Obwohl es im Louvre geheißen hatte, nur eine begrenzte Zahl von Edelmännern und Damen dürften Ihre Majestäten auf der großen Reise nach Westen begleiten, war dem nicht so. Alle Höflinge packte die unbändigste Begier, dabeizusein, und sie ließen nichts unversucht – Intrigen, Ränkespiel, flehentliche Bitten zu Füßen der Regentin, Nadelgelder an die Concini –, um zu den Auserwählten zu gehören: jedenfalls schwoll die Gästeliste allmählich ins Maßlose.
Und weil alle diese Glücklichen oder Unglücklichen – denn sie liefen einige Gefahr, sich zu ruinieren, weil jeder die Kosten selbst zu tragen hatte – um ihrer Ehre willen wenigstens von einem runden Dutzend Leute begleitet sein wollten, waren es etliche tausend Menschen, die der Regentin und dem kleinen König auf Frankreichs Wegen folgten. Die einen ranggemäß in wappengezierten Karossen, die anderen in Mietkutschen, die dritten zu Pferde und auf Maultieren und das Gesinde auf Karren.
Allerdings erging strenge Weisung, daß ein jeder, angefangen bei den Herzögen und Pairs, sein Gefolge zu beschränken habe. Auf Order der Regentin hatte der Großkämmerer mit seiner schönen tiefen Stimme und in den erlesensten Worten auch die Herzogin von Guise ersucht, ihren Begleitzug so klein wie möglich zu halten. Murrend gehorchte meine liebe Patin oder glaubte doch aufrichtig, zu gehorchen, jedenfalls fand sie, wie sie mir vor der Abreise aus Paris anvertraute, ihr Gefolge zum Weinen kläglich. »Wer denkt denn«, sagte sie, »wenn er mich fahren sieht, daß ich Prinzessin von Bourbon und Herzogin von Guise bin?«
Ich war durchaus nicht dieser Meinung, als ich ihren Zug in Orléans sah. Gewiß hatte meine liebe Patin in ihrer Karosse nur eine Ehrenjungfer bei sich und die Prinzessin Conti nur eine Gesellschafterin. Aber das war kein großes Verdienst. Bei den |264|umfänglichen Reifröcken der Fürstinnen hätte man schwerlich eine weitere Dame untergebracht.
Eine zweite Karosse führte sechs sorgfältig ausgesuchte Edelmänner des Hauses Guise mit, schön, prächtig geputzt und wehrhaft, aber nur zur Schau, denn bei einer Eskorte von sechstausend Schweizern hatte der königliche Zug selbst von Habenichtsen und Heckenbrüdern nichts zu befürchten.
In einer dritten Karosse unter der Ägide von Monsieur de Réchignevoisin saßen der Leibarzt der Herzogin, ihr Masseur, ihr Almosenier und ihre Astrologen, damit weder der überfüllte Magen meiner lieben Patin noch ihre empfindliche Haut, noch ihre unruhige Seele in den zwei langen Reisemonaten unversorgt blieben.
In der vierten, rein weiblich besetzten Karosse waren zwei Zofen, zwei Friseusen und eine Fußpflegerin, knusprige junge Dinger, einer Art weiblichem Majordomus unterstellt, damit sie durch Äugeleien keinen Zank zwischen den Männern des Zuges entfachten.
Die fünfte Karosse, die, wenn auch mit den Wappen gezeichnet, eher einer Kutsche glich, war einem Koch, zwei Gehilfen und drei Lehrjungen sowie den sperrigen Gerätschaften ihrer Kunst vorbehalten.
Zwei Karren folgten. Der erste enthielt Waffen, Ersatzräder und –achsen, der zweite Truhen, Wandbehänge und Teppiche, damit die beiden hohen Damen es in den jeweiligen Unterkünften schön und bequem hätten. Zwei Wagner und drei Hufschmiede auf Maultieren folgten dem ersten Karren, und diese sollten sich in der Tat als sehr nützlich erweisen, weil die Straßen trotz Sullys Bemühungen nicht gleichmäßig gepflastert und seit dem Tod unseres Henri dank der Seigneurs, durch deren Besitz sie führten, verwahrlost waren.
Den Schluß bildeten ein gutes Dutzend Soldaten auf großen Pferden und in schönen Waffenröcken mit den Feldzeichen der Guise, kräftige Lothringer, weit überheblicher als ihre Herrin, doch in Anbetracht der Schweizer auch nur Zier und Ehre des Gefolges, das, wie der Leser zugeben muß, nun tatsächlich mehr als bescheiden, ja fast schon entehrend war für eine Prinzessin von Geblüt.
»Mein Sohn«, sagte der Marquis de Siorac, »macht Euch keine Illusionen: das Schlimmste auf solchen Reisen ist diese |265|Überzahl an Beteiligten. Unter Heinrich III. habe ich den Herzog von Épernon auf einer großen Reise von Paris in die Guyenne begleitet, wo er mit unserem Henri zusammentreffen sollte, damals noch König von Navarra. Aus politischen Gründen sollte der Pomp dieser Gesandtschaft groß sein. Und der Zug war dreitausend Personen stark. Ihr könnt Euch das endlose Band der Karossen, Karren und Berittenen nicht vorstellen, das sich mit unerträglicher Langsamkeit über die staubigen Landstraßen des Reiches wälzte, in glühender Sonne, im ohrenbetäubenden Lärm der Hufe, der Räder, von den dichten Staubwolken, die sie aufwirbelten, gar nicht zu reden. Und da mußte plötzlich gehalten werden, da scheuten die Pferde, Räder und Achsen brachen, Karossen stürzten, ein Geschrei und Gestreite, und zu guter Letzt gab es auf den Stationen nie ausreichend Essen und Lagerstatt für so viele Menschen. Kurzum, ein Alptraum! Schlimmeres hat Dante auch in seinem Inferno nicht geschildert!«
»Hört auf, Herr Vater«, rief ich lachend, »oder wollt Ihr mich abschrecken mit Eurer Beschreibung?«
»Mitnichten«, sagte mein Vater lächelnd, »vielmehr möchte ich uns dreien dieses gräßliche Drunter und Drüber ersparen. Ihr müßtet nur einwilligen, mein Sohn. Ich gedenke nämlich, die Regentin vermittels Eurer lieben Patin zu ersuchen, daß wir als Avantgarde vorausfahren dürfen und an jeder neuen Etappe für Quartiere sorgen. So ein Amt macht viel Arbeit, und ich denke, es wird mühelos zu haben sein.«
»Warum, Herr Vater, wollt Ihr Euch eine solche Mühsal aufladen?«
»Weil man anderthalb Stunden vor Ihren Majestäten losfahren kann und damit allem entgeht, dem schleppenden Vorwärtskommen, dem Krawall, dem Durcheinander und den entsetzlichen Staubschwaden.«
»Aber das heißt im Morgengrauen aufstehen!« sagte La Surie erschrocken.
»Allerdings. Dafür, Chevalier, reisen wir schneller, ohne besagte Ärgernisse und können sicher sein, daß wenigstens wir drei vor Teuerung und Verknappung noch zu Tisch und Bett kommen.«
»Ein guter Gedanke, Herr Vater«, sagte ich nach kurzem Nachdenken. »Und warum braucht Ihr dazu meine Einwilligung?«
|266|»Die Zustimmung der Regentin vorausgesetzt, wäre es für einen Ersten Kammerherrn unerläßlich, auch die des Königs einzuholen.«
Das tat ich am folgenden Tag, und Ludwig war sogleich einverstanden, daß ich mit meinem Vater und La Surie die Vorhut bildete, sofern es seiner Mutter genehm wäre. Er hatte kaum ausgesprochen, als ihm der Küraß gebracht wurde, der extra für diese große Reise nach Westen für ihn angefertigt worden war für den Fall, daß Condé angreifen sollte: ein recht unwahrscheinlicher Fall, denn beim ersten Gerücht, daß sechstausend Schweizer an der Loire aufmarschieren würden, hatte Condé sich aus der Umgebung von Poitiers weiter nach Süden verzogen. Ich muß gestehen, daß es mir noch heute, nach vierzig Jahren, da ich diese Zeilen niederschreibe, ein unergründliches Geheimnis bleibt, wie ein so schlappschwänziger Mann einen so tapferen Sohn zeugen konnte.1
Wie dem auch sei, mein kleiner König war trunken vor Freude, seinen Küraß anzulegen, so als machte ihn die stählerne Hülle auf einmal zum Mann und als schlüpfte er damit in die Haut seines Vaters. Hin und her schritt er durch seine Gemächer, unbekümmert um den Schweiß, der ihm in dieser Gewandung und bei der Julihitze von den Wangen troff, er beugte Arme und Beine, um die Geschmeidigkeit der Metallgelenke zu erproben, er ließ sich Degengehänge und Hakenbüchsen bringen, um zu sehen, ob er sie in diesem Aufzug handhaben konnte. Er trat auf die Galerie hinaus und lief eine Strecke, um sich zu überzeugen, daß seine Bewegungen durch das Gewicht nicht zu sehr verlangsamt wurden. Sogar sein Pferd mußte gesattelt und herbeigeführt werden, damit er sähe, ob er, so beschwert, nicht zuviel von seinen reiterischen Fähigkeiten einbüßte.
Heroisch schwitzend, wollte Ludwig seinen Küraß unbedingt mehrere Stunden anbehalten. Und als er ihn endlich auf Souvrés dringliche Ermahnung hin ablegte, wollte er ihn neben seinem Bett unter seinen Augen haben, bis man ihn in seiner nächsten Nähe in der Karosse verstaute. Meines Erachtens hatte er sich noch nie sehnlicher gewünscht, einige Jahre älter und endlich Herr seines Reiches zu sein, um Condé beim Kragen |267|zu packen und ihn, gedemütigt und reuig, nach Paris zu schleifen, so wie sein Vater es mit dem Herzog von Bouillon gemacht hatte, der auf den Wällen von Sedan das Großmaul spielte, bis unser Henri mit seinen Soldaten vor seinen Mauern erschien.
Ludwig sollte am zweiten Juli abreisen, die unvermeidlichen Verzögerungen aber, die bei solchen Großunternehmen aufzutreten pflegen, bewirkten, daß er erst am fünften Juli um halb acht Uhr morgens die Karosse bestieg.
Mein Vater, La Surie und ich waren bereits um sechs Uhr aufgebrochen, mühelos holten wir die Schweizer ein, die Paris um halb fünf Uhr zu Fuß verlassen hatten, und erreichten um halb neun Uhr rechtzeitig Longjumeau, um für Ihre Majestäten und die Großen des Louvre die Tafel vorzubereiten; das erste Nachtlager sollte später in Ollainville statthaben.
