brauchbare Eselsbrücke.

Sie setzte einen Topf Wasser auf, drehte das Gas aber gleich wieder aus. Es konnte gut noch eine Stunde dauern, bis die Kinder alle sauber geschrubbt am Tisch saßen. Also erst mal die Soße, die wurde ja nur immer besser, je länger sie köchelte. Hastig gab sie einen kräftigen Schuss Olivenöl in die Pfanne. Zu ihrer Verärgerung konnte sie nirgendwo einen Kochlöffel finden.

»Gwen!«, rief Timo von draußen. »Dürfen sie noch kurz unter den Gartenschlauch?«

»Fünf Minuten«, rief sie durchs Fenster zurück. Mit ein wenig Glück lief es nicht auf eine Schlammschlacht hinaus.

Sie konzentrierte sich auf die Soße, raspelte Käse, wusch den Salat. Für die Engel machte sie eine Dose Würstchen auf. Die beiden Großen hatten kürzlich verkündet, dass sie nur noch Fleisch essen wollten. Wenn man bei so was Gegenwehr bot, wurde man seines Lebens nicht mehr froh. Jeder Tag, an dem sich die beiden Kleinen noch zu einem Bissen Gemüse verleiten ließen, war ein Gewinn.

Aber wo waren nur diese verflixten Kochlöffel? Womöglich im Sommerhaus gelandet? Sie griff zum Hörer des Telefons, das neben dem Kühlschrank hing, und wählte Bobbies Nummer. Es dauerte einen Moment, bis ihre Schwägerin dranging. »Bobbie, hast du vielleicht...«

»Ich esse gerade!«

Verdattert sagte Gwen nach einem Moment: »Aber wir gehen gleich zu Tisch.«

»Dann guten Appetit.«

»Was ist denn jetzt los? Isst du jetzt etwa allein?«

Mit Grabesstimme erwiderte Bobbie: »Dieser Mann ist mir viel zu dunkel.«

»Ach, Mensch.« Wenn sich alle so anstellten, hatten sie Beatrijs bald alles vermiest. Man durfte diesen Koriander nicht vorschnell verurteilen. Er hatte bestimmt auch angenehme Seiten. Eine Freundin, die man schon fast sein ganzes Leben lang als, auf ihre Art, vernünftigen Menschen kannte, die traf nicht so ohne weiteres die falsche Wahl. Und schließlich war er so verrückt nach Bea, dass er ihr bei jedem Schritt, den sie tat, mit den Augen folgte, oder etwa nicht? Na also. »Ich kann mich ja neben ihn setzen und aufpassen, dass er nicht wieder was Gemeines zu dir sagt.«

Bobbie gab einen Laut von sich, als verscheuche sie eine Katze. »Du bist zu gut für diese Welt. Das hab ich dir schon so oft gesagt.« Und damit beendete sie das Gespräch.

Auch Gwen legte auf. Sie drehte die Flamme unter der Soßenpfanne runter und ging nach draußen.

Auf dem mittlerweile schattigen Rasen hatte Timo den Gartenschlauch auf ihre kreischenden Töchter gerichtet. Sie waren alle vier splitternackt und hüpften und spritzten ausgelassen im Kreis. Ihre Kleider lagen rundherum im nassen Gras. »Noch ganz kurz, Mama, nur noch ganz kurz«, riefen sie im Chor, kaum dass sie sie erblickt hatten.

Vom Gartentisch aus sahen die beiden Jungen mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Sehnsucht zu. Laurens stand zwischen ihnen, die Arme um ihre Schultern gelegt. Er war ein Mann, der immerzu Körperkontakt mit seinen Kindern suchte, sie im Arm hielt, in die Luft warf. Plötzlich musste Gwen wieder daran denken, wie er vorhin mit dem Shirt dagesessen hatte, und es versetzte ihr einen solchen Stich ins Herz, dass sie ganz vergaß, dass sie eigentlich bei Bobbie nach dem Rechten hatte sehen wollen. »He, Männer«, sagte sie. »Wie wär’s, wollt ihr nicht auch unter den Gartenschlauch?«

»Für heute haben sie, glaube ich, genug gespielt«, wandte Laurens ein. »Sie sind hundemüde.«

»Dann lass uns mal schnell zu Tisch gehen.« Sie klatschte in die Hände. »Timo!«

Ihr Mann wandte ihr sein sonnenverbranntes Gesicht zu. Schau doch, sagten seine lachenden Augen, schau dir doch unsere tolle Rasselbande an, Gwen. Und, wachsen sie etwa nicht im Paradies auf? Lass die Leute ruhig reden. So eine altmodische Imkerei ist gar nicht verkehrt. Wir haben es gut und unsere Kinder auch.