Für Ludwig brachte diese Reise einen großen Vorteil. Außer daß er Berge und Täler, Dörfer und Städte seines großen Reiches kennenlernte, war sein Tagesablauf dergestalt, daß zu seiner großen Erleichterung kein Unterricht stattfand. Aber da die Rastorte Jagd und Vogelstellerei ausschlossen, langweilte er sich mitunter auch sehr.
Einer weisen Entscheidung zufolge fuhr der königliche Zug allmorgendlich nur drei Stunden und setzte sich erst am späten Nachmittag, nach der größten Hitze, wieder in Bewegung. Und auch dann wurde nicht länger als drei Stunden gefahren. So bewahrte man die Pferdehufe vor Erkrankung – und schonte auch Eingeweide, Kreuz und Rückgrat der Karosseninsassen, die von den holprigen Straßen gewaltig durchgeschüttelt wurden. Auf diese Weise wurden täglich zehn Meilen zurückgelegt1, ein gemächliches Tempo, das man aber gar nicht hätte erhöhen können, um sich von den zu Fuß marschierenden Schweizern nicht gefährlich weit zu entfernen.
Nichtsdestoweniger wurde Ludwig die Zeit unerträglich lang zwischen halb elf Uhr morgens, wenn er diniert hatte, und vier Uhr nachmittags, wenn man weiterfuhr. Wie ich hörte, ging er in Langerie, einer Etappe zwischen Toury und Orléans, nachdem er in einem Bauernhaus gespeist hatte, in den Garten und schoß mit der Büchse auf kleine Vögel. Einen erlegte er, die anderen flogen davon.
|268|Als Monsieur de Souvré ihn so unbeschäftigt und darüber recht unglücklich sah, führte er ihn in eine Scheune, wo er ihn zum Kartenspiel mit seinen Edelleuten aufforderte. Aber das Spiel, das Ludwig müßig und nichtsnutzig dünkte, war ihm bald schon über. Er warf die Karten hin und ging in den Kuhstall, wo ein Knecht beim Melken war. Das hatte er noch nie gesehen, und nachdem er eine Zeitlang aufmerksam zugeschaut hatte, wollte er die notwendigen Handgriffe erlernen. Nach einigen Versuchen gelang es ihm, die Milch zum Fließen zu bringen, und nun molk er eine Kuh nach der anderen und war so eifrig bei der Sache, daß man ihn von den Eutern wegholen mußte, damit er die königliche Karosse bestieg.
Ein Stück vor Orléans ließ man halten. Ludwig wurden Kniehosen und Wams ausgezogen, die laut Berlinghen ein bißchen sehr nach Kuhstall rochen. Man kleidete ihn in ein glänzendweißes Seidengewand, bestickt mit Perlen. Dann wurde ihm ein Schimmel mit prächtiger Schabracke gebracht, und glücklich schwang er sich in den Sattel. Und mit den Offizieren seines Hauses – bei denen ich leider nicht sein konnte, weil ich für die Unterkünfte in Orléans sorgen mußte – holte er die Schweizer Söldner ein, die ihm höflich applaudierten, als er an ihren Reihen vorübergaloppierte; aber ihr Beifall war nichts im Vergleich mit den nicht enden wollenden Freudenrufen und Ovationen des Volkes von Orléans.
Vier Tage und drei Nächte in Gasthöfen (oder, soweit es den König angeht, auf Schlössern) hatte man für die zweiunddreißig Meilen von Paris nach Orléans gebraucht. Und nur sehr wenige Untertanen der guten Stadt hatten jemals an eine so lange, so teure und so gefahrvolle Reise in umgekehrter Richtung gedacht, geschweige denn, eine solche unternommen. Daher strömten sie über vor Dankbarkeit, daß Ludwig zu ihnen gekommen war, und sie glaubten ihren Augen nicht zu trauen, als sie in ihren Mauern, fast zum Anfassen nah, nun den König von Frankreich erblickten, der für sie bis dahin nicht weniger sagenhaft gewesen war als ein Heiliger in den Kathedralenfenstern von Sainte-Croix.
Die Städte an der Loire, Orléans, Blois, Tours, Saumur, Angers und Nantes, waren vierzehn Tage zuvor von der Ankunft Ihrer Majestäten unterrichtet worden. Sie hatten ihre Straßen geputzt, wenigstens die, wo der König entlangkommen |269|würde, und sie mit Laub und Blumen geschmückt wie auch Podeste errichtet, auf denen der König thronen sollte, während die Notabeln der Stadt ihm ihre hochgeschwollenen Ansprachen hielten.
Gewissenhaft bestrebt, seine Sache gut zu machen, hörte Ludwig diese ellenlangen Reden ernst und geduldig an, entsann sich im stillen der Antworten, die er geben mußte und die Monsieur de Souvré ihm schriftlich vorbereitet hatte, doch ließ er es sich auch nicht nehmen, sie nach seinem Gefallen abzuändern. So weigerte er sich in Nantes, als er die Präsidenten des Rechnungshofes empfing, ihnen zu sagen, er sei ›sehr zufrieden mit ihren Diensten‹.
»Ich bezweifle«, sagte er später vertraulich zu Héroard, »daß sie mir alle gut gedient haben.«
Ein bißchen komisch fand ich es, daß der triumphale Einzug des Königs in manche seiner guten Städte nicht immer mit seiner tatsächlichen Ankunft übereinstimmte. Wir weilten bereits drei Tage im Schloß zu Nantes, als Ludwig aus den Fenstern sah, wie Handwerker vor dem Schloß ein Podest errichteten, das einen großen goldenen Thronsessel trug. »Was soll das?« fragte er. – »Sire«, sagte Souvré, »das ist zur Feier Eures Einzugs in Nantes.« – »Aber«, sagte Ludwig lächelnd, »bin ich nicht schon hier?« – »Gewiß, Sire, aber es geht um Euren offiziellen Einzug.« Und tatsächlich, am selben Tag um fünf Uhr nachmittags, als die größte Hitze vorüber war, kam der König, nachdem er Nantes kurz verlassen hatte, auf seinem weißen Roß und unter seinem lilienbesäten Baldachin zum Tor Saint-Nicolas hereingezogen, und Straße um Straße jubelte das Volk ihm zu, und zwar ebenso unermüdlich, als wäre es keine Wiederholung gewesen.
* * *
Aber Nantes war ja das Ziel und die letzte Etappe dieser großen Reise. Und so möge meine schöne Leserin noch einmal die Loire stromauf mit mir gehen – fürs erste wenigstens bis Tours –, weil ich doch zwei Ereignisse nicht unerwähnt lassen will.
Von Blois nach Tours hatte die Regentin einen großen Umweg über Montrichard gemacht, um nicht durch Amboise zu |270|müssen, das der Vertrag von Sainte-Menehould Condé überlassen hatte, wenigstens bis zur Einberufung der Generalstände. Sowie nun jene, die im Namen des Prinzen zu Amboise regierten, erfuhren, daß der König mit fünftausend Edelleuten und sechstausend Schweizern in Tours war, eilten sie herbei, ihm die Schlüssel ihrer Stadt zu überreichen. Aber die Regentin, kleinmütig wie stets, lehnte diese ab, weil sie den Vertrag nicht brechen wollte, als ob ein Vertrag mit einem Abtrünnigen das königliche Wort binden könnte.
Mehr Erfolg hatte bei ihr der Bischof von Poitiers, der gleichfalls nach Tours kam und die Königin bat, in seiner Stadt wieder Ordnung herzustellen, die bekanntlich durch Condés Parteigänger bedroht war. Und Monsieur de Villeroy drang in sie, bis sie sich endlich entschloß. Die Einwohner von Poitiers begrüßten den König freudig bei seinem Einzug. Und das Poitou kehrte, ohne Schwertstreich befriedet, in die königliche Hand zurück. Es war eine der ersten Wohltaten dieser Reise.
Auf dem Weg von Tours nach Poitiers logierte Ludwig in Châtellerault, wo er gleich nach seiner Ankunft gegen sechs Uhr abends die Brücke über die Vienne besichtigte, die sein Vater hatte erbauen lassen. Er bewunderte sie lange, still in sich gekehrt, einen Anflug von Traurigkeit im Gesicht. Ich weiß nicht, ob es die Gedanken an seinen Vater waren, die ihm ›seine Kinder‹ in den Sinn riefen, jedenfalls beschloß er trotz der späten Stunde, einige ›Kleinigkeiten‹ für sie einzukaufen. Und weil er gehört hatte, daß Châtellerault für seine Messerschmieden berühmt war, ließ er sich eine noch einmal öffnen und erwarb ein Messer für Monsieur, der Messer sammelte. Und als er den Messerschmied fragte, was es in der Stadt Hübsches für Mädchen gebe, führte ihn der Mann zu einem Gevatter, der kleine einheimische Diamanten schliff. Ludwig kaufte drei gleich große für seine drei Schwestern. Der Preis war so hoch, daß er seine Börse leeren mußte, was er für gewöhnlich vermied, denn er ging mit seinem Geld sparsam um, weil die Königin, so großzügig sie den Concinis gab, ihn damit nur kärglich bedachte.
Da meine schöne Leserin mich nun einmal so bereitwillig von Nantes nach Tours zurückbegleitet hat, bitte ich sie, abermals mit mir von Tours nach Blois stromauf zu gehen, wobei sie in |271|dieser Rückkehr weder Laune noch Verschrobenheit erblicken möge, sondern einen Schritt, den die Ökonomie meiner Erzählung erfordert, weil die Szene, die ich ihr jetzt darbieten will, höchst folgenreich sein wird für den Fortgang meiner Geschichte.
Wie man sich erinnern wird, hatte Ludwig uns befohlen, ihn im Schloß zu Blois zu erwarten, weil er dortselbst Fragen an meinen Vater stellen wollte. Am fünfzehnten Juli um sechs Uhr abends traf er also dort ein, und nachdem er morgens das Schloß Chambord besichtigt und überaus bewundert hatte, war er vom Schloß zu Blois zuerst ein bißchen enttäuscht und fand nur den durchbrochenen Treppenturm Franz’ I. zu rühmen. Gleichwohl staunte er sehr über den Saal der Generalstände ob seiner Größe. Bellegarde, der mit uns war, erklärte ihm, daß dieser Saal zuzeiten der Grafen von Blois nur eine prachtvolle Decke in Form eines umgekehrten Schiffes hatte, und daß Heinrich III., um den Saal zu vergrößern, ein zweites ganz gleiches Schiff parallel zum ersten hatte anbauen und beide verbinden lassen durch eine stützende Säulenreihe, die in Arkaden mitten durch den Raum lief. Wenn dies auch nicht allzu einfallsreich war, bemerkte Bellegarde, so offenbarte die Wirkung doch einen sicheren, ja glücklichen Instinkt für die Schönheit der Dinge: die beiden umgekehrten Schiffe lagen wie kieloben Bord an Bord.
Bei diesem ersten Treffen empfing Ludwig meinen Vater sehr liebenswürdig, aber wahrscheinlich weil Bellegarde und ein gutes halbes Dutzend Edelleute dabei waren, stellte er ihm keine Fragen. Doch als er in sein Zimmer kam, dasselbe, das Heinrich III. im Jahr 1588 innehatte und wo auch der Herzog von Guise ermordet worden war, nützte er einen Moment, da wir allein waren, mir zu sagen, wir sollten ihn am nächsten Morgen um Schlag neun Uhr auf der großen Allee erwarten, die von Schloß Blois nach La Noue führt.
La Noue ist ein Edelsitz unweit von Schloß Blois, den man über eine große, befahrbare und von Linden gesäumte Allee erreicht, die in dieser Jahreszeit betörende Düfte verströmten. Während 1588 die Generalstände tagten, die ihm so feindlich gesinnt waren, zog Heinrich III. sich gern zwei, drei Tage in der Woche dorthin zurück, um einen Anschein von Ruhe zu finden. Auf Anordnung der Herzogin von Guise (und mit |272|Zustimmung der Regentin) hatte ich dort meine liebe Patin einquartiert, weil sie sich weigerte, ›auch nur die Fußspitze in jenes teuflische Schloß Blois zu setzen, wo ihr Gemahl ermordet worden war‹.
Ich neige zu der Ansicht, daß eher der Ehrenkodex einer Guise diese Weigerung inspiriert hatte, nicht liebendes Gedenken. Denn in der Ehe der Guises gab es Betrug auf beiden Seiten, zahlreich und öffentlich, und sie verbrachten gemeinsam so wenig Zeit, daß es wunder nimmt, wie meine liebe Patin von ihrem Mann so viele Kinder bekommen konnte.
Ludwig schätzte an Madame de Guise besonders jenes freimütige, offenherzige Wesen, das ihm eine Erholung von den höfischen Heucheleien war. Und was war zudem natürlicher, als daß er in La Noue um neun Uhr morgens die Cousine seines verstorbenen königlichen Vaters besuchte. Trotzdem ging er allein hin, zu Fuß, und befahl bei seinem Aufbruch vom Schloß, seinen Besuch in La Noue zu verschweigen.
Sowie er uns auf dem Weg erblickte, schritt Ludwig schneller aus, kürzte unsere Kniefälle ab, dankte uns kurz, daß wir gekommen waren, und befahl Monsieur de La Surie, auf der Allee zu bleiben und uns zu warnen, wenn jemand vorbeikäme. Hierauf zog er uns in ein dichtes Gebüsch abseits des Weges und fragte unvermittelt meinen Vater: »Monsieur de Siorac, Bellegarde sagte mir, daß Ihr 1588 zu Blois ein engerer Vertrauter Heinrichs III. wart. Könnt Ihr mir sagen, wie der König dazu kam, den Herzog von Guise umbringen zu lassen?«
Diese Frage, die mich sprachlos machte, schien meinen Vater jedoch kaum zu überraschen. Vielmehr mußte er sie erwartet haben.
»Sire«, sagte er, »Heinrich III. hatte keine Wahl: sein Thron, seine Freiheit waren bedroht, wahrscheinlich auch sein Leben.«
»Seine Freiheit?« fragte Ludwig stirnrunzelnd.
»Die Guises planten, sich seiner Person zu bemächtigen und ihn in ein Kloster zu sperren … Und ich denke, sie hätten ihn dort nicht alt werden lassen.«
»Und wann beschloß der König, Monsieur de Guise umzubringen?«
»Meines Erachtens trug er sich mit dem Gedanken, seit Guise Paris eingenommen und ihn daraus vertrieben hatte.«
|273|»Konnte er nicht seine Truppen gegen ihn werfen, um die Hauptstadt zurückzugewinnen?« fragte Ludwig mit einem kleinen Funkeln in den Augen.
»Nein, Sire. Heinrich hatte nur viertausend Mann, und sein Schatz war erschöpft. Außerdem war Heinrich kein Soldatenkönig wie Euer verstorbener Vater.«
»Und was machte er?«
»Er zog sich mit seinen viertausend Mann zurück nach Chartres und tat, als höre er auf seine Mutter und die Minister, die er von ihr übernommen hatte und die mehr ihr dienten als ihm. Sie nämlich wollten mit Guise verhandeln.«
»Seine Mutter wollte verhandeln?« fragte Ludwig, und ein jähes Leuchten trat in seine schwarzen Augen. »Verriet sie ihn?«
»Sie war sich dessen nicht bewußt. Tatsächlich aber betrieb sie ihre eigene Politik. Sie hatte gute Beziehungen zu Guise und wollte sie sich nicht verderben, egal, was dies den Staat kostete. So durchkreuzten ihre Initiativen oft die Pläne ihres Sohnes und brachten alles durcheinander.«
»Aber wie, Monsieur de Siorac, verfuhr er mit einem Abtrünnigen, der ihm seine Hauptstadt genommen hatte?«
»Er stimmte allem zu, sogar der Einberufung der Generalstände.«
»Das war Schwäche!«
»Von Heinrichs Seite war es eine vorgetäuschte Schwäche, die darauf abzielte, Guises Wachsamkeit einzuschläfern, denn in Blois war die Position Heinrichs III. in Wirklichkeit stärker als die des Herzogs. Er hatte die französischen Garden von Larchant, die Korsen von Ornano, die Schweizer und die berühmten Fünfundvierzig, verarmte Edelleute in seinem Sold. Dazu saß er im Schloß. Gewiß hatte Guise die Generalstände und die Mehrheit der Franzosen auf seiner Seite, aber zu Blois gebot er nur über die Edelmänner seines Gefolges.«
»Was erwartete sich Guise von den Generalständen?«
»Daß der König, der keinen Erben hatte, die Rechte Eures Vaters auf seine Nachfolge für hinfällig erklärte, weil er damals Hugenotte war. Damit wäre Guises Weg auf den Thron frei gewesen. Aber Heinrich weigerte sich, und zur Revanche sperrten ihm die Generalstände die Mittel. Der König erschien schwach und zaudernd, aber er war es durchaus nicht.«
»Kaum in Blois eingetroffen, entließ er die Minister, die er von seiner Mutter übernommen hatte, und ersetzte sie durch ihm ergebene Männer. Mir an Guises Stelle hätte allein das zu denken gegeben.«
»Und Guise faßte keinen Argwohn?«
»Nein, Sire. Er verachtete den König.«
»Warum?«
»Er hielt ihn für schwach, läppisch, bar jeder Durchsetzungskraft. Und ebendiese Meinung bemühte sich Heinrich ihm von sich zu geben.«
»Ihr wollt damit sagen, Monsieur de Siorac«, fragte Ludwig, »daß Heinrich ihn täuschte?«
»Mehr als das, Sire. Er spielte Komödie und spielte sie gut.«
»Und diese Komödie wiegte Guise in Sicherheit?«
»Ja, Sire. Er dachte, Heinrich werde nie den Mut aufbringen, sein Leben anzutasten.«
»Wie bereitete der König diesen Anschlag vor?«
»Er rief diejenigen seiner Räte, denen er voll vertraute, in einem Pavillon des Schloßparks zusammen und lieferte ihnen die Beweise, daß Guise sich mit Philipp II. von Spanien verbündet hatte. Er schloß mit den Worten, die mir unauslöschlich im Gedächtnis stehen: ›Da der Herzog im Begriff ist, sich des Reiches zu bemächtigen, nachdem er dessen Säulen niedergeschlagen hat, ersuche ich Euch, meine Herren, die Ihr selbst jene Säulen seid, mir zu raten, welchen Entschluß ich fassen soll.‹ Hierauf sprach Montholon, der Siegelbewahrer, man solle den Herzog von Guise festnehmen und ihn der Justiz überstellen. Mit äußerster Heftigkeit entgegnete aber Revol: ›Dieser Eber ist für unsere Netze zu stark! Wo fändet Ihr den Ort, ihn festzusetzen, die Zeugen, ihn anzuklagen, und die Richter, ihn zu verurteilen? Ich meine, da es sich um einen erwiesenen Verräter handelt, muß die Strafe dem Urteil vorausgehen.‹«
»Monsieur de Siorac«, sagte Ludwig blitzenden Auges, »wollt Ihr diesen Satz bitte wiederholen.«
»Gerne, Sire. ›Da es sich um einen erwiesenen Verräter handelt, muß die Strafe dem Urteil vorausgehen.‹ Woraufhin Heinrich fragte: ›Welche Strafe, Revol?‹ und Revol, ohne mit der Wimper zu zucken, sprach: ›Der Tod, Sire!‹ Alle |275|Anwesenden, außer Montholon, schlossen sich dieser Ansicht an.«
»Wer war das?«
»Bellegarde, Marschall d’Aumont, François d’O, d’Ornano, Rambouillet und ich. Weil ich aber nur als Belastungszeuge zugegen war, forderte der König mich nicht auf, meine Stimme abzugeben.«
Ich war sprachlos. Nie hatte mein Vater mir gesagt, daß er diesem engen Rat als Zeuge beigewohnt hatte. Ebensowenig hatte er mir die Passage seiner Memoiren zu lesen gegeben, wo er dies enthüllt.
»Fahrt fort, Monsieur de Siorac«, sagte Ludwig.
»Der König billigte das Votum mit den Worten: ›Da der Verräter seinen Mutwillen immer weiter treibt, bin ich zu dem Beschluß gelangt, daß sein längeres Leben mein Tod wäre, der Tod aller meiner Freunde sowie der Ruin des Reiches. Meine Herren, der Rat ist beendet.‹ Ihr werdet bemerken, Sire, daß der König, nachdem Guises Tod beschlossen war, mit seinen Räten nicht über Ort, Zeitpunkt und Mittel sprechen wollte.«
»Warum?«
»Weil Montholon für einen Prozeß gestimmt hatte, mißtraute ihm Heinrich nun. Einige Tage später jedoch berief er einen noch kleineren Rat ein, das war am Mittwoch, dem einundzwanzigsten Dezember, im alten Kabinett, das an das Gemach grenzt, Sire, das Ihr heute im Schloß bewohnt.«
»Ich weiß«, sagte Ludwig.