Diese Blicke des Einverständnisses über Kinderhäupter hinweg, dieser herrliche Stolz auf die Familie, den man nur mit dem eigenen Partner teilen konnte. Hoffentlich machten sie Laurens jetzt nicht neidisch. »Stell das Ding ab, Timo! Es wird sonst viel zu spät!«, rief sie. »Dalli, dalli, meine Damen! In zehn Minuten essen wir.« Dann hockte sie sich neben die Jungen und fragte: »So, und was habt ihr gespielt?«

Sie hatten beide Laurens’ ebenmäßige, markante Züge, wie aus Elfenbein geschnitzt. Hübsche Kinder.

»Wir sind noch nicht fertig«, sagte Niels.

»Noch nicht fertig?«

Laurens stieß sie an. »Müssen die nassen Sachen von den Mädchen nicht rein?«

Dass immer für alles ihr Einverständnis gebraucht wurde, machte die Hilfsbereitschaft anderer in gewissem Sinne nur zu einer Last. Aber vielleicht konnte Laurens gleich die Wäsche für sie aus der Maschine nehmen und in den Trockner tun. »Wenn du dich ohnehin um die Kleider kümmerst...«, begann sie, doch da ertönte auf dem Vorderhof Fahrradgeklingel.

»Da sind sie«, stellte Laurens wenig begeistert fest.

Einen Augenblick später kamen sie zu dritt in den Garten gelaufen: Beatrijs und Leander Hand in Hand, sie klein und mollig in einem türkisfarbenen Kostüm, er groß und ausgemergelt in einer unförmigen grauen Jogginghose, und hinter ihnen, mit hängendem Kopf, Leanders spindeldürre Tochter Yaja in ihrer verschlissenen schwarzen Jeansjacke.

Yaja! Dass sie auch noch existierte, war Gwen zwischenzeitlich völlig entfallen. Da bekam man nicht nur einen wildfremden Mann, sondern auch noch dessen befremdliches, launisches Kind vorgesetzt, und das nur dank irgendeiner Besuchsregelung. Beklommen dachte sie: Wie halten wir sie bloß die ganze Woche bei Laune? Sie ist zu alt für unsere Kinder, aber noch viel zu jung, um sich die ganze Zeit mit Erwachsenen abzugeben, sie wird sich zu Tode langweilen. Dreizehn. Eine wandelnde Unglückszahl.

 

Mit einem Lächeln reichte Beatrijs den Salat an Timo weiter, den Wein an Laurens, die Würstchen an die Engel. Sie holte ein weiteres Baguette aus der Küche, damit Gwen mal eben sitzen bleiben konnte. Unermüdlich ulkte sie mit den Kindern. Den ganzen Nachmittag, während der Fahrradtour, hatte sie sich felsenfest vorgenommen, dass sie sich heute Abend so geben würde, als sei alles in bester Ordnung. Es war schließlich nur eine dumme Meinungsverschiedenheit gewesen, beim Mittagessen, oder vielleicht sogar nur ein Missverständnis. Wenn man darauf zurückkam, bauschte man es nur unnötig auf.

»Deine Pasta ist wieder mal eine Wucht«, sagte sie zu Gwen, während sie sich noch einmal auftat. Es wurde immer gern gesehen, wenn man tüchtig zugriff, und jetzt standen wichtigere Dinge auf dem Spiel als ihr Taillenumfang.

Gwen lachte ihr zu. »Variante hundertsechzehn.«

Beatrijs entspannte sich etwas. Wenn sie Gwen nicht hätte! Nachher, beim Abwasch, wenn sie endlich kurz mit ihr allein war, würde sie ihr erklären, dass Leander nun mal ein Mann mit viel Gefühl war. Es war unglaublich, ja geradezu unvorstellbar, aber das gab es: einen Mann mit Emotionen, einen Mann, der endlos über alles reden konnte, ja, dem das sogar ein Bedürfnis war, einen Mann, der sich der Frau, die er liebte, mit Leib und Seele und völlig vorbehaltlos geben wollte und nichts anderes verlangte als ihre Nähe. Der überdies ein spiritueller Mensch war. Und Letzteres war genau die Dimension, die ihr in ihrer ganzen Ehe gefehlt hatte, was ihr erst jetzt aufgegangen war.

Ihre Freunde hatten bestimmt auch des Öfteren gedacht: Was findet Beatrijs nur an diesem langweiligen Frank? Vielleicht waren sie ihr ja insgeheim sogar dankbar, dass sie ihn nicht mehr am Hals hatten. Das war zwar ein etwas schmerzlicher Gedanke, aber er paarte sich auch mit einem gewissen Stolz: Ob ihr’s glaubt oder nicht, Leute, ich bin eines Mannes wie Leander wert. Ich bin seine Göttin, seine Angebetete, seine Sonne, sein Ein und Alles.