»Dieser Rat bestand aus Bellegarde, Revol, dem Gardehauptmann Larchant und mir. Heinrich zeigte sich in seinem Vorhaben mehr denn je entschlossen, weil Guise am selben Morgen die Stirn gehabt hatte, von ihm das Konnetabelnamt zu fordern.«
»Ich weiß«, sagte Ludwig. »Fahrt fort, Monsieur de Siorac.«
»Das Schwierigste war, Guise von seinem zahlreichen Gefolge zu trennen, das ihn überall begleitete, denn ein Treffen zwischen seinen und unseren Edelleuten konnte viele Tode bringen, nur gerade nicht den, der dem Staat nützlich war. Deshalb wurde beschlossen, daß das Attentat an einem Sitzungstag stattfinden sollte, weil die Herren an einem solchen Tag so zahlreich begleitet erschienen, daß die Gefolgsleute im Hof bleiben mußten.«
|276|»Aber«, sagte Ludwig, »das hätte Guises Gefolge nicht daran gehindert, beim ersten Ruf herbeizueilen.«
»Das wurde bedacht, Sire. Deshalb setzte Heinrich die Tagung um sieben Uhr morgens an, weil er damit rechnete, daß kaum einer von Guises Leuten an einem vierundzwanzigsten Dezember bei Tagesanbruch aus dem Bett steigen mochte.«
»Es brauchte doch aber einen Vorwand für die frühe Stunde«, sagte Ludwig.
»In der Tat, Sire. Heinrich verkündete, er wolle an jenem Morgen beizeiten sein Haus La Noue aufsuchen, und wünsche die Sitzung vorher abzuhalten.«
»Gut«, sagte Ludwig, »es gibt aber drei Treppen, über die Guise hätte fliehen können: die Wendeltreppe vor der Tür meines Gemachs, die in das daruntergelegene Zimmer führt, das heute meine königliche Mutter bewohnt.«
»Dieses Zimmer, Sire, hatte damals die Mutter Heinrichs III. inne, die sehr krank war, und um ihre Ruhe zu schützen, wurde die Treppe mit Garden besetzt, die Befehl hatten, niemanden durchzulassen.«
»Und die Wendeltreppe, die vom alten Kabinett hinunterführt?« fragte Ludwig gespannt.
»Diese Treppe, Sire, und das alte Kabinett waren besetzt von den Fünfundvierzig.«
»Bleibt aber die durchbrochene Turmtreppe außen«, sagte Ludwig.
»Sie wurde von Larchants französischen Garden besetzt unter dem Vorwand, daß sie ihren Sold einfordern wollten, den sie seit drei Monaten nicht erhalten hatten.«
»Mußte man«, sagte Ludwig, »nachdem Guise eingetroffen war, nicht auch alle Tore und Türen des Schlosses sperren?«
»Auch das wurde bedacht und getan«, sagte mein Vater.
Ludwig verharrte eine Zeitlang schweigend und mit gesenkten Augen, so daß mein Vater schließlich fragte: »Sire, soll ich weiter berichten?«
»Danke, Monsieur de Siorac, die Folge kenne ich. Was ich trotzdem schwer verstehe, ist, daß Guise nicht mißtrauisch wurde.«
»Gewiß, Sire, zumal Heinrich ihn am Vortag hart hatte abfahren lassen, als er ihn nach der Messe um das Konnetabelamt angegangen war. Aber die Königinmutter (bei diesem Wort |277|verzerrte sich unwillkürlich Ludwigs Mund), die von dem Streit gehört hatte, rief beide an ihr Krankenbett, um sie auszusöhnen. Sie kamen. Und Heinrich spielte wunderbar seine Rolle: er war lammfromm, wickelte Guise mit Freundlichkeiten ein und versprach halbwegs, ihm binnen kurzem ein hohes Amt im Staate zu geben. Das war der Köder, und am folgenden Tag biß Guise an.«
»Monsieur de Siorac, ich danke Euch tausendmal«, sagte Ludwig rasch. »Erinnert Euch bitte, daß Ihr mich heute morgen nicht gesehen habt. Siorac«, wandte er sich an mich, »wollt Ihr bitte La Surie fragen, ob der Weg frei ist?«
Was ich sogleich tat, und da ich sonst niemanden sah, kehrte ich um, vom König Urlaub zu nehmen. Leichten Schrittes entfernte er sich auf dem Weg nach La Noue zu Madame de Guise, dem vorgeblichen Ziel seines Spaziergangs.
Wir waren ebenfalls in La Noue, unweit von Madame de Guise, bei einer liebenswürdigen Witwe einquartiert, die uns auf unser stattliches Äußere und meines Vaters Band eines Ritters vom Heiligen Kreuz hin Haus, Tisch und Herz geöffnet hatte. Mein Vater sagte den ganzen Tag kein Wort über seine Begegnung mit dem König, und als er endlich sprach, stellte er lediglich fest: »Er wird erst dreizehn, und der Hof hält ihn für zurückgeblieben. Aber ich glaube, er ist seinem Alter weit voraus.«
Mehr sagte mein Vater nicht, erst drei Jahre später kam er auf das Thema zurück.
* * *
Die Witwe, die uns so gastfreundlich aufgenommen hatte, kam gleichsam von Sinnen, als sie ihr Haus durch die Anwesenheit drei gefälliger und wohlberedter Edelmänner belebt sah. Doch wandelte sich ihr Glück in Betrübnis, als sie erfuhr, daß wir nur drei Nächte in Blois bleiben würden, während sie wie Circe wünschte, uns durch ihren Zauber ganze Monate festzuhalten. Und entschlossen, in Anbetracht dieser Kürze doppelt zuzugreifen, beschenkte sie uns drei von der ersten Minute an mit verführerischen Blicken, mit vielversprechendem Lächeln und Seufzern.
Mehr noch. Das Gefühl, daß die unerbittlich fliehende Zeit ihr diese drei Nächte und die heimlichen Wonnen, die sie sich |278|davon versprach, schnell davontragen werde, trieb sie, die Grenzen kurzerhand zu überschreiten, die Scham und Tugend ihr bei längerer Frist gewiß gesetzt hätten.
Zuerst versuchte sie es mit mir, sei es, daß die Jugend ihr mehr Appetit machte als die Reife, sei es, daß sie mich für unerfahren und also für eine leichte Beute hielt. Jedenfalls hörte ich nicht wenig überrascht, wie es am ersten Abend, während ich mich entkleidete, an meine Tür klopfte. Es war ein Diener, der mir von seiner Herrin eine Flasche Loire-Wein und einen silbernen Becher brachte. Ich drückte ihm ein wenig Geld in die Hand, er verschwand, und als ich mich fertig ausgezogen hatte, wurde erneut angeklopft, und ich öffnete, vermeinend, es sei noch einmal der Diener, der mir kleine Happen zum Wein anbieten wolle. Ich war baff, unsere Wirtin im Nachtgewand vor mir zu sehen, in einer Hand den Leuchter, in der anderen noch einen Becher, die nicht ohne Erröten, aber mit bestrickendem Lächeln fragte, ob ich ihr nicht die Ehre erweisen wolle, auf ihr Wohl mit ihr zu trinken.
Die Dame hieß Madame de Cé, und ich weiß nicht, in welcher Beziehung sie zu jener Stadt südlich von Angers stand, Ponts-de-Cé mit Namen, die Ludwig sechs Jahre später berühmt machen sollte durch den leichten Sieg, den er dort über die Großen und über seine Mutter davontragen sollte.
Nicht daß es Madame de Cé, dem Landadel entsprossen, an Geist, Manieren oder Erziehung mangelte, nur war es ja nicht ihre Schuld, daß sie, mit dreißig Jahren verwitwet, allein dastand und dabei alles andere als glücklich war. Vom Äußeren her war sie eine zierliche, wohlgebaute Brünette, lebhaft, frisch, mit anreizenden kleinen Mienen, die einigen Appetit erregten und mir übrigens eher naiv als schamlos erschienen.
Ich warf mir ein Kleidungsstück über und stieß mit ihr an. Sofort schenkte sie mir wieder ein, und wir wären weiter und weiter gerutscht auf der Bahn, hätte ich, da ich der Gefahr inne wurde, als ich den Teint der Dame purpurn werden und ihre Taille nachgeben sah, ihr nicht wie beiläufig, doch tiefernst gesagt, daß ich für eine edle Dame in Paris entbrannt wäre und ihr Treue geschworen hätte.
Das hübsche Gesicht von Madame de Cé wurde so unschuldig verzweifelt, daß ich sie um ein Haar zum Trost in die Arme genommen hätte. Doch meiner gutmütigen Regung mißtrauend, |279|hinter der kleine Dämonen ja nur auf ihren Triumph lauerten, ersann ich einen weiseren Schritt: ich schlug vor, meinen Vater zu uns zu laden, was sie sogleich guthieß, und als der Marquis de Siorac sich einstellte, überließ ich ihm meinen Becher, so daß nun ein drittes Wohl auf sie getrunken wurde, dann ein viertes, bis es ihr im Kopf schwindelte und sie wankend, auf den Arm meines Vaters gestützt, mit ersterbender Stimme bat, er möge sie in ihr Zimmer geleiten. Was er tat und es nicht bereute, nicht nur diese, sondern auch die beiden Nächte danach.
Jedesmal, wenn wir in einer großen Stadt weilten, wo wir uns länger als einen Tag aufhielten, schrieb ich an meine Gräfin, und weil ich meinen Brief dem königlichen Kurierdienst übergab, war ich ziemlich gewiß, daß sie ihn über kurz oder lang erhalten würde. Doch weil ich mir unsicher war, ob meine Post nicht geöffnet wurde, gebrauchte ich eine Art Geheimsprache und unterzeichnete nur P, ohne mit unserem Wappen zu siegeln. Mit diesen Briefen mußte ich mich begnügen, ohne jemals Antwort zu erwarten, weil Frau von Lichtenberg sie nicht hätte adressieren können, denn der Zeit- und Wegeplan unserer Fahrt blieb geheim. Mein Vater und ich erfuhren an jeder Etappe erst am Abend, wohin es am nächsten Morgen weiterging.
Obwohl ich unter dieser Trennung sehr litt und ich mich wie um einen Teil meiner selbst beschnitten fühlte, begriff ich durchaus, daß der Daheimgebliebene mehr zu beklagen ist als der andere, der ihn zurückläßt. Denn für mich, der ich so viele neue Gesichter, Landschaften, Städte und Schlösser in diesem großen Königreich sah, wurde durch tausend bemerkenswerte oder angenehme Dinge abgelenkt, während meine Gräfin zu Hause in dem kleinen Kabinett lebte, wo sie mir meine Waffeln zu streichen pflegte, oder in jenem Zimmer, das sommers wie winters der Zeuge unserer Umarmungen und unseres zärtlichen Geflüsters gewesen war.
Außerdem hatte diese Reise entlang der Loire für mich das Bezwingende, daß, je weiter die riesige Kavalkade auf Frankreichs Straßen vordrang, sie nicht nur den Freudenbekundungen eines Volkes begegnete, das in seinen kleinen König geradezu vernarrt war, sondern auch der völligen Niederlage seiner |280|Feinde. Während im Haus meiner Gräfin alles zu ihr von mir sprach, rief und lockte alles auf unserer großen Reise nach Westen mich anderswohin, so daß ich einige Gewissensbisse verspürte, wenn ich abends in so oft wechselnden Zimmern, deren Neuheit mich jedesmal erstaunte, den Kopf auf dem Kissen, feststellte, daß ich zum erstenmal am Tag an sie dachte, obwohl sie mir doch immer hätte gegenwärtig sein müssen, in allen meinen Sinnen und in jeder Minute meines Lebens.
In Blois versäumte ich nicht, Madame de Guise in La Noue zu besuchen und fand sie in schwerem Kummer, denn einen Monat, bevor sie Paris verlassen hatte, war ihr jüngster Sohn – ich meine, ihr legitimer jüngster Sohn, nur drei Jahre älter als ich – in Baux-en-Provence durch die Explosion einer Kanone tödlich verunglückt, als er die Lunte selbst hatte zünden wollen.
Der Gewalttätige hatte gewaltsam geendet. Der Herzog von Guise hatte ihn jedesmal zu seinem Degen gemacht, wenn er die Interessen seiner mächtigen Familie verletzt fand. Und von ihm angestiftet, hatte der Chevalier, wie ich bereits erzählte, auch den alten Baron de Luz getötet, bevor dieser überhaupt blankziehen konnte: eine abscheuliche, verräterische Tat, ganz nach der Art des Herzogs selbst. Während der Bürgerkriegsjahre hatte er zu Reims Monsieur de Saint-Paul unvermittelt erschlagen, weil der ihm den Befehl über die Stadt streitig machte.
Madame de Guise sagte mir in La Noue, in der Seele des Chevaliers sei kein Falsch gewesen, sein einziges Unrecht habe darin gelegen, den Befehlen seines ältesten Bruders zu gehorchen. Während der drei Tage, die wir in La Noue logierten, verbrachte mein Vater, treuer in seinen Freundschaften als in der Liebe, täglich viele Stunden mit Madame de Guise, um sie zu trösten. Ich löste ihn ab, wenn er zu Madame de Cé zu Tische ging, die, wie La Surie mir versicherte, dabei zu essen vergaß, so sehr war sie beschäftigt, ihn mit den Augen zu verschlingen.
Überrascht traf ich meine liebe Patin eines dieser Tage zu La Noue an, wie sie zulangte für drei. Auf meine erstaunten Blicke hin erklärte sie kleinlaut, wenn sie unglücklich sei, könne nur Essen ihr über die Trauer hinweghelfen. Ich bezweifle gar nicht, daß ihre Trauer tief war, doch steckte in meiner lieben |281|Patin eine solche Lebenslust, daß sie ihr ganzes Wesen durchpulste und der Trübsal einfach keine Bleibe bot.
»Papperlapapp, Herr Sohn!« sagte mein Vater, als ich ihm diese Überlegung vortrug, »essen muß man, aber zuviel essen ist eine Angewohnheit, und die teilt Eure gute Patin mit etlichen Herrschaften vom Hofe und im besonderen, wenn ich ihr glauben darf, mit dem kleinen König.«
Das war nur zu wahr, und ich will hier ein Beispiel dafür bringen, das mich, als es mir berichtet wurde, ziemlich amüsierte.
Am achtundzwanzigsten Juli, als er von Châtellerault aufbrach (wo er, wie man sich erinnern wird, ein paar ›Kleinigkeiten‹ für seine Geschwister eingekauft hatte) und nach Poitiers fuhr (wo er nur zu erscheinen brauchte, um Condé die Stadt zu nehmen), war der König um halb sieben aufgestanden und hatte gefrühstückt – und reichlich gefrühstückt, wie üblich –, bevor er die Karosse bestieg. Aber nach kaum einer Meile, als er am Brunnen von Nerpuis vorüberkam, sah er auf einer Wiese fröhlich schmausende Edelleute.
»Was ist das?« fragte er.
»Der Seigneur de L’Isle Rouet«, sagte Monsieur de Souvré, »gibt den Freßsäcken vom Hofe ein Frühstück.«
»Da will ich hin!« sagte Ludwig und ließ sogleich halten. Er stieg aus, lief zu den Tafelnden und sagte vergnügt: »So! Jetzt bin ich auch bei den Freßsäcken vom Hofe!«
Man räumte ihm einen Platz ein, er machte sich ans Werk. Es war ein Frühstück von epischen Ausmaßen und, wenn ich so sagen darf, hochtrabend dazu, denn der Gardehauptmann de la Curée, eine große, befleckte Serviette vor der Brust, holte jedes Gericht zu Pferde aus der Küche und trug es, immer zu Pferde, den Schlemmern herbei, wobei er sich im Trab sein Teil ohne Gabel und Messer, freiweg nur mit den Fingern nahm, daher die bekleckerte Serviette.
Ludwig allein verzehrte zwei Rebhühner, zwei Hühnchenmägen, eine halbe Ochsenzunge und tränkte alles mit einem Kelch Weißwein. Und höchst vergnügt rief er Monsieur de l’Isle Rouet zu: »Adieu, mein Wirt!« und sprang in seine Karosse.
Dieses zweite Frühstück hinderte ihn aber nicht, um ein Uhr in Jalné Mittag zu essen, zwei Stunden später einen Imbiß zu |282|nehmen und, um halb acht Uhr abends in Poitiers angelangt, sich ein Nachtmahl schmecken zu lassen. Laut Héroard hatten diese fünf üppigen Mahlzeiten aber keine üblen Folgen, sondern beschleunigten seine Verdauung nur, so daß er, anstatt wie sonst um sieben Uhr morgens zu erwachen, um ein Uhr nachts erwachte und nach dem rief, was unsere gute Mariette daheim ohne Umschweife den Kackstuhl nannte, was aber bei Hofe unter dem Einfluß der Marquise von Rambouillet neuerdings schamvoll als der ›Stuhl der Geschäfte‹ bezeichnet wurde.
»Auf die Dauer«, sagte mein Vater, als ich ihm die Geschichte vom Frühstück bei L’Isle Rouet erzählte, »bleibt diese Gefräßigkeit nicht folgenlos für den Magen. Er erweitert und entzündet sich. Aber, Ihr kennt ja unsere Herrschaften! Außer daß sie sich’s zur Ehre anrechnen, zuviel zu essen, weil die Armen nicht genug zu essen haben, steigert die Fresserei auch ihr Männlichkeitsgefühl … Bei Ludwig handelt es sich allerdings eher um einen erblichen Zug, denn die Bourbonen stehen alle im Ruf der Schlemmerei. So sein Großvater Antoine, so sein Vater.« (Und, würde ich hinzufügen, auch sein Sohn Ludwig XIV.)
Zum Glück hatte Ludwig von unserem Henri aber noch andere Eigenschaften geerbt als die Lust, sich zu stopfen. Der Leser wird sich gewiß erinnern, daß der Herzog von Vendôme, Ludwigs illegitimer Bruder, grün, wie er war, glaubte, er könne sich in der Bretagne, seinem Gouvernement, ein unabhängiges Fürstentum schaffen, und deshalb mit Hilfe des Herzogs von Retz mehrere bretonische Städte befestigt hatte. Und weil der Vertrag von Sainte-Menehould ihm nicht die erwarteten Vorteile gebracht hatte, war er nach der Unterzeichnung des Vertrags in Vannes einmarschiert und hatte sich der Burg bemächtigt.
Während die Regentin Stadt um Stadt die Loire stromab zog, sandte sie ihm erfolglos Botschaft auf Botschaft, und als sie sich Nantes näherte, schickte sie ihm schließlich den Marquis de Cœuvres, damit er ihn zur Räson bringe.
Nun traf es sich durch Zufall, daß Ludwigs Karosse auf dem Weg von Poitiers nach Mirabeau derjenigen von Cœuvres begegnete, der von seiner Mission zurückkehrte. Cœuvres hielt, stieg aus und grüßte Seine Majestät, und der König, der den |283|Kopf aus der Wagentür steckte, fragte ihn, was seine Gesandtschaft erbracht habe.
»Sire«, sagte der Marquis, »Monseigneur de Vendôme versichert Euch seiner Zuneigung und seines Gehorsams.«
»Was für eines Gehorsams!« sagte Ludwig kalt. »Noch hat er die Waffen nicht gestreckt.«
Sehr in Verlegenheit, reichte Cœuvres ihm einen Brief des Herzogs von Vendôme, aber der König nahm ihn nicht an und ließ ihn Monsieur de Souvré übergeben. Und als Souvré ihm den Brief auf der Weiterfahrt vorlas, kommentierte ihn Ludwig ebenso ironisch und entrüstet, wie er sich gegen den Marquis geäußert hatte.
Der Herzog von Retz, der Vendôme bei seinen militärischen Unternehmungen in der Bretagne unterstützt hatte, wurde aber noch weit ungnädiger empfangen, als er zu Nantes vor dem König erschien.
Wir weilten bereits elf Tage in dieser guten Stadt. Und am zweiundzwanzigsten August endlich, bei einer Hitze zum Umkommen, stellte sich der Herzog von Retz, der noch mehr Grund als wir hatte, Blut und Wasser zu schwitzen, im Schloß ein, um sich zu unterwerfen.