Er hatte sie nicht nur auserkoren und aus ihrem Dämmerzustand erlöst, sondern er brauchte sie. Dadurch war sie nicht mehr eine der x-Beliebigen auf dieser Erde, auf die man im Grunde auch verzichten konnte. Sie war jetzt jemand, der einen anderen glücklich machte, und diese Aufgabe war so großartig und zugleich so simpel, dass es sie jeden Tag aufs Neue in Staunen versetzte.

Sie verspürte das Bedürfnis, sich bis in die Zehen durchzustrecken. Es würde ein herrlicher Abend werden. Die Atmosphäre war schwül, das Gras duftete, im Teich bei den Rhododendren quakten sommertolle Frösche, und sie war von ihren besten Freunden umringt. Vor lauter Glück stieg ihr die Röte ins Gesicht.

Über den Tisch hinweg schaute sie zu Leander hinüber. Er hatte die Arme verschränkt und hörte zu, was Laurens über irgendeinen Kessel erzählte, den er im Gebüsch gefunden hatte. Ihr Geliebter strahlte Ruhe und Kraft aus. Kein Mensch käme auf die Idee, wie schwer es für ihn war, sich in einer Runde Fremder aufzuhalten, inmitten all dieser unbekannten Energien. Gaben wie die seinen waren ein Geschenk für die Menschheit, aber eine schwere Bürde für denjenigen, der sie besaß.

»Weißt du«, würde sie Gwen nachher erklären, »manchmal kommen Menschen auf die Welt, die vom Sirius oder von den Plejaden stammen, das mag sich verrückt anhören, aber es ist so, und sie haben etwas im geistigen Gepäck, wovon alle profitieren dürfen. Erfinder zum Beispiel. Oder Mütter Teresas. Oder Menschen wie Leander. Sie scheinen größer zu sein als wir anderen, aber sie sind unglaublich verletzbar.«

Gwen verstand solche Dinge. Gwen urteilte nicht.

Befremdet fragte Timo Laurens: »Ein Kessel? Du meinst, ein Kessel aus der Kerzenmacherei? Wo stand der denn?«

»Hinten in eurer Wildnis. Und er war bis zum Rand mit Wasser gefüllt.« Laurens griff zur Weinflasche und sah Timo fragend an.

»Nein, danke, ich muss gleich noch zu den Bienen. Herrgott, Engel, Schluss mit der Zankerei.« Timo packte seine Töchter am Schlafittchen und zog sie auseinander. Darauf begannen die beiden einträchtig zu brüllen.

Beatrijs schaute rasch zu Leander.

»Du bist ein alter Miesmacher, Papa!«

»Ja, ein richtiger von Meckerich, Pap, so was von kleinkariert!« Sie schüttelte den Kopf.

Mit sichtlichem Vergnügen stellte Timo fest: »Toller Wortschatz, was?«

»Seid mal still. Hör ich das Baby?« Gwen tippte ihn an. »Du bist dran.«

Timo erhob sich. »Ich versteh das nicht. Du hörst sie immer eher als ich.«

»Mütterliche Intuition.«

»Haben Väter denn keine Intuition?«, fragte Laurens unsicher.

Beatrijs dachte: Ich muss ihm die Szene von heute Mittag einfach verzeihen, ich sehe doch, wie unglücklich er ist!

Als könne er Gedanken lesen, was er natürlich auch wirklich tat, beugte sich Leander vor und sagte: »Jeder Mensch besitzt Intuition, Laurens. Auch du. Jeder kann nämlich...«

Bedachtsam, wie er war, suchte er kurz nach den richtigen Worten und verschränkte dabei die Finger über seiner Nase. Für einen so großen Mann hatte er auffallend feingliedrige, ausdrucksvolle Hände. Hände, wie von Holbein gemalt.

Laurens wandte sich schlankweg an Gwen: »Du verstehst also, dass ich mir dachte: Was macht ein Kessel voll Wasser hier, mitten im Gebüsch? Hast du eine Erklärung dafür?«

Beatrijs schnappte nach Luft. Er hätte genauso gut sagen können: Der Typ da ist Luft für mich. So ging man hier doch nicht miteinander um! Erhitzt dachte sie: Leander hat mehr Recht, hier zu sein, als du, er gehört zu mir, und du gehörst zu niemandem von uns mehr, das hättest du dir ruhig mal überlegen können, anstatt dich uns einfach weiterhin aufzudrängen. Die Heftigkeit ihrer Empfindung brachte sie ein wenig durcheinander. Sie hatte Laurens doch immer so gemocht?