Schmuck in seinem Wams, die Haare, Augen und Brauen dunkelbraun, war der Herzog von Retz der Urenkel des Florentiner Bankiers Antoine de Gondi, der in Frankreich sein Glück gesucht und es zum Haushofmeister Heinrichs II. gebracht hatte. Er diente ihm gut, und noch besser diente sein Sohn Heinrich III., der ihn zum Herzog und Pair ernannte. In dieser Familie, die sich durch Treue zum französischen Thron auszeichnete, war der gegenwärtige Herzog der erste Rebell gegen die Königsmacht, zum großen Kummer seines Onkels Philippe-Emmanuel, General der Galeeren, der trotz seines unfrommen Amtes ein sehr frommer Mann war und sich aus Familiensinn entschlossen hatte, dem unbesonnenen Neffen trotz der Augustglut bei seinem Bußgang Rat und Stütze zu bieten.
Er tat gut daran, denn dieser törichte Herzog von Retz, der immerhin siebenundzwanzig war, aber wie zehn Jahre jünger wirkte, wußte dem König nach seinen bretonischen Wagestücken nicht mehr zu sagen, als daß er sich entschuldige, ihm nicht eher seine Reverenz gemacht zu haben.
|284|Ohne dem Herzog die Hand zum Kuß zu reichen, ja ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, erwiderte Ludwig auf diese hahnebüchene Entschuldigung kein Wort, so daß der Saal in drückendes Schweigen fiel und der junge Herzog, der Schritt für Schritt zurückwich, sich mit hängendem Kamm unter die Fittiche seines Onkels flüchtete, der ihm sein langes Pferdegesicht zuneigte und vernehmlich murmelte: »Auf, Herr Neffe, bringt es über Euch, in aller Aufrichtigkeit um Vergebung zu bitten.«
Der Herzog, weiß wie zu Fasten und dicke Schweißtropfen auf der Stirn, überwand sich endlich, näherte sich dem König abermals kniefällig und sprach mit tonloser Stimme: »Sire, ich bitte Euch um Vergebung und versichere Euch meiner Liebe und meiner Treue.«
Der Saal hielt den Atem an, und Ludwig, der lange auf den knienden Herzog vor ihm niederblickte, sagte schließlich: »Monsieur de Retz, wenn Ihr mir Eure Liebe durch Taten bezeugen wollt, werde auch ich Euch lieben.«
Obwohl Ludwig nichts in den Händen hatte, erschuf dieses ebenso niederschmetternde wie maßvolle Wort die Vorstellung, er säße auf seinem Thron mit der Hand der Gerechtigkeit, die er bei seiner Salbung empfangen hatte.
Diese Szene machte auf mich einen so tiefen Eindruck, weil sie eine solche Klarsicht und Festigkeit im Charakter des Königs enthüllte, daß ich sie am selben Abend meinem Vater und La Surie schilderte. Dieser meinte nun, der Satz, den ich so sehr bewunderte, könnte doch auch im voraus von Souvré diktiert worden sein.
»Täuscht Euch nicht, Chevalier!« sagte ich feurig, »der König spielt nicht mehr den Papagei, der jene Phrasen wiederholt, die Souvré ihm auf Anweisung der Minister schriftlich vorlegt. Vor fünf Tagen, als Ludwig im großen Saal des Jakobinerklosters die Landstände der Bretagne eröffnete, sprach er auch nicht die Worte, die man ihm in den Mund legen wollte, sondern ganz eigene.«
»Und was waren diese ganz eigenen Worte?« fragte mein Vater.
»›Meine Herren‹, sagte er, ›ich bin mit meiner königlichen Mutter hierher gekommen um Eurer Erleichterung und Ruhe willen.‹«
|285|»Und was waren die von Souvré vorgeschriebenen Worte?« fragte La Surie.
»Die hat Monsieur de Souvré mir nicht verraten, aber ich weiß, daß sie anders lauteten, weil er Ludwig, den das aber nicht rührte, die Abweichung vom Text vorgeworfen hat. Beachtet bitte, Chevalier, daß die den Landständen zu Nantes versprochene ›Erleichterung‹ und ›Ruhe‹ in Ludwigs Mund einen politischen Sinn hatte: sie bedeutete, daß der König den wiederholten grausamen Erpressungen ein Ende setzen werde, die Retz und Vendôme den Bretonen auferlegt haben.«
Es gab tatsächlich Grund, sie, gestiefelt und gespornt, am Galgen aufzuknüpfen, wären sie keine Herzöge gewesen. Und nachdem Retz seine ›Kerls‹ zurückgezogen hatte (eine Soldateska, die sich gegen die wehrlosen Bauern die üblichen Gewalttaten geleistet hatte: Plünderung, Mord, Folter, Brandschatzung, Vergewaltigung), konnte Vendôme nicht mehr umhin, sich ebenfalls einzufinden und den König um Vergebung zu bitten.
Ludwig saß beim Mittagsmahl, als der Herzog von Vendôme erschien und sich vor ihm niederwarf. Ludwig lüftete äußerst kühl seinen Hut, ohne sich auch nur zu Vendôme umzuwenden, und bedeckte sich wieder. In der höfischen Sprache bedeutete dies, daß Ludwig den legitimierten Sohn Henri Quatres, der als Herzog und Pair über den anderen Pairs des Reiches stand, wie einen kleinen Landedelmann behandelte.
Trotzdem ließ Vendôme sich von diesem Empfang nicht aus der Fassung bringen. Kräftig, wohlgebaut, mit festem Blick, eigensinniger Stirn, energischem Kinn, mangelte es ihm nicht an Kühnheit, wenn auch nicht auf dem Schlachtfeld. Außerdem war er sieben Jahre älter als Ludwig, und weil Henri Quatre so unbedacht gewesen war, seiner Mutter ein schriftliches Eheversprechen zu unterzeichnen, hielt sich Vendôme im stillen für den wahren König und betrachtete Ludwig als Usurpator. Es hätte übrigens nichts genützt, ihn von dieser Torheit abzubringen, indem man ihm zu bedenken gab, daß der Tod von Gabrielle d’Estrées, bevor der König sich vermählte, jenes Versprechen hinfällig machte. Vendômes unbeirrbarer Glaube, daß er über Ludwig hätte stehen müssen, ruhte auf zu wackeligen Fundamenten, als daß er ihn anfechten ließ. Ohne sich jemals der Wirklichkeit zu beugen, nährte er in sich die |286|unerschütterliche Überzeugung von seinen Rechten, was auch erklärt, daß er ohne Scheu und Scham die königlichen Gemächer betreten hatte. Und unverzagt durch den eisigen Empfang, hielt er seine vorbereitete kleine Huldigungsrede: »Sire, ich habe nicht verfehlen wollen, vor Eure Majestät hinzutreten, sowie ich Euren ersten Befehl erhielt, um Euch meines unbedingten Willens zu versichern, Euer sehr ergebener und sehr geneigter Diener zu sein, welches ich Euch selbst durch Aufopferung meines Lebens zu bezeugen wünschte.«
Der erste Teil dieses langen Satzes war eine dreiste Lüge, denn seit seiner Flucht aus dem Louvre hatte Vendôme nicht eine, sondern ein Dutzend Aufforderungen erhalten, an den Hof zurückzukehren. Der zweite Teil – die ›Aufopferung seines Lebens‹ – war derart übertrieben, daß es schon an Schimpf grenzte.
Ich denke, Ludwig empfand es auch so, denn er erbleichte vor Zorn, und während er Vendôme aus funkelnden Augen fixierte, sagte er mit zitternder Stimme: »Monsieur, dient mir in Zukunft besser, als Ihr es in der Vergangenheit getan habt. Und wißt, Eure höchste Ehre auf Erden ist, daß Ihr mein Bruder seid.«
Diese Worte zeichne ich hier viele Jahre später auf, als ein alter Mann, der seinen Herrn überlebt hat, obgleich er jünger war als ich, und der mit derselben Treue, die ich ihm stets bezeugt habe, nun seinem Sohn, Ludwig XIV., dient. Und sehr besonders klingt in meinem Gedächtnis dieser herrliche Satz, den damals mein kleiner König sprach, durch den er seinen Halbbruder gleichzeitig erinnerte, welches sein Ruhm war und welches die Grenzen dieses Ruhms. Ich weiß nicht, ob künftige Jahrhunderte diesen Satz weitergeben werden. Meines Erachtens verdiente er es, denn er kündigt bereits jenen gemessenen, majestätischen Stil an, der heute derjenige des Sohnes ist.
* * *
Mit Vendômes Unterwerfung hatte die große Reise gen Westen ihr oberstes Ziel erreicht und näherte sich ihrem Ende. Und so langsam und vertrödelt die Hinfahrt gewesen war, so hurtig ging es jetzt heimwärts über Le Mans, Nogent-le-Rotrou, Chartres und Bourg-la-Reine.
|287|Am sechzehnten September, durch vorauseilende Kuriere benachrichtigt, daß der König nach zwei Monaten und zehn Tagen in seine Hauptstadt heimkehren werde, stürzten die Pariser auf die Straßen, zogen durch das Tor Saint-Jacques, überschwemmten den Vorort, manche liefen, wie ich hörte, sogar zu Fuß bis Bourg-la-Reine, wo der König die Karosse verließ und sein weißes Pferd bestieg, auf dem er feierlich in Paris einzog.
Eine unglaubliche Menge Volkes säumte von Bourg-la-Reine bis zum Tor Saint-Jacques und von dort bis Notre-Dame (wo Ludwig ein Te Deum hörte) die Straßen, stand an den Fenstern und sogar auf den Dächern. Und unendlich froh, daß sein Fürst ihm Frieden brachte, feierte ihn dieses Volk mit nicht endenden Freudenrufen.
Ja, die große Reise hatte das Poitou und die Bretagne aus den Klauen unserer Großen befreit. Doch sie hatte noch mehr bewirkt für Ludwig und hatte in ihm eine subtile Veränderung eingeleitet. Für die Minister, welche die Regentin zu dieser Kavalkade angeregt hatten, war es darum gegangen, den Franzosen ihren König zu zeigen. Aber für Ludwig hieß es, Frankreich zu sehen. Frankreich war für ihn nicht länger nur ein schön gemaltes Bild auf Karton, es stand ihm auf einmal als eine begeisternde Wirklichkeit vor Augen. Gewiß hatte er nur einen Teil seines großen Reiches gesehen, aber auch wenn er, wie er sagte, kein ›großer Redner‹ war, hatte er seine Schönheit bewundert, die Liebe seines Volkes gefühlt und die Macht empfunden, die allein das Wort König besaß, da die Rebellion das Haupt senkte, sowie er erschien. Und von Anfang bis Ende dieser Reise und nicht nur gegenüber Retz und Vendôme hatte er als König gedacht, gesprochen und gehandelt.
Gleichwohl gab es in diesem Gemälde auch Schatten. Man hatte die Großen eingeschüchtert, man hatte sie nicht besiegt, und es stand zu erwarten, daß ihre Quertreibereien eines Tages von neuem beginnen würden. Und die Königin, welche die geheiligte Person des kleinen Königs durch die Lande geführt hatte, um ihre eigene Macht zu festigen, begann seit der Heimkehr nach Paris diejenige ihres Sohnes zu fürchten.
Ihre Minister rieten ihr nun zu einem Vorgehen, das ihrer langen Erfahrung entsprang: Königin Katharina von Medici hatte Karl IX. damals vorzeitig für großjährig erklärt, um sich |288|des Neides und der Verdächtigungen zu entledigen, die dem Titel Regentin anhängen, und hatte fortan all ihre Entscheidungen mit dem Namen ihres Sohnes abgedeckt. Wenn Ludwigs Mutter, so argumentierten die Minister, das gleiche täte, würde sie eine weit absolutere Macht genießen, zugleich aber viel weniger exponiert sein.
Man brauchte nicht lange im Arsenal der königlichen Ordonnanzen zu suchen, um eine so vorgezogene Großjährigkeit zu rechtfertigen. Nach einer von Karl dem Weisen1 getroffenen Verfügung sollte der französische König mit dreizehn Jahren für volljährig erklärt werden. Damit hatte Karl, der ob einer anfälligen Gesundheit sein Ende nahen fühlte, seinem ältesten Sohn das Joch einer langen Regentschaft ersparen wollen. Das mißlang, denn der Wille eines toten Königs wird selten respektiert. Sein Ältester starb mit zwölf Jahren, und obwohl Karl VI. im folgenden Jahr für großjährig erklärt wurde, mußte er noch acht Jahre die unbequeme Vormundschaft seiner vier Onkel erdulden. Acht Jahre! Bis er zwanzig wurde.
Ludwig ließ sich vom trügerischen Schein, mit dem diese Großjährigkeit ihm schmeichelte, nicht blenden. Er verstand sehr wohl, daß ihm dies nicht geschah, damit er regiere, auch wenn er, wiederum im Namen derselben Täuscher, nun öfter zum Rat gerufen wurde.
Ebenso durchschaute er die Heuchelei, die sich hinter der Feierlichkeit verbarg, welche die Königinmutter der Erklärung seiner Großjährigkeit verlieh. Das gesamte Parlament wurde im goldenen Saal des Gerichtspalastes versammelt, und Ludwig, der an Luxus wenig Gefallen fand, wurde wie ein Götze in ein golddurchwirktes und diamantenbesetztes Gewand gesteckt. Ihm, dem die spanischen Hochzeiten so sehr widerstrebten, nicht nur, weil er sich im Blute mit einer Dynastie verbinden sollte, die er als Feind der seinen betrachtete, sondern auch, weil er dann auf immer von Madame getrennt würde, ihm wurde um den Hals – als Symbol jener schmachvollen Verbindung – die Kette zu dreihunderttausend Ecus gelegt, die er der Infantin überreichen sollte, wenn sie seine Gemahlin würde. Und schließlich gab man ihm acht Tage vor der Zeremonie eine Rede auswendig zu lernen, die er bei dieser |289|Gelegenheit halten sollte, und zwar vor versammeltem Parlament, vor seiner Mutter, den Prinzen von Geblüt, den Herzögen und Pairs, den Marschällen des Reiches, den Ministern, den Offizieren der Krone, den ausländischen Gesandten und allem, was zum Hof gehörte.
Diesmal kam es gar nicht in Frage, den Text, den man ihm in den Mund legte, durch Weglassungen oder Hinzufügungen zu ändern. Nie waren seine Worte unfreier als an dem Tag, da man ihn für großjährig erklärte und für würdig, sein Reich zu regieren. Nie war er dem Willen seiner Mutter mehr unterworfen als während dieser Veranstaltung, wo die Scheinheilige demütig das Knie zu Boden neigte vor ihrem Sohn und ihm die Herrschaft übertrug. Wahrlich, man hätte ihr das Abendmahl ohne Beichte gegeben, ihr sogar das Zeugnis einer guten Mutter ausgestellt, ihr, die diesen Sohn seit vier Jahren kein einziges Mal geküßt hatte, nicht auf den Mund noch auf die Wangen oder die Stirn.
In der Woche vor dieser schrecklichen Komödie verzehrte meinen kleinen König aber eine andere Sorge. Er hatte Angst zu stottern, wenn er vor so großer Gesellschaft seine Rede halten mußte. Am Abend vor der Zeremonie betete er mit aller Inbrunst auf Knien und flehte um die Gnade, seinen Text am nächsten Tag ohne Fehl und Tadel zu sprechen. Durch Berlinghen erfuhr ich, daß er danach zwar sogleich einschlief, dafür aber eine sehr unruhige Nacht hatte und um ein Uhr ganz in Schweiß gebadet erwachte. Man entkleidete ihn, rieb ihn ab, wechselte sein Hemd, und endlich schlief er wieder ein. Als er aufstand, wirkte er wie umgewandelt und klar entschlossen.
Was mich betrifft, versprach ich mir Gutes von seinem gefaßten und entschiedenen Gesicht, als ich ihn in dem Prunkgewand auf seinem Lilienthron erblickte: ein Knabe im Angesicht von zynischen, unterm Harnisch der Intrigen ergrauten Würdenträgern. Und ich bekenne hier, daß mein Herz klopfte wie das einer Mutter, die ihr Kind vor einer furchtbaren Prüfung sieht. Und furchtbar war sie, denn das Schweigen, das eintrat, sowie er zu sprechen anhob, war nicht ohne Häme. So manche am Hof, die auf Seiten seiner Mutter und der beiden Concinis standen, hielten Ludwig für einen stammelnden Idioten. Diese schäbigen Höflinge, die unter mitleidigem Seufzen herumflüsterten, daß der König leider ›so wenig Verstand |290|wie Worte habe‹, erwarteten, ich würde sogar sagen, erhofften sich, er werde über jeden Konsonanten stolpern.
Sie wurden enttäuscht, denn mit klarer, lauter Stimme und ohne jedes Stottern hielt Ludwig die kleine Rede, deren erster Teil, obwohl er ihn so wenig abgeändert hatte wie den zweiten, seinem inneren Empfinden, wie ich mir sicher bin, nicht widersprach.
»Messieurs, durch göttliche Gnade in das Alter der Großjährigkeit gelangt, will ich Euch an diesem Orte verkünden, daß ich, volljährig nunmehr und mit gutem Rat, mein Reich barmherzig und gerecht zu regieren gedenke. Ich erwarte von allen meinen Untertanen den Respekt und Gehorsam, die sie der souveränen Macht und der königlichen Autorität schulden, welche Gott in meine Hände gelegt hat. Sie dürfen auch von mir den Schutz und die Gnade erhoffen, die man von einem guten König erwarten kann, der in allen Dingen ihr Wohl und ihre Ruhe will. Welches meine Absichten sind, möget Ihr umfänglicher der Rede des Herrn Kanzlers entnehmen.«
Der zweite Teil seiner Rede, der kürzer war als der erste und diesem widersprach, wandte sich an seine Mutter, und diesmal, davon bin ich überzeugt, gab Ludwig die auswendig gelernte Lektion nicht freien Herzens wieder, weil er in den vier Jahren seit dem Tod seines Vaters die Politik der Regentin sehr kritisch verfolgt hatte und auch sehr argwöhnisch geworden war gegen ihre stille, aber hartnäckige Absicht, ihn der Macht fernzuhalten, solange sie konnte.
»Madame«, sprach er, »ich danke Euch für die große Mühe, die Ihr statt meiner auf Euch genommen habt. Ich bitte Euch, weiterhin zu regieren und zu befehlen wie zuvor. Ich will und meine, daß Euch in allem und überall gehorcht werde und daß Ihr in meiner Abwesenheit das Oberhaupt meines Rates sein sollt.«
Ich weiß nicht, welcher Minister den Text für Ludwig verfaßt hatte. Aber ob es Sillery war oder, wie ich eher vermute, Villeroy – der Autor dieser kleinen Rede muß die Ironie ausgekostet haben, der Königin von Ludwig sagen zu lassen, sie solle ›in seiner Abwesenheit das Oberhaupt seines Rates‹ sein, während sie es doch ebenso in seiner Gegenwart war und alles entschied, ihn nie um seine Meinung fragte, ja, ihm in einem Streit mit Condé sogar den Mund verbot.
|291|Diese feierliche Erklärung, deren eigentlicher Zweck ihrem scheinbaren Ziel – der Emanzipierung des Königs – ganz entgegenstand, verlief unendlich redselig und speichelzehrend mit stundenlangen Ansprachen der Minister und Parlamentspräsidenten und dauerte von zehn Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags. Mein armer Ludwig, dem die Ohren fünf endlose Stunden mit unnützem Gerede vollgetönt worden waren, hatte nur eines im Sinn, als er danach in den Louvre kam: schlafen. Und das tat er, ohne auch nur zu Mittag zu essen. Trotzdem schien er mir höchst vergnügt, ebensosehr vor Erleichterung, daß er die peinliche Prüfung hinter sich hatte, wie auch aus dem Gefühl, daß er einen großen Sieg über sich selbst davongetragen und seine kleine Rede gesprochen hatte, ohne zu stottern.
»Mein teurer Neffe«, sagte La Surie, als ich später im Champ Fleuri darüber berichtete, »wenn Ludwig in der von Euch beschriebenen Geistesverfassung ist, warum hat er sich dann nicht gleich entschieden, die Pflichten seines Amtes offiziell auf sich zu nehmen?«
»Ehrlich gestanden, das habe ich mich nicht gefragt.«
»Und zu Recht!« sagte mein Vater achselzuckend. »Es wäre von seiten des Königs die pure Torheit gewesen. Vergißt du, Miroul, daß er kaum dreizehn ist, daß sein Wachstum nicht abgeschlossen ist, daß ihm der Bart gerade erst zu sprießen anfängt und daß seine Erziehung äußerst vernachlässigt worden ist?«
»Aber er hat das Volk für sich«, sagte La Surie.
»Das Volk, das Volk!« sagte mein Vater. »Das Volk kann nicht mehr als Beifall spenden, wenn es einen liebt, und murren, wenn es ihn nicht liebt. In Wirklichkeit hat die Königin den gesamten Staatsapparat in der Hand: das Parlament, das sie zur Regentin ernannt hat, die Minister, die seit fünf Jahren mit ihr paktieren, den Rechnungshof, die Provinzparlamente und dank Épernon auch die französische Infanterie.«
»Aber den Hochadel hat sie nicht«, sagte La Surie.