»Ich habe keine Ahnung, wie der Kessel dort gelandet sein könnte«, erwiderte Gwen. »Vielleicht... ah, da kommt mein Schatz.« Sie streckte die Arme nach dem Baby aus, das Timo auf der Hüfte trug.

»Darf ich sie auch mal kurz haben?«, rief Yaja, die bis dahin lustlos herumgehangen hatte, plötzlich hellwach.

»Natürlich«, sagte Timo. Er setzte ihr das Baby auf den Schoß.

Um Leanders verletzten Gesichtsausdruck nicht ansehen zu müssen, nahm Beatrijs noch etwas Salat. Die gleiche Spannung, die ihr schon das Mittagessen verdorben hatte, befiel sie auch jetzt wieder. So würde es doch hoffentlich nicht bei jeder Mahlzeit zugehen? Die ganze kommende Woche lang? Da hätte sie besser in der Spiegelstraat zwischen ihren Stichen aus dem siebzehnten Jahrhundert bleiben können.

»Wie schade«, sagte Gwen leise, »dass Vero unser kleines Mädchen nie kennen gelernt hat. Und wie schade, dass es jetzt ohne Tante Veronica aufwachsen muss. Das ist alles so furchtbar traurig.«

Es trat eine kurze Stille ein, in der die Erwachsenen allesamt auf das Baby blickten, ein wenig mitleidig, als vereine sich in seinem zwei Monate alten kleinen Leib schon alles Unrecht der Welt. Yaja wiegte die Kleine und gurrte dabei leise vor sich hin.

»Ja«, pflichtete Timo ihr bei, »das ist jammerschade, Laurens. Ich wollte, ich könnte es besser ausdrücken, Junge, aber...«

»Jammerschade trifft es genau«, sagte Laurens schnell.

Beatrijs war ihm dankbar, dass er das nicht ausweitete. Für Leander mussten diese ständigen Emotionen, Reminiszenzen und Reflexionen, die ihn zum Außenseiter abstempelten, höchst unangenehm sein. Er empfand die Dinge so intensiv, er litt so rasch. Manchmal bekam er Migräneanfälle, die ihr eine Heidenangst machten. Auch in seinem Kopf konnte womöglich ein Blutgefäß platzen. Ihr Leben lang hatten sie einander gesucht, und gerade jetzt, da sie sich gefunden hatten...

»Sie lacht mich an«, sagte Yaja.

»Ja, sie ist wirklich ein Strahlemädchen«, sagte Timo zärtlich.

»Passt du auf ihr Köpfchen auf?«, bat Beatrijs. Seit kurzem traute sie Leanders Tochter beängstigende Kräfte zu. Sie war neulich mal mit ihr im Reitstall gewesen, wo das Mädchen ohne die geringste Mühe ein riesiges bockendes Pferd im Zaum gehalten hatte. Mit Hufen wie Kohlenschaufeln und Furcht erregenden Muskelpaketen am Hals. Aber Yaja hatte das Monster betütert, als wäre es ein Zwergkaninchen.

Beatrijs war von jeher in die Kinder ihrer Freunde vernarrt gewesen. Durch sie wurde ihre eigene Kinderlosigkeit ein wenig kompensiert. Sie hatte erwartet, dass es auch mit Yaja ganz von allein laufen würde. Vielleicht lag es am Alter, dass das fehlgeschlagen war. Oder vielleicht hatte es etwas mit dem stachligen Hundehalsband zu tun, das das Mädchen um den Hals trug, und den T-Shirts mit den Totenköpfen und Draculas drauf. Gothic nannte man das, wie sie seit kurzem wusste. Dazu gehörten ein weiß getünchtes Gesicht, mit Kohl-Kajal umrandete Augen, schwarz gefärbtes, in der Mitte gescheiteltes glattes Haar und eine kühle Arroganz gegenüber dem Rest der Welt.

Genau wie dem Pferd flüsterte Yaja nun dem Baby zu: »Kommst du mit? Kommst du mit mir mit?«

»Das geht nicht, sie gehört nämlich uns«, sagte die kleine Klaar. Ihre Zwillingsschwester hatte den Kopf auf den Tisch gelegt und summte mit vor Müdigkeit roten Wangen ein Lied.

Mit Schlafenszeiten nahm man es in diesem Haus nicht so genau. Das hatte Beatrijs früher nie gestört. Aber da hatte sie auch noch nicht gewusst, wie unentbehrlich Struktur für das innere Gleichgewicht war. Wieder schaute sie verstohlen zu Leander hinüber. Er widmete sich andächtig seiner Pasta.

»Die behalte ich«, entgegnete Yaja ungerührt. »Die nehm ich mit nach Hause, darauf kannst du Gift nehmen.«

»Mam! Mama! Die freche Kröte sagt...«

Gwen beschwichtigte: »Sie will dich doch nur ein bisschen ärgern.«

»Ich mein’s voll ernst, ey«, protestierte Yaja lautstark. »Ihr seid zu so vielen, aber ich hab niemanden. Ich bin zu Hause ganz allein mit meiner Mutter.«

»Muss das ein herrlich ruhiges Leben sein«, sagte Timo und brach in Gelächter aus.

Yaja maß ihn mit kühlem Blick.

»Na ja, ich mein ja nur: Viele Situationen haben auch ihre guten Seiten.«

»Sag mal, wir fangen doch jetzt wohl nicht alle an, positiv zu denken?«, fragte Laurens. Er klang aufrichtig entsetzt.

Um Yajas blutroten Mund spielte ein genüssliches Lächeln. Sie musterte Laurens, als sehe sie in ihm, obwohl er zu den Erwachsenen gehörte, einen Verbündeten. »Ja, das geht wirklich zu weit! Da darf ich in euren Augen womöglich auch froh darüber sein, dass ich neuerdings zwei Mütter habe. Danke, Pa, aber nicht wirklich.« Dann widmete sie sich wieder ganz dem Baby.

Beatrijs biss sich auf die Lippe. Das fehlte gerade noch. Es brachte Leander in eine so unangenehme Situation. Ihre Freunde erwarteten jetzt bestimmt, dass er seine Tochter zurechtwies.

Gwen sagte: »Tja, es ist eben leider nicht immer alles so, wie wir es gerne hätten.« Sie zwinkerte Beatrijs aufmunternd zu.

Dankbar sprang sie auf und begann, die Teller aufeinander zu stapeln. »Soll ich den Nachtisch holen, Gwen?«

»Lass mich das mal machen, Göttin.« Bedächtig erhob sich Leander, nahm ihr die Teller ab und ging damit in die Küche. Sahen die anderen es auch? Er ließ sich schlichtweg nicht manipulieren. Yaja konnte ihn nicht aus der Reserve locken.

Nach einiger Zeit bemerkte Laurens: »Ein toller Fang.«

»Was soll denn das jetzt wieder heißen?« Ihre Stimme überschlug sich.

»Ja, wirklich, Laurens«, sagte Gwen, »er ist um einiges hilfsbereiter als du.«

»Warum bist du die ganze Zeit so scheußlich zu ihm? Kannst du mir das mal erklären?«, forderte Beatrijs ihn auf.

»Laurens, Junge, nimm noch einen Schluck Wein.« Timo reichte ihm die Flasche.

»Oder besser Wasser.«

»Keine Sorge, Gwennie«, sagte Laurens. »Du brauchst dir um mich absolut keine Sorgen zu machen. Ich habe alles unter Kontrolle.« Auf seinem Schoß war der kleine Toby in Schlaf gefallen.

Böse wandte Beatrijs den Blick von ihm ab. Dass Yaja, wie sie nun sah, immer noch wie eine Pferdeflüsterin in die rosa Ohrmuschel des Babys tuschelte, trug auch nicht gerade zur Besserung ihrer Stimmung bei. Die beiden Engel hatten sich an der Tischkante hochgezogen, um etwas mitzubekommen. »Was sagst du? Was sagst du?«

Yaja schnaubte kurz. Sie hatte fein ziselierte Nasenflügel. Wenn sie sich ein wenig Mühe gäbe, könnte sie durchaus etwas aus sich machen. »Ich sage: Das kann dir auch passieren. Vom einen Tag auf den anderen bist du plötzlich irgendjemands Stiefkind.«

»Bist du denn ein Stiefkind?«

»Ja. Von ihr.« Yaja zuckte kurz mit dem Kopf in Beatrijs’ Richtung.

So leichthin wie möglich entgegnete Beatrijs: »Leasing- Kind fände ich zutreffender.« Einmal im Monat ein Wochenende und zweimal im Jahr eine Woche Ferien, so war es schon fast Yajas ganzes Leben lang vereinbart. Dumm, dass die eine Ferienwoche nun ausgerechnet mit dem jährlichen Treffen zusammenfallen musste. Aber die anderen würden doch wohl verstehen, dass sie Leander schwerlich mit dieser kleinen Kratzbürste hätte zu Hause lassen können. Er konnte es sowieso schon nicht leiden, wenn sie etwas ohne ihn unternahm, er ertrug es schlichtweg nicht, wenn sie sich aus seinem Blickfeld entfernte. Und sie hätte ihn schon gar nicht mit diesem Kind zurücklassen können, das er kaum kannte, diesem Kind, das dauernd darauf aus zu sein schien, ihn zu demütigen und zu strafen, nur weil er es gezeugt hatte.