»Chevalier!« schrie ich auf. »Könntet Ihr auch nur einen Augenblick denken, Ludwig würde sich mit den Großen gegen die Regentin verbünden? Das hieße ja, sich zwischen Szylla und Charybdis stürzen! Er wäre ihre Geisel! Und anstatt eines Vormunds hätte er zehn!«
|292|»Dann verratet mir«, sagte La Surie, »wie er sonst jemals dieser …«
»Miroul!« sagte mein Vater.
»Die sich mit Klauen und Zähnen an die Macht klammert.«
»Herr Chevalier«, sagte mein Vater würdevoll, »das Abendessen ist aufgetragen. Gehen wir zu Tisch. Dieses Gespräch weiterzuführen wäre Majestätsbeleidigung.«
»Gleichwohl, Herr Marquis«, sagte La Surie mit einem kleinen Blitzen seines blauen Auges, »darf ich Euch darauf aufmerksam machen, daß es in Frankreich jetzt zwei Majestäten gibt: die Königinmutter und den König.«
»Und?« sagte mein Vater.
»Wer die eine beleidigt, beleidigt ja die andere nicht.«
* * *
Ich habe die Geschichte meines kleinen Königs hier der meinen vorangestellt, aber wie der Leser sich wohl denken kann, war mein erster Gedanke, als ich einen Tag vor dem König von der großen Reise heimkehrte, kaum daß ich die Stiefel abgeworfen hatte, Frau von Lichtenberg durch Brief und Boten mitzuteilen, wie leidenschaftlich ich sie wiederzusehen wünschte.
Als ihre Antwort auf sich warten ließ, geriet ich fast von Sinnen, marschierte in meiner Kammer auf und ab, setzte mich, stand auf, warf mich aufs Bett und verwünschte den Schlingel, der sicherlich wie alle Laufburschen durch die Gassen trödelte, an jeder Ecke stehenblieb und Maulaffen feilhielt bei den Gauklern und Taschenspielern auf dem Pont-Neuf, anstatt zu fliegen und mir die erwartete Botschaft zu bringen.
Endlich kam der herzlose Unhold! Ich sprang die Wendeltreppe hinunter und war vor ihm an der Haustür, wo er mir mit seinen schmutzigen kleinen Händen das Billett meiner Gräfin entgegenstreckte, als wäre es ein Küchenlappen und nicht ein ebenso kostbarer Brief wie ein königliches Sendschreiben; ja, während ich die Botschaft entfaltete, blieb der Strolch auch noch vor mir stehen in Erwartung eines Trinkgelds. Ich gab ihm eine Handvoll. »Herr Chevalier!« sagte Franz, »das ist doch zuviel! Ihr verderbt uns den kleinen Burschen.« Doch ich hörte es kaum. Eilends stieg ich zu meiner Kammer hinauf, riegelte ab und las.
Ich wäre sehr glücklich, wenn Sie mich heute um drei Uhr in meinem Hause besuchen könnten. Sie werden einen Verwandten bei mir finden, der hier einige Tage verbringt, doch wenn Sie sich bis nach meinem Imbiß gedulden würden, könnten Sie mich unter vier Augen sprechen. Bis bald, mein Freund,
Ihre ergebene Dienerin
Ulrike.
Das mindeste, was ich von diesem Billett sagen kann, ist, daß es mich nicht überglücklich machte. Frau von Lichtenberg hatte mir nur sehr selten und sehr wenig über ihre Pfälzer Verwandten erzählt, ich wußte lediglich, daß der Tod ihres Vaters unerquickliche Erbstreitigkeiten zur Folge gehabt hatte, daß sie der herrschenden Familie angehörte und sie die Cousine des Kurfürsten war, der ihr Steine in den Weg gelegt hatte, als sie zurückwollte nach Frankreich. Außerdem glaubte ich verstanden zu haben, daß sie zwei Söhne hatte, die am Hof Friedrichs V. lebten, aber ich wußte weder, wie alt sie waren, noch wie sie hießen oder wie sie zu ihrer Mutter standen. Denn natürlich hätte sie mit dem Alter ihrer Söhne mir auch das ihre verraten, was sie aber unter keinen Umständen wollte, in dem Punkt war sie zu Recht heikel.
Wie dem auch sei, dieser ›Verwandte‹, der da bei ihr war, ärgerte mich. Wieso hatte sie nicht klar gesagt, wer es war, ein Onkel, Neffe oder Cousin! Wo man liebt, wird einem alles Unbekannte zur Bedrohung. Man möchte das geliebte Wesen durchsichtig wie Glas. Man möchte so vollständig wie möglich wissen, was es sagt, was es tut, welche Personen es trifft, welche Empfindungen es hat und welche Gedanken. Und selbst dann, scheint es, wäre man noch immer nicht zufrieden.
Herr von Beck führte mich nicht, wie ich es erwartete, in das Kabinett vor dem Zimmer meiner Gräfin, sondern in den großen Saal im Erdgeschoß, wo ich Frau von Lichtenberg im Gespräch mit einem jungen Edelmann erblickte, der zärtlich ihre Hand hielt. Sie entzog sie ihm, um sie mir zum Kuß zu reichen, und als ich mich voller Verwirrung aufrichtete, stellte sie mir Erich von Lichtenberg vor.
»Erich«, sagte sie dann, »dies ist der Chevalier de Siorac, von dem ich Ihnen erzählte. Seien Sie nett zu ihm, er ist ein sehr guter Freund.«
|294|»Eine unnötige Empfehlung«, sagte Erich und verneigte sich anmutig. »Herr Chevalier de Siorac hat alle Liebenswürdigkeit des französischen Hofes. Man braucht ihn nur anzusehen.«
Ich fand das Kompliment ein bißchen geradezu, trotzdem erwiderte ich es sogleich, aber, weiß der Teufel, ich kann mich weder meiner Worte erinnern noch mich entsinnen, um welche Nichtigkeiten die Unterhaltung sich drehte, weil mein Kopf wütend beschäftigt war mit der Frage, wer dieser Erich war und was er bei meiner Gräfin zu suchen hatte.
Denn ich kann es länger nicht verhehlen, Leser, daß Ulrikes ›Verwandter‹ ganz mein Alter hatte und mich regelrecht niederschmetterte durch seine blendende Schönheit. Er war groß, sehr wohlgestalt, hatte gelockte dunkle Haare, große, liebkosende Augen und so ebenmäßige wie männliche Züge. Und als wäre das noch nicht genug des Guten, sprach er ein elegantes Französisch, sehr geistvoll und mit einer völlig entwaffnenden Freundlichkeit. Aber das Schlimmste war, daß er mich überaus zugetan anblickte, während ich, sosehr ich ihm zulächelte, ihm tausend Tode an den Hals wünschte dafür, daß er da war.
Frau von Lichtenberg blieb so ruhig zwischen uns beiden, so gefaßt, so heiter, verteilte ihr Lächeln und ihre Huld so gerecht, daß mich plötzlich die Wut packte, diese ach so schöne Harmonie zu sprengen, alles augenblicklich hinzuwerfen, Schluß zu machen und auf ewig zu brechen mit dieser Dämonin, die mich nur hatte kommen lassen, damit ich Zeuge meines Unglücks würde. Tausend Verrücktheiten schossen durch meinen tobenden Sinn, deren nicht geringste es war, Erich auf der Stelle zu fordern und ihm meinen Degen durch den Leib zu rennen.
Endlich erhob sich mein Nebenbuhler, nahm Urlaub von Frau von Lichtenberg und mir, den er bald wiederzusehen hoffte, wie er sagte, so sehr liebe er mich bereits (haben Sie das gehört, Leser!). Meine Gräfin stand ebenfalls auf und begleitete ihn zur Tür, wo die beiden leise Worte wechselten, was mich rasend machte, was aber noch nichts war im Vergleich zu dem, was folgte, denn als meine Gräfin die Tür öffnete, um ihn hinauszulassen, nahm Erich sie auf die natürlichste Weise der Welt in die Arme und küßte sie auf den Mund.
Die Tür fiel mit einem Klacken hinter ihm zu, das mir das Ende meiner Liebe zu besiegeln schien. Ich war zu keinem |295|Worte fähig. Ich sah Frau von Lichtenberg auf mich zukommen, die mich mit unschuldiger, vergnügter Miene ansah, als wäre in diesem verwünschten Saal nichts geschehen, was mich irgend hätte kränken können.
»Nun, mein Freund?« fragte sie mit ihrer ganzen teuflischen Falschheit, »wie finden Sie meinen Erich?«
Ich kam nicht dazu, ihr zu antworten und meine Galle gegen diese verräterische Schlange mit weiblichem Haupt zu entladen. Es wurde an die Tür geklopft, und als die Gräfin »Herein!« rief, erschien Herr von Beck und sagte: »Entschuldigen Sie, gnädige Frau, der Herr Graf hat seine Handschuhe hiergelassen.«
»Sie liegen auf seinem Stuhl«, sagte die Gräfin, »nehmen Sie sie nur.«
Sowie von Beck hinaus war, fand ich meine Stimme und ein wenig auch meine Sinne wieder.
»Wie, Madame!« sagte ich. »Erich ist Graf? Sie haben ihn mir doch als Erich von Lichtenberg vorgestellt!«
»Ist das unvereinbar?« fragte sie und hob schalkhaft die Brauen. »Ist es nicht auch in Frankreich Brauch, daß der älteste Sohn den Titel seines Vaters übernimmt?«
»Wie grausam Sie sind!« rief ich. »Sie haben mich hereingelegt! In Ihrem Billett nannten Sie ihn Ihren Verwandten!«
»Ja, und?« fragte sie mit zärtlichem Spott, »ist mein Sohn nicht mein Verwandter?«
»Ihr Sohn, Madame! Ihr Sohn! Konnten Sie mir das nicht gleich sagen? Ist das nicht der boshafteste Streich, den man einem Liebenden spielen kann?«
»Sicher«, sagte sie mit einem etwas traurigen Lächeln, »aber bedenken Sie auch, mein Pierre, daß Ihre Qualen keine zehn Minuten gedauert haben, meine dagegen zwei Monate und zehn Tage. Sie sind gut dran. Bitte, verzeihen Sie mir die kleine Gemeinheit. Nach allem, was ich in meinem Herzen und meiner Phantasie während Ihrer langen Abwesenheit gelitten habe, tat es mir wohl, Sie ein klein wenig auf die Folter zu spannen.«