Ihr Geliebter kam schon wieder auf die Terrasse zurück, eine Schüssel mit Pudding in der einen und eine mit Kirschen in der anderen Hand. Sie lächelte ihm zu, als er alles auf den Tisch stellte.

»Vielen Dank, äh ...«, sagte Gwen mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck, als versuche sie sich an etwas zu erinnern. Dann begann sie, Pudding und Kirschen auszuteilen.

»Mam, was ist ein Leasing-Kind?«

»Ach, Liebes«, antwortete Gwen, während sie etwas Pudding vom Daumen ableckte, »woher soll ich denn immer alles wissen?«

»Ich muss gleich noch mal zu den Bienen. Wie lange sitzen wir hier noch, Gwen?«

»Ich sagte doch gerade, Timo, woher soll ich immer alles wissen?«

»Warum ist Onkel Frank eigentlich nicht hier?«, fragte eine der Engel, Marleen, ihrem Kinn nach zu urteilen.

»Weil er nicht mehr mit mir verheiratet ist«, antwortete Beatrijs geduldig. Das hatten sie gestern bereits durchgenommen, aber gut, erziehen hieß wiederholen, oder andersherum. Sie dachte: Obwohl der Sex bis zuletzt fantastisch war. Himmelherrgott, wie kam sie denn jetzt darauf?

»Bobbie ist auch nicht da«, entdeckte Marise. Sie legte die Hände zu einer Flüstertüte zusammen. »Boo-biii!«, brüllte sie in Richtung Sommerhaus.

»Schieb ab mit deiner Schreierei«, rief Marleen und gab ihrer Schwester einen Schubs, sodass Marise vom Stuhl purzelte. Im Fallen schlug sie Leander den Löffel aus der Hand. Der Pudding spritzte ihm aufs Hemd. Einen Augenblick lang blieb er stocksteif sitzen. Von seinem verwitterten Gesicht mit den hohen Wangenknochen war keinerlei Regung abzulesen. Dann griff er wortlos zu seiner Serviette.

»Mädchen, Mädchen!«, warnte Timo. Es schien, als könne er nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken.

Von dem Tumult war Laurens’ Jüngster aufgeschreckt.

Schlaftrunken schaute er um sich, bis sein Blick bei Klaar und Karianne hängen blieb, die sich gegenseitig mit Kirschkernen bespuckten. Sofort hellwach griff er in die Schüssel mit den Kirschen. Aber Beatrijs kam ihm zuvor. Sie schnappte ihm die Kirschen aus der Hand, es waren Paare, und hängte sie sich blitzschnell über die Ohren. »Schau mal! Ohrringe!« Hauptsache, Leander hatte nicht gemerkt, dass auch sie gesehen hatte, was passiert war.

»Boo-oob!«, brüllte Marleen weiter. »Wo bleibt sie denn, die Dusseline!«

»Ihr könnt ja auch einfach mal zu ihr rübergehen«, regte Timo in aller Gemütsruhe an.

»Mam, warum ist Bobbie nicht da?«

Laut sagte Yaja: »Vermutlich, weil mein Vater heute Mittag so’n Bullshit zu ihr gesagt hat.« Aus ihren Kajalhöhlen heraus blickte sie einmal reihum.

Beatrijs kam sich eigentümlicher Weise plötzlich völlig porös vor, so als könnte sie jeden Augenblick in Einzelteile auseinander fallen. Nur wenn sie mit beiden Fäusten auf den Tisch hämmern würde, ganz laut und ganz lange, wäre sie vielleicht noch zu retten.

Gwen sagte: »Bobbie wollte vielleicht einfach mal in aller Ruhe essen, anstatt immer mit wilden Tieren am Tisch sitzen zu müssen. Los, geht mir aus den Augen, ihr. Es reicht für heute.«

Die Kinder dopsten von ihren Stühlen. Johlend, schnatternd und rangelnd rannten sie in den Garten hinein und waren im Nu nicht mehr zu sehen.

Erst jetzt wagte Beatrijs, Leander wieder anzusehen. Er fuhr mit seinen langen, feinfühligen Fingern über Gegenstände auf dem Tisch. Er betastete den Rand eines Tellers, den Saum einer Serviette, die Krümmung einer Gabel. Mochte der Himmel wissen, was er in all diesen Dingen las und welche fürchterlichen Informationen über ihre Freunde er daraus zusammentrug.

»War das jetzt klug, Gwen, sie vom Tisch wegzuschicken?«, fragte Laurens verdutzt. »Jetzt müssen wir sie noch einmal zusammentrommeln und sauber kriegen.«

»Ich wollte nur, dass wir es ein bisschen gemütlich haben!« Gwen erhob sich. Sie sah plötzlich verärgert aus. Sie nahm Yaja das Baby vom Schoß, murmelte etwas von stillen und ging ins Haus.

»Tut mir Leid, Leute, aber wenn ich mich jetzt nicht um meine Bienen kümmere...« Und weg war auch Timo.

Beatrijs rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Da saßen sie nun, mit Laurens. Sosehr sie sich auch das Hirn zermarterte, ihr fiel kein einziges Gesprächsthema ein.

Yaja schon. »Laurens«, raunte sie, und es klang fast, als wollte sie mit ihm flirten, sofern eine, die aussah, als besuche sie am liebsten frisch ausgehobene Gräber, das überhaupt konnte, »wir sind uns doch einig, dass mein Vater, dieser Loser, heute Mittag schwer danebenlag, oder?«

Laurens fing an, mit großer Sorgfalt seine Serviette zusammenzurollen.

Dafür, dass er nicht auf Yaja einging, war Beatrijs ihm so dankbar, dass ihr schlagartig wieder diverse Laurens-Vorzüge einfielen: seine Herzlichkeit, sein aufrichtiges Interesse, seine stete Hilfsbereitschaft, seine schönen Komplimente, die er so großzügig austeilte, seine Verliebtheit in Veronica, die nie abgeflaut war, seine Freude und sein Stolz bei ihren Erfolgserlebnissen, sein Mitgefühl, wenn sie Pech hatte.

»Weißt du...«, setzte sie an und streckte die Hand nach ihm aus.

Leander kam ihr zuvor. »Lass uns darüber reden, Laurens«, sagte er mit warmer, tiefer Stimme. »Meiner Meinung nach handelte es sich um ein Missverständnis.«

Yaja lachte kurz. »Wenn er rumätzt, musst du ihn einfach dissen.«

Was bist du doch für ein Luder, dachte Beatrijs, und das verschaffte ihr für einen Moment tiefe Erleichterung. Diese Göre dachte wohl, sie könnte ihren Vater blamieren, dabei machte sie sich nur selber lächerlich.

»Laurens?« Leander legte die Hände mit den Handflächen nach oben vor sich auf die Tischplatte. »Wollen wir...«

»Ich werd dann mal die Kids zusammentrommeln«, sagte Laurens und sah unbestimmt an ihm vorbei. »Sie müssten längst im Bett liegen.« Er erhob sich und lief in den Garten.

Mit einem Gefühl der Leere wurde Beatrijs bewusst, dass sie immer noch die Kirschen über den Ohren hängen hatte. Sie nahm sie ab. Es blieb nun, da sie mit Leander und Yaja übrig geblieben war, geraume Zeit still. Eine verirrte Biene kletterte lahm über die letzten Kirschen am Boden der Schüssel. Dann und wann versuchte sie aufzufliegen, und man hörte das machtlose Surren ihrer verklebten Flügel. So klein und unbedeutend zu sein, so gänzlich außerstande, das eigene Schicksal zu beeinflussen – Beatrijs hätte am liebsten den Kopf auf den Tisch gelegt und über die gesamte Schöpfung geweint.

Ihr gegenüber saß Yaja und studierte ihre Haarspitzen. Sie betrachtete mal eine Strähne hier, mal eine Strähne dort und zupfte dann affektiert daran herum. »Echt cool hier«, sagte sie nach einer Weile, »voll entspannt.«

»Ich wollte nur mit ihm reden.« Leander klang perplex.

»Aber er nicht mit dir. Warum flippst du immer gleich aus, wenn du nicht deinen Willen durchsetzen kannst? Dieser Laurens ist echt nicht scharf auf dein Geschwafel.«

»Du kannst Gwen bestimmt beim Abwasch helfen«, sagte Beatrijs spitz. Auf ihrer Oberlippe glänzten kleine Schweißperlen.

»Forget it.«

Leander richtete sich auf. »Was hast du denn sonst vor, Yaja?«

»Irgendwas mit dem Baby. Das lacht wenigstens, wenn es mich sieht.«

»Aber das ist jetzt im Bett. Du kannst ja irgendwas lesen. Oder geh fernsehen. Oder frag, ob du an den Computer darfst.«

»Du willst mich nur loswerden. Weil du lieber mit ihr allein bist.«

»Oder wir schaun, ob es irgendwo ein Federballspiel gibt.«

»Federball? Das ist ja wohl voll Panne, Mann. Seh ich etwa aus wie ’n Kleinkind oder ’ne alte Oma?« Yaja schob ihren Stuhl zurück und schlurfte beleidigt von dannen.

Beatrijs spürte jeden Muskel in ihrem Körper sieben Seufzer der Erleichterung ausstoßen. Die Erfahrung lehrte, dass man sich tunlichst nie in die Erziehung anderer Leute Kinder einmischte, sondern es lieber für sich behielt, wenn man dachte: Gib diesem Scheusal doch einen Tritt, anstatt dich so für sie ins Zeug zu legen.

Sie rückte etwas näher an Leander heran. Endlich zusammen. Wenn niemand anderer dabei war, war er immer gleich um einiges entspannter. Nicht er war es, der dieses Gefühl von Verkrampfung und Zerrissenheit bei ihr auslöste, sondern die anderen, Laurens, Yaja... ja, wer eigentlich nicht? Als sie für die Ferien noch kurz zusammen ein paar neue Sommersachen kaufen gegangen waren, war Leander gewaltig mit einer Verkäuferin aneinander geraten, die sie seit Jahren bediente. Er sah ja auch, was ihr stand, aber man konnte doch schwerlich zu so jemandem sagen: »Tut mir Leid, ich habe mich zwar immer auf Sie verlassen, aber jetzt habe ich meinen Mann, und mein Mann ist ein Seher, also vielen Dank.«

Sie nahm seine Hand und drückte sie. »Wollen wir noch einen kleinen Spaziergang machen?«

»Findest du etwa auch, dass ich heute Mittag ungerecht zu Bobbie war?«

Sie zögerte. Bobbie. Bobbiematz, hatten sie früher immer gesagt, oder Bobbiebär. Beatrijs kannte sie schon seit der Schule, seit Timo mit Gwen zusammengekommen war. Bobbie war immer bei allem dabei gewesen, bei Partys, Ausflügen, Geburtstagen. Stricken, häkeln und nähen zu lernen, das war damals ihr großes Ziel gewesen. Denn wenn man gut in Handarbeit war, durfte man in die sozialtherapeutische Werkstatt. Doch das Baumwollgarn war in ihren schwitzigen Händen steinhart geworden, und für feine Näharbeiten hatten sich ihre kurzen Finger als zu plump erwiesen. Sie hatte bitterlich geweint, als sie ihren Traum aufgeben musste. Zum Trost waren Veronica und Beatrijs mit ihr losgezogen, um ein Kleid für Gwens Hochzeit zu kaufen. Bobbie war hin und weg gewesen von einem blauseidenen Etwas, in dem sie aussah wie ein Lampenschirm, überglücklich. Beim Floristen hatten sie sich mit Rosenblättern eingedeckt, die Bobbie später, auf den Stufen des Rathauses, konzentriert über sich selbst anstatt über ihren Bruder und ihre Schwägerin ausgestreut hatte.

Aber auf ihre Weise war Bobbie ganz auf dem Posten, keine Frage. So klar, wie sie immer ausdrücken konnte, was sie bewegte. (»Weißt du, was ich gerne mal möchte, Beatrijs? Auch mal über irgendwas ganz viel wissen.«) Mit dem Gefühl, sie zu verleugnen, sagte Beatrijs: »Ich glaube nicht, dass sie so ganz erfasst hat, was du meintest.« Sie streckte die Hand aus, um Leander durchs Haar zu streichen.

Ihr Geliebter zog bockig den Kopf zurück, sodass sie nicht an ihn herankam. »Ich war ja wohl deutlich genug. Bobbie ist ein seltener Mensch mit einem besonderen Auftrag, das und nichts anderes habe ich heute Mittag zu ihr gesagt.«

Niels rannte durchs Gebüsch und zog Toby mit sich. Das unbeendete Spiel lockte, und mit ein wenig Glück würden die Erwachsenen noch Stunden am Tisch sitzen. Unter den Bäumen war es schon stockfinster. Es war, als würde das Spiel dadurch auch finsterer, spannender, fremdartiger und gruseliger.

So schnell er konnte, schleppte Niels totes Holz zusammen, das hier und da herumlag. Vor Anstrengung schnaufend, half Toby mit. Sie türmten die Zweige um den Metallkessel herum auf. Dann traten sie einen Schritt zurück, um das Resultat in Augenschein zu nehmen. Es war genau richtig.

Jetzt war alles nur noch eine Frage der Zeit. Und des Zufalls natürlich. Vielleicht würde es Marleen treffen, die ja immer die Anführerin war. Oder Marise oder eine von den kleinen Sommersprossengesichtern. Das Schicksal würde bestimmen, wer sich als Erster hier in die Nähe wagte. Dem Schicksal lag nichts daran, fair, gerecht oder auch nur logisch zu sein. Es schlug gleichgültig zu, ohne darauf zu achten, wen es erwischte. Gerade war noch kein Wölkchen am Himmel, und im nächsten Moment ereilte ein unbeschreiblicher Schicksalsschlag sein ahnungsloses Opfer. Nur darauf konnte man beim Schicksal vertrauen: dass es unerwartet kam